Leseprobe Nacht der Rache

1. Aus dem Nichts

Warten war so überflüssig wie ein Loch im Kopf. Offenbar sollte er an Hunger sterben. Ausgerechnet er! Wer klärte dann seinen Tod auf?

Raphael Baack biss sich auf die Unterlippe. Beim Gedanken an die kölschen Tapas lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Frikadellen, Reibeküchlein mit Tartar, Speckschnittchen … unheimlich lecker und einfach bestellt, aber noch längst nicht geliefert.

Er seufzte. Immer diese Experimente. Von Essen auf Rädern war er Gott sei Dank noch Lichtjahre entfernt. Das neue Kölner Veggie-Taxi von seiner Wohnung anscheinend auch. Aber warum sollte er sich aufregen? Was änderte das schon?

Ein Kranich mischte sich in sein Selbstgespräch ein. Die Rufe der imposanten Vögel drangen aus den Rheinauen bis nach oben. Vor zwei Jahren war er abends noch in Oldenburg nach Hause gekommen. Dort war es behaglich gewesen, aber jetzt war es himmlisch! Schiffe zogen malerisch am Haus entlang. Und als wäre sie extra bestellt worden, warf die Abendsonne ihr goldenes Licht über die Dächer, die zusehends von Schatten eingefangen wurden. Nicht ein Hauch ging durch die lichten Kronen der braunen Lorbeerbäume, die er schon lange nicht mehr gegossen hatte.

Baack schlürfte in kleinen Schlucken seinen Kaffee, die kühle Märzluft ließ den schwarzen Wachhalter dampfen. Langsam hob er das Kinn, beugte sich leicht über die Brüstung und blickte mehr als einhundert Meter in die Tiefe. Plötzlich ein Flattern. Ein Taubenschlag. Etwas Weißes klatschte neben ihm auf das Geländer. Erschrocken duckte er sich. Der Löffel in seiner Tasse wäre fast ins Auge gegangen. Schnell deponierte er den Becher auf dem nicht sehr breiten, aber ellenlangen Balkon und suchte den Himmel nach dem Flüchtigen ab. Seltsamer Vogel.

Baack lächelte. Das dachten seine Kollegen aus dem Polizeipräsidium auch über ihn. Als er entschieden hatte, ins obere Drittel des imposanten Colonia-Hochhauses in Riehl zu ziehen, erntete er nur Spott. Sollten die getrost über das längst antiquierte Schmuddelimage von Hochhäusern lästern. Für ihn lebte es sich fantastisch in diesem Turm, der den Namen seines Bauherrn trug. Demnach war er jetzt sogar ein Colonialist. Aus historischen Gründen ganz wichtig mit C am Anfang statt mit K, wie er gerne scherzhaft erläuterte. Ein bisschen stolz war er schon – auf seine Wohnung über Eck, die sich damit gleich in zwei Richtungen öffnete. Eine lärmfreie Alternative zu seiner niedersächsischen Heimatstadt mit einer beneidenswerten Aussicht, zum Rhein und zum Dom bis hin zum Bergischen Land und dem Siebengebirge. Manchmal konnte er sogar noch einen Blick auf die Skyline von Düsseldorf erhaschen.

Es war bereits dunkel gewesen, als er die Eigentumswohnung in diesem Riesen besichtigt hatte und Köln unter ihm magisch leuchtete. Fulminant, dass er dieses Immobilienangebot unweit des Zoos erhielt, vom Makler, der ein Freund des Polizeirats war. Netzwerken war nichts anderes als systematisches Kaffeetrinken mit den richtigen Personen. Wann sonst konnte es für ihn einen passenderen Zeitpunkt geben, um zu investieren? Ein Prozent Zinsen, zwei Prozent Tilgung. Waren bei fünfhunderttausend Euro, fünfzehntausend im Jahr, also zwölfhundertfünfzig im Monat. Das sollte bei seinem Gehalt zu rocken sein. Wenn nicht, hieße es, die Familienvilla in Oldenburg zu verkaufen. Das wollte er natürlich unbedingt vermeiden. Unabhängig davon, dass seine Urgroßeltern, Großeltern und Eltern sich geschlossen im Grabe umdrehen würden.

Baack rieb sich über die Oberarme. Warum konnte sein Pullover nicht weicher sein? Zumal dieses edle Fair-Trade-Teil so teuer gewesen war. Wie ein kratziges Fell klebte die Wolle an seinem Körper. Nichtsdestotrotz fühlte er sich wohl in seiner Haut. Lediglich seine Kehle war rau wie Sandpapier. Er ging in den offen gestalteten Raum, schob die Balkontür zu und atmete tief ein. Es roch nach frischem Holz … nach Farbe und Lack … und irgendwie nach Zukunft. Wohnzimmer und Küche hatte er zusammenlegen lassen. Dieser gesamte Bereich war sein Homeoffice, das ursprüngliche Arbeitszimmer sein Kleiderschrank. Er hatte alles geändert. Alles. Er hatte nicht nur umgebaut – er hatte sein Leben neu eingerichtet. Dieser Zauber, der ihm bisher nur unterschwellig bewusst gewesen war, wurde ihm jetzt schlagartig klar. Seine urbane Freiheit hatte mit dem Einzug in dieses außergewöhnliche Objekt begonnen. Nun freute er sich auf einen schönen, kräftigen Wein, stellte den geöffneten Primitivo auf den Schreibtisch und hielt das leere Rotweinglas prüfend ins Gegenlicht des laufenden WDR-Programms, als Jean Baptist Frings ihn breit anlächelte.

„Herr Frings, als Inhaber eines renommierten Wirtschaftsconsultingunternehmens, als General der Karnevalsgesellschaft Kölsche Köpp rut-wieß T.G. …”

KöKös, wie man uns liebevoll nennt”, ergänzte Frings.

„Oha, selbstverständlich. Also, als General der KöKös und als gebürtiger Kölner, aufgewachsen in einer Traditionsfamilie, fällt es Ihnen garantiert nicht schwer, uns zu verraten, ob die Kommunikationsbereitschaft dieser Metropole es einfacher macht, beruflich erfolgreich zu sein?”

Baack füllte langsam, aber stetig sein Glas und konnte Frings’ Antwort kaum erwarten.

Frings zupfte unruhig am Ohrläppchen und kniff die Augen zusammen. „Jede Region hat ihr Netzwerk – nicht nur das Rheinland. Wenn Sie verstehen, was ich meine?”, versuchte er elegant auszuweichen.

Baack verschluckte sich und hielt das Weinglas weit von sich, bevor ihn ein heftiger Hustenanfall packte. Er rang nach Luft, räusperte sich, Tränen schossen ihm in die Augen. Er wischte sich mit dem Ärmel des Pullovers übers Gesicht, atmete ein paarmal tief durch und nahm behutsam einen neuen Schluck. „Na, der hat Nerven. Nach dem, was ihm in letzter Zeit alles so passiert ist.” Baack stellte lauter.

„Herr Frings, wie geht es Ihnen nach dem Mord in der Flora und vor allem nach den vielen Bedrohungen, die Sie erleben mussten? Haben sich die Wogen geglättet und ist das Kölner Wohlfühlmilieu wieder in der Spur?”

Frings zog die Manschetten seines Hemds aus den Jackettärmeln und schob die Rolex in gut sichtbare Position. „Ja, zum Glück ist unser Leben wieder intakt. Aber wenn ich ehrlich bin: Es gelingt mir immer noch nicht, den Weg zur Riehler Redoute entspannt zu gehen”, seufzte er und schaute dabei so traurig zu Boden, als habe der Moderator ihm gerade sein Bobby Car geklaut.

Baack war fasziniert von Frings’ professionellem Auftritt. So jammerte man also, ohne zu jammern. Das Interview begann Baack Spaß zu machen.

Frings schaltete von jetzt auf gleich um, breitete beide Arme zur Kamera aus und strahlte übers ganze Gesicht: „Sie glauben gar nicht, welch tiefe Demut und Dankbarkeit ich in mir trage. Für so viel Mitgefühl, das mir nach dem Anschlag entgegengebracht wurde. Mein großer Dank gilt auch meiner wunderbaren Ehefrau Agi. Liebes – danke, danke, danke! Danke euch allen.”

Nicht nur Baack, auch der Moderator fühlte sich anscheinend von Frings gut unterhalten.

„Herr Frings, würden Sie für unsere Zuschauer noch einen Satz vervollständigen: Am liebsten bin ich …?”

„Prominent!”, prustete Baack lauthals hinaus und drückte dabei versehentlich den roten Knopf der Fernbedienung. Zu dumm, dass er deshalb Frings’ Ergänzung verpasste. Aber de facto blieb Baack ohnehin bei seiner These.

Er schaute auf die Uhr. Warum war er vorhin nicht einkaufen gegangen? Warum musste er immer den Einkaufszettel verlieren? Warum hatte er seine Brieftasche zu Hause vergessen? Darum hatte er jetzt den Salat. Wie ein Storch stolzierte er entlang der Küchenzeile auf und ab und schielte dabei auf die unterschiedlichen Essige und Öle, die penibel sortiert im Regal standen. Er öffnete den Hängeschrank, ließ den Teller erst einmal Teller sein und fischte eine kleine schwarze Cocktailserviette heraus. Ihr weißer Aufdruck entsprach seinem Mantra – satt und glücklich. Ergo hoffte er, dass der Fahrer des Restaurants jeden Moment zustellen würde.

Möglicherweise konnte der Portier, der auch in Notfällen vierundzwanzig Stunden an sieben Tagen der Woche à la James Bond zur Verfügung stand, weiterhelfen.

Er rief also bei 24/7 an.

„Das Colonia-Hochhaus, Sie sprechen mit …”

„Baack hier!”, unterbrach er die höfliche Männerstimme. „Sagen Sie mal: Ist etwas für mich abgegeben worden?”

„Was soll das sein?”

„Mein Essen.”

„Ihr Abendmahl?”

„So in der Art”, sagte Baack. „Na ja, eigentlich genau das.” Es stieß ihm sauer auf. „Meine Bestellung müsste längst angekommen sein”, versuchte er es erneut.

„Vielleicht an eine andere Adresse.”

„Das glaube ich nicht.”

Es entstand eine kleine Pause.

„Es tut mir leid. Der Hauseingang ist zwar barrierefrei, aber es wurden keine Speisen für Sie angeliefert. Das wäre mir aufgefallen. Ein barrierefreier Zugang bedeutet nämlich nicht, an mir vorbeizuhuschen”, sagte der Portier schließlich.

Baack unterdrückte ein Lachen. 24/7 war doch aufgeweckter, als er immer gedacht hatte. Er steckte eine Hand in seine Hosentasche und blickte zum Schachbrett. Da lag ja sein Portemonnaie. Wieder mal hatte er nach dem letzten Spielzug stattdessen den König eingesteckt.

„Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?”

Baack schüttelte den Kopf.

„Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?”, wiederholte die Stimme.

„Nein, danke.” Baack schüttelte noch einmal den Kopf.

„Sollte Ihre Order noch eintreffen, melde ich mich unverzüglich. Und falls wir uns nicht mehr sprechen, wünsche ich Ihnen eine erholsame Nacht.”

Baack nickte und warf einen zerknirschten Blick auf den Berg an Arbeit, der ihm bevorstand. Na, das sagte sich so einfach. Und nur, wenn man satt war.

Wie war noch die Nummer vom Restaurant? Ein Klingeln nahm ihm die Suche ab.

„Sie – wollte ich gerade anrufen! Wo bleiben Sie denn?”, blaffte er ins Telefon.

„Es ist uns sehr, sehr unangenehm, aber unser Fahrer hatte einen Platten und konnte nicht mehr weiterfahren”, erklärte eine hohe Frauenstimme verlegen. „Mittlerweile ist Ihre Bestellung natürlich kalt und nicht mehr genießbar, aber wir können Ihnen selbstverständlich eine Ersatzlieferung anbieten.”

„Heute noch?”

„Selbstverständlich! Warum fragen Sie?”

„Man weiß ja nie.”

„Hi, hi, das stimmt. Also, bis gleich.”

„Selbstverständlich, bis gleich.”

Er leitete ihr Versprechen an seinen Hunger weiter, kaute am letzten Schluck Wein, gönnte sich ein zweites Glas und setzte sich an den schweren, mit Schnitzereien verzierten Schreibtisch. Ein Erbstück seines Vaters. Schon als Knirps hatte er den Wunsch in seine Fußstapfen zu treten.

„Du bist, wie du sitzt”, hatte sein Vater ihm jeden Morgen vor dem Kindergarten erklärt. Also nahm Baack nach jedem Heimkommen an diesem eindrucksvollen Tisch Platz und half dem Vorsitzenden Richter des Oldenburger Oberlandesgerichts beim Verfertigen von Täterprofilen. Malte bunte Strichmännchen. Die Gestalten tummelten sich auf einer ausgemusterten vergilbten Tapetenrolle. Sie mussten miteinander verwandt sein – sonst wären sie nicht alle so dünn gewesen. Baack lächelte. Sein Vater war nicht müde geworden, seine kriminalistischen Qualitäten zu würdigen.

Während Baack die gerahmte Urkunde betrachtete, die er als Gastprofessor am Institute for Criminal Science der Universität zu Köln erhalten hatte, beschäftigte sich ein Teil seines Gehirns bereits mit den Masterarbeiten seiner Studenten. Er startete zwei Bildschirme. Seit dem letzten Wintersemester sollten Abschlussarbeiten zusätzlich auch in digitaler Form über ein Online-Portal fristgerecht eingereicht werden. Baack klickte die letzte Seite jeder Arbeit an. Wer keine unterschriebene eidesstattliche Versicherung angefügt hatte, musste leider wiederholen. Er wusste, dass das bitter war. Aber im Gegensatz zu anderen Professoren kam das bei ihm nur selten vor. Und im Gegensatz zu anderen Professoren prüfte er am liebsten die gedruckten Exemplare. Es machte schließlich auch viel mehr Spaß, einen einzigen Waldspaziergang an der frischen Luft zu genießen, als tausend Herbstbilder auf Pinterest anzuklicken. Es machte so viel mehr Spaß, mit einer großen Tüte Popcorn im Kino zu sitzen, als beim Streamen einzuschlafen. Es machte so viel mehr Spaß, mit Wein und Tapas in Papierfluten abzutauchen, bevor es am nächsten Tag digital weiterging. Also Cheers! Auf seinen Abend.

Baack rückte zig Kladden zurecht, schnappte sich die oberste und blätterte die Seiten mit Titel und Inhaltsangabe um. Er war gespannt auf das erste Thema, die wissenschaftliche Originalität und die zugrundeliegende Logik. Manchmal ging die Fantasie mit den Studierenden durch. Fantasie war eine mächtige Kraft, die der Menschheit zur Verfügung stand. Auch Mördern.

„Aus dem Hinterhalt”, las er laut vor, schüttelte den Kopf und zückte den Stift mit der Kölschen Tinte, um prompt den ersten Kommentar an den Rand zu schreiben – und die Arbeit war lang. Mist, jetzt hatte er gekleckst.

Schnell holte er ein Taschentuch hervor, presste es auf den blutroten Fleck und versuchte sein Malheur zu vertuschen. Unaufhaltsam pauste sich der Punkt durch den Baumwollstoff. Wurde länger und breiter. Wie Löschpapier saugte sich das Gewebe voll. Bevor die Tinte das gestickte Monogramm erreichte, zog er das Tuch ab, zerknüllte es und stopfte es zur Schachfigur in die Hosentasche. Sein Kunstwerk wollte er beim nächsten Drogeriemarktbesuch vorzeigen und dort nach einem Tintenkiller suchen. Den Patzer auf der Masterarbeit verbuchte er als Pech.

Glück verspürte Baack, als er die schwarze, mit zwei weißen Domspitzen applizierte Kappe auf sein exklusives Schreibgerät steckte. Zur Feier seines neuen Lebens als Kölner Kriminalhauptkommissar hatten liebe Kollegen ihm diese Freude bereitet. Sie wussten, er hatte ein Faible für Schönes und Besonderes aus Traditionshäusern wie Ortloff. Er mochte das leicht schabende Geräusch, wenn der Kölsche Füller über das Blatt strich. Er mochte es, wenn man spüren konnte, dass es ein Mensch war, der andere Menschen bewertete. Klecksen war sehr menschlich.

Baack führte eine Hand zum Rücken, die andere zum Bauch und lehnte sich nach hinten. Die Muskeln krampften, der Magen knurrte, und in einer der Masterarbeiten bedachte ein Student einen brisanten Gerichtsbeschluss mit ungewöhnlich scharfer Kritik. Die Richter hätten durch die Augen der Täter gesehen und Zeugenaussagen in etlichen Punkten nicht geglaubt, lautete seine Einschätzung.

Baack war mittlerweile überzeugt, dass es ein langer Abend werden würde. Aber er war sowieso ein Schlafloser, stellte die Bildschirmhelligkeit auf Night Shift und verglich, blätterte, prüfte. Prüfte, blätterte und versank in die Masterarbeiten über beispiellose Mordserien. Zweitausend Seiten Abgrund lagen vor ihm – und er war erst auf hundertachtzig, als aus dem Nichts das Licht ausging.

2. Gute Nacht!

Wie war das möglich? In seinem Schädel hatte sich ein pochender Schmerz eingenistet. Und jetzt das noch: keine Tabletten, kein Strom und null Ahnung, wo er die Energie für die kommenden Stunden hernehmen sollte. Auch nicht für den leeren Akku seines Handys.

Toll. Baack machte die Augen auf und zu und lauschte dem Aufheulen des Nachtwinds, der stärker schien als sonst. Außerdem war ihm flau, was mit jedem Vorwärtstasten stärker wurde. Er öffnete den Kühlschrank. Nichts. Kein Licht. Eigentlich gut, dass er leer war.

Mit ausgestreckten Armen hangelte er sich weiter voran. Von Lichtschalter zu Lichtschalter, hin zum Sicherungskasten. Mehrfach drückte er die kleinen Hebel runter und hoch. Wieder nichts. Vorsichtig tapste er zurück ins Wohnzimmer. Seine Augen hatten sich allmählich an die Dunkelheit gewöhnt. Sah es draußen ähnlich aus wie drinnen?

Er öffnete die Glasfront einen Spalt und zwängte sich durch. Vereinzelte Regentropfen akupunktierten das Gesicht, der Kopfschmerz war wie weggeblasen.

Mit beiden Händen stützte er sich an der Brüstung ab und seine Gedanken überschlugen sich, als er hinüber zur Lanxess Arena, dem Rheinpark und dem Messeturm und weiter flussabwärts nach Mülheim schaute. Rechtsrheinisch war alles beleuchtet und sein Blick wanderte rheinaufwärts. Zwei, drei Binnentanker schlingerten übers Wasser. Ob der Dom noch leuchtete? Ja, er leuchtete noch.

Doch ab da …

Er spürte die Kälte durch die engen Maschen seines Pullovers kriechen. Blitze spukten durch die Nacht. Kein Grollen, kein Dauerhupen dröhnte. Keine Laternen, keine City Lights, keine Ampeln brannten. Von Zeit zu Zeit krochen Autos durch die Straßenschluchten. Ihre Scheinwerfer tauchten die Bäume auf der Allee am Ufer in ein schemenhaftes Licht. Baack verfolgte einen Lichtkegel, bis er irgendwo hinter einer Krümmung verschwand. Die Bürgersteige waren menschenleer. Stellenweise blinkten orangefarbene Pünktchen. Wo sonst das Leben pulsierte, wirkte alles wie gelähmt. Zwei Busse standen quer auf einer Kreuzung. Ein paar Silhouetten wandelten drumherum. Blaue Flecken tanzten an Fassaden. Baack pendelte gegen eine Böe an. Über ihm knallte ein Fenster zu.

Sie gefiel ihm nicht, die Lage. Sie gefiel ihm ganz und gar nicht. Der Kölner Norden steckte unter einem schwarzen Schleier.

Vielleicht wusste 24/7, was passiert war.

 

Auf Strümpfen betrat Baack den langen Flur auf der vierunddreiszlig;igsten Etage. Allein der flauschige, bordeauxrote Teppichboden schuf die Stimmung einer gehobenen Hotellobby. Dazu diese Stille. Alles war unendlich still. Ruhe konnte einen derart stören. Hatten die Nachbarn nichts mitbekommen? Rund eintausend Bewohner schienen süß zu träumen. Das gesamte vertikale Dorf bereits im Tiefschlaf?

Eine spärliche Beleuchtung existierte zumindest. Anscheinend waren die Gemeinschaftsbereiche an ein Notstromsystem angeschlossen. Das wunderte ihn nicht. Vor seiner Kaufentscheidung hatte er die riesigen Technikräume besichtigen dürfen. Sie glichen dem Maschinenraum eines Luxuskreuzfahrtschiffs.

Er lief den Gang entlang, vorbei an Wohnungstüren, passierte die etageneigenen Müllschlucker und Briefkästen und drehte sich wiederholt um. Ob die Überwachungskameras noch funktionierten? Und was war mit der Alarmanlage?

An den vier Schnellaufzügen meldete sich erneut sein Magen zu Wort. Aufzüge waren super! Wenn sie fuhren, konnten sie satt machen und Tapas nach oben schaffen.

Leise schlich er weiter und näherte sich der Ausgangstür, die ins Treppenhaus führte. Mit Bedacht betrat er den Absatz und ließ langsam das Schloss hinter sich einschnappen. Auch hier war niemand zu sehen. Doch.

Es war jemand da. Er spürte es, drückte sich gegen die Hauswand und hörte ein Brummen. Tieffrequent. Ob der elektronisch gesicherte Zugang über das hauseigene Parkhaus auf der dritten Ebene auch am Notstrom angeschlossen war? Oder stand der offen?

Eilig nahm er die erste Stufe. Dann die zweite. Dann die dritte. Die waren kein Problem. Auch die folgenden nicht. Auch wenn es viele waren. Und gerade jetzt – viel zu viele. Gut zehn Minuten würde er bis ins Erdgeschoss brauchen. Zurück sähe es bei seiner Kondition für die rund einhundertzehn Höhenmeter vermutlich mau aus.

Er hastete von Etage zu Etage. Die Notbeleuchtung flackerte. Eine Tür schlug zu. Er blieb stehen. Horchte. Auf ein Klacken. So metallisch und hart. Baack hielt sich am stählernen Handlauf fest. Da, erneut das Klacken. Diesmal war es sein Ring gewesen, er schluckte. Verhalten schaute er um die nächste Ecke. Ein Schatten huschte weg. Schritte folgten.

„Hallo?”, rief Baack. „Hallo, ist da jemand?”

Ein Klopfen. Ein Quietschen. Ruhe. Bis auf das Brummen. Es lärmte immer lauter und ächzte aus dem letzten Lamellengitter der Lüftungsanlage.

Baack suchte nach seinem Taschentuch. Schläfen und Nacken waren pitschnass und er jagte weiter nach unten. Schneller. Noch schneller. Nahm zwei Stufen auf einmal. Übersprang die letzten fünf, rutschte beinahe auf den Strümpfen aus und riss die Tür vom Erdgeschoss auf.

Hechelnd stand er vor 24/7.

Der Portier guckte ihn fragend an. „Trainieren Sie für unseren alljährlichen Treppenlauf?”

„Gegenfrage: Sind meine Tapas da?”

„Nö.”

Baack beugte sich vor, richtete sich aber gleich wieder auf und pumpte Luft. Er musste dringend an seiner Fitness arbeiten und zeigte nach draußen auf die dunkle Straße. „Wissen Sie, was passiert ist?”

Der Portier musterte unverhohlen Baacks Socken, und auf seinem Gesicht stand ein Der-geht-mir-auf-den-Senkel-Grinsen. Schließlich zog er die Schultern hoch und schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung. Ich kenne den Grund nicht. Stromausfälle können immer passieren. Man muss nicht immer alles so schwarzsehen.”

„Aber es gab keinen Alarm!”

„Warum auch?”, fragte der Portier ungerührt und machte ein Gesicht, als dächte er über ein kniffliges Kreuzworträtsel nach. Dann erklärte er Baack mit furchtbar wichtiger Miene: „Es brennt nicht. Würde es brennen, hätte das den Alarm ausgelöst.”

„Und bei einem Stromausfall?”

„… schaltet unsere Anlage einfach auf Akkubetrieb um und läuft weiter. Allerdings …”

„Ja?”

„… meldet unser System eine Störung. Das zeigt mir das Bedienfeld der Alarmanlage an.”

„Alle Achtung. Wie schlau ist das denn?” Baack konnte die altkluge Belehrung von 24/7 auf leeren Magen nur schwer ertragen. Bestimmt war er schon ganz bleich im Gesicht.

Der Portier hingegen verfügte über eine gesunde, sonnenverwöhnte Hautfarbe. Und das war nicht das Einzige, was an ihm frisch aussah. Dunkelblauer Anzug, weißes Hemd, dunkelblaue Krawatte zu grau melierten, vollen Haaren rundeten das Bild eines Vorzeigeconcierges ab. Dazu duftete er nach Zedern. Etwas zu harzig, aber sehr passend zu seiner leicht hölzernen Borniertheit.

Baack kam zum Punkt. „Was ist denn mit den Wohnungen? Für die gibt es keine Notstromversorgung, oder?”, fragte er und hoffte dadurch, sein Glück zu erzwingen, wenn er schon kein Abendbrot bekam.

Der Portier guckte entgeistert. „Notstrom für die Wohnungen? Nee, das wäre völlig übertrieben!”

„Hm.”

„Wenn man nachts schläft, ist es ja auch dunkel. Oder brauchen Sie dafür Licht?”

„Nein …”

„Gute Nacht!“

3. Der Absturz

„Neeein!” Sie tobte. Johanna Krämer verfolgte ihren Mann durch die gesamte untere Etage.

Ferdinand Krämer erkannte seine Ehefrau nicht wieder. Er hob den Fuß und kickte gegen die Wohnzimmertür. Mit der Fernbedienung unter der Achsel balancierte er je einen ordentlich aufgeschichteten Stapel aus Lakritzschnecken und frisch gebackenen Schokokeksen auf den Handflächen und schaffte es tatsächlich bis auf die Couch. Sorgfältig positionierte er seine Wackelkandidaten auf jeweils einem grauweißen Bouclékissen und kuschelte sich gemütlich dazwischen. Der Fernseher flimmerte und mit jedem Programmwechsel schob er sich synchron eine Handvoll Kekse, eine Handvoll Lakritz in den Mund. Ein aufregendes Zusammenspiel. Aber dass seine Gattin ihn mit einem Küchenmesser bedrohte, fand er überhaupt nicht lustig. Das hätte er nicht von ihr gedacht. Im Traum nicht.

Krämer schmatzte leise. Dösen war paradiesisch. Vor allem im Gegensatz zu diesem Geschrei …

„Ferdinaaand!“

Dann herrschte für einen kurzen Moment wieder Stille.

„Ferdinaaand!“

Gähnend öffnete er einen Spalt breit die Augen, zog unwirsch die Wolldecke über den Kopf und räkelte sich noch einmal.

„Fer…din…and!“

Er traute seinen Ohren kaum. Seine Herzdame schien tatsächlich im Motzmodus zu sein. Mürrisch richtete er sich auf, dabei purzelte die Fernbedienung auf den Teppich. Unwillkürlich betrachtete er den schwarzen Bildschirm. Richtig, er hatte buchstäblich verpennt, ihn einzuschalten und stierte zunächst Richtung Küche, dann ausgiebig zum Terrassenfenster. Ein blasser Schein ließ vorübergehend feine Schlieren sichtbar werden. Ein paar Blätter, die noch vom Herbst liegengeblieben waren, wirbelten kurz durch die Luft und schwebten langsam zu Boden. Dann war wieder alles dunkel. Stockfinster. Seltsam. Üblicherweise brannte die Außenbeleuchtung des Nachbargrundstücks. Zumindest, wenn es noch vor dreiundzwanzig Uhr war. Er streckte den Arm und knipste die Stehlampe an und aus, an und aus. Keine Reaktion. Aber auch das hatte nicht viel zu sagen. Ihm fiel ein, dass die Birne bereits gestern defekt gewesen war.

Mit Schwung wuchtete er sich hoch, folgte dem Gekeife und fiel im Flur fast über Johannas Füße.

„Ach, auch schon wach?”, stöhnte sie süffisant.

Krämer versuchte die Fassung zu wahren und kramte wortlos in der Flurkommode. Soweit er wusste, befand sich das Teil in diesem Fach. Er hantierte an etwas Länglichem, schaltete die Taschenlampe ein und beleuchtete ihr Gesicht.

„Kannst du mir bitte mal verraten, was hier los ist? Was gibt das, wenn es fertig ist?”

„Feeertig?”, fragte Johanna empört und klagte übergangslos: „Ich bin völlig erschöpft!” In ihrer Stimme schwang eine Dosis Weinerlichkeit mit und sie scheiterte an dem Versuch, mit zusammengebissenen Zähnen zu lächeln. Abwartend schaute sie ihn mit ihren Kulleraugen an, die ihn normalerweise dahinschmelzen ließen. Zu den hellblauen Augen gehörten energisch geschwungene Brauen, feine Zornesfalten und eine Stupsnase, an der ein Tropfen hing.

„Tempo?” Krämer reichte ihr ein Taschentuch. „So ein Theater zu veranstalten! Warum kauerst du auch hier unten auf dem Treppenabsatz?”, wollte er wissen. „Und, warum hast du einfach im gesamten Haus das Licht ausgeschaltet?”

„Ach nee … das fragt der Richtige. Ausgerechnet du … mit deinem Nachhaltigkeitsfimmel! Sonst beschwerst du dich doch immer, dass ich eine Festbeleuchtung inszeniere. Und danke dafür, wie du es verstehst, mich zu trösten.”

Krämer bemerkte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg, und half ihr endlich auf. Sie zitterte, als stünde sie in einem kalten Wind, aber gleichzeitig stemmte sie bereits wieder die Hände in die Hüften und pustete sich eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht.

Sie war zweifellos hart im Nehmen. Und gewiss im Geben. Ob sie ernsthaft vorhatte, ihn erneut zu beschimpften und für ihren Absturz verantwortlich zu machen? Dabei hatte er heute Abend nur seine Ruhe gewollt.

„Kann es sein, Johanna, dass beim Bügeln eine Sicherung rausgesprungen ist? Das Eisen ist uralt.”

„Mein lieber Mann, ich war gerade auf dem Weg nach unten, als plötzlich das Licht ausging. Und zwar ohne mein Zutun. Soll heißen: Wir haben keinen Strom!”

„Im gesamten Haus?”

„Woher soll ich das wissen?”, fragte Johanna und rieb sich die Hüfte.

In wenigen raschen Schritten war Krämer am Eingang und riss die Tür mit einer Mischung aus Sorge und Gereiztheit auf. Das konnte er brauchen. Eine umgefallene Mülltonne blockierte den Gehweg. Angestrengt versuchte er etwas zu erkennen. Nur ein leises Schnurren und gelegentliches Fauchen war zu hören. Aus einem stecknadelkopfgroßen Punkt wuchs ein Strahlenbündel heran und verkleinerte sich wieder. Das Geknatter verstummte. Krämer schluckte mühsam und spürte Johannas Blick im Nacken.

War es Wirklichkeit, was er vermutete? Oder nur Einbildung, weil er sich seit Wochen überreizt und übermüdet fühlte. Vielleicht war es nur ein Zwischentief? Vielleicht schien morgen wieder die Sonne? Still schwitzte er vor sich hin, da hörte er Johanna abermals klagen.

„Aua, aua … ahhh!”

Krämer drehte sich zu ihr um.

„Ist es noch sehr windig?”, fragte sie und ihre Stimme klang gepresst.

Er schüttelte den Kopf.

„Was ist denn jetzt los?” Streng schaute sie ihn an.

„Hier geht gar nichts mehr”, sagte er trocken und erntete dafür erneut einen strafenden Blick.

„Das weiß ich! Aber wie kann es sein, dass das Licht nur bei uns aus ist?”

„Ist es nicht.”

„Was willst du damit sagen?” Johannas Ton hatte an Schärfe gewonnen.

Krämer schwieg.

„Was ist, Ferdinand?”

„Es ist unwichtig.”

„Mir aber nicht.”

Das Licht der Taschenlampe wackelte. Mit jeder Faser seines Körpers witterte er Trouble. Zorn brach in ihm los und er hieß ihn willkommen. „Alles aus, einfach aus!” schäumte er über und sein Puls ging auf Anschlag. „Wupp, auf einen Schlag ist alles weg! Überall! Aber dafür ist mein Trauma da!”

„Ich bin dein Trauma?”, fragte Johanna erschrocken und klammerte sich ans Treppengeländer.

„Doch nicht du! Das, was sich da draußen abspielt, könnte mein Albtraum werden. Alles ist tot. Nirgendwo brennt Licht. Und ich vermute, wir sind mit dem Problem nicht allein!”

„Hm, ist ganz Riehl betroffen?”

„Riehl, Niehl, Nippes, Weidenpesch, Mauenheim, Bilderstöckchen, Merkenich … Ich kann es dir nicht sagen!”

„Das ist doch nicht zu fassen! Wir sind in Köln erstklassig vernetzt”, meinte Johanna.

Er fuhr sich über die stoppeligen Haare. „Ich ärgere mich schwarz!”

„Duuu? Wirklich, Ferdinand. Du ärgerst dich schwarz? Und was ist mit den grünen und blauen Flecken, die ich garantiert bekomme?” Johanna fasste sich ans Steißbein. „Morgen früh können wir wahrscheinlich noch nicht einmal warm duschen. Und Schuld daran sind vermutlich einzig und allein deine Rheinischen Überlandwerke. Welcher Kopf der RÜW das wohl zu verantworten hat?”

„Klar, jetzt bin ich wieder der Buhmann.” Krämer atmete mit einem Seufzer aus. Er hatte im Laufe seiner langen Ehe gelernt, sich möglichst nicht mit Johanna anzulegen. Sie würde alles daransetzen, es ihm bei nächster Gelegenheit heimzuzahlen. Wären seine Jagdklamotten versaut, blieben sie versaut. Hätte er Appetit auf kräftigen Eintopf, gäbe es Low Carb. Würde er die Rallye Dakar planen, führe sie mit ihm Schlitten. Um diese wüsten Gefahren auszuschließen, durfte er Johanna nicht alles auf die Nase binden. Zum Beispiel, dass er wieder einmal eine größere KöKö-Uniform schneidern ließ und bei Renault einen Elektroflitzer für sie bestellt hatte. Das Leasing ihres geliebten Countryman lief bald aus. Also durfte sie jetzt besser auch nicht wissen, dass er eigentlich überhaupt keine Zeit mehr für sie und ihre Wehwehchen hatte, und am liebsten schon längst im Wohnzimmer am Tisch und am Handy wäre.

„Komm!”, sagte er mit einer bewusst sonoren Stimme. „Magst du dich auf die Eckbank in der Küche setzen? Pass auf, ich stütze dich … so ist gut … langsam! Gleich haben wir es geschafft.” Dann schnappte er sich Streichhölzer und zündete für Johanna eine Kerze an. Wenn man am liebsten aus der zweiten Reihe agierte, hieß das nicht, dass man nicht wusste, was man wollte. Im Gegenteil. Dafür gab es ein simples Wort: Diplomatie.

„Besorgst du mir wenigstens noch eine Kühlkompresse, bevor der Eisschrank komplett abgetaut ist und die Truhe zum Überlaufen bringt?”, drängelte Johanna.

„Sehr gerne, aber dann muss ich endlich telefonieren – Schatz.”

 

„Suche erfolgreich?”, fragte Krämer und zog die Wohnzimmertür ein Stück weit zu. „Was Sie nicht sagen … Fehler im Netz … wie Kai aus der Kiste? … Da wäre ich nicht draufgekommen. Und jetzt? … Es gelingt Ihnen nicht, dass der Strom fließt. Ich bitte Sie! Was heißt, der Entstördienst ist dran? … Moment! Geben Sie mir mal den Einsatzleiter”, sagte er in Habachtstellung, tastete nach einem Glas Wasser und trank wie ein Verdurstender. Durch die Zufuhr von Flüssigkeit sollte man angeblich besser fokussieren können. Trink dich schlau war ihm sowieso viel lieber als Trimm dich fit.

Als der Einsatzleiter ihn besänftigen wollte, setzte Krämer zugleich an: „Drei Probleme haben wir. Erstens: Sie scheinen nicht ganz bei Trost zu sein oder warum geht Ihnen kein Licht auf, wie Sie zu einer flotten Lösung kommen? Zweitens: Wo bleibt Ihr proaktives Arbeiten? Gerade agiles Vorgehen zeichnet Mitarbeiter aus. Ist es so schwer, das umzusetzen? Drittens: Unsere RÜW ist einer der innovativsten Energieversorger der Region. Und das wollen wir auch bleiben. Dafür agieren wir dicht am Puls der Zeit. Die RÜW beliefert mittlerweile über hunderttausend Privat- und Gewerbekunden mit Ökostrom und steuert einen klaren Wachstumskurs. Das gehört zu unserer Historie. Unser größter Marktanteil liegt im Kölner Norden. Und Sie wissen nicht, wann dort wieder das Licht angeht? Und behaupten lapidar, alles sei im grünen Bereich? Legen Sie mal ’ne Schippe drauf!”

Krämer warf sein Smartphone auf die geölte Eichenplatte, wischte sich mit dem Ärmel die Nase und sank verzweifelt auf einen Armlehnstuhl. Er hätte in die Tischkante beißen können. Sowas von.

Zur Beruhigung spielte er mit der Taschenlampe. Ließ den Lichtkegel auf dem massiven Holzboden kreisen. Folgte in Wellenbewegungen den groben Rippen und Knötchen eines ungebleichten Schafwollteppichs. Er mochte den Norden. Er mochte Schafe. Aber Lammfleisch käme bei ihm niemals auf den Grill. Das Lämmerleben war viel zu schön, um nur so kurz sein zu dürfen.

Krämers Blick wanderte weiter und streifte synchron mit dem Spot über den Boden. Er glaubte, dort ein Centstück erkannt zu haben. Oder täuschte er sich?

„Wer den Pfennig nicht ehrt”, grübelte er laut. Ob das nach wie vor galt? Ihm kamen die Grundschulzeiten in den Sinn und die Einstellung seines engsten Freundes Jean Baptist Frings. Der war fest davon überzeugt, dass man dem Geld entgegengehen müsse. Nur deshalb seien die Frings’ und Krämers seit Generationen so erfolgreich. Das klang wie aus einem Poesiealbum der dritten Klasse, aber er wusste genau, was Frings meinte. Der Fuchs. Und in dieser Sekunde lachte ihn das glänzende Centstück an. Wenigstens eine Suche, die ihm erspart blieb.

Unter Hochspannung griff er aufs Neue zum Telefon. Tapfer horchte Krämer nach: „Wie weit sind Sie? … Es bleibt noch eine Zeitlang düster? Düster ist, dass Sie so tun, als hätten Sie mit Strom noch nie etwas zu tun gehabt. Können oder wollen Sie nicht? Liegt es am Sturm? … Ist es Materialschwäche? … Beeilen Sie sich, nicht pennen!”

„Ich geh schlafen, Ferdinand!”, rief Johanna.

 

„O Wunder, dass Sie tatsächlich doch noch den Lichtschalter gefunden haben. Woran hat es denn nun gelegen?” Krämer hatte ein paar Stunden später keinerlei Zweifel, dass es eine einfache, dumme Erklärung für den Stromausfall geben musste. Erleichtert griff er nach einem dicken Block und malte mit einem Bleistift schon einmal drei Kreuze über Johannas ungeheure Einkaufsliste. Hoffentlich lag das Naheliegendste nicht fern.

„Ach! Verschleiß war nicht die Ursache? … Und die Böen? … Klar können die den Hochspannungsleitungen normalerweise nichts anhaben, aber was ist mit umgestürzten Bäumen oder herabgefallenen Ästen? … Auch nicht. … Es sind keine Masten umgefallen? … Der Sturm war gar nicht der Auslöser? … Aha, die Böen waren nur lokal?”

Krämer sah zu der Domplastik, die auf einem Absatz in der Wand thronte. „Nein, das muss ein Trugschluss sein!” Hoffentlich merkte der Mann am anderen Ende nicht, wie sein Herz raste. „Das ist in der über einhundertjährigen Firmengeschichte noch nicht vorgekommen!” Senkrecht bohrte er die Mine in das Papier. Die Spitze brach ab.

„Waaas?”, würgte Krämer hervor. Seine Lippen bewegten sich wie im Gebet. Er brauchte frische Luft.