Leseprobe Nah am Tod gebaut

Kapitel 1

»Du bist meine Rettung. Die Autos der anderen waren schon voll.« Walter verstaute sein großes Protestschild auf der Rückbank, nahm auf dem Beifahrersitz Platz und musterte Rubys reflektierende Laufjacke. »Hab ich dich beim Sport gestört?«

»Ich hatte noch nicht angefangen.« Ruby beobachtete im Rückspiegel den Verkehr, um eine Lücke zu finden. Doch es schien, als wenn an diesem Freitagmorgen auch schon alle Touristen auf der Main Street unterwegs waren.

»Tut mir leid.« Walter schaute über seine Schulter. »Hier ist jetzt frei.«

»Ist nicht so schlimm. Wenn es nachher nicht zu heiß ist, laufe ich einfach dann.« Ruby nutzte eine rote Ampelphase, fuhr rückwärts auf die Straße und fädelte sich in den Verkehr ein.

»Du fährst mittlerweile recht gut, oder?« Walter lehnte sich entspannt zurück.

Wie zum Beweis schaltete Ruby, ohne dass Morgans alter Volvo ins Stottern kam. »Gefühlt hab ich den Sommer über hier mehr hinterm Steuer gesessen als je zuvor in meinem Leben.«

Hinter dem Ortsausgang von Paradise wartete Ruby, bis der Gegenverkehr nachließ, bevor sie eine Gruppe Radfahrer in grellen Outfits überholte. Es war ihr ein Rätsel, wie man freiwillig in den Rocky Mountains Fahrrad fahren konnte. Nicht nur, dass es generell anstrengend war, einen Berg hinaufzufahren – die dünne Luft machte es noch schwieriger. Gerade zu Beginn ihres Aufenthalts hatte Ruby ihre Laufrunden deshalb oft extrem verkürzen müssen. Da wollte sie sich gar nicht ausmalen, wie anstrengend es sein musste, kilometerlang bergauf zu radeln.

»Warum genau ist diese Anhörung verlegt worden?«, fragte sie, nachdem die Straße vor ihr wieder frei war.

»Weil Doug die Öffentlichkeit möglichst raushalten will. Dabei hat er bei der Bürgermeisterwahl noch großspurig verkündet, dass er immer ein offenes Ohr für seine Schäfchen haben wird!«

»Erwartet er Gegenwind für seine neuen Pläne?«

»Gegenwind? Das ist ein Tornado, der da auf ihn zurollt! Aber wenn er denkt, er wird uns los, nur weil er die Anhörung spontan aus dem Rathaus in den Nationalpark verlegt, kennt er uns schlecht.« Walter ballte die Fäuste.

Am Highway erschienen Schilder, die auf den Eingang des Nationalparks hinwiesen. Ruby fuhr genau so langsam, wie es die Schilder vorgaben. Die Straße verbreiterte sich zu vier Spuren.

Als sie auf den hölzernen Bogen des Nationalparks zufuhren, reckte Walter seinen Hals und tippte an die Scheibe. »Wieso stehen die dort am Rand? Stopp mal bitte.«

Ruby hielt direkt hinter der Kolonne parkender Autos, um die herum junge Leute mit Protestschildern standen.

Sofort kam ein junger Mann zur Beifahrerseite und sprach Walter durch das offene Fenster an: »Die Schweine lassen uns nicht rein!«

»Was? Die können uns doch nicht den Eintritt in den Park verweigern!«

»Angeblich schon. Der Ranger hat irgendeinen Paragrafen runtergeleiert. Sandy telefoniert gerade mit ihrer Schwester. Die arbeitet bei einem Anwalt und klärt, ob das legal ist. Wenn nicht, stürmen wir rein!« Der junge Mann streckte die geballte Faust in die Luft, was von den anderen Protestanten mit Jubel begrüßt wurde.

Eine Frau, die ein wenig abseits telefonierte, winkte ihm hektisch zu. Er schlug siegessicher auf die Motorhaube, als er zu ihr ging. »Wir sehen uns gleich drinnen!«

Ruby legte den Rückwärtsgang ein.

Walter schnallte sich ab. »Warte, lass mich erst aussteigen.«

»Keine Sorge, ich fahre nicht zurück nach Paradise.« Sie blinkte und fuhr auf den Torbogen zu. »Soweit ich weiß, gibt es kein Gesetz, das jemandem den Zutritt zu einem Nationalpark verweigern könnte. Außer, es wäre Gefahr im Verzug, also zum Beispiel bei einem Waldbrand.«

»Aber …«

Ruby griff nach hinten und zerrte Walters Schild hinter ihren Sitz. »Lass mich mal machen.«

Sie kamen an dem kleinen Eingangshäuschen zum Stehen.

»Wir hätten gern ein Tagesticket.« Ruby holte ihre Kreditkarte hervor.

Der Ranger hielt ihr das Kartenlesegerät hin. »Brauchen Sie eine Übersichtskarte?«

Das Gerät piepste, als Ruby ihre Karte darüber hielt. »Nein, danke. Wir wollen uns erst mal im Infozentrum umschauen.«

»Dann hier gleich rechts abbiegen, können Sie gar nicht verfehlen.« Er beugte sich vor und gab ihr ein Ticket. »Dies legen Sie bitte hinter die Windschutzscheibe. Einen schönen Tag!«

Ruby bedankte sich und rollte durch den Eingang.

»Der hatte keine Ahnung.« Walter kicherte.

»Wir zwei sehen halt nicht wie die Krawallmacher da hinten aus.« Ruby bog rechts ab.

»Das sind keine Krawallmacher«, wies Walter sie zurecht. »Es sind junge Menschen, denen das Wohl dieses Planeten am Herzen liegt. Und manchmal muss man dafür leider lauter schreien, damit einem jemand zuhört.«

***

Ohne Probleme fanden die beiden im Informationszentrum den Wildflower-Saal. Als sie eintraten, war eine lautstarke Diskussion im Gange. Überrascht erkannte Ruby Heather, die Besitzerin der Alpakafarm. Sichtlich aufgebracht redete diese vom Zuschauerraum aus auf eine Gruppe ein, die an einem großen Tisch auf dem Podium saß.

»Wenn ihr glaubt, dass ihr hier unter der Hand mal eben weitere Grünflächen zuballern könnt, habt ihr euch geschnitten! Wir haben eine Stimme, und wir werden sie nutzen!«

Eine Frau in einer Rangeruniform auf dem Podest machte eine beruhigende Handbewegung. »Bevor wir in die öffentliche Anhörung gehen, soll…«

»Pah!«, unterbrach Walter sie. »Von wegen öffentlich! Erst die Anhörung verlegen und dann die Leute nicht reinlassen. Das ist ein regelrechter Ausschluss der Öffentlichkeit.« Er zeigte mit dem Finger auf einen Mann, der ganz rechts am Tisch saß. »Du hast bei der Wahl versprochen, Paradise zum Paradies zu machen. Doch zusammen mit deinem Buddy Mitchell hast du es in den letzten Jahren nur zubetoniert. Aber damit ist jetzt Schluss!«

Heather boxte mit der Faust in die Luft. »Genau!«

Ruby legte dem erregten Walter eine Hand auf die Schulter und drückte ihn langsam auf einen der Plastikstühle. Der Bürgermeister atmete tief ein, doch bevor er etwas sagen konnte, schlug die Rangerin mit beiden Handflächen auf den Tisch. »Ruhe! Ich hab den Raum zur Verfügung gestellt, und wer sich hier nicht benimmt, fliegt raus. Ist das klar?«

Betretenes Schweigen legte sich über die wenigen Anwesenden. Auch Heather ließ sich auf ihren Platz sinken und legte die Hände in ihren Schoß. Ob sich ein Interview mit ihr lohnen würde?, überlegte Ruby. Alans Begeisterung für die Artikelideen, die sie ihm den Sommer über geschickt hatte, hätte bequem durch ein Nadelöhr gepasst. Offenbar stand sie nach dem Skandal im Frühjahr beim Chefredakteur der New York Gazette noch immer nicht besonders hoch im Kurs.

Der Bürgermeister räusperte sich. »Ich würde vorschlagen, wir fangen dann jetzt an.«

Sofort sprang Heather wieder auf. »Es ist noch nicht elf Uhr! Vielleicht kommt noch jemand.«

Als wenn Heather in einem Gerichtssaal die Ordnung unterbrochen hätte, bedachte die Rangerin sie mit einem strafenden Blick. An den Bürgermeister gewandt, sagte sie: »In zehn Minuten geht’s los.« Sie verließ das Podium und ging durch die Stuhlreihen hindurch in Richtung Ausgang.

Es war dem Bürgermeister anzusehen, dass er sich über ihre Zurechtweisung ärgerte. Aber mit der Verlegung der Anhörung vom Rathaus hierher hatte er sein Hausrecht abgegeben und musste sich ihr fügen.

Walter atmete laut. Ruby wusste nicht genau, wie alt er war, aber sie war sich sicher, dass ihn allein der spontane Ortswechsel aufgeregt hatte.

»Willst du was trinken?« Sie deutete auf einen Tisch an der Wand, wo Gläser und Wasserkaraffen standen. Natürlich wurde im Rocky Mountain National Park kein Wasser in kleinen Plastikflaschen angeboten, sondern Wert auf Müllvermeidung gelegt.

Ehe Walter antworten konnte, wirbelte Heather herum. »Ruby?« Sie strich sich eine Strähne ihres hüftlangen, blonden Haares zurück, das ihr äußerlich eine Ähnlichkeit mit einer älteren Version von Daryl Hannah in ›Splash‹ verlieh. »Dich hätte ich hier nicht erwartet.« Ihr Blick blieb kurz an Rubys Jacke hängen, bevor sie Walter anlächelte.

Warum hatte Ruby sich nicht schnell noch was anderes übergeworfen, bevor sie nach Walters Anruf ins Auto gesprungen war? Am liebsten hätte sie die Jacke jetzt ausgezogen, aber die Klimaanlage ließ sie auch so schon frösteln.

»Wasser wäre gut.« Walter ging mit ausgestreckter Hand auf die blonde Frau zu. »Walter McMillan«, stellte er sich ohne Umschweife vor und drückte Heathers Hand mit beiden Händen.

Ruby folgte ihm. Hatte Amors Pfeil sich eben in Walters Herz gebohrt? So schnell hatte sie den älteren Herrn selten gehen sehen.

»Walter, das ist Heather Ferguson«, begann sie, wurde jedoch von Heather unterbrochen: »Ich betreibe die Alpakafarm in Pinehaven.«

Ruby betrachtete die beiden älteren Herrschaften interessiert. Noch immer hielt Walter Heathers Hand so fest umklammert, als würde er sie von einem Abgrund hochhieven wollen.

»Kann ich mal?« Ein Mann in seinen Fünfzigern zwängte sich an Ruby vorbei.

Ihr Journalisteninstinkt sprang an. Dieser Mann strahlte Macht aus. Ob er sie wirklich besaß oder nur geschickt inszenierte, blieb offen. Doch etwas passte nicht zu seinem selbstbewussten Auftreten: seine fahle Gesichtsfarbe und sein schwerer Atem. Selbst sein teurer Anzug schien lose an ihm herunterzuhängen. Entweder plagte ihn eine fiese Sommergrippe oder ein anderer übler Virus. Ruby war jedenfalls froh, dass der Raum nicht überfüllt war. So bestand keine Gefahr, dass sie neben ihm sitzen musste. Denn bei seinem kränklichen Aussehen musste man befürchten, dass man sich in seiner Nähe schneller elend fühlte, als einem lieb war.

Walter ließ nun endlich von Heather ab, griff nach seiner Diabetestasche und nestelte daran herum.

Der kränklich aussehende Mann gab ein ungeduldiges Geräusch von sich.

Heathers Gesicht verfinsterte sich. »Können Sie nicht einen Moment warten?«

Der Mann schnaubte. »War ja klar, dass Sie hier auftauchen würden, um Ärger zu machen.«

»Ärger? Es betrifft immerhin auch das Land, das ich gepachtet habe!« Heather stemmte die Hände in die Hüften.

»Land, das besser genutzt werden könnte als mit ein paar dämlichen Lamas darauf …«

»Es sind Alpakas!«

»Und wenn’s Einhörner wären – das Land ist zu kostbar, um es mit ein paar spuckenden Viechern zu blockieren.« Die Gesichtsfarbe des Mannes wechselte in ein ungesundes Rot.

Eine Frau mit einem bunten Brillengestell stellte sich neben ihn. »Jackson, soll ich dich nicht doch lieber nach Hause fahren, und du kurierst dich erst mal aus?«

Ruby erinnerte sich sofort an die bunte Brille – die Frau war die Sekretärin von Jackson Mitchell, dem in Paradise scheinbar allgegenwärtigen Immobilienmakler. Bisher hatte Ruby ihn nicht persönlich kennengelernt, aber Anfang des Sommers hatte sie bei seiner Sekretärin einen Vertrag für die Reinigung der ehemaligen Schönheitsklinik unterzeichnet. Ruby konnte sich nur nicht mehr an ihren Namen erinnern.

»Damit die«, Jackson Mitchell warf einen anklagenden Seitenblick auf Heather, »und andere Ökos meine Pläne stoppen?« Er griff nach einer Wasserkaraffe.

Ob er nicht damit gerechnet hatte, wie schwer sie sein würde, vermochte Ruby nicht zu sagen. Jedenfalls entfuhr ihm ein lautes Ächzen, die Karaffe glitt aus seiner Hand, und er machte einen Schritt zurück, um dem Wasserschwall, der sich über den Tisch ergoss, zu entgehen.

Dabei rempelte er Walter an, der für einen Moment hilflos mit den Armen ruderte, bevor Ruby ihn von hinten stützte.

»Meine Tasche ist runtergefallen.« Walter sah sich suchend auf dem Fußboden um.

»Eine kleine schwarze?« Heather deutete neben ihre Füße und bückte sich danach.

Ehe Ruby ihn aufhalten konnte, ging Walter ebenfalls in die Hocke. Sollte das ein Beweis gegenüber Heather sein, wie fit er noch war? Ruby hatte Walter noch nie so agil gesehen.

»Der Prick-Test ist rausgefallen.« Walter gestikulierte zur anderen Seite des Tisches, wo ein blaues Plastikteil in der Größe einer Streichholzschachtel lag.

»Ich hol’s Ihnen.« Ein Mann mit einem langen Pferdeschwanz kniete sich hin und kroch unter den Tisch.

»Setz dich doch schon mal, ich bring dir ein Wasser, okay?« Mitchells Sekretärin schaute besorgt auf ihren Chef, der mit glasigem Blick die Suche nach Walters Diabetes-Tasche verfolgt hatte.

Jackson Mitchell wischte sich über die Stirn und wankte auf einen der Stühle zu. Ruby musste seiner Sekretärin recht geben, er hätte besser zu Hause bleiben sollen. Seine Gesichtsfarbe war mittlerweile wieder so fahl, dass ein Camembert im Gegensatz zu ihm gebräunt aussehen würde.

Ruby nahm zwei Gläser und wartete, bis die Sekretärin eins für Mitchell mit Wasser gefüllt hatte.

Als sie Ruby die Karaffe gab, stutzte sie. »Du bist doch Morgan …«

»Ruby, ihre Zwillingsschwester.« Ruby hatte sich bei der Vertragsunterzeichnung für Morgan ausgegeben, wollte jetzt aber nicht unter falschem Namen unterwegs sein.

»Penelope. Deine Schwester putzt eine von Mitchells Immobilien.« Die Sekretärin forschte in Rubys Gesicht. »Ihr seht wirklich komplett gleich aus. Irre.«

»Was ist hier los?« Die Rangerin war in den Raum zurückgekehrt und musterte Walter, Heather und den Mann mit dem Pferdeschwanz. Die drei knieten immer noch vor beziehungsweise unter dem Getränketisch.

»Uns ist ein kleines Missgeschick passiert«, setzte Ruby zu einer Erklärung an.

Die Rangerin, deren Namensschild sie als ›Miranda Higgins‹ auswies, fuhr zu ihr herum. Auf ihrem Gesicht erschien ein missbilligender Ausdruck, der in Ruby das gleiche Gefühl auslöste wie damals in der High School, als herausgekommen war, dass Morgan und sie die Plätze für einen Englischtest und eine Chemieprüfung getauscht hatten.

Miranda Higgins ging zur Tür und rief eine Kollegin zum Aufwischen des Wassers in den Raum. Ruby schluckte. Als Journalistin war sie es gewohnt, dass ihr hin und wieder Menschen mit unverhohlener Abneigung begegneten. Das brachte ihr Beruf mit sich. Nur in diesem Fall war sie nicht darauf vorbereitet gewesen. Die direkte Feindseligkeit der Rangerin irritierte sie, schließlich hatte Ruby ihr nichts getan.

Kapitel 2

»Kennst du sie?«, raunte Walter Ruby zu, nachdem er aufgestanden war. »Die guckt, als wenn du ihr den Mann ausgespannt hättest.«

Anscheinend hatte sich Ruby den abschätzigen Blick nicht eingebildet. Für einen Moment fröstelte es sie, und das lag nicht an der Klimaanlage, die den Raum aufgrund der spätsommerlichen Temperaturen auf einem kühlen Niveau hielt. Auch wenn die Sache mit Zach und ihrer fehlerhaften Berichterstattung über die vermeintliche Affäre des New Yorker Bürgermeisters fast ein halbes Jahr her und mittlerweile vergessen war, reagierte Ruby immer noch sensibel, wenn das Thema auf untreue Ehemänner kam.

Während eine junge Frau das Wasser vor dem Getränketisch aufwischte, trat Miranda Higgins vor Ruby. Ihre Augen verweilten viel zu lange auf Rubys Laufjacke.

»Ich wusste nicht, dass es eine Kleiderordnung bei so einer Anhörung gibt«, versuchte sich Ruby an einem Scherz. Mehr, um ihr eigenes Unwohlsein zu vertreiben, als um Miranda Higgins zu amüsieren.

Doch die Rangerin verzog keine Miene. »Morgan Rock.«

Erleichterung machte sich in Ruby breit. Es gab scheinbar immer noch Menschen in und um Paradise, die nicht wussten, dass Morgan eine Zwillingsschwester hatte, die derzeit zu Besuch in dem kleinen Ort in Colorado war. Ob es helfen würde, heute mit einem Schild vor der Brust herumzulaufen, um die Verwechslung auszuschließen?

»Ruby. Ich bin Morgans jüngere Zwillingsschwester.« Sie hielt Miranda Higgins die Hand hin, doch diese nahm sie nicht, sondern schritt an ihr vorbei auf das Podium.

»Ich denke, es kommt niemand mehr zu Anhörung, wir können dann anfangen.« Miranda Higgins bedeutete dem Mann mit dem Pferdeschwanz, aufs Podium zu kommen. »Bradley, wollen Sie vielleicht beginnen?«

Es klapperte, als die Putzfrau die Tür öffnete und den Saal verließ. Kurz darauf öffnete sich die Tür erneut, und ein Mann trat ein. Wie Mitchell trug er einen Anzug, der jedoch an seiner schmalen Figur deutlich zu groß wirkte. Mit seinen kurzen, dunkelgrauen Haaren erinnerte er Ruby an einen mageren, hungrigen Husky.

»Das ist nicht fair«, protestierte Heather, während Bradley Miranda Higgins aufs Podium folgte. »Vorm Eingang stehen viele, die zur Anhörung wollen. Wir …«

Der Bürgermeister unterbrach sie. »Es ist elf Uhr. Wenn es jemandem wichtig ist, hätte er mittlerweile hier sein können.«

Heather sprang auf. »Das ist Blödsinn, Doug! Nachdem du heute Morgen gesehen hast, wie viele Menschen sich schon vorm Rathaus versammelt hatten, hast du beschlossen, der Öffentlichkeit aus dem Weg zu gehen, indem du es hier stattfinden lässt. Und was ist mit Ihnen?«, richtete sie sich jetzt an Miranda Higgins. »Sie sollten doch für den Naturschutz sein! Stattdessen helfen Sie ihm«, sie deutete auf den Bürgermeister, »indem Sie die anderen nicht in den Park lassen.«

Auf Miranda Higgins’ Gesicht zeichnete sich keine Regung ab. »Wenn Sie sich nicht benehmen können, muss ich Sie bitten, zu gehen.«

Ruby legte Heather eine Hand auf die Schulter. Widerwillig ließ sie sich von ihr zu der Stuhlreihe führen, in der Walter sich schon hingesetzt hatte. Vor ihnen saßen Jackson Mitchell und Penelope, ein paar Reihen hinter ihnen hatte der Husky-Mann Platz genommen.

Scheinbar war Dougs Plan aufgegangen: Denn außer Heather, Walter und eventuell dem Husky-Mann war niemand bei der Anhörung anwesend, der gegen das geplante Industriegebiet protestierte.

Der junge Mann mit dem Pferdeschwanz trat hinter ein Stehpult. »Dr. Bradley Sanders. Ich bin hier als Vertreter der Naturschutzbehörde.«

»Wo ist Swenson?«, wollte Heather wissen.

»Strike one«, warnte Miranda Higgins sie.

Bradley Sanders fuhr sich nervös mit der Zunge über die Unterlippe. »Mein Chef hat mich heute hergeschickt. Archibald Swenson hat mir seine Unterlagen gegeben.«

»Das ist doch alles ein abgekartetes Spiel!«, regte Heather sich auf. »Spielst du mit dem Chef der beiden Poker, Doug?«

»Strike two.« Miranda Higgins hob zwei Finger. »Beim dritten sind Sie raus.«

Heather verschränkte die Arme vor der Brust. Es tat Ruby leid, sie so zu sehen.

Bradley Sanders beschrieb die Flora und Fauna auf dem geplanten Gebiet und betonte, wie wertvoll diese für den Landschaftsraum der Rocky Mountains waren. Es war offensichtlich, dass ihn die Unterlagen erst kurzfristig erreicht hatten, denn er las mehr ab, als dass er darüber sprach. Anschließend erklärte er, welche Verluste mit der Ausweisung des Industrieparks entstehen würden und wie dieser Eingriff auch den umliegenden Naturraum beeinflussen würde.

»Bullshit«, kam es von Jackson Mitchell. »Wir reden hier über eine Fläche, die von diesem giftigen Schieling-Zeug nur so überwuchert ist.«

Walter erhob sich. »Wenn Sie damit den Gefleckten Schierling meinen, der ist sehr wichtig für die Natur.«

Mitchell drehte sich um. Trotz seiner schlechten körperlichen Verfassung hatte er für Walter noch einen abschätzigen Blick übrig. Ruby konnte ihn immer weniger leiden.

»Wichtig? Soweit ich weiß, ist die Pflanze hochgradig giftig. Alle Bewohner werden mir danken, wenn das Zeug weg ist!«

Bradley Sanders räusperte sich. »Also, der Gefleckte Schierling spielt tatsächlich eine große Rolle im Ökosystem. Seine dichten Blätter bieten einen Zufluchtsort für verschiedene Insekten, Vögel und kleine Säugetiere.« Botanische Fakten schienen ihm eher zu liegen, denn die Worte purzelten nur so aus ihm heraus, ohne dass er in seine Unterlagen schauen musste. »Außerdem sind seine Blüten ein Paradies für Bienen und Schmetterlinge. Die Pflanze sorgt damit für die Artenvielfalt.«

Mitchell sprach den Naturschutzbeauftragten nun direkt an: »Ist das Ding giftig oder nicht?«

Bradley Sanders zögerte.

»Dr. Sanders?« Der Bürgermeister machte eine auffordernde Handbewegung.

»Also, das Coniin ist ein Pseudoalkaloid un…«

»Giftig oder nicht?«, unterbrach Mitchell ihn.

»Es handelt sich dabei um ein Neurotoxin und es …«

Mitchell klatschte in die Hände. »Sag ich doch. Doug, das Zeug willst du nicht in der Nähe von Paradise haben! Sonst hast du demnächst lauter Bürger vor dir, deren Hund tot ist, weil er was von diesen Pflanzen gefressen hat!«

Zwei Gemeinderatsmitglieder sahen sich entsetzt an und tuschelten leise. Vermutlich Hundebesitzer, die sich schon ausmalten, wie ihr Haustier tot vor ihnen lag.

Bradley Sanders hob die Hand. »Auch wenn es bei Nutztieren Todesfälle gegeben hat, weil die Pflanze aus Versehen in ein Grünfuttergemisch geraten ist, sollte es bei Hunden und anderen Haustieren …«

»Dr. Sanders, ich denke, wir haben das mit der giftigen Pflanze verstanden«, bedankte sich Doug bei ihm. »Gibt es noch was, was Sie abschließend sagen möchten?«

»Das Industriegebiet würde einen wichtigen Teil des Naturraums um Paradise unwiederbringlich zerstören«, schloss dieser schließlich seinen Vortrag.

»Und direkt an die Fläche anschließen, die ich von der Stadt als Ersatz für meine derzeitige Alpakafarm gepachtet habe«, fügte Heather hinzu. »Meine Tiere können doch nicht direkt neben Industriegebäuden leben!«

Bevor Miranda Higgins reagieren konnte, schob Bradley Sanders hinterher: »Genau, das hatte ich vergessen zu erwähnen. Danke für den Einwurf. Eine direkte Nähe zu produzierendem Gewerbe wäre für die Haltung und Pflege der Alpakas«, er schluckte und schien nach Worten zu suchen, denn offenbar lieferten ihm seine Unterlagen dazu nichts, »sicherlich nicht förderlich.«

Nicht gerade eine rhetorische Meisterleistung, aber vermutlich hatte er Heather damit vor einem Rausschmiss bewahrt.

Miranda Higgins wandte sich an den Bürgermeister und den Gemeinderat. »Gibt es noch Fragen an Dr. Sanders?«

Die Köpfe der Gemeinderatsmitglieder schnellten zu Doug. Es war eindeutig, wer das Sagen in Paradise hatte.

»Ich denke, wir sind gut informiert«, bestimmte Doug. »Jackson, dann stell du doch jetzt deine Pläne vor.«

Während Bradley Sanders seine Papiere auf dem Pult zusammenschob, stand Mitchell auf. Er schwankte, als er die Stuhlreihe entlangging, und schleppte sich dann ächzend die drei Stufen zum Podium hinauf.

Er ignorierte Bradley Sanders, als sie sich am Pult ablösten. Mitchell stützte sich mit beiden Händen daran ab und hustete. Sein Husten verebbte, nur um dann gleich wieder anzufangen. Penelope beugte sich vor, griff nach seinem Wasserglas und reichte es hoch zu Bradley Sanders, der gerade im Begriff war, das Podium zu verlassen.

»Könnten Sie ihm das bitte geben?«, bat sie ihn.

Der Naturschutzbeauftragte wirkte nicht gerade begeistert darüber, zu der vermeintlichen Virenschleuder zurückzugehen, tat Penelope aber den Gefallen und stellte das Glas, so schnell er konnte, aufs Pult. Dann ließ er sich ein paar Stühle neben Penelope in der ersten Reihe nieder.

Nachdem Jackson Mitchell einen Schluck getrunken und sich noch ein paar Mal geräuspert hatte, begann er, über seine Pläne für das Industriegebiet zu sprechen. Doug nickte während seines Vortrags zustimmend. Es war eindeutig, dass die beiden Männer sich einig waren, was die weiteren Bauvorhaben in Paradise anging.

Mitchell wischte sich über seine verschwitzte Stirn. Sein Wasserglas war mittlerweile fast leer.

Hinter Ruby wurde ein Stuhl geschoben. Der Husky-Mann ging zum Getränketisch und bediente sich am Wasser. Penelope drängte sich an Bradley Sanders vorbei und begrüßte den Husky-Mann in gedämpfter Lautstärke.

Nach einem weiteren Hustenanfall wedelte Mitchell mit seinem leeren Glas. »Kann ich …?«, krächzte er. Er suchte Penelopes Blick, seine Augen weiteten sich, als er den Husky-Mann neben ihr sah. »Aaron?«

War es eine Frage oder Überraschung gewesen? Ruby war sich nicht sicher, wie sie Mitchells Tonfall werten sollte.

Jedenfalls war sie enttäuscht, dass der Husky-Mann scheinbar einen so langweiligen Namen wie Aaron trug. Sie hatte sich eher etwas wie Pierce oder Slate ausgemalt.

Aaron nahm die Wasserkaraffe, ging aufs Podium und füllte Mitchells Glas auf. Von einem weiteren Hustenanfall geplagt, warf Mitchell ihm einen dankbaren Blick zu und griff so hastig nach dem Glas wie nach der letzten Toilettenpapierrolle im Supermarkt während der Corona-Pandemie.

»Was die Alpakafarm an… angeht … Wenn Heather ihre neuen Nachbarn nich mag, kann sie den Vertrach auflös’n. Oder Doug, noch besser, löst ihr das auf. Weil ’ne annere Nutzun vorliecht«, nuschelte Mitchell. Erneut wischte er sich über die Stirn.

»Jackson?« Penelopes leise Stimme klang besorgt. Sie hatte wieder in der ersten Reihe Platz genommen und saß auf der Stuhlkante weit nach vorn gebeugt.

Ihr Chef lockerte seine Krawatte. Es war ihm anzusehen, dass ihn jeder Handschlag viel Kraft kostete. Die Gemeinderatsmitglieder tauschten besorgte Blicke untereinander, Dougs Nachbar lehnte sich zu ihm und flüsterte etwas, doch der Bürgermeister wehrte ihn ab.

»Ich …«, meldete sich Mitchell jetzt wieder zu Wort. »Entschul… schulliung.« Seine Stimme klang lallend, als hätte er statt Wasser hochprozentigen Alkohol in seinem Glas gehabt, der ihm sofort zu Kopf gestiegen war. Er blinzelte, nestelte an seinem Hemdkragen und schwankte. »Is … stickig … mehr … Luft.«

Er war eindeutig krank. Rubys Nackenhaare standen immer noch zu Berge, weil die Klimaanlage so kalt eingestellt war.

Miranda Higgins’ Stuhl polterte zurück, als sie aufsprang und zu Mitchell eilte. Gerade rechtzeitig griff sie seinen Arm, dann sackte der Mann in sich zusammen.

»Wir brauchen einen Arzt«, stellte sie ruhig fest.

Eines der Gemeinderatsmitglieder lief laut rufend aus dem Saal. Miranda Higgins hatte Mitchell inzwischen mit Hilfe von Bradley Sanders auf den Boden gelegt. Penelope kniete neben ihm und hielt seine Hand.

»Würden kalte Tücher helfen?«, fragte Ruby. Was anderes fiel ihr nicht ein.

»Jackson! Oh Gott, ich hätte dich nicht herfahren sollen!« Die Hysterie in Penelopes Stimme war nicht zu überhören.

Miranda Higgins beugte sich zu ihm hinunter. »Sein Atem ist schwach und langsam. Doug, hinterm Infotresen ist unser Defibrillator.«

Der Bürgermeister stürzte los, Penelope schluchzte auf. Jackson Mitchell wurde erneut von einem Hustenanfall geschüttelt. Sofort bemühte sich Miranda Higgins, ihn ein wenig aufzurichten. Bradley Sanders sprang auf, griff nach dem Wasserglas und reichte es der Rangerin, die versuchte, dem röchelnden Investor ein wenig Wasser einzuflößen.

Das Gemeinderatsmitglied stürzte wieder in den Saal. »Der Notarzt ist verständigt.«

Hinter ihm drängte sich eine Frau herein. »Ich bin Krankenschwester!«

Ruby wich zurück, um ihr Platz zu machen. Sie ging zu Walter zurück, der sich leise mit Heather unterhielt. Doug kam mit einem weiteren Ranger zurück, der das Defibrilliergerät trug.

Die Krankenschwester kniete sich neben Jackson Mitchell, fühlte nach seinem Puls und suchte seinen Blick. »Können Sie mir sagen, wie Sie heißen?«

»Das ist mein Chef, Jackson Mitchell«, antwortete Penelope an seiner Stelle.

»Gut, Jackson. Wann sind Sie geboren?«, ließ die Krankenschwester nicht locker.

Jacksons Augen wanderten umher. Dann schien alles an ihm zu erschlaffen. Penelope stieß einen Schrei aus. Miranda Higgins trat von hinten an sie heran und versuchte, sie von ihm wegzuziehen.

»Jackson? Jackson? Bleiben Sie bei uns.« Die Krankenschwester schlug ihm leicht an die Wangen. »Können Sie bitte seinen Kopf halten, während ich ihn in die stabile Seitenlage drehe?«, bat sie Bradley Sanders.

Gemeinsam brachten sie Mitchell in die richtige Position. Im Raum war es totenstill. Es schien, als wenn alle Anwesenden kollektiv den Atem anhielten. Plötzlich fand Ruby es auch stickig. Am liebsten wäre sie rausgelaufen, um die frische Bergluft einzuatmen.

Dann durchbrachen Stimmen die Stille. Zwei Sanitäter kamen mit einer Trage in den Saal gelaufen. »Wo ist er?«

»Hier!« Erleichtert winkte Miranda Higgins sie heran.

Bis auf die Krankenschwester wichen alle auf dem Podium zur Seite, während die Sanitäter sich über Mitchell beugten und von der Krankenschwester informiert wurden. Noch bevor sie ihn auf die Trage legten, kam er an einen Tropf. Sein Atem schien immer noch flach und langsam zu sein, und bis er aus dem Saal hinausgerollt wurde, hatte er das Bewusstsein nicht wiedererlangt.

Kapitel 3

»Ich könnte einen Kaffee vertragen«, durchbrach Walter das Schweigen zwischen ihnen. Seit Ruby und er das Nationalparkzentrum verlassen hatten, hatten sie kein Wort mehr miteinander gewechselt. »Du kannst bei euch parken, dann kann ich von da aus zum Bond rübergehen.«

Ein Stück am Highway entlang, noch nicht einmal dreihundert Meter von Morgans Haus entfernt, lag Ryders Coffeeshop ›The Bond‹. Nachdem Ruby erfahren hatte, dass Ryder früher beim CIA gewesen war, hatte sie sofort eine interessante Story über einen ehemaligen Spion gewittert. Dann hatte sich jedoch herausgestellt, dass Ryder nur beim Culinary Institute of America gelernt hatte und sein Geschäft so hieß, weil es an der Bond Street lag.

Laut Morgan zog Ruby oft voreilige Schlüsse, und dies war ihrer Meinung nach eins der besten Beispiele dafür. Ruby versuchte, solche Vorwürfe zu ignorieren. Für sie als Journalistin war es schließlich von größter Bedeutung, schnell Verbindungen zwischen Menschen, Themen und Events herzustellen. Es mochte zwar sein, dass sie manchmal mit ihren Vermutungen völlig danebenlag, doch ihre schnelle Auffassungsgabe hatte sie schon häufig mit überraschenden Erkenntnissen belohnt, auf die andere ihrer Kollegen nicht gestoßen waren.

Ruby rollte langsam in Morgans Einfahrt. Kaum, dass der Volvo zum Stehen gekommen war, öffnete sich die Haustür, und ihre Zwillingsschwester kam auf das Auto zu.

»Kein Wunder, dass die Higgins euch verwechselt hat.« Walter öffnete die Beifahrertür.

»So würdest du mich nie sehen.« Ruby strich sich über ihren strengen Pferdeschwanz und stieg aus.

»Wieso seid ihr schon zurück?«, wollte Morgan wissen. Sie fuhr sich durch ihre offenen, wild gelockten Haare, und es war nicht eindeutig, ob sich das Batik-T-Shirt an eine ebenso bunte, weite Hose anschloss oder es sich dabei um ein luftiges Hosenkleid handelte.

»Die Diskussion wurde vertagt, Mitchell ging’s nicht gut.« Ruby warf ihr den Autoschlüssel zu. »Wir gehen zu Ryder. Kommst du mit?«

Sofort bildete sich eine steile Falte auf Morgans Stirn.

Ruby unterdrückte ein Augenrollen. »Was? Hab ich womöglich zwei Putzboxen falsch ins Regal einsortiert? Oder die Reihenfolge deiner Teebeutel vertauscht?«

Ihre Schwester arbeitete als Putzfrau und hatte für jeden ihrer Kunden eine Plastikbox mit allen Utensilien, die sie bei demjenigen zum Putzen brauchte. Außerdem war sie ein unglaublich pedantischer Kontrollfreak – angefangen von alphabetisch sortierten Gewürzen bis hin zu ihrer Angewohnheit, alle vier Wochen die Stühle in der Küche zu rotieren, damit sich die Sitzpolster gleichmäßig abnutzten, wie sie sagte.

Morgan verschränkte die Arme vor der Brust. »Du hast versprochen, heute den Zaun zu reparieren, den deine Ziege demoliert hat.«

»Stanley kommt später vorbei, allein kann ich das nicht«, rechtfertigte sich Ruby.

»Wollte Vincent Van Goat mal wieder ausbüxen?«, fragte Walter.

»Wenn ich den noch mal in meinen Blumenbeeten erwische …« Morgan bewegte ihren Zeigefinger quer über ihren Hals.

»Ist ja nicht seine Schuld, dass du so leckere Blumen in den Beeten hast.«

»Ach, jetzt bin ich schuld, dass er meine Blumen fressen will?«, empörte sich Morgan.

»Das ist, als du wenn einen Junkie in eine Apotheke einsperrst«, behauptete Ruby.

Walter lachte laut auf, und auch Morgan konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

Ruby hakte sich bei ihrer Schwester unter. »Komm mit rüber, ich geb dir einen Tee aus. Ich zieh mir nur kurz was anderes an. Und später kümmere ich mich mit Stanley um den Zaun.«

***

Im Bond kreiste ein Ventilator unter der Decke, der mit jedem Luftschwung die Zettel am Anschlagbrett bewegte. Walter ließ sich auf seinen Stammplatz am Tresen nieder, zerrte ein Stofftaschentuch aus seiner Hosentasche und wischte sich damit übers Gesicht.

Morgan legte ihm eine Hand aufs Handgelenk. »Alles gut?« Sie glitt mit den Fingern um seinen knochigen Arm, und Ruby fragte sich, ob ihre Schwester gerade versuchte, unauffällig seinen Puls zu messen.

»War wärmer draußen, als ich dachte. Aber mein Puls beruhigt sich gleich wieder.« Anscheinend hatte auch Walter ihre Aktion durchschaut.

Ryder kam aus der Küche und begrüßte die Neuankömmlinge. »Kaffee, Walter Spezial und einen Morning Thunder?«, fragte er die üblichen Bestellungen der drei ab.

Ohne eine Antwort abzuwarten, stellte er schon eine Tasse vor Walter, griff nach der Kanne auf der Warmhalteplatte und schenkte ihm Kaffee ein. Dann setzte er Wasser für Morgans Tee auf und machte sich anschließend an dem Kaffeevollautomaten zu schaffen, um Ruby ihren geliebten Latte Macchiato zuzubereiten.

»Jetzt erzähl mal in Ruhe, was mit Mitchell war«, bat Morgan, als Ryder ihnen ihre Getränke serviert hatte.

»Wie Ruby schon sagte, er ist zusammengebrochen und wurde ins Krankenhaus gebracht.« Walter kramte in seiner Diabetestasche.

»Moment, du hast nichts von Kollabieren gesagt.« Manchmal kam Morgans abgebrochenes Medizinstudium doch noch durch.

Ruby erinnerte sich, mit welcher Ruhe ihre Schwester vor ein paar Wochen Cassidy bei einem ihrer epileptischen Anfälle geholfen hatte. Für Ruby war es das erste Mal gewesen, dass sie so einen Krampf miterlebt hatte. Morgan hatte ihrer Freundin sofort ganz souverän mit einer Spritze geholfen. Ganz im Gegensatz zu Ruby, die beim Anblick der Nadel beinah in Ohnmacht gefallen wäre.

Morgan stieß ihr in die Seite. »Hallo? Bist du innerlich schon in New York?«

Ryder zog beinah unmerklich die Augenbrauen zusammen. Bedauerte er ihren bevorstehenden Abflug?

»Er sah schon krank aus, als er reinkam. Oder?«, fragte Walter Ruby.

Diese löste sich endlich von ihren Gedanken. »Gesund war er nicht. Seine Sekretärin hatte ihn sogar zu der Anhörung gefahren, weil er das wohl allein gar nicht geschafft hätte.«

»Aber seine Energie hat noch gereicht, um auf die Besitzerin der Alpakafarm loszugehen«, empörte sich Walter. Er hielt Ruby seine Tasche hin. »Kannst du mal meine Augentropfen rausholen? Die trockene Luft in dem Zentrum hat das Jucken nur noch schlimmer gemacht.«

Ruby klappte seine Tasche weit auf. Doch außer seinem Prick-Test, ein paar Teststäbchen und seiner Insulinspritze war nichts in der Tasche. Sie gab sie ihm zurück. »Da sind keine Augentropfen.«

»Ständig verliere ich diese Flaschen.« Er kniff die Augen zusammen. »Na ja, ist nicht so schlimm, diese war ohnehin schon fast leer.«

»Hast du ein frei verkäufliches Produkt oder eins vom Arzt verschrieben?«, wollte Morgan wissen.

Walter drückte sich die Fäuste auf die Augenlider. »Dr. Dixon schreibt mir immer was auf. Angeblich ist das besser für Diabetiker als das frei verkäufliche Zeug aus der Apotheke.«

»Hey, Big Apple! War klar, dass ich dich hier finden würde.« Die Tür knallte an die kleine Klingel, als Stanley das Bond betrat. »Dachtest du, ich repariere den Zaun allein?«

»Wir sind erst später verabredet.«

»Aber ich hab jetzt schon Zeit. Und du offenbar auch.«

Ruby tippte schweigend an das Glas ihres Latte Macchiatos.

»Was ist das? Sollte, hätte, könnte, würde? Los geht’s. Oder soll ich dir noch eine Motivationsmail schicken?« Mittlerweile hatte Ruby gelernt, Stanleys spitze Bemerkungen nicht persönlich zu nehmen.

Betont langsam trank sie einen Schluck. »Dieser Kaffee erreicht Stellen, da kommt deine Motivation gar nicht hin.«

Walter nahm seine Hände von den Augen und öffnete diese. Sie waren gerötet.

»Hast du deinen Augen ein Saharasand-Peeling verpasst? Wo sind deine Augentropfen?« Stanley machte Anstalten, nach Walters Diabetikertasche zu greifen, doch Walter wehrte ihn ab. »Verloren.«

Stanley warf Morgan einen vorwurfsvollen Blick zu. »Kannst du dem Zuckerrentner nicht mal was stricken, dass er die Tropfen nicht ständig verliert?«

War Stanleys Ton heute sanfter als sonst, oder hatte Ruby sich nur schon so an seine ruppige Art gewöhnt, dass sie ihn heute als geradezu fürsorglich wahrnahm?

»Ich weiß genau, dass ich heute Morgen eine Flasche dabei hatte. Denn im Nationalparkzentrum ist immer sehr trockene Luft.« Walter inspizierte seine Tasche erneut.

»Du warst heute im Zentrum?« Stanley gab Ryder zu verstehen, ihm einen Muffin aus der Auslage zu reichen.

»Ruby und ich waren bei der Anhörung, wegen der neu…«

»Hätt ich mir ja denken können, dass du da warst.« Stanley nahm den Muffin entgegen und bedachte Ruby mit einem kurzen Seitenblick.

»Was soll das denn heißen?«, wollte sie wissen.

Stanley riss die schmale Papiermanschette von dem Gebäck ab. »Du bist immer da, wo es Ärger gibt.«

»Ärger ist mein zweiter Vorname«, witzelte Ruby.

Morgan öffnete den Mund, doch Ruby stieß ihr in die Rippen. Nicht, dass ihre Schwester tatsächlich noch auf die Idee kam, ihren zweiten Namen laut auszusprechen. Rubilite war schon schlimm genug als Rufname, da musste niemand wissen, welchen abstrusen Zweitnamen sich ihre Eltern ausgedacht hatten.

»Hab gehört, die Veranstaltung musste abgebrochen werden, weil der Mitchell umgefallen ist.« Stanley biss von seinem Muffin ab. Ein paar Krümel fielen auf sein T-Shirt.

»Meiner Meinung nach hätte der erst gar nicht dort auftauchen sollen. So krank, wie er war.« Walter blinzelte.

Ryder reichte ihm ein feuchtes Tuch. Walter legte den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und legte das Tuch darauf.

»Ich muss gleich los zu den Turners. Ich kann dich auf dem Weg dahin nach Hause fahren«, bot Morgan an. »Und vorher halten wir noch in der Apotheke und besorgen dir neue Augentropfen.«

Stanley knüllte das Muffinpapier zusammen und fuhr sich mit der Hand über den Mund. »Da der Zuckerrentner versorgt ist, können wir dann ja jetzt den Zaun bauen.« Er nahm Rubys Kaffeebecher und ging Richtung Tür.

»Hast du sie noch alle?« Ruby sprang auf und hechtete ihm hinterher, doch die Tür fiel schon hinter Stanley zu.

»Eins muss man ihm lassen, er weiß, wie er dich locken kann.« Morgan war sichtlich beeindruckt von Stanleys Vorgehen.

»Der kann was erleben«, knurrte Ruby.

Niemand stellte sich zwischen sie und ihren Kaffee. Niemand!