Buch Eins
Ein Haus ohne Bücher
Mai 1998 – Januar 2012
1
Janette Gregson hatte immer Angst. Egal was sie tat, das meiste, was sie sah oder erlebte, erfüllte sie mit Angst. Selbst wenn sie nur nach oben zur Toilette ging, machte sie sich Sorgen, dass sie die enge, geschwungene Treppe hinunterfallen und sich verletzten könnte, und sie dort tagelang liegen und ihr niemand helfen würde.
Gegen ihre Angst vor der Dunkelheit blieb das Licht die ganze Nacht an, die kleine Lampe auf ihrem Nachttisch spendete ihr Trost, bis die Birne eines Nachts durchbrannte und ausging. Jetzt hatte sie eine neue Glühbirne in der Lampe und zwei Ersatzbirnen in der Nachttischschublade.
Sie hatte es geschafft, den Führerschein zu bestehen, doch sie wusste, dass sie nie verstehen würde, dass der Fahrprüfer nicht sehen konnte, wie verängstigt sie war. Wenn die Busse an ihrem kleinen Auto vorbeizogen, zuckte sie zusammen, die gelben Ampeln brachten sie zum Zittern, weil sie entscheiden musste, ob sie weiterfahren oder anhalten sollte. An Zebrastreifen mit wartenden Menschen bekam sie Herzklopfen, wenn sie sich vorstellte, wie ihr Fuß abrutschte, und sie die Menschen auf der Straße ummähte.
Angst. Sie hasste das Gefühl, keine Kontrolle zu haben, und gab ihrer Mutter die Schuld, dass sie gestorben und sie allein gelassen hatte, sie jetzt auf sich selbst gestellt zurechtkommen musste.
Krebs. Die größte Angst überhaupt. Und ihre Mutter, die furchteinflößende Barbara Gregson war gezwungen gewesen, ihr zu sagen, dass sie bloß noch sechs Monate zu leben hatte, als der nicht operierbare Tumor ihren Bauch zu enormer Größe hatte anschwellen lassen. Für Janette würde gesorgt sein, denn das Haus war abbezahlt und niemand sonst hatte Anspruch auf einen Teil davon. Krebs. Angst. Panik, dass ihr Bauch explorieren und sie mit Blut und Eingeweiden vollspritzen würde. Stattdessen war ihre Mutter ganz einfach dahingeschieden. Nichts war explodiert, sie war schlicht gestorben.
Jeanette hatte so etwas wie eine Art Job. Mit dem Geld vom Sparkonto ihrer Mutter eröffnete sie eine kleine Hundepension. Sie entschied, dass ihr das ersparen würde, körperlich arbeiten zu müssen, ob nun in einem Büro oder einem Geschäft, außerdem würde sie mit so wenig Menschen wie möglich sprechen müssen. Sie wollte eine Reihe kleinerer Zwinger im Garten aufstellen, wo sie in der Urlaubssaison Hunde unterbringen konnte, wenn die Besitzer ihre geliebten Haustiere nicht mitnehmen konnten. Sie baute die Hundehütten selbst. Jemanden in ihr Haus zu lassen, damit derjenige die Arbeiten für sie machte, das war undenkbar. Jeanette brachte sich die einfachen Holzarbeiten selbst bei, indem sie Bücher aus der Bücherei auslieh. Den Gas- und Stromzähler abzulesen schaffte sie selbst, aber mehr nicht.
Jeanette hatte einfach entsetzliche Angst vor dem Leben. Sie sprach nur, wenn sie musste, abgesehen von Quizshows im Fernsehen, wenn sie versuchte, die Teilnehmer bei Mastermind zu schlagen, und stolz war, die Fragen beantworten zu können. University Challenge war eine halbstündige Quälerei, aber es gefiel ihr, zuzusehen, wie die Teams sich abmühten, um auf die Antworten zu kommen.
Die Nachbarn zu beiden Seiten hatten es aufgegeben, sich mit ihr zu unterhalten, und darüber war sie äußerst froh. Im Alter von vierundzwanzig Jahren war sie zu dem Schluss gekommen, dass sie Menschen einfach nicht mochte, Hunde aber schon. Sie genoss die Abgeschiedenheit, für sich zu sein, und wusste, sie hätte ihre Mutter nicht zurück in ihrem Leben gewollt. Sie war glücklich, wenn sie allein war. Die Nachbarn beschwerten sich nicht über das gelegentliche laute Bellen eines unglücklichen Tieres, das seine menschlichen Eltern vermisste, denn sie löste alle Probleme, indem sie die Tür einfach nicht öffnete. Sogar der Milchmann hatte sich ein vierteiliges Klopfen ausgedacht, damit sie wusste, dass er es war, der an die Tür klopfte, um seine wöchentliche Zahlung für die an ihre Haustür gelieferte Milch zu kassieren.
An dem Tag, als der Mann anrief und fragte, ob er sich ihre Zwinger ansehen kommen konnte, bevor er sich entschied, ob er seinen Cavalier King Charles Spaniel eine Woche bei ihr unterbringen wollte, war ihr unwohl. Doch alles bereitete ihr Unwohlsein und als er eintraf, pünktlich und schick gekleidet, führte sie ihn ums Haus in den Garten, wo die Zwinger standen. Er inspizierte die Zwinger genau und stimmte ihr zu, dass es ein hervorragendes Konzept war. Ihm gefielen die Heizgeräte, die sie für kalte Nächte aufgestellt hatte, und er war von dem Flyer mit den Preisen, den sie ihm reichte, beeindruckt.
„Das ist in Ordnung. Ich bringe Bessie in drei Wochen, wenn es recht ist?“
„Das ist gut. Ich benötige eine Anzahlung, um den Platz zu reservieren.“
„Wie viel?“ Sein Blick wirkte plötzlich verschleiert.
„Fünfzig Pfund.“ Ihre Stimme war fest. Sie konnte das, konnte sein Geld nehmen und sich dann eine Tasse Tee machen, um sich zu beruhigen.
„Und ich bekomme auch eine Quittung?“
„Natürlich. Folgen Sie mir bitte.“
Es gab einen winzigen Wintergarten, den ihre Mutter an die Küche angebaut hatte und den sie zu ihrem Büro gemacht hatte. Sie führte ihn hinein, zu dem Schreibtisch, in dem sie all ihre Unterlagen aufbewahrte. Sie holte das Quittungsbuch heraus und spürte einen Stoß in den Rücken, wodurch sie gegen die Küchentür geschleudert wurde. Durch die Wucht flog die Tür auf und sie stürzte bäuchlings auf den Küchenboden.
Vom Schock ergriffen versuchte sie, sich umzudrehen, aber der Mann landete auf ihr, sein Gewicht drückte ihren zerbrechlichen Körper mühelos zu Boden.
„Halt die Fresse“, sagte er und zerrte an ihrer Jeans.
Sie versuchte sich zu wehren, doch er griff ihren Kopf und schlug ihn auf die Fliesen. Ihr wurde schwarz vor Augen und die Erinnerung schwand.
***
Als ihr Bewusstsein langsam zurückkehrte, hing ihm die Hose schon um die Knöchel. Er hatte sie umgedreht, ihr die Kleider vom Leib gerissen und vergewaltigte sie. Vor blankem Entsetzen erstarrte sie, dann sah sie den gusseisernen Schusterfuß, der ebenso viele Jahre lang als Türstopper in der Küche gedient hatte, wie sie dort lebte.
Sie spürte, wie er mit einem Stöhnen in ihren Körper ejakulierte und auf ihr zusammensackte, sodass ihr fast die Luft aus den Lungen drückte. Sie wand sich zur Seite, griff nach dem Dreifuß und schwang ihn mit aller Kraft herum, sodass sie seinen Kopf traf. Sie schlug dreimal zu, bis er sich nicht mehr rührte.
Janette schluchzte, als sie sich von dem reglosen Körper auf ihr befreite, und rannte nackt, zitternd und weinend die Treppe hinauf. Die Schmerzen zwischen ihren Beinen waren nahezu unerträglich und sie begann, ein Bad einzulassen, nachdem sie die Badezimmertür hinter sich verschlossen hatte. Während das Wasser die Wanne füllte, schluckte sie drei Paracetamol-Tabletten herunter und betete, dass sie schnell wirkten.
Sie blieb über eine Stunde lang in der Badewanne und schrubbte sich fieberhaft, um alles Klebrige und den Geruch des Mannes loszuwerden, von dem sie hoffte, dass er ihr Haus inzwischen verlassen hatte. Sie versuchte, die große Bisswunde an ihrer rechten Brust zu reinigen, aber das war zu schmerzhaft, also tupfte sie sie nur mehrmals vorsichtig ab.
Ihre Haut fühlte sich wund an, als sie sich ein Handtuch umwickelte, und dann ihren Morgenmantel anzog. Sie setzte sich zunächst auf den Toilettensitz, dann ließ sie sich auf den Boden sinken, wo sie versuchte, eine bequeme, weniger schmerzhafte Sitzposition zu finden. Sie blieb drei Stunden lang dort, bevor sie sich traute, die Badezimmertür zu öffnen.
Die Schmerzen hatten nachgelassen, aber sie war wund, und sie stieg vorsichtig die Treppe hinunter und lauschte nach irgendetwas, nach Geräuschen von irgendwo im Haus. Es war unheimlich still, und sie schickte ein Dankgebet zum Himmel, dass ER anscheinend gegangen war. Sie hatte nicht einmal seinen Namen erfahren, nur den Namen seines verdammten Hundes, und sie war nicht einmal davon überzeugt, dass ER überhaupt irgendeine Art von Tier besaß. ER war das Tier.
Sollte sie zur Polizei gehen? Bei dem Gedanken daran zitterte sie. Nein, das konnte sie nicht tun. Sie konnte sie nicht in ihr Haus, in ihr Leben lassen. Sie hatte genug Krimis im Fernsehen gesehen, um zu wissen, wie es wäre, eine Vergewaltigung anzuzeigen. Sie würden ihr die Schuld geben und sie würden sagen, dass sie den Mann verführt hätte, dass sie wahrscheinlich die falsche Kleidung getragen hätte. Nein, keine Polizei.
Sie blieb stehen und setzte sich auf die unterste Stufe, um zu lauschen. Immer noch nichts zu hören. Als sie auf die Uhr im Flur schaute, sah sie, dass es fast fünf Uhr war – sicher hatte ER sich inzwischen zusammengerissen und war verschwunden? Sie würde die Türen zum Wintergarten und zur Küche abschließen und so die Mordsangst, die sie gerade verspürte, lindern. Und sie würde alle Buchungen für die Hunde stornieren, die sie nicht schon einmal angenommen hatte. Sie würde nur Tiere aufnehmen, die bereits im Zwinger untergebracht waren.
Sie hatte das Gefühl, als würde sie die Kontrolle über ihr Leben zurückgewinnen, als sie dort auf der Treppe saß, aber sie gewann sie nicht in dem Maße zurück, dass sie sich bewegen und die Türen tatsächlich abschließen, sich dem Blutbad in der Küche, in der alles passiert war, stellen und das Blut aufwischen konnte. Sie selbst hatte geblutet, als ER sie mit dem Kopf auf den Boden geschlagen hatte, um sie bewusstlos zu machen, also musste es Blutflecken geben.
Sie fühlte sich wohl auf der Treppe, im geschlossenen und ordentlichen Flur, weit weg vom Schrecken in ihrer Küche; ihre Position auf der untersten Stufe hatte es ihr ermöglicht, auf einer Pobacke zu sitzen und die Schmerzen in ihrer Vagina zu lindern. Sie wollte für immer dort bleiben.
Als die Uhr sechs schlug, wusste sie, dass das nicht möglich war. Sie musste sich selbst versorgen, die rasenden Gedanken in ihrem Kopf beruhigen, und der erste Schritt dazu war, ein paar Schmerztabletten zu schlucken, ihren Morgenmantel und das Handtuch auszuziehen und durch richtige Kleidung zu ersetzen, um die Kontrolle zurückzugewinnen. Ja, sie hatte Angst, aber sie konnte nicht ewig auf der untersten Stufe sitzen bleiben. Sie hatte zwei Hunde in den Zwingern, die gefüttert werden mussten, und um die musste sie sich kümmern, egal was passierte.
Sie richtete sich langsam auf, wobei sie vor dem stechenden Schmerz in ihrem Inneren zusammenzuckte, und trat vorsichtig auf den Flur hinaus.
Sie blieb an der Tür zum Wohnzimmer stehen und lauschte, aber da sie überzeugt war, nichts hören zu können, öffnete sie sie langsam und spähte in den Raum. Er sah genauso aus wie immer, spärlich möbliert mit nur zwei Sesseln, einem kleinen Couchtisch und einem Fernseher auf einem Gestell. Im Sideboard ihrer Mutter befanden sich Gegenstände, die nur selten das Tageslicht erblickten, und auf dem Sideboard stand eine Lampe, die einzige Beleuchtung, die jemals in diesem Raum verwendet wurde. Jetzt schaltete sie die große runde Deckenleuchte ein. Die Dunkelheit musste weichen. Sie ging zu den Vorhängen und zog sie zurück, um die Sonne hereinzulassen. Normalerweise waren sie zugezogen, da sie wusste, dass Sonnenlicht Teppiche und andere Stoffe ausbleichen ließ. Aber jetzt brauchte sie Licht, nicht Dunkelheit.
ER war nicht hier gewesen. Das hätte sie gespürt. Sie hoffte, dass das bedeutete, ER hatte sich aufgerappelt, nachdem ER wieder zu sich gekommen und einfach verschwunden war. Ihre Gedanken wandten sich dem Sichern ihres Gartens zu – sie würde keine fremden Besucher mehr hereinlassen; nur noch mit Termin und sie würde darauf bestehen, den Namen zu erfahren, ehe sie kamen, dann würde sie wissen, ob es Namen von vorherigen Kunden waren oder ihnen sagen, sie sei komplett ausgebucht.
Das Esszimmer war genauso frei von ihm, und sie saß auf einem der Stühle, erleichtert, dass er ihr Lieblingszimmer nicht verseucht hatte. Hier saß sie, wenn sie malen wollte. Auf dem Tisch lagen die Dinge, die sie benutzte – Stifte, Radiergummis, drei Zeichenbücher, eine dreißig Zentimeter große Zeichenfigur aus Holz. Es wäre nicht auszuhalten gewesen, hätte ER dieses Zimmer betreten, das Böse in ihm hier hereingetragen.
Sie zog ihr großes Zeichenheft zu sich, schlug es auf und fuhr über das Papier. Es tröstete sie. Der Schmerz ließ davon nicht nach, aber es tröstete sie. Sie sah die halbfertige Zeichnung eines Kindes an, das auf einer Schaukel saß, die hoch in den Himmel schwang, und sie erinnerte sich an den Tag, den sie mit ihrer Mutter im Park verbracht hatte, als das Leben zu ihnen beiden gut gewesen war. Kreischend war sie höher und höher geschaukelt. Das herrlich schwerelose Gefühl hatte die Zeichnung nicht ganz festgehalten, aber das würde kommen, das wusste sie. Sie klappte das Zeichenheft zu und stand auf.
Zeit, sich der Küche zu stellen, die Hunde zu füttern und dann die Türen abzuschließen. Morgen würde sie sich um ihre Genesung kümmern, doch heute Abend musste sie sich dem Schauplatz stellen, der sie so verstörte.
Die Tür stand halb offen, genauso wie sie Hals über Kopf zur Treppe gerannt war. Sie stieß die Tür ganz auf.
2
Sie roch das Blut, noch bevor sie es sah. Sie spürte, wie sie zu würgen anfing, spürte, wie der Magen sich ihr umdrehte, doch es lag nicht an dem eigenartigen Geruch, es war der Anblick des Mannes, der immer noch auf ihrem Küchenboden lag, immer noch bewusstlos.
Angst, Verzweiflung, Schrecken – alles kämpfte in ihrem Kopf um die Vorherrschaft. Sie kehrte der Szene den Rücken zu, schluckte krampfhaft und kehrte in den Flur zurück, wobei sie die Küchentür hinter sich schloss.
„Denk nach“, sagte sie laut, fast so, als vertraute sie nicht darauf, dass ihre Gedanken ihr die richtige Antwort liefern würden. „Denk nach. Zieh dich an, bevor ER richtig zu sich kommt.“
Sie befolgte ihren eigenen Rat und ging langsam die Stufen hoch, sich mit jedem Schritt der Schmerzen und dem Wundsein bewusst. Wieder erklomm sie vorsichtig die Stufen bis zu ihrem Schlafzimmer und schob alle Gedanken beiseite. Sie konnte sich nicht mit ihm befassen, bis sie saubere Kleidung angezogen hatte. Sie zog fünf Unterhosen übereinander an, in der Hoffnung, dass sie die Schmerzen lindern würden, legte eine saubere Binde ein, um das Blut aufzusaugen, das noch aus ihr herausfloss, und zog dann eine Jeans an. Es folgten ein BH und ein T-Shirt und sie beschloss, in die leuchtend gelben Crocs zu schlüpfen , die sie normalerweise zum Säubern der Zwinger trug – die konnte man in der Waschmaschine waschen. Das größte Problem war, dass sie im Wintergarten lagen. Und ER versperrte die Tür von der Küche dorthin.
Sie kehrte in den Flur zurück und fühlte sich sicherer, jetzt, da sie Handtuch und Morgenmantel abgelegt hatte, aber sie wusste, dass sie ihre Crocs brauchte. Sie zog ihre Hausschuhe an, ging aus der Haustür und um das Haus herum in den Garten.
Janette betrat den Wintergarten und tauschte die Hausschuhe mit den Crocs. Erst dann warf sie einen Blick auf die offene Küchentür. Seine Augen waren weit aufgerissen und starrten ins Leere. Sie richtete den Blick auf seine Brust und stellte fest, dass ER sich nicht bewegte. Alle Regungen in der Brust ihrer Mutter hatten aufgehört, als sie ihren letzten Atemzug getan hatte. Die beiden Hunde in den Zwingern begannen zu bellen, als wollten sie ihr sagen, dass es Zeit für einen Spaziergang und zum Fressen war. Sie holte schnell Futter aus ihrem Futtervorrat im Wintergarten und rannte nach draußen, um das Bellen zu stoppen. Sie schüttete Futter in ihre Näpfe, überprüfte das Wasser und sprach beruhigend auf sie ein, um sie zu beschwichtigen. So lange sie sich um die Hunde kümmerte, musste sie sich nicht mit der Leiche auseinandersetzen …
Als die Hunde zufrieden fraßen und die Tore zum Auslauf geöffnet waren, ging sie zurück zum Wintergarten, wo sie alle Jalousien herunterließ. Sie wusste nicht, ob die Nachbarn in ihr Haus hineinsehen konnten, aber sie wollte kein Risiko eingehen.
Es war viel Blut. Sie versuchte, einen Bogen darum zu machen, aber die gelben Crocs färbten sich bald mit der dicken, tiefroten Schmiere. Sie füllte einen Krug mit Wasser, ging zurück zu ihm und goss ihm die Flüssigkeit über das Gesicht.
„Er ist tot“, bestätigte sie sich selbst. „Wenn ER es nicht wäre, hätte ER sich bewegt. Was mache ich also jetzt?“
***
Was sie beschloss, nicht zu tun, war, die Polizei einzuschalten. Nach reiflicher Überlegung wurde ihr klar, dass es keinen Beweis dafür gab, dass ER an diesem Nachmittag hier gewesen war. Sie hatte seinen Namen nicht in ihr Terminbuch eingetragen und ihn nicht einmal nach seinem Namen gefragt. Also holte sie eine große Plastikfolie, mit der einst Holzbündel für die Zwinger umwickelt gewesen waren. Sie hatte sie für den Fall aufgehoben, dass sie sie jemals brauchen würde, und jetzt brauchte sie sie wirklich.
Mit einer Körpergröße von nur eins fünfzig und einer sehr schlanken Statur war Janette nicht besonders kräftig, also band sie sich zunächst ihr langes dunkles Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen und verzog das Gesicht, als das Haar an der Beule ziepte, die entstanden war, als ER ihren Kopf auf den gefliesten Boden geschlagen hatte. Sie wischte so viel Blut wie möglich von dem Koloss von Mann, der auf ihrem Küchenboden lag, und tastete vorsichtig in seine Innentasche, um seine Brieftasche herauszunehmen. Auf seiner Kreditkarte stand sein Name: Philip Hancock. Sie steckte die Brieftasche in eine Küchenschublade. Sie wusste, dass sie sich später darum kümmern musste, aber im Moment hatte sie ein viel größeres Problem. Der etwa hundert Kilo schwere Mann lag auf ihrem Boden. Sie schauderte vor Entsetzen, als sie daran dachte, wie ER auf ihr lag, sich in sie hineindrängte, sie verletzte und ihr blaue Flecken zufügte, bis es fast zu schmerzhaft war, sich zu bewegen.
Sie legte ihm einen alten Lappen über die Augen – sie konnte es nicht ertragen, dass ER sie weiter anstarrte – dann nahm sie den Schusteramboss und tat ihn in einen Eimer, wobei sie darauf achtete, dass jeder Teil davon in kaltes Wasser und Bleichmittel getaucht war. Hatte ihre Mutter ihr nicht immer gesagt, dass Bleichmittel nur in kaltem Wasser wirksam war?
Sie widmete sich wieder ihrer letzten Aufgabe, stand einen Moment lang da und sammelte ihre Kräfte für den nächsten Teil. ER sah nicht halb so furchteinflößend aus, wenn ein alter gelber Putzlappen seine Augen bedeckte, aber ER sah immer noch genauso schwer aus. Bevor sie versuchte, ihn zu rollen, ging sie den Flur halb hinunter, wo sich die Tür zum Keller befand. Sie schloss auf und ließ die Tür weit offen. Der schwere, erdige Geruch der Kohlenreste, die sich noch dort unten befanden, strömte heraus und sie sog ihn dankbar ein. Sie hatte den leichten chemischen Geruch des Kellers schon immer geliebt, aber ihre Angst vor Stufen hinderte sie daran, sich weiter als bis zum Treppenabsatz vorzuwagen. Sie wusste, dass sie ihr Leben weiterleben konnte, sobald ER unten war. Keine Polizei – und ihr eigener Schmerz von dem Angriff würde verschwinden.
Sie holte ein Kissen aus dem Wohnzimmer und klemmte es in die Kellertür, um sie offen zu halten. Dann ging sie zurück in die Küche. Sie glättete die Plastikplane, stemmte sich gegen eine Küchenzeile und versuchte, ihn zu bewegen, indem sie sich gegen die Küchenzeile lehnte und ihn mit den Füßen auf die Plane rollte. Sie hatte bereits vorher lange Stücke Gartenschnur unter die Plastikfolie gelegt und ihn damit auf sehr unbeholfene Weise festgebunden.
Insgesamt brauchte sie eineinhalb Stunden, und als sie fertig war, war sie erschöpft. So sah ihr Leben normalerweise nicht aus; sie hätte sich nie träumen lassen, etwas so unglaublich Dummes zu tun, wie jemanden zu töten, aber hier war sie nun: Eine Mörderin.
Und sie hatte dieses zusammengeschnürte Truthahn-ähnliche Ding immer noch nicht aus der Küche geschafft.
***
Janette öffnete die Tür des Sideboards ihrer Mutter und holte die dunkelblaue Sherryflasche heraus, die Barbara so sehr geliebt hatte. Sie schenkte sich ein großes Glas ein und dachte daran, dass die Flasche seit einigen Jahren zum ersten Mal geöffnet wurde, aber sie brauchte jetzt etwas davon. Dann nahm sie noch zwei weitere Schmerztabletten, da ihr klar wurde, dass sie wirklich Schmerzen leiden würde, wenn sie mit dem, was sie tun musste, fertig war.
Eine halbe Stunde lang saß sie da und ließ den Alkohol und die Schmerzmittel ihre Wirkung entfalten. Das gab ihr Zeit, sich zu erholen und über die nächsten Schritte nachzudenken. Sie dankte den viktorianischen Erbauern ihres Hauses für die soliden Mauern und die massiven Schlösser an allen Türen und wusste, dass sie ihn in diesen Keller bringen, den Schlüssel umdrehen und niemand jemals über ihn stolpern würde, nicht jetzt und auch nicht in Zukunft. Und wenn sie selbst sterben würde, würde man ihn wahrscheinlich finden, wer auch immer das Haus kaufte, aber sie wäre dann sowieso nicht mehr da.
Sie überlegte, ob sie eine Art Bericht über die Geschehnisse schreiben und ihn zusammen mit der Brieftasche des Mannes in einen Umschlag stecken sollte, aber ihr fielen die Augen zu und sie musste sich selbst wachrütteln, sich dazu zwingen aufzustehen und die Arbeit zu Ende zu bringen.
Sie stemmte die Küchentür mit dem Staubsauger auf, ging zu dem, was sie sich verzweifelt als Truthahn vorzustellen versuchte, und packte ihn am Kopf. Sie zerrte und zog, und erst als sie zum Fußende ging, machte sie nennenswerte Fortschritte. In der Küche schien es besser zu funktionieren, ihn zu schieben, aber als sie ihn tatsächlich im Flur hatte, schien es einfacher, ihn zu ziehen.
Sie beschloss, sich von dieser körperlich anstrengenden Arbeit auszuruhen, ließ ihn für eine Weile allein und ging zurück in die Küche. Jetzt, da der Körper bewegt worden war, gab es noch Blutflecken zu entfernen. Also füllte sie den Eimer für den Wischmopp und begann, ihr Reich wieder in seinen ursprünglichen makellosen Zustand zu versetzen. Der Geruch von Bleichmittel war fast überwältigend, aber sie fühlte sich reingewaschen.
Als sie das Wasser in den Abfluss spülte, hörte sie ein Geräusch. Es kam aus dem Wintergarten.
Sie wirbelte herum, als auf das Geräusch ein Klopfen an der Küchentür folgte.
„Janette? Sind Sie da?“
Vorsichtig öffnete sie die Tür. „Oh, Mr. Earnshaw. Entschuldigung, ich habe gerade den Boden gewischt …“
„Kein Problem. Wir sind einen Tag früher nach Hause gekommen, also dachte ich, ich komme vorbei und hole Daisy ab. Geht es Ihnen gut? Sie sehen sehr blass aus.“
„Mir geht es gut, danke. Ich hole nur Daisys Leine, dann können Sie sie mitnehmen. Sie hat schon ihr Futter bekommen.“
Sie betrat den Wintergarten und schloss die Küchentür hinter sich. Janette reichte Ian Earnshaw die Leine und folgte ihm zu den Zwingern. Sie beobachtete, wie er und Daisy, die wie ein Welpe herumhüpfte, fortgingen, wobei ihr Atem stoßweise entwich und sie darum kämpfte, Herr ihrer Sinne zu bleiben. Wenn er nur eine Stunde früher gekommen wäre … Das Seitentor musste verschlossen bleiben; es ging nicht, dass jeder einfach durch ihre Hintertür hereinkommen konnte. Sie würde sich darum kümmern, sobald sie sich besser fühlte.
Der Körper in der Plastikhülle war fast an der Kellertür, und sie verschloss jeden möglichen Zugang zu ihrem Grundstück, bevor sie mit dem fortfuhr, was sie nun als ihre Strafe dafür ansah, dass sie ihn mit dem Schusteramboss geschlagen hatte.
Sie zerrte und zog und beförderte ihn den halben Schritt hinter die Kellertür zum Treppenabgang. Sie war etwas ratlos, was den nächsten Schritt anging, weil ER so gekrümmt war, und die Leichenstarre sich bereits bemerkbar machte, was die Handhabung des Körpers erschwerte.
Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen den Türrahmen und stieß sich mit den Füßen ab. Langsam, Zentimeter für Zentimeter, begann ER zu rutschen und plötzlich zu fallen. Sie erhöhte den Druck, stieß fester zu, und das große Plastikbündel begann sich fast von selbst auf die steilen Kellertreppen zu bewegen. Sie gab einen letzten kräftigen Stoß, und ER rutschte, wobei das Plastik das Runterrutschen erleichterte. Janette beugte sich vor, ihr war es unmöglich, das Erbrechen zu unterdrücken, und auch das Zittern ließ sich nicht kontrollieren. Sie brach auf dem schäbigen Linoleum des Kellerabgangs zusammen, und schließlich kamen die Tränen.
Sie schlang die Arme um sich, wischte sich den Mund ab und blickte die Treppe hinunter. ER war in einem merkwürdigen Winkel gelandet, aber so war es nun mal. So würde ER für den Rest der Ewigkeit da liegen, wenn es nach ihr ging.
Hatte sie andere Frauen davor bewahrt, das Gleiche durchzumachen wie sie? Sie vermutete ja, aber sie wollte es nicht wirklich wissen. Sie wollte eine Tasse Tee, sich mit der Asche ihrer Mutter unterhalten und vielleicht würde sie heute Abend den einen verbleibenden Hund für eine Stunde ins Wohnzimmer holen. In der nächsten Woche sollten keine weiteren Hunde kommen, also würde sie Candy für den Rest ihres Aufenthalts bei sich haben und sich dann in der hundefreien Zeit erholen können.
Sie ging zurück in den Hausflur, drehte den großen Eisenschlüssel im Schloss und steckte ihn in ihre Jeanstasche. Morgen würde sie den Schusteramboss fertig reinigen und ihn wieder an seinen gewohnten Platz stellen. Nur vorsichtshalber .