Kapitel EINS
Nicht schon wieder! Nell seufzte. Verflixte Fliederbeeren, das war nun schon mindestens das dritte Mal, dass sie Michel gesagt hatte, dass die roten Johannisbeeren noch mehr gezuckert werden mussten. Für gewöhnlich war er ein grandioser Vorspeisenkoch, doch ganz offensichtlich waren seine Gedanken woanders, als dabei, den sommerlichen Lunch für die Gäste von Lord und Lady Ansley hier auf Wychbourne Court vorzubereiten. Genau genommen waren sie Lady Enids Gäste – die verwitwete Mutter Seiner Lordschaft –, die, wie Nell wusste, angeordnet hatte, dass das Essen auf Wychbourne Court und nicht in ihrem nahe gelegenen Dower House stattfand.
„Wir empfangen die neuen Eigentümer von Spitalfrith Manor“, hatte Lady Ansley Nell erklärt. „Offen gestanden, habe ich meine Vorbehalte ihnen gegenüber“, fügte sie unbesonnen hinzu.
Das hatte Nell neugierig gemacht. Seit einigen Wochen hatten im Dorf Gerüchte kursiert und vor einer Woche, Ende Juli, waren die neuen Nachbarn endlich eingetroffen – was sogleich die nächste Welle von Gerüchten entfacht hatte. Obwohl es nun 1926 war und der Krieg vor acht Jahren geendet hatte, gab es noch immer kleine Dörfer wie Wychbourne, die die Außenwelt argwöhnisch beäugten. Es amüsierte sie, dass sie noch immer als Neuankömmling gesehen wurde, obgleich sie seit fast zwei Jahren Köchin auf Wychbourne Court war.
„Es tut mir leid, Miss Drury“, sagte Michel niedergeschlagen und eilte mit der Zuckerzange herbei, um den Fehler zu beheben.
„Er ist verliebt“, flüsterte Kitty, Nells zweite Vorspeisenköchin, und kicherte.
„In der Küche ist keine Zeit übrig zum Verliebtsein“, sagte Nell bestimmt. „Also legt los. Und zwar flott.“ Zumindest waren die zweiundzwanzigjährige Kitty und Michel nicht ineinander verliebt. Kitty wurde von einem Bauernburschen aus dem Dorf umworben und war gegen Michels unermüdlichen Hang, sich urplötzlich hoffnungslos und Hals über Kopf zu verlieben, zum Glück immun. Michel war etwa in Kittys Alter und Nell waren einige nächtliche Abwesenheiten nicht entgangen (Michels spätem Auftauchen oder seiner Abwesenheit beim Frühstück im Bedienstetensaal nach zu urteilen).
Einen Moment lang war alles ruhig, abgesehen vom Klappern der Kochtöpfe, Pfannen und Kessel sowie den schlagenden Rührbesen und dem Fleischwolf, denn das Küchenpersonal konzentrierte sich auf seine Aufgaben. Doch es hielt nicht lange an.
„Ich habe gehört, dass sie Künstler sind, drüben in Spitalfrith“, platzte eines der Küchenmädchen heraus.
„Bestimmt ganz lustige“, schnaubte Mrs Squires, Nells Beiköchin. „Sicherlich keine echten Künstler. Bloß solche, die nicht einmal malen können, was sie vor sich haben. Die Lady ist ein Modell, habe ich gehört.“
„Eines ohne Kleidung?“, fragte Michel nun interessiert.
„So ein Quatsch“, gab Kitty empört von sich. „Der Herr, der zum Mittag kommt, ist ein Sir. Und er ist ein Freund von Lady Enid. Er wird die Dame also bitten, die Kleidung anzubehalten.“
„Ich wette, Lady Enid hat er nicht ohne Kleidung gemalt.“ Jemand kicherte.
„Das reicht“, verlangte Nell und musste selbst ein Kichern unterdrücken. „Das Mittagessen steht an. Macht euch an den Steinbutt!“ Die Arbeit in der Küche nahm wieder Fahrt auf.
Es hielt Nell jedoch nicht davon ab, selbst über die neuen Nachbarn nachzudenken. Im großen Saal hing ein eindrucksvolles Porträt der Witwe (oder Lady Enid, wie sie genannt werden wollte), welches Sir Gilbert Saddler 1894 als junger Mann gemalt hatte, damals als Lady Enid noch die amtierende Marchioness Ansley war. Auf dem Porträt war sie definitiv vollkommen bekleidet und das in prächtigem Samt und Juwelen.
Sir Gilbert war der neue Eigentümer von Spitalfrith Manor, dem Herrenhaus, um dessen Anwesen sich ein kleines Dörfchen zusammengedrängter Cottages entlang der Straße nach Sevenoaks scharte. Spitalfrith Manor lag am Rande von Wychbourne und im Vergleich zu Wychbourne Court war das Anwesen recht klein. Im Besitz eines Witwers, dessen einziger Sohn jung verstorben war, hatte das Herrenhaus viele Jahre in einer Art Schlummer verbracht. Als der Witwer dann vor einem Jahr starb, wurde das Anwesen verkauft, wie auch die dazugehörigen Cottages. Auch im verschlafenen, ländlichen Kent hatte sich das Leben seit dem Krieg stark verändert. Überall im Land waren die großen Anwesen durch den Verlust ihrer Erben oder durch die Erbschaftssteuern angeschlagen und wurden entweder Stück für Stück verkauft oder schrumpften, bis sie nicht mehr tragfähig waren.
Auch die Familie Ansley kämpfte um das Bestehen ihres Anwesens und beobachtete sorgenvoll die Entwicklungen um das Schicksal von Spitalfrith Manor. Würde eine Schule daraus werden? Ein öffentliches Gebäude? Ein Hauptquartier der Sozialisten? (Das war die Hoffnung Lady Sophys, der jüngsten Tochter der Ansleys, die sich für die Arbeiterpartei einsetzte.) Oder würde es weiterhin ein Privathaus bleiben? Und wenn Letzteres, wer würde dort einziehen? Bis vor zwei Wochen war nicht einmal Lord Ansley, der achte Marquess Ansley, in der Lage, eine Antwort darauf zu geben. Dabei war er für gewöhnlich eine Quelle unerschöpflichen Wissens durch das House of Lords, dem britischen Oberhaus, sowie durch die Londoner Clubs.
Vor zwei Wochen hatten sie die Nachricht erhalten und die Gerüchte hatten sich prompt vervielfacht. Mr Peters, dem Butler von Wychbourne Court, war nicht entgangen, dass entgegen der Regeln der Etikette, Sir Gilbert und seine Familie nicht auf die Einladung geantwortet hatten, die die Ansleys ihnen zu ihrer Ankunft geschickt hatten. Und trotzdem kamen sie nun zum Lunch. Auch wenn es Nell kaum überraschte, amüsierte es sie doch, wie sehr dies als Unverschämtheit angesehen wurde. Wie nur, fragte Mr Peters die anderen höhergestellten Bediensteten grimmig, waren sie nun also eingeladen worden? Nicht einmal er war informiert worden, bevor das gemeinsame Essen verabredet worden war.
„Das ist mit Sicherheit Lady Enids Tun“, hatte er düster gesagt. „Und diese Lady Saddler ist eine Ausländerin. Französin. Wahrscheinlich wird sie nicht einmal selbst eine Einladung aussprechen. Sie weiß nicht, was sich gehört.“
Nell hatte Mühe, keine Miene zu verziehen. Derartige Verstöße gegen die herrschenden Anstandsregeln waren nicht mehr die gesellschaftlichen Verbrechen, die sie vor dem Krieg gewesen wären, doch von manchen wurden sie noch immer als solche wahrgenommen. Auf Wychbourne Court taten die Ansleys ihr Möglichstes, sich an die neuen Zeiten anzupassen. Ihr Sohn Lord Richard half seinem Vater dabei, das Anwesen zu verwalten und sein lebhafter Frohsinn machte ihn im Dorf sehr beliebt. Seine ältere Schwester Lady Helen brachte die Spur Londoner Glamour der jungen Londoner Elite mit sich und auch wenn Lady Sophy im Dorf als eher „merkwürdig“ galt, hielt man sie für harmlos. Seit der Generalstreik im Mai aufgegeben wurde, war sie auffallend still hinsichtlich des Themas Sozialismus gewesen, wenn man von einigen heftigen Ausbrüchen über die Lohnkürzungen der Bergarbeiter und die Arbeitslosigkeit absah.
Jetzt, da das umstrittene Mittagessen nur noch eine Dreiviertelstunde hin war, zwang Nell sich, sich an ihre eigenen Vorgaben zu halten. Komm in die Puschen und leg los, sagte sie sich. Sie musste nach dem Entenbraten sehen, die Ackerbohnen wollten gekocht werden, die Wachteleier mussten vorbereitet werden und die Artischockenböden waren noch nicht gefüllt. Der Gärtner Mr Fairweather hatte im Küchengarten auf magische Art und Weise einige späte Erdbeeren produziert und gerade waren einige Himbeeren in der Spülküche, um auf Maden geprüft zu werden.
Nell erlaubte sich, sich vorsichtig auf die Schulter zu klopfen. In ihrem Hoheitsgebiet war alles unter Kontrolle, doch Lady Ansleys Sorgen blieben bestehen. Da Lady Ansley sonst eine besonders gütige Person war, nahm Nell ihre Sorgen sehr ernst. Als sie mit dem Menü des Tages Lady Ansley für ihre Genehmigung aufgesucht hatte, hatte diese Nell gebeten, während des Mittagessens in der Anrichte, dem Raum, in dem die zu servierenden Speisen warteten, hinausgebracht zu werden, zu warten und das Mittagessen zu überblicken. Lady Ansley richtete nur selten solche Bitten an Nell und dieses Mal war sie sehr offen. Wieso?
„Ich wüsste gerne, was Sie von ihnen halten, Nell“, hatte sie gesagt. „Es ist falsch, Leute nach Gerüchten zu verurteilen und Lady Enid spricht in höchsten Tönen von Sir Gilbert, auch wenn sie seine neue Ehefrau noch nicht kennengelernt hat. Sie ist ein französisches Modell, soweit ich es verstehe, und sie war eine Kriegsheldin als Spionin gegen die Deutschen, die Lille besetzt hatten. Ich habe mir sagen lassen, dass sie bei den Dorfbewohnern bisher nicht sehr beliebt ist, aber vielleicht liegt das am Krieg. Vielleicht ist sie deshalb fremden Gesichtern gegenüber skeptisch.“
Nell wollte gerade gehen, als Lady Ansley hastig hinzufügte: „Spitalfrith Manor war immer schon ein eigenartiger Ort, als würde es gar nicht zum Dorf von Wychbourne gehören. Einige Dorfbewohner sagen, dass es Pech anzieht, oder gar den Teufel, aber das ist sicherlich nur Aberglaube, nicht wahr? Ich stimme ihnen ja zu, dass der vorherige Eigentümer, Sie werden sich nicht an ihn erinnern, ein trauriges Leben geführt hat und so auch der Eigentümer vor ihm. Doch es war nicht ihre Schuld und gewiss nicht die des Anwesens. Trotz alledem kann ich bei all den Gerüchten, die über Lady Saddler kursieren, nicht umher, mich zu sorgen.“
Das war also Lady Saddler. Nell beobachtete sie fasziniert durch die Luke der Anrichte, als die Lady ins Esszimmer trat. In ihrer vorherigen Anstellung im Carlton Hotel in London hatte Nell Menschen aller Nationen gesehen und mit ihnen zusammengearbeitet. Sie kannte die schicken französischen Moden, doch eine so seltsame Dame hatte sie noch nie gesehen. Sie war schlank und schlangenartig geschmeidig, das modische Seidenkleid schmiegte sich an ihre Figur wie eine Schlangenhaut, was ein passender Vergleich war, so wie Lady Saddler in den Raum schlängelte. Ihr dunkles Haar war zu einem strengen Dutt geknotet, ihr Gesicht war wie das einer Puppe geschminkt. Nein, nicht wie eine Puppe, es war zu starr und maskenhaft, dachte Nell. Die Augen waren dick mit Kajal umrandet und die Lippen stark geschminkt. Ihr Gesicht war nicht gerade freundlich, doch es faszinierte Nell. Sie konnte den Blick nicht abwenden. Lady Saddler sprach nur selten und doch stand sie im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.
Lady Saddler war Anfang dreißig, schätzte Nell. Sir Gilbert hingegen war deutlich älter, sicherlich über fünfzig. Er schien ihr nicht gewachsen zu sein und ständig zu überlegen, wie er mit seiner eindrucksvollen Frau um die Aufmerksamkeit konkurrieren konnte. Sie war das genaue Gegenteil seiner plumpen, doch scheinbar umgänglichen Art und dem Aussehen, das eher an Lewis Carrolls Father William erinnerte. Sir Gilbert hatte, wie Nell wusste, eine Tochter aus erster Ehe, die jedoch nicht anwesend war, da sie in London lebte.
Ihr erster Eindruck der neuen Nachbarn? Es herrschte kein Zweifel, dachte Nell. Kriegsheldin hin oder her, Lady Saddler wirkte eindeutig wie der Kuckuck im Nest. Sie würde kein Mitleid mit den Küken haben. Vielleicht war Miss Petra Saddler deshalb lieber in London geblieben.
Lady Ansley fiel es schwer, die Unterhaltung am Leben zu halten und ohne die geringste Regung von Lady Saddler war es Sir Gilbert überlassen, die Lage zu meistern. „Ein prächtiges Anwesen habt Ihr hier“, merkte er an, als die unangenehme Stille sich wieder ausbreitete.
Lord Ansleys Mundwinkel zuckten bei den wenig überzeugenden Worten. „Vielen Dank“, antwortete er ernst.
Nun brachte auch Lady Saddler sich ein. „Versailles est plus grand“, kommentierte sie abschätzig.
Auf in den Kampf, Lady Enid, dachte Nell und ermunterte die Witwe in Gedanken. Ihr könnt es mit ihr aufnehmen.
Und das tat Lady Enid auch. Sie warf dem Gast einen Blick zu, der schon Generationen von Ladenbesitzern und Familien bezwungen hatte. „Versailles mag ein prächtiger Bau sein, jedoch kein Privathaus im Gegensatz zu Wychbourne.“
Die Attacke erzielte jedoch keine Wirkung. Lady Saddler ignorierte das Gesagte. Kein gutes Zeichen, dachte Nell und fragte sich, ob sie entsetzt sein oder applaudieren sollte.
Sich der Atmosphäre überhaupt nicht bewusst, lief Lady Clarice, Lord Ansleys Schwester, gerade ins Fettnäpfchen hinein. „Wir haben mehr Geister auf Wychbourne Court als Versailles. Ich glaube, dass Versailles nur die arme Königin Marie Antoinette aufweisen kann, die natürlich geköpft wurde, doch ihr Geist und die Geister ihres Hofes spuken noch im Petit Trianon. Ich gebe Ihnen gerne die Tour der Geister von Wychbourne. Und genauso der Ihren – ich habe Grund zur Annahme, dass Spitalfrith –“
Nell erstarrte. Das war kaum der taktvollste Weg, eine freundliche Atmosphäre herzustellen. Lady Clarices Faszination für Geister wurde auf Wychbourne Court von allen stillschweigend hingenommen, auch wenn sich sonst niemand weiter für Geister interessierte.
„Meine liebe Clarice“, Lady Enid maßregelte ihre Tochter, „ich zweifle nicht daran, dass Sir Gilbert und Lady Saddler sich für unsere Geister und gewiss auch ihre eigenen interessieren, doch erlaube ihnen doch ein wenig Zeit, ihr neues Zuhause zu genießen, bevor du sie mit der spektakulären Geschichte des Hauses verwöhnst.“
„Aber natürlich, Mutter“, murmelte Lady Clarice, von der Abfuhr niedergeschlagen. Nell hatte Lady Clarice gern. Sie war nun Anfang fünfzig und lebte auf Wychbourne Court, da sie nie geheiratet hatte, was am Tod ihres Verlobten im Zweiten Burenkrieg lag. Die Geister von Wychbourne waren ihre Leidenschaft, weshalb sie oft alles andere ausblendete und so wurde ihre schlanke, entschlossene Figur oft auf der verzweifelten Suche nach einem bestimmten Gespenst in den vielen Korridoren von Wychbourne Court gesehen. Dies war jedoch das erste Mal, dass Nell von Geistern auf Spitalfrith hörte.
„Es gibt Geister auf Spitalfrith?“, fragte Sir Gilbert, seiner Pflicht als höflicher Gast nachkommend. „Ich habe bisher noch keine gesehen. Hast du etwas bemerkt, meine Liebe?“, wandte er sich an seine Frau.
Da Lady Saddler schwieg, sprach er rasch weiter. „Ein Jammer, dass Geister nicht gezeichnet werden können, oder, Lisette?“ Er brachte ein leichtes Lächeln zustande, doch die Mundwinkel seiner Frau rührten sich nicht, wie Nell bemerkte.
Lady Saddler war wohl eine Frau, die man besser nicht verärgerte, entschied Nell für sich und fragte sich, was Robert, der Diener, der mit der ausdruckslosen Miene darauf wartete, die Ente zu servieren, wohl dachte. Er hatte sein gewohntes Pokerface aufgesetzt, aber es bestand kein Zweifel daran, dass er seine Beobachtungen später im Bedienstetensaal zum Ausdruck bringen würde.
Lady Ansley ergriff die Chance sogleich, das Gespräch in eine andere Richtung zu steuern. „Ich hoffe sehr, dass Sie in Spitalfrith und Wychbourne viele andere Dinge zu malen finden werden, Sir Gilbert.“
Volle Punktzahl für Lady Ansley, dachte Nell erleichtert. Zurück zu sichereren Themen.
Sir Gilbert strahlte. „Das werden die Clerries haben.“
Nell blinzelte verwirrt. Zu früh gefreut. Wer oder was?
„Wer genau sind das? Mein lieber Gilbert, erzählen Sie uns mehr davon“, sagte Lady Enid in einem kühleren Ton.
„Die Clerries – oder, formeller ausgedrückt, die Artistes de Cler – verdanken ihren Namen dem großen General Joseph Gustav Cler, der in der Schlacht bei Magenta zwischen Napoleon III. und den Italienern fiel“, erklärte Sir Gilbert enthusiastisch. „Er war außerdem ein Künstler. Der Gründer der Clerries, Monsieur Pierre Christophe, ist ein großer Bewunderer seines Talents und hat es zu seinem künstlerischen Ziel gemacht, die Wahrheit wiederzugeben.“
„Ich nehme doch an, dass dies keine dieser Avantgarde-Bewegungen ist“, kommentierte Lady Enid eisig. „Sie sind ein bekannter Akademiker, Gilbert. Gewiss halten Sie solche Bewegungen für schlichtweg temporäre Störungen des rechten Weges der Kunst.“
Zu Nells Belustigung errötete Sir Gilbert so sehr, dass er einer gekochten Garnele glich. Er bemühte sich sehr, eine zufriedenstellende Antwort zu formulieren. „Ich experimentiere derzeit mit den Prinzipien der Clerries, denn …“
Lady Saddlers gelangweilte Stimme unterbrach ihn. „Wahrheit. La vérité? So etwas gibt es in der Kunst nicht.“
„Alle Kunst ist Wahrheit“, warf Lady Clarice eifrig ein. „Ich erinnere mich an Adelaide, den Geist von …“
Ihre Mutter winkte schnell ab. „Gilbert, erklären Sie bitte“, verlangte sie nun. „Zählen Sie sich zu diesen Artistes de Cler?“
„Das tue ich“, antwortete er nervös. „Nach dem Krieg fuhr ich nach Paris und suchte Inspiration, um die Vision, die wir Künstler in den 1890er-Jahren hatten, wiederzuerlangen. Doch sie war so vielen anderen Kunstformen gewichen – Kubismus, Fauvismus, Expressionismus und nun Surrealismus -, dass ich trotz des Lebens, der Energie und der Freude der Kunst heutzutage, das Gefühl hatte, vom Weg abgekommen zu sein.“
Nell erschien dies wie eine gut einstudierte Rede, aber dann fing Sir Gilbert an zu strahlen. „Und dann fand ich ihn. Endlich verstand ich, dass ich, wenn ich alles bis aufs Skelett reduzierte, ich zu einer essentiellen Wahrheit gelangte, ganz gleich, ob es die eines Körpers, eines Blattes oder der Vorstellung selbst war.“ Sir Gilbert sah sich ganz offenbar zufrieden mit seiner Erklärung um.
Für einen kurzen Augenblick stellte Nell sich ihre Küche bis aufs Skelett reduziert vor. Was war wohl die essenzielle Wahrheit eines Trifle?, fragte Nell sich, während sie in der Anrichte die Desserts vorbereitete. Kehrte man zur Sahne, zum Pudding zurück oder noch weiter? Oder wurde das Trifle erst aufs Skelett reduziert, wenn es gegessen wurde? Nimm das ernst, sagte sie sich. Steckte in einem kargen Baum mehr Wahrheit als in einem belaubten? Entsprachen nicht beide der Wahrheit? Oder musste man die Rinde auch entfernen? Ganz gleich, entschied Nell, sie würde sich lieber auf ihr Trifle konzentrieren, ob es nun der Wahrheit entsprach oder nicht.
Verwirrt beobachtete sie die höflichen, wenn auch ausdruckslosen Mienen der Ansleys, genau wie wohl auch Sir Gilbert, denn er fügte hastig hinzu: „Unsere Freunde, die uns zum Fest in zwei Wochen besuchen, werden die Artistes de Cler ausführlicher beschreiben können. Und wir werden nächstes Jahr in der Academy of Modern Art in London eine Ausstellung ihrer Werke veranstalten.“
„Das steht noch nicht fest“, unterbrach Lady Saddler ihn ruhig.
Sie lächelte, doch es war kein freundliches Lächeln, bei dem einem warm ums Herz wurde. Vielmehr erinnerte es an das Lächeln eines Krokodils, dachte Nell und schämte sich sogleich dafür, schlecht von einer Kriegsheldin zu denken. Der Krieg veränderte Menschen und zerstörte Leben. Doch was hatte es mit dem Fest auf sich?
Sir Gilberts plötzliches Selbstvertrauen war wie verpufft. „Wie meine liebe Frau schon sagt, steht es noch nicht fest“, sagte er unglücklich.
Nell schauderte. Etwas Eigenartiges schwang mit, als er ‚liebe Frau‘ sagte, ganz abgesehen von ihrem Auftreten.
„Sie erwähnten ein Fest, Sir Gilbert. Darf ich fragen, was das ist?“, fragte Lord Ansley rasch und gab dem Diener Robert das Signal, nun das Dessert zu servieren.
„Aber ja.“ Sir Gilbert warf seiner Frau einen flüchtigen Blick zu und fing begeistert an zu erzählen. „In zwei Wochen, am Samstag, den einundzwanzigsten August, werden wir auf Spitalfrith Manor das allererste Festival de Cler ausrichten. Sogar Monsieur Christophe selbst wird uns die Ehre erweisen, teilzunehmen, genau wie noch weitere der Clerries. Selbstverständlich hat er Afrika als Thema auserkoren und wir Künstler werden unsere Werke ausstellen.“
Afrika in Wychbourne? Nell hatte Schwierigkeiten, sich so etwas vorzustellen und gleichzeitig zu beobachten, ob ihr Eisbecher, Pfirsich Melba, bei den Gästen auf Zuspruch traf. Was meinte Sir Gilbert wohl mit ‚selbstverständlich‘? Was um alles in der Welt würden die Dorfbewohner Wychbournes wohl von dem Thema und den Künstlern halten? Sie versuchte, die Vorstellung einer Gruppe unbekleideter Skelette, die durch das Dorf zogen, zu verscheuchen.
„Wird es Schamanen geben?“, fragte Lady Clarice begeistert.
Sir Gilbert blickte ausdruckslos drein. „Das kann ich noch nicht mit Sicherheit sagen“, antwortete er verhalten. Vielleicht war er sich der mangelnden Unterstützung seiner Frau bewusst oder aber er wusste genauso wenig wie Nell, was Schamanen waren. „Aber Afrika ist gewiss einer der Eckpfeiler der Kunst der Clerries.“
„Wieso das?“, fragte Lady Clarice interessiert. „Liegt es an Josephine Baker, die Paris im Sturm erobert?“
Auf Lady Clarice war wie immer Verlass, genau das zu auszusprechen, was alle anderen sich insgeheim fragten, dachte Nell.
„Möglicherweise“, erwiderte Sir Gilbert trübselig. „Denken Sie an Gauguins Werke. Afrika ist unbefleckt vom westlichen Leben und seinen Komplikationen. Man findet die Natur dort in ihrer rohsten Form, enthüllt vom Trubel des modernen Lebens.“
Wie die Zeitungen berichteten, erinnerte sich Nell, war ‚enthüllt‘ wohl nur zutreffend, wenn man Josephine Bakers knappe Kostüme bedachte. Die amerikanische Sängerin hatte Paris in der Tat durch Tanz und Gesang im Sturm erobert. Glücklicherweise konnte Nell sich jedoch keinen Grund vorstellen, ihre Kochkunst derartig zu enthüllen und dort etwas auf ein Minimum zu reduzieren. Genauso wenig konnte sie bei genauerer Überlegung das Argument in den Absichten der Clerries erkennen. Sollte denn nicht jedes Kunstwerk die Wahrheit reflektieren?
„Jeder in Wychbourne ist zu unserem Fest eingeladen“, fuhr Sir Gilbert fort. „Einschließlich aller hier auf Wychbourne Court.“ Er lächelte den Gastgebern unsicher zu. „Jeden Standes“, fügte er hinzu. „Von den Aristokraten bis zum einfachen Bediensteten.“
Einfache Bedienstete? Nell hatte Mühe, nicht zu prusten vor Lachen, als sie sich vorstellte, wie Robert die Worte später zweifelsohne im Bedienstetensaal wiedergeben würde. Dann zuckte sie erneut, als sie Lady Saddlers Gesichtsausdruck sah. Sie starrte ihren Mann mit einem Blick voller Verachtung an. Was war nur los auf Spitalfrith?
„Einfache Bedienstete, so hat er uns genannt“, verkündete Robert später am Nachmittag empört im Bedienstetensaal. „So ein Mumpitz! Diese Zeiten sind lange vorbei. Da ist also seine feine Wahrheit, das hätte ich dem alten Knacker gern gesagt.“
Nell konnte ihn gut verstehen. Robert war für gewöhnlich ein sanftmütiger Riese von einem Mann und außerdem geduldig. Sein Ärger war untypisch, aber verständlich. Auch auf Wychbourne Court verschwanden die Unterschiede zwischen den Bediensteten und die höhergestellten Bediensteten wurden nicht mehr so genannt, obwohl die Hierarchie bestehen blieb. Gleichwohl waren die Interaktionen zwischen der Familie und den Bediensteten enger. Der Krieg hatte ihnen allen gezeigt, dass jeder, ganz gleich des Ranges, eine Aufgabe zu tun hatte, weil Gas, Bajonette und Granaten auch keine Unterschiede machten.
Die höhergestellten Bediensteten aßen früher unter sich im Salon des Butlers, doch nun aßen sie häufig mit den anderen Bediensteten zusammen. Vor dem Krieg hatte man im Bedienstetensaal die Mahlzeiten still zu sich genommen, doch nun hatte jeder das Recht zu sprechen und heute machten gleich einige davon Gebrauch. Es ging offenbar noch immer um die moderne Kunst, als Nell sich zum Abendessen dazugesellte.
„In Sevenoaks habe ich letzte Woche ein Bild im Schaufenster gesehen“, sagte Kitty. „Es hieß Lady with Grapes, dabei waren es nur einige wulstige, ausgebeulte Formen und Quadrate. Und keine Lady weit und breit.“
„Wülste hab ich selbst schon genug, davon brauche ich nicht mehr“, kommentierte Mrs Fielding, die Hausdame, ungewohnt heiter. Es war ein offenes Geheimnis, dass Mr Peters und sie ganz vernarrt ineinander waren, auch wenn niemand in aller Öffentlichkeit darüber sprach.
„Ich vermute, der Künstler hat einfach experimentiert“, warf Nell ein. „Das tun wir heutzutage auf alle möglichen Arten und es macht das Leben interessant.“
„Womit werden denn diese Künstler auf Spitalfrith experimentieren?“, fragte Mrs Fielding nun wieder auf ihre typisch bissige Art.
„Das Leben nach dem Krieg“, antwortete Michel ernst. Sein Vater war bei der Schlacht um Verdun gefallen und er war im Alter von fünfzehn Jahren mit seiner Mutter nach England gekommen.
„Oder sie experimentieren mit Skeletten, wie Robert erzählt hat“, schlug die aufgeweckte Kitty vor. „Vielleicht gibt es ja welche auf Spitalfrith Manor.“
„Das Anwesen ist alt und gruselig“, stimmte Mrs Fielding ein. „Ich habe Ihre Ladyschaft jedoch gefragt, ob ich zum Fest gehen kann.“
„Vielleicht würde Mr Peters auch gerne hingehen“, schlug Robert unschuldig vor. „Schließlich können wir alle hingehen. Das hat der alte Bursche selbst gesagt“, betonte Robert.
Zu Nells Überraschung schien Mr Briggs, Lord Ansleys Diener, zuzuhören. Mr Briggs musste um die dreißig sein und litt unter Kriegsschäden, sodass er noch immer in einem eigenen Krieg lebte. Er achtete nur selten darauf, was um ihn herum passierte. Auch jetzt verhielt er sich wie gewohnt in solchen Situationen.
Er schob seinen Stuhl zurück, stand auf und salutierte. „Corporal G/26420, Sir“, stieß er hervor.
Dann setzte er sich wieder, was nach einem solchen Ausbruch selten war. Jenny Smith eilte zu ihm hinüber und hob seine Serviette auf und überredete ihn einfühlsam, seinen Kuchen weiterzuessen. Jenny hatte frischen Wind nach Wychbourne gebracht, als sie aus London herkam und als Lady Ansleys Kammerzofe anfing. Da sie so attraktiv und quirlig wie Mary Pickford in den Hollywoodfilmen war, hatte Lord Richard rasch ein Auge auf sie geworfen – jedoch hatte sie ihn ebenso schnell abgeschüttelt, auch wenn sie sich noch gut zu verstehen schienen.
„Wie sollen wir denn alle zum Fest gehen können?“, meldete sich Muriel, eines der Spülmädchen, zu Wort. „Wir müssen schließlich arbeiten.“
„Lady Ansley hat gesagt, dass alle die Erlaubnis haben, hinzugehen“, antwortete Mrs Fielding wichtigtuerisch. „Jene von euch, die wünschen, das Fest zu besuchen, können dies tun, wenn die Aufgaben erledigt sind.“
Was hatte es mit Mrs Fieldings entgegenkommender Art auf sich? Man höre und staune!, dachte Nell. Mit Sicherheit lag es daran, dass Mr Peters anwesend war.
„Worum geht es bei dem Fest denn?“, fragte Jenny, die wie Nell feststellte, in ihren Gedanken nun Jenny und nicht mehr Miss Smith hieß.
„Lady Ansley hat mir gesagt, dass die Künstler über ihre Werke sprechen werden und diese präsentieren“, verkündete Mrs Fielding in einem Tonfall, der sie spüren lassen sollte, dass sie Lady Ansleys Vertrauen genoss.
„Wozu sollen sie darüber sprechen, wenn wir sie sehen können?“, fragte Kitty zaghaft.
„Weil ihre Werke uns nichts sagen werden“, lachte Jenny. „Sie zeichnen alle möglichen bunten Farben und Formen.“
„Sehr schmale Formen, wenn alles bis auf das Skelett reduziert ist“, fügte Nell hinzu.
Kitty sah noch immer besorgt aus. „Aber wozu sollen wir es dann angucken, wenn es nichts zu bedeuten hat? Ich habe einen Druck von einem schönen Bild von Knole Park gesehen, auf dem ein Feld und Schafe zu sehen waren. Es ist von Sir Gilbert und hängt bei meiner Tante im Haus. Und das bedeutet mir etwas, weil ich schon einmal dort war.“
„Ich vermute, Sir Gilbert hat es gemalt, als er noch jünger war“, erklärte Jenny. „Nun will er avantgardistisch sein, um mit der Zeit zu gehen und mit Picasso und Matisse mitzuhalten.“
Nell warf ihr einen Blick zu. Jenny entpuppte sich tatsächlich als eine pfiffige Kammerzofe. Sie hatte nicht nur Lord Richards Interesse auf sich gezogen, sie erwies sich auch als bewandert in der modernen Kunst. Obwohl sie nun sechs Monate mit ihr zusammengearbeitet hatte, wusste Nell nur wenig über sie, außer, dass sie über eine Londoner Agentur nach Wychbourne Court vermittelt worden war. Sogar im verschlafenen Wychbourne schwanden die Zeiten, in denen die Hausangestellten noch aus dem Dorf angestellt wurden.
„Das ist la vérité“, intonierte Robert feierlich. „Das Skelett eines Körpers, eines Blattes. Ich frage mich, ob sie je Bücklinge zeichnen! Die haben jede Menge Gräten!“
„Das ist allerdings wahr“, stimmte Jenny ihm zu und das Spülmädchen Muriel kicherte. „Aber ich bezweifle, dass in Paris viele Bücklinge gezeichnet werden und schließlich wird all die neue Kunst dort erträumt. Waren Sie jemals in Paris, Miss Drury?“
„Noch nicht“, antwortete Nell ihr vergnügt. „Aber dort kommen die Clerries her.“
‚Paris‘ rief ihr eine unbehagliche Erinnerung ins Gedächtnis, auch wenn es eine glückliche Erinnerung war. Eines Tages, so hatten Alex Melbray und sie sich geeinigt, wollten sie die Champs-Élysées hinunter- und entlang der Seine spazieren, was eine Metapher für eine engere Beziehung war, wie sie sich durchaus bewusst war. Wieder stiegen Zweifel in ihr auf, denn sie konnte das Seilziehen in ihrem Inneren nicht lösen. Sollte sie ihre Arbeit aufgeben, wie sie es müsste, weil Alex ein Chefinspektor bei Scotland Yard war? Oder sollte sie Alex aufgeben? Natürlich gesetzt den Fall, dass er sie nicht vorher aufgab. „Und außerdem“, sprach sie schnell weiter, „hat Sir Gilbert seine neue Frau dort kennengelernt.“
„Der arme alte Bursche. Er tut mir wirklich leid“, sagte Robert aufrichtig.
„Sir Gilbert hat wohl nach dem Krieg einige Jahre in Paris verbracht“, setzte Nell schnell wieder an. „Sie stand damals Modell, vielleicht auch für ihn.“
„Ist sie auch eine der Clerries?“, fragte Kitty.
„Ich glaube nicht. Aber es mag bloß mein Eindruck sein“, fügte Nell hastig hinzu, als sie zu spät merkte, dass Mr Briggs leise vor sich hin sang, was ein Zeichen war, dass ihn etwas bekümmerte.
„Mademoiselle from Armetières, parlez-vous … “
„Alles ist in Ordnung, Mr Briggs. Sie sind hier sicher“, sagte Jenny sanft, als er die Zeilen immer wieder wiederholte.
Nell machte sich Sorgen um Mr Briggs. Seine Reaktion auf das Geschehen war ungewöhnlich, denn zumeist war Mr Briggs zwar körperlich zu den Mahlzeiten anwesend, geistig jedoch nicht. Lag es an der Unterhaltung über Frankreich, dass er so aufgebracht war?
Eine Zeit lang nahm Mr Briggs weder Jenny noch sonst jemanden wahr. Dann hörte er abrupt auf, stand auf, salutierte wieder und verließ den Tisch.
„Er hat sein Dessert noch nicht aufgegessen.“ Muriel sah ihm besorgt hinterher. „Geht es ihm gut?“
„Ich werde nach ihm sehen“, bot Nell an. „Wahrscheinlich ist er nur zu seinem abendlichen Spaziergang aufgebrochen, um die Nachtigall singen zu hören.“
Doch der Abend verlief nicht wie erwartet. Von Mr Briggs war am Hinterausgang des Bedienstetenflügels, der zu den östlichen Gärten führte, keine Spur, also ging Nell weiter zum Eingang für Lieferanten, der zum Küchengarten führte.
Auch hier keine Spur von Mr Briggs. Sie wollte gerade wieder hineingehen, als sie ihn sein Fahrrad über den Hof schieben sah, was zu solch einer späten Uhrzeit merkwürdig war. Auch wenn er abends oft ausging, ging er doch normalerweise zu Fuß. Besorgt eilte Nell über den Hof, doch sie kam zu spät. Er war schon auf dem Rad und radelte in die Nacht davon. Sie lief ums Haus herum und sah ihn noch die Hauptstraße ins Dorf entlangradeln und hörte die Worte, die er sang, vielleicht an sie gerichtet, vielleicht an sich selbst: „Die Vögel, die singen … die Singvögel … “
Alles war in Ordnung, dachte Nell beruhigt, als sie in den Bedienstetensaal zurückkehrte. Mr Briggs schien einfach nur in das Wäldchen am Rande des Anwesens zu radeln und dort den Nachtigallen zu lauschen. Und dass er mit dem Rad fuhr, musste einfach nur ein spontaner Einfall gewesen sein. Mehr nicht.
Kapitel ZWEI
„Nach Spitalfrith Manor werden Kokosnüsse und alle möglichen anderen komischen Dinge geliefert“, berichtete Kitty begeistert. „Das hat mir Mr Fairweather erzählt. Der alte Gärtner von Spitalfrith war hier und wollte einige Ananasfrüchte von ihm stibitzen.“ Kittys Freund war einer der Gärtnergehilfen von Wychbourne Court und Kittys Interesse, in den Gemüsegarten zu gehen und mit Mr Fairweather zu handeln, war seitdem deutlich gestiegen.
Es waren bloß noch zwei Tage, bis die Künstler ihre Werke und deren afrikanische Pracht feierlich präsentieren würden. Verquerer und verquerer, um es mit den Worten von Alice im Wunderland zu sagen, dachte Nell. Ob die Clerries Alice wohl erstaunt hätten, wenn die Kunstwerke wirklich dem entsprachen, wie über sie geredet wurde?
„Ich hoffe, er hat keine herausgerückt“, sagte sie bestürzt. Die Ananaspflanzen und die abgedeckten Gruben, in denen Mr Fairweather sie den Winter über hielt, waren äußerst wertvoll. Das Obst war auf dem Markt wahrscheinlich günstiger zu erstehen, aber er hing an den alten Gruben und kümmerte sich gewissenhaft darum. Und das Ergebnis war exzellent.
Kitty kicherte. „Aber natürlich nicht. Sie wissen doch, wie er ist.“
Das wusste Nell in der Tat. Sie musste sich stets die größte Mühe geben, ihn davon zu überzeugen, ihr auch nur irgendetwas aus dem Küchengarten zu überlassen. Für Mr Fairweather musste alles stets perfekt sein, bevor er auch nur eine einzige Bohne herausrückte. Das stellte allerdings häufig ein Problem dar, weil in seinen Augen nie etwas perfekt genug war.
„Ich habe gehört, dass sie Affen zum Anwesen gebracht haben. Lebendige Affen, so wie im Filmtheater“, sagte Kitty.
„Vielleicht schneit auch noch der Weihnachtsmann herein“, entgegnete Nell. Wie passten Affen denn zu den Clerries? Was würde wohl als Nächstes eintreffen? Vielleicht ein paar Gorillas? Oder ein Elefant, so groß wie der berühmte Jumbo? Aber eines nach dem anderen. „Wie wäre es, wenn wir uns an das Quittenkompott zum Schwein für das Abendessen machen?“, fragte sie vielsagend. „Hättest du nicht Lust?“
In der Küche herrschte wieder Betriebsamkeit und alles summte eifrig vor sich hin, wie die neuen Netzleitungen, die endlich installiert worden waren. Endlich musste sie sich nicht mehr auf das alte Stromaggregat verlassen, nur noch im äußersten Notfall, und es war ihr eine Freude, mit dem Elektroherd zu arbeiten, auch wenn Nell ihren alten Kohlenofen noch so sehr liebte.
Es war kaum ein Wunder, dass Spitalfrith Manor für so viel Aufruhr in der Küche sorgte, schließlich war das ganze Dorf aufgeregt und gespannt, selbst die Ansleys konnten sich dem Drama nicht entziehen.
„Was zum Teufel geht nur vor sich, Nell?“, hatte Lady Ansley sie erst am Morgen ganz unverblümt gefragt, als Nell ihr das Menü des Tages präsentierte. „Ich habe das Gefühl, ich sollte Sir Gilbert und Lady Saddler meine Unterstützung anbieten, und doch hält mich etwas davon ab. Mein Mann findet leider, offen gesagt, keinen Gefallen an den neuen Nachbarn und ich kann es ihm nicht verübeln“, sagte Lady Ansley kläglich. „Mir geht es nicht anders.“
Das überraschte Nell kaum. Lady Ansley war in den 1890er-Jahren als Gaiety Girl am Theater gewesen und hatte sich in ihre neue Rolle als Marchioness Ansley perfekt eingefunden, sodass dies einer der seltenen Momente von Offenheit in solchen Angelegenheiten war. Nell teilte jedoch ihr Unbehagen. Irgendetwas war an Spitalfrith seltsam. Der frühere trostlose Ruf war plötzlich etwas Düstererem gewichen und das Fest legte sich oberflächlich wie eine Schicht Zuckerguss darüber. Sie wusste jedoch auch, dass Lord Ansley die Situation still beobachten würde, bevor er Wychbourne Court in eine Situation brachte, die sie später bereuen würden.
„Außerdem haben wir keine offizielle Einladung zu diesem Kunstfest erhalten“, sprach Lady Ansley weiter. „Bloß diese alles umfassende mündliche Erwähnung beim Lunch. Wäre Lady Enid nicht mit Sir Gilbert befreundet, würde ich keinen weiteren Gedanken daran verschwenden, doch ich fürchte, wir sollten alle anwesend sein.“
„Aber ja“, murmelte Nell und fragte sich, was die Witwe wohl vom Kunstverständnis der Clerries halten würde, wenn sie die Werke sah. Afrika und die Clerries hatten rein gar nichts mit Sir Gilberts Porträt von vor dreißig Jahren gemein, das sie als viktorianische Frau in ihrer Glanzzeit zeigte. Jetzt, wo sie so darüber nachdachte, fragte Nell sich, was sie selbst überhaupt von der neuen Avantgardekunst hielt. War es nur eine vorübergehende Modeerscheinung oder würden die Artistes de Cler sich behaupten? Ob die neuen Künstler in Paris, Picasso und die Dadaisten, sie anerkennen würden?
In solchen Überlegungen versunken, hatte Nell den längeren Weg zurück in den Ostflügel genommen und ging die große Prunktreppe hinab, um im großen Saal noch einmal einen Blick auf das Porträt der Witwe zu werfen. Das Viktorianische Zeitalter war zwar vorüber, doch das Gemälde war noch immer überwältigend. Lady Enid saß darauf majestätisch im Abendkleid und mit Juwelen reichlich behangen – sie trug sogar ein Diadem – und ihre Hand ruhte auf einem Hund, der stolz an ihrer Seite saß. Nell hatte versucht, sich die Witwe bis auf die Knochenstruktur reduziert vorzustellen, doch das galt mit Sicherheit als lèse-majesté, Majestätsbeleidigung, und Lady Enid schien so schon von ihrem Porträt auf einen hinabzustarren, als könne sie Gedanken lesen.
Als sie in der Küche ankam, ging das Geplauder über das Fest am Samstag weiter, bis es schon fast Zeit für das Mittagessen war und sich alle aufgrund der zu servierenden Mahlzeit wieder auf die Arbeit konzentrierten. Sobald sie jedoch wieder im Bedienstetensaal waren, plapperten sie munter weiter.
„Wir schmieden alle Pläne, wie wir hingehen können, Miss Drury“, erzählte Kitty Nell aufgeregt. „Natürlich haben wir das Mrs Fielding zu verdanken“, fügte sie diplomatisch hinzu, denn auch sie musste gesehen haben, wie Mrs Fielding schon entrüstet die Luft einzog. „Wir werden in Zweiergrüppchen gehen. Eine Gruppe um drei Uhr, die andere um halb sechs.“
Der Bedienstetensaal hatte mehr als vierzig Plätze, obwohl sie nur selten alle zur selben Zeit dort waren. Heute waren jedoch beinahe alle Stühle besetzt, sogar ein oder zwei Gärtner waren da. Sie waren sonst nur selten im Ostflügel und aßen für gewöhnlich mit Mr Ramsay, der für die Ställe und Garagen verantwortlich war. Die anderen Angestellten kamen und gingen, wie es sich mit ihren Pflichten vereinbaren ließ. Mr Briggs aß meist lieber im Pug’s Parlour, wie das Zimmer des Butlers auch genannt wurde, wo früher die höhergestellten Bediensteten gegessen hatten. Inzwischen aß er jedoch sein Mittagessen trotz des Trubels im Bedienstetensaal.
„Wann werden Sie zum Fest gehen, Mr Briggs?“ Jenny Smith schien offenbar zu versuchen, ihn mit der allgemeinen Begeisterung anstecken zu wollen, doch Mr Briggs starrte sie nur irritiert an. Herrje! Das Warnsignal kannte Nell nur zu gut.
„Das Kunstfest auf Spitalfrith Manor“, ermunterte sie ihn.
Mr Briggs sah verwirrt drein, dann lächelte er in die Runde und verließ langsam den Saal. Er hatte nicht wie sonst manchmal seinen Namen gerufen und sein Gehen schien niemanden zu besorgen, bis auf Nell, wobei Jenny auch verblüfft aussah. Was an Jennys Frage hatte ihn bloß so durcheinandergebracht? Vielleicht hatte es ihm aber auch einfach nur zu viel abverlangt.
Die Unterhaltung am Tisch war längst zu einem anderen Thema übergegangen, aber noch immer ging es um das bevorstehende Ereignis. Mrs Fielding schien am meisten über Spitalfrith zu wissen.
„Mr Peters hat mir erzählt, dass er vom Telegrammboten gehört hat, dass die Gäste heute im Herrenhaus eintreffen. Und was für Gäste!“, betonte sie bedeutungsvoll. „Einer hat am Bahnhof von Sevenoaks bereits nach einer Droschke gefragt. Eine äußerst merkwürdige Person. Er trug einen knallgelben Anzug.“
„Gelb?“, wiederholte Kitty ungläubig.
„Sonnengelb, hat Mr Peters sich sagen lassen. Und schlimmer noch!“ Mrs Fieldings Publikum schnappte nach Luft, als sie weitersprach: „An seinem knallgelben Hut steckte eine Feder.“
Auf dem Land gab es zu viele Bäume, entschied Lance Merryman, und zupfte ein Blatt von seinem herrlichen neuen gelben Jackett. Vermutlich hatte er für die Fahrt mit der Droschke doppelt so viel zahlen müssen wie üblich, denn einige der anderen Droschkenfahrer hatten nur einen Blick auf seine modische Kleidung geworfen und entschieden, dass sie seinem Wunsch leider nicht nachkommen können. Ihr Pech! Hier war er nun also - auf Spitalfrith Manor -, draußen auf dem Lande, das so völlig anders war als seine Heimat London oder aber Paris, wo er inzwischen weilte. Jedoch hoffentlich nicht mehr viel länger. Er klammerte sich an die Hoffnung, dass nicht einmal Gilbert töricht genug war, um zuzulassen, dass etwas (oder gar jemand) die Ausstellung der Artistes de Cler in der Londoner Academy of Modern Art, die für das nächste Jahr geplant war, stören würde. London war inzwischen der Dreh- und Angelpunkt der Kunst. Paris mochte die Heimat hervorragender Modeschöpfer wie Molyneux sein, doch er, Lance Merryman, würde London regieren. Seine Entwürfe würden das Fashion Tomorrow Magazine im Sturm erobern und die Vogue würde ihm die Tür einrennen. Lance sah sich um, als die Droschke davonfuhr und ihn mit seinem Gepäck auf dem Vorhof zurückließ, wo er nun auf einen Diener wartete, der ihn hereinbat. Die vielen Bäume bildeten eine Art ausladendes Dach über dem Vorhof. Wirklich sehr ländlich. Bäume waren ihm als Konzept im Sinne der Artistes de Cler durchaus recht und für das Motiv Afrika waren sie noch besser – Diamanten glitzerten geradezu auf den Blätter, meine Lieben, und Löwen schlenderten zwischen den kahlen Baumstämmen umher –, London würde sein Eldorado sein. Sein Plan hatte nur einen Haken: das abscheuliche Schreckgespenst Lisette, die ihm seinen Aufenthalt in Paris ruiniert hatte, indem sie über seine Kollektion gelästert hatte. Da sie inzwischen den armen Gilbert geheiratet hatte, würde sie zweifellos weiter über seine Kreationen herziehen, doch nach der Ausstellung im nächsten Jahr würde er sich von den Artistes de Cler abwenden können.
Durch die Bäume auf dem Vorhof sah er eine elegante, statueske Gestalt auf sich zukommen. Einen Moment lang fürchtete er, dass es Lisette sein könnte, doch zu seiner Erleichterung war es Miss Huntley-Doran, die liebe Thora, Dichterin und Verlobte des ach so noblen Begründers der Clerries, Pierre Christophe – dem er selbstverständlich zu größter Hochachtung verpflichtet war. Da offenbar kein Diener aus dem Haus herbeieilte, um sein Gepäck zu tragen, war er froh, nun zumindest nicht mehr allein in dieser eigenartigen Welt der Felder und Wälder zu sein.
„Miss Huntley-Doran – Thora!“, begrüßte er sie überschwänglich und kleidete sie gedanklich um, wobei er ihr unseliges violettes Jumperkleid durch eine seiner seidenen Kreationen ersetzte. „Können wir uns nicht glücklich schätzen, hier von ländlicher Idylle umgeben zu sein?“ Die vornehme Thora war stets freundlich zu ihm, ganz im Gegensatz zu Pierre, der ihn wie einen Hofnarren behandelte.
Thora sah verunsichert aus. „Können wir das?“, fragte sie. „Inspiriert dich das wirklich, Lance? Ich persönlich empfinde Hampstead künstlerisch anregender. Haben Sie mein Klagelied Elegy to a Fallen Hero vielleicht gelesen? Ich habe es dort geschrieben und nachdem Pierre es gelesen hatte, fragte er mich sogleich, ob ich mich den Artistes de Cler anschließe.“
„Dein dichterisches Talent ist außerordentlich“, murmelte Lance diplomatisch. In seinen Augen war Pierres einziges Ziel, was Thora anbelangte, sich in ihre reiche Familie einzuheiraten. „Ist der gute Pierre schon hier? Sicherlich –“
„Möglicherweise“, unterbrach Thora mit verärgertem Blick. „Haben Sie schon Lisette gesehen?“
Er schauderte. „Unsere werte Gastgeberin?“ Mehr brachte er nicht über die Lippen. „Noch nicht“, fügte er schließlich hinzu und dann begriff er, was Thora befürchtete: dass der großartige Pierre mit der schlangengleichen Frau zusammen war. Nein, wie amüsant, dachte er. Natürlich hatte es lauter Gerüchte über Lisette und Pierre gegeben …
Pierre Christophe hielt vor Spitalfrith Manor an und betrachtete das graue, alles andere als inspirierend aussehende Herrenhaus, wobei seine Hand lässig auf der Tür seines nagelneuen 14/60 Lagonda lag. Nun, zumindest die nächsten fünf Tage war der Wagen seiner. Er konnte es sich nicht leisten, ihn länger zu mieten, aber mit dem Zug zu fahren, kam nicht infrage. Der schnittige Lagonda verkörperte die Prinzipien der Artistes de Cler und Thora würde ihn sicherlich vergöttern – so unglücklich es auch war, dass er ihn nur vorübergehend besaß. Aber er war schließlich der Begründer der clerrischen Strömung und da Kunst ein Geschäft war, konnte er solche elenden Angelegenheiten wie das Geld nicht außen vor lassen. Manchmal, sagte er sich, musste man nun einmal welches ausgeben, ohne groß Rücksicht auf das Bankkonto zu nehmen.
Er hatte so einige Bedenken, was diesen Besuch anbelangte. Zunächst musste er Gilbert einschärfen, wie wichtig es war, dass die Künstler bei der Ausstellung im nächsten Jahr vertreten waren. Obwohl Gilbert ein Mitglied der Artistes de Cler war, neigte er doch manchmal zu seinem alten Zeichenstil und außerdem zeigte er sich vom Wert der clerrischen Strömung nicht ausreichend überzeugt. Einige der anderen Künstler – insbesondere Lance Merryman – hatten kein Fingerspitzengefühl. Lance würde sicherlich in üblich extravaganter Kleidung auftauchen und Pierre schüttelte es bei dem Gedanken, dass seine Thora zugleich Gast mit einem so bunt gekleideten Schmetterling war. Lances Privatleben war seine eigene Angelegenheit, aber er sollte jene um sich herum berücksichtigen. Thoras Familie würde davon nicht begeistert sein.
Pierres zweite Sorge galt Thora selbst. Alles hing von seiner neuen Verlobten ab – seiner neuen reichen Verlobten -, die nun aufrichtig an die Prinzipien der Artistes de Cler glaubte. Da sie keine Malerin, sondern eine Dichterin war, hatte es viel Geduld gekostet, ihr zu erklären, wie gut ihre Gedichte zur Denkweise der Clerries passten. Nichts durfte beim Fest am Samstag schiefgehen, genauso wie bei der Planung der Ausstellung der Academy of Modern Art im nächsten Jahr in London Kensington. Seine Karriere hing davon ab.
Dies brachte ihn zu seiner dritten Sorge und dem eigentlichen Hauptproblem: die Gegenwart von Lisette Rennard, seiner ehemaligen Geliebten und Modell, die nun Lady Saddler hieß. Er stieg aus dem Wagen. Hätte er nur früher gewusst, dass Gilbert sie vor zwei Monaten geheiratet hatte, dann hätte er Thora nicht überredet, ihn an diesem Wochenende zu begleiten. Er hatte gewusst, dass Lisette für Gilbert in Paris Modell gestanden hatte, aber sie zu heiraten, und zumal so kurz, nachdem er sie in beiden Rollen aus seinem Leben verbannt hatte, war ein Schock gewesen. Und nun würde sie die Gastgeberin auf Spitalfrith Manor sein. Er hatte gehofft, dass sie Anstand haben und den Artistes de Cler fernbleiben würde, jetzt da seine Verlobung mit Thora bekanntgegeben war, doch es war hoffnungslos. Lisette würde anwesend sein. Die Frau mit den dunklen Augen und dem dunklen, glänzenden Haar, das ihr über die schmalen Schultern fiel, wenn sie es nicht zu einem eleganten Dutt gedreht hatte, um die wundersamen Konturen ihres Gesichts zu betonen. Ihr Körper war hager, sie das perfekte Modell und die perfekte Geliebte. Doch nicht die perfekte Frau, um sie in der Nähe zu haben, wenn die Zukünftige bei einem war und diese altmodischere Moralvorstellungen hatte.
Zumindest würde Lisette gewiss keine Gefahr für die Ausstellung im nächsten Jahr darstellen, tröstete er sich. Die anderen anwesenden Künstler, die dieses Wochenende dabei waren – Thora, Lance, Vinny Finch, Gert Radley und Gilbert selbst –, würden eifrig darüber reden und nicht einmal Lisette konnte etwas dagegen tun.
„Pierre, mon cher! Bonjour!“ Er sah Gilbert ihm entgegenwatscheln, die Arme weit ausgebreitet. „Willkommen auf Spitalfrith Manor.“
Von Lisette war glücklicherweise keine Spur zu sehen, doch sie war bestimmt nicht weit und wartete nur, ihren dunklen Schatten über ihn zu werfen. Pierre machte sich darauf gefasst.
Nell schäumte vor Wut. Das gesamte Dorf schien wie besessen von diesem Fest. Sie hatte sich beim Metzger beschweren müssen, weil er ihr Wadschinken statt Spannrippen geliefert hatte. Normalerweise war Mr Podland stets peinlich genau und nun schien er so beschämt, dass er vermutlich am liebsten im Boden versunken wäre.
„Entschuldigen Sie bitte, Miss Drury. Die große Lieferung für Spitalfrith Manor hat mich ziemlich abgelenkt“, druckste er herum. „Und ich habe keine Würstchen mehr. Dreihundert Stück wollten sie haben. Mit Gekröse drin, was auch immer das ist. Sie bekommen also die gute alte Schweinswurst. Und Shrimps wollten sie haben. Ich habe ihnen gesagt, dass wir August haben. Da gibt es keine Shrimps. Und außerdem bin ich Metzger und kein Fischhändler. Ich werde ihnen also schöne Schinken-Blätterteig-Teilchen machen. Sir Gilbert sagte, das würde auch gehen, also bekommen sie nun diese.“
Nell versuchte, möglichst mitfühlend zu klingen, doch in Gedanken stellte sie sich schon vor, was Mrs Squires sagen würde, wenn sie erfuhr, dass sie die bestellten Würstchen für das Mittagessen der Bediensteten nicht bekommen hatte. Mrs Squires war jedoch weit und breit nicht zu sehen, als Nell sie in der Küche suchte.
„Sie ist nach Spitalfrith. Hilft dort Mrs Hayward“, trällerte Kitty. „Mrs Fielding sagt, das sollten wir alle tun.“
Nell stöhnte. Es war Donnerstag und das Fest begann erst Samstag. Dabei standen vorher erst einmal solche Dinge wie der Nachmittagstee und das Abendessen der Bediensteten an - die normalerweise Mrs Squires Aufgaben waren - und dann sollte es noch Pommes dauphine für die Familie geben.
„Ich kümmere mich darum“, rief Michel und eilte zum Herd, wobei er über die Tabletts mit dem Fleisch stolperte, die Kitty neben sich auf dem Boden abgestellt hatte.
Nell schloss die Augen und zählte bis zehn. „Das hier ist eine Küche und kein Zirkus“, schrie sie, als Michel sich aufrichtete und dabei rückwärts in Muriel lief, sodass sie das Geschirr, das sie aus der Spülküche trug, fallen ließ.
Ausgerechnet in diesem Augenblick tauchte plötzlich Lady Clarice auf, was auf Wychbourne Court alles andere als gewöhnlich war. Es gab eine unausgesprochene Regel, dass die Familie nicht ohne ausreichend Vorwarnung in den Ostflügel kam, doch es hatte keinen solchen Hinweis gegeben. Lady Clarice war ganz rot im Gesicht und schien dringend etwas mitteilen zu wollen.
„Miss Drury, hätten Sie einen Moment, um von höchst erfreulichen Neuigkeiten zu erfahren?“, fragte sie, wartete jedoch nicht, bevor sie weitersprach. „Ich habe ein wenig über Spitalfrith Manor recherchiert und habe eine äußerst aufregende Entdeckung gemacht.“
Verfluchte Fischgräten, was war denn nun wieder los? Nell zwang sich, ein Lächeln aufzusetzen und verließ die chaotische Küche, um Lady Clarice in die Kammer zu begleiten, die dem Chefkoch zustand und liebevoll der Kochtopf genannt wurde.
„Ich weiß, Sie werden sich freuen“, fuhr Lady Clarice fort, als Nell ihr einen Platz an dem kleinen Tisch anbot, auf dem wie immer lauter Schreibutensilien und Kochbücher lagen.
Das klang unheilvoll, dachte Nell beklommen.
„Auf Spitalfrith gibt es wirklich einen Geist und, oh, Miss Drury, es ist der Geist eines Soldaten. Gewiss ist es mein geliebter Jasper. Er lebte einige Jahre dort, bevor er in diesen schrecklichen Krieg mit den Buren zog. Nach seinem Tod verließen seine Eltern Spitalfrith, doch nun bin ich sicher, dass Jasper dort spukt. Er wird mich am Samstag dort erwarten und ich vermute, er wird nicht im Haus sein – obwohl ich es selbstverständlich auch erkunden werde –, sondern an dem Ort, an dem er mir den Hof machte.“ Sie errötete.
Nell nahm all ihren Mut zusammen, um sie auf die Enttäuschung vorzubereiten. „Es werden sehr viele Leute dort sein, Lady Clarice. Das könnte ihn möglicherweise abschrecken. Und wir werden uns dort nur bei Tageslicht und außerhalb des Hauses aufhalten, seien Sie nicht zu enttäuscht, wenn er nicht auftaucht.“
Lady Clarice lächelte. „Jasper wird einen Weg finden.“
Als sie in die Küche zurückkam, sah sie ihre Sorgen bestätigt. In ihrer Abwesenheit war die Küche nicht fleißig bei der Arbeit gewesen oder auch nur die Bruchstücke aufgeräumt worden. Im Gegenteil, es herrschte völliger Stillstand und Jenny Smith schwang eine Rede über ein Thema, mit dem sie bestens vertraut und offensichtlich auf neuestem Stand war: Lord Richards Liebesleben.
„Vielleicht einundzwanzig oder zweiundzwanzig, würde ich vermuten“, erzählte Jenny ihrem neugierigen Publikum. „Nicht groß – nicht hübsch und sieht aus, als hätte sie ihren eigenen Willen. Die Sorte, bei der man zweimal hinsieht, oder noch viel öfter, wenn man Lord Richard heißt.“
Es brachte ihr einige Lacher ein, doch Nells Anwesenheit erinnerte das Küchenpersonal an seine eigentlichen Aufgaben. Jenny lachte. „Entschuldigen Sie, Nell. Aber bei all dem, was sich auf Spitalfrith tut, ist es nahezu unvermeidlich, dass Lord Richard es auf jemanden, die mit dem morgigen Fest zu tun hat, abgesehen hat.“
„Und dieses Fräulein ist?“, fragte Nell und warf einen Blick auf Kitty, um zu sehen, wie sie mit den Pfirsichen au vin blanc für das Abendessen vorankam.
„Sir Gilberts Tochter, Petra. Lord Richard hat sie getroffen – oder wohl eher erspäht –, als sie heute Morgen am Bahnhof von Sevenoaks ankam und hat sie nach Spitalfrith gefahren.“
Das arme Mädchen, dachte Nell. „Wirkte sie, als könne sie ihrer Stiefmutter die Stirn bieten? Denn das wird sie müssen.“
„Die kurze Antwort darauf lautet ‚Ja‘“, antwortete Jenny. „Ob sie jedoch gewinnt, das ist eine ganz andere Frage.“
„Nein, Vater“, sagte Petra Saddler bestimmt. „Ich werde nicht für die Clerries Modell stehen.“
Sie war auf die Bitte ihres Vaters hin aus London angereist, doch das ging zu weit. Allein die Vorstellung, beim Festival de Cler am Samstag Modell zu stehen, während das gesamte Dorf kicherte, war nicht nach ihrem Geschmack und sie war sich dessen wohl bewusst, dass dieser Vorschlag von der Schlange ausging, die genau wusste, wie sehr sie die Idee hassen würde. (Die Schlange war ihr Spitzname für ihre Stiefmutter – Madame Lisette Rennard, wie sie hieß, bevor ihr armer Papa sie dummerweise geheiratet hatte.) Petra hatte ihr Bestes gegeben, den Clerries gegenüber höflich zu sein, als sie ihren Vater in Paris besucht und seine neuen Freunde kennengelernt hatte. Aber waren sie wirklich Freunde? In ihren Augen hatten sie ihn von seiner wahren Berufung abgebracht. Sahen sie denn nicht, dass sie in eine dunkle Gasse tappten, die nirgendwo hinführte? Die Clerries hatten ihm das Gefühl gegeben, seine Arbeit müsse avantgardistisch sein, anstatt bei seiner Berufung zu bleiben, wie die Künstler Sir William Orpen oder der verstorbene John Singer Sargent.
Ihr Vater sah sie perplex an. „Ich kann nicht verstehen, wieso du so unwillig bist. Das ist eine Ehre.“
„Von einer Gruppe Fremder angestarrt zu werden, während ich in einem flatterigen griechischen Kostüm friere, ist keine Ehre. Besonders nicht, wenn es im nächsten Jahr bei der Ausstellung gezeigt –“
„Aber wenn die Clerries dein wahres Ich zeichnen –“
„Du kennst mein wahres Ich doch gar nicht“, sagte sie verärgert. „Keiner dieser Leute kennt mich oder will mein wahres Ich kennenlernen. Nicht einmal ich kenne mein wahres Ich und was das Fest am Samstag anbelangt und die Ausstellung nächstes Jahr –“
„Ach, daran habe ich so meine Zweifel, meine Liebe“, sagte er noch nervöser als zuvor schon. „Deine Stiefmama hält es für …“
„Zum allerletzten Mal. Sie mag rechtlich meine Stiefmutter sein, doch ich sehe sie nicht als solche an, Papa.“
„Wenn du sie nur etwas besser kennenlernen würdest …“
Sie besser kennenlernen? Petra schauderte. Wie sollte man sich mit einer Schlange anfreunden? Und nun schien es so, als hätte ihr Vater seine Meinung hinsichtlich der Ausstellung in der Academy of Modern Art geändert und das vermutlich, weil die Schlange nicht zu den Clerries gehörte, sondern nur für sie Modell gestanden hatte. Es stimmte, dass die Ausstellung Petra nicht im Geringsten kümmerte, doch manchen dieser komischen Gäste ging es wohl anders. Und ihrem Vater würde es wohl auch nicht gerade guttun, wenn die Ausstellung nach all dem Trara abgesagt würde. Er steckte so tief in seiner Arbeit für die Clerries, dass ein Rückzug nun schlimmer war, als es durchzuziehen.
Das Wochenende würde noch schrecklicher werden, als sie es befürchtet hatte. Soweit sie es beurteilen konnte, war Vinny Finch ein großer, stiller Mann. Er hatte ihr bei der Ankunft des letzten verrückten Künstlers zugezwinkert und wirkte, als sei er der einzige der fünf Gäste bei Verstand. Die gerade eingetroffene Gert Radley marschierte die Auffahrt in festem Schuhwerk, einem schweren Rock und einem Rucksack auf dem Rücken entlang.
„Einen schönen Nachmittag“, trällerte Miss Radley ihnen entgegen und schüttelte ihre Hände energisch, als sie und Papa einander begrüßten. (Keine Spur von der Schlange.) Miss Radley war augenscheinlich die älteste der Clerries, bis auf Papa – vielleicht um die fünfzig – und war definitiv merkwürdig. Sie hatte kurze graue Haare und trug dazu noch einen alten Filzhut. Zumindest war sie ein Mensch, dachte Petra sich. Sie musste die Künstlerin sein, deren Gemälde vor ein oder zwei Stunden dank des Fuhrunternehmens Carter Paterson eingetroffen waren.
Petra fühlte sich bereits in Spitalfrith gefangen. Ihr Leben spielte in London, nicht hier. Sie war zweiundzwanzig Jahre alt und an ihrem letzten Geburtstag hatte sie Zugang zum Treuhandfonds erhalten, den ihre Mutter ihr hinterlassen hatte. Zwei Monate, nachdem die Schlange aufgetaucht war, hatte sie ihr eigenes Apartment in Chelsea bezogen und ihr Leben begonnen, was heißen sollte, dass sie nun an der Royal Academy of Dramatic Art war. Das hatte zwar bedeutet, Papa mit der Schlange hierzulassen, doch sie hatte sich entschlossen, ihn sehr genau im Auge zu behalten. Und besonders an diesem Wochenende.
„Die Zelte werden morgen gebracht“, hatte ihr Vater erklärt, als sie eingetroffen war. „Und am Nachmittag wird alles vorbereitet sein, sodass am Samstagmorgen noch genug Zeit für ungeplante Dramen bleibt.“ Er hielt inne. „Du wirst dich doch benehmen, oder, Petra?“
Sie seufzte. „Nur für dich, Pa.“ Dramen? Die Schlange würde sich die größte Mühe geben, welche zu kreieren und es Petra überlassen, sich den Gästen gegenüber vorbildlich zu benehmen. Neben Mr Finch und Miss Radley waren da noch der überschwängliche Pierre Christophe, der darauf brannte, sie alle zu beeindrucken, der wahnsinnige Lance Merryman, der wie ein Grashüpfer herumzappelte, und die verträumte Thora Huntley-Doran –, die Petras Meinung nach allesamt verrückt waren. Für ihren Vater würde sie alles tun – bis auf nett zur Schlange zu sein. Schon jetzt fühlte sie sich wie Cinderella, die in der Küche festsaß, während ihre Stiefmutter uneingeschränkt herrschte, dabei war es erst Donnerstag. Vater schien den Makeln der Schlage gegenüber blind. Er war völlig vernarrt in die Frau. Die Schlange hatte die Dreistigkeit besessen, vorzuschlagen, dass sie, da sie keine Künstlerin war, das Geschirr spülen könne, da ihre Haushälterin und das eine Hausmädchen schon genug zu tun hatten. Petra hatte sie darauf hingewiesen, dass sie ihr helfen könne, da Lisette selbst keine Künstlerin war.
Und nun glitt die Schlange auf sie zu, bereit, ihre Beute in einem Stück herunterzuschlingen. Wäre es nicht schön, wenn ein Magier mit den Finger schnipsen und sie einfach verschwinden lassen würde?
„Hier sind wir nun, Gert. Wird es klappen, dieses Fest am Samstag? Sich in einem Atelier in Paris zu treffen, wo man einfach gehen kann, ist eine Sache“, merkte Vinny Finch an und sah sich im trostlosen Salon von Spitalfrith Manor um, „aber nun ist Gilbert mit Lisette verheiratet und wir sind hier bis Montag gefangen. Bist du zufrieden damit?“
Wahrlich, Sir Gilbert und Lisette wohnten erst seit einer oder zwei Wochen hier, aber der düstere, wenngleich modische Dekor mit den Möbelstücken auf Streichholzbeinen und den beinahe nackten Wänden, abgesehen von einem Druck oder einem Gemälde hier oder da – darunter keines von Gilberts herausragenden Werken, wie Gert auffiel –, hatte seine Wirkung und die war nicht einladend.
„Nein“, grunzte sie. „Ich werde dafür sorgen, dass sie sich nie wieder einem meiner Werke nähert.“
Gert sah an den Clerries nur einen Nachteil: Lisette Rennard, die jetzt Saddler hieß. Vielleicht war es ihr eigener Fehler gewesen, Lisette als Modell auszuwählen. Sie hatte ein Modell gewollt, das den Starrsinn, der die neu benannte Art-Deco-Bewegung vorantrieb, einfing und sie sollte für ein großes Plakat für die Pariser Exposition Internationale des Arts Décoratifs im letzten Jahr posieren. Das Plakat sollte das Eden der Zukunft darstellen. Was sich mit ihren Pinselstrichen jedoch zeigte, war nicht Eva, sondern das Element der Schlange. Lisette hatte das Werk in ihrem Atelier gesehen und es vollständig zerstört, bevor jemand anders einen Blick darauf werfen konnte. Und dann hatte Pierre Christophe das Motiv gestohlen.
Hach ja, zumindest war Vinny einer der Guten, dachte Gert. Er war Teil der Clerries, doch er lebte lieber in England und besuchte die Gruppe häufig. Für sie war es genau anders herum: Sie lebte in Paris, besuchte London jedoch oft. Sie glaubten allerdings beide an die Ziele der Clerries. Irgendwie hatte Vinny es geschafft, die Clerries zusammenzuschweißen, etwas, das Pierre Christophe nie konnte, und das, obwohl Vinny nicht immer bei ihnen in Paris gewesen war. Man konnte es in seinen Werken sehen. Ob sie Krieg oder Frieden zeigten, Porträts oder Landschaften, schwang immer eine tief bewegende Traurigkeit in seinen Werken mit, die sie nachempfinden konnte, obwohl sie entschlossen war, in ihrer eigenen Arbeit nach vorne zu blicken. Schließlich waren dies ja nun einmal die 1920er-Jahre.
„Dein Bild von Eden“, bemerkte Vinny. „Ich habe von dem Desaster gehört.“
„Das beste Werk, das ich je gemalt habe. Der arme alte Gilbert.“
„Du magst ja behaupten, wir sollten voranmarschieren, Gert, doch dein Krieg ist nicht vorbei. Er wütet in dir weiter.“
Sie dachte darüber nach. „Ich war eine Kriegsmalerin, so wie Gilbert. Selbst wenn man nach vorne sieht, vergisst man nicht, wie der Krieg war. Was hast du während des Kriegs getan?“
„Spionage – vornehmlich in Montreuil. Ob wir nun im Schützengraben waren oder nicht, Gert, der Krieg hat uns alle auf unterschiedliche Art und Weise mitgenommen. Lisette war eine Kriegsheldin, Pierre hat mir erzählt, dass er in Verdun war, Lance war Sanitätssoldat und Thora arbeitete in den letzten Monaten des Kriegs als Krankenschwester.“
„Und nun marschieren wir hier in Lisettes Haus voran. Das Leben ist schon eine lustige Sache, findest du nicht auch?“
Da radelte Mr Briggs wieder durch das Dorf, bemerkte Nell, als sie im Lebensmittelladen aus dem Fenster sah. Bei dem Anblick vergaß sie alle Gedanken an das Poulet à la Provençal. Es war doch erst kurz nach halb sechs. Wo fuhr er also hin? Heute musste sein freier Tag sein. Lord Ansley würde sich gleich zum Abendessen umkleiden und Mr Briggs war dann für gewöhnlich zur Stelle. Stattdessen war er gerade durch die Tore von Wychbourne Court gefahren und radelte nun die Straße nach Sevenoaks hinunter.
„Tut er das häufig?“, fragte sie Mr Turnbill, den Lebensmittelhändler, der seit vierzig Jahren sein Geschäft im Dorf hatte und eine der besten Quellen jeglichen Informationen war, wenn es um das Dorf und seine Bewohner ging. Natürlich hatte auch er alle Hände mit den Bestellungen von Spitalfrith Manor zu tun.
Mr Turnbill hielt jedoch kurz inne und ließ von den Garibaldi-Keksen von Peek Freans ab, die er gerade in eine große Papiertüte schaufelte. Beschäftigt oder nicht, bevor er ansetzte, etwas vom Wychbourne-Klatsch zu erzählen, machte er immer eine kurze Pause, obwohl Nell vermutete, dass diese bloß eine Kunstpause war, denn er teilte seine Weisheiten, oder wie man es auch nennen wollte, nur zu gerne. „Alle ein bis zwei Wochen“, sagte er. „Aber diese Woche, glaube ich, ist er jeden Tag gefahren, wenn auch nur für knapp eine Stunde und dann fährt er zurück. Ein ziemlich komischer Vogel, der arme Kerl – völlig durcheinander im Oberstübchen.“
Die Straße nach Sevenoaks führte an Spitalfrith vorbei, aber warum, fragte Nell sich, sollte Mr Briggs dorthin fahren? „Wissen Sie, wo er hinfährt?“
„Er besucht einen Freund, hat er mir erzählt. Er war aufgebraucht.“
Einen Freund? Die meisten Bediensteten auf Wychbourne Court hatten Freunde außerhalb des Herrenhauses, wieso war sie also überrascht, dass auch Mr Briggs einen hatte? Wohl weil sie sich sein Leben als ein ruhiges vorgestellt hatte, das sich gänzlich um Wychbourne drehte.
„Wo lebt sein Freund?“, fragte sie neugierig. Sie hatte das Gefühl, die Antwort bereits zu wissen und sie hatte recht.
„Spitalfrith. Er ist mit Freddie Carter, dem Sohn von Joe Carter, dem Gärtner dort, befreundet.“
Nell erinnerte sich an Joe. Sie hatte ihn einige Male im Dorf gesehen, als das Herrenhaus leer stand und erinnerte sich, dass jemand erwähnt hatte, dass er einen Sohn hat, als sie neu in Wychbourne war. Sie konnte sich allerdings nicht entsinnen, ihn je im Dorf gesehen zu haben, was merkwürdig war.
„Arbeitet Freddie auch im Herrenhaus?“, fragte sie.
Mr Turnbill zuckte mit den Schultern. „Er tut, was er kann, der Freddie. Hat im Krieg ein Bein verloren und noch ein wenig mehr, deshalb kann er Joe nicht viel helfen – nur hier und da. Gedanklich ist er noch immer in Frankreich, wenn Sie wissen, was ich meine. Joe hat ihm eine Werkstatt gebaut, damit Freddie Schlosserarbeiten für seinen Vater übernehmen kann und dann sind da noch seine Holzfiguren. Er verkauft auch welche, wenn man das Arbeit nennen kann.“
Nell sah es definitiv als Arbeit an, denn die Figuren hatte sie bei einer Gärtnerei-Veranstaltung zum Verkauf angeboten gesehen und war sehr beeindruckt gewesen.
„Freddie bleibt viel für sich“, sprach Mr Turnbill weiter. „Sein Vater bringt seine Schnitzereien her und verkauft sie. Freddie trifft man nicht im Dorf an, nicht einmal in der Kirche.“
Das musste der Grund sein, wieso Mr Briggs und er Freunde waren, erkannte Nell. Mr Briggs war gedanklich auch noch in Frankreich. Da fiel ihr auf, dass sie sich so an die alten Sitten auf Wychbourne Court gewöhnt hatte, dass man ihn als höhergestellten Bediensteten niemals beim Vornamen ansprach. Wie hieß er denn mit Vornamen? Charles? Das kam ihr bekannt vor. Sie tröstete sich, dass sie Mrs Fielding auch nie als Florence ansprach – tatsächlich graute sie sich auch davor, wie diese darauf reagieren würde.
„Ich werde am Samstag beim Fest nach Freddie Ausschau halten“, sagte sie. „Werden Sie hingehen, Mr Turnbill?“
„Ich vermute, das gesamte Dorf wird hingehen, so viel wie alle darüber reden. Über nichts anderes wird mehr geredet, als den Lastwagen und diesen Lastwagen mit Dampfantrieb, und dann natürlich den guten alten Pferdewagen. Jeder verdammte Wichtigtuer der Gegend scheint herzukommen, um sich anzugucken, was sich in Spitalfrith tut. Wohlbemerkt weiß niemand so genau, was dort vor sich geht, aber das werden wir wohl alle bald herausfinden, nicht wahr?“
Wieso sollte sie auf Samstag warten, um mehr herauszufinden?, dachte Nell, als sie den Laden verließ. Sie konnte doch nach Spitalfrith spazieren, nachdem das Abendessen auf Wychbourne Court serviert war und vielleicht sah sie Mr Briggs dort. Sie hatte sowieso vorgehabt, spazieren zu gehen. Und wenn sie den Wanderweg entlang des Flusses nahm, würde sie zurück auf Wychbourne Court sein, bevor es dunkel wurde. Das war heute genau das Richtige, entschied sie sich, doch dann musste sie plötzlich traurig daran denken, wie sie mit Alex Melbray am Teich von Wychbourne gesessen hatte.
War es Liebe oder eine enge Freundschaft, die sie verband? Sie würde sich der Prüfung stellen müssen, doch vorerst schob sie das Problem vor sich her. Sie steckte es in eine Papiertüte und kochte es, so wie in den alten Rezepten von einem Enkel des berühmten Kochs Alexis Soyer. So war es erträglicher, versuchte sie, sich einzureden.
In der frühen Abendsonne boten die ausladenden Bäume Nell auf dem Weg nach Sevenoaks angenehmen Schatten und die Ufer entlang der Straße trumpften mit ihren farbenfrohen zottigen Weidenröschen auf. Sie genoss den Spaziergang und erreichte die rotbraune Mauer, die Spitalfrith Manor abgrenzte, zügiger als sie erwartet hatte. Erst dann erinnerte sie sich daran, dass das Anwesen einen Hintereingang hatte, den man über einen Pfad erreichte, an dem sie gerade vorbeigekommen war. Das Cottage des Gärtners lag nicht weit von dem Tor entfernt und wenn Mr Turnbill recht hatte, war es möglich, dass Mr Briggs noch dort war.
Als sie das Tor durchschritten hatte und in den Park des Anwesens kam, konnte sie ein Wäldchen sehen und Treibhäuser sowie die Küchengärten zu ihrer Rechten. Zu ihrer Linken befand sich das Cottage des Gärtners, das einen eigenen Garten hatte. Im Vorgarten war eine bunte Mischung aus Blumen und Gemüse zu sehen und außerdem zwei Schuppen, einer am Haus und einer weiter hinten im Garten. In einem davon musste Freddies Werkstatt sein, vermutete sie. Hinter dem Cottage gab es wohlmöglich noch einen Garten zwischen dem Haus und der Grenzmauer, doch der Zaun und die Büsche versperrten ihr die Sicht.
Als sie näher kam, sah sie, dass Mr Briggs tatsächlich hier sein musste, denn sie konnte sein Fahrrad am Zaun lehnen sehen. Er war jedoch nirgendwo auszumachen. Im vorderen Schuppen war niemand. Sie zögerte. Sollte sie weiter nach ihm suchen? Es ging sie nichts an, was Mr Briggs in seiner Freizeit tat. Die Frage wurde ihr beantwortet, als Joe Carter aus dem Schuppen am anderen Ende des Gartens trat.
„Was wollen Sie?“, fragte er mürrisch, als sie auf ihn zuging.
Sie erkannte den drahtigen alten Mann – er musste über sechzig sein - sofort wieder. Sie hatte ihn gelegentlich im Coach and Horses Inn gesehen. Er musterte sie mit einem aufmerksamem Blick.
„Ich suche nach Mr Briggs. Ich habe mir Sorgen um ihn gemacht“, sagte Nell. Auf Wychbourne Court wusste niemand, wo er war, als sie aufgebrochen war.
„Sie sind die Köchin von Wychbourne Court, Miss.“ Als sie nickte, sprach er weiter: „Charlie hat von Ihnen erzählt.“
„Er hat von mir erzählt?“, fragte sie überrascht. „Er sagt auf Wychbourne Court kaum etwas bis auf seinen Rang und seine Nummer.“
„Hier auch nicht. Mein Freddie genauso wenig. Das liegt am Krieg, Miss. Sie verstehen einander. Sie können durch das Tor dort gehen. Es wird ihnen nichts ausmachen.“ Er deutete zum Durchgang zwischen dem Cottage und der Werkstatt. „Gehen Sie schweigend hin, Miss, und kommen Sie singend zurück.“
Was für ein merkwürdiger Ausdruck, dachte sie, aber irgendwie nett. Sie ging durch das Tor, obwohl sie nicht die geringste Idee hatte, was er damit gemeint hatte. Seine Erlaubnis hatte sie jedoch ermutigt, weiterzugehen. Es herrschte Stille und keine Stimmen waren zu hören, erst recht kein Gesang. Sie sperrte das Tor vorsichtig auf und ging hinein.
Zunächst sah sie nichts bis auf leuchtend bunte Blumen und Büsche vor sich unter einen Säulengang aus Holzpfeilern, an dem Büsche wuchsen und Pflanzen rankten. Die bunten Blumen und Büsche gingen in den Säulengang über, dass sie wie eine Weiterführung des restlichen Gartens darum wirkten. Das einzige Geräusch war das leise Plätschern eines kleinen angelegten Wasserfalls, der in einen Bach zwischen den Büschen floss. Ein schmaler befestigter Weg trennte die prachtvollen Rabatten, in denen sie zwischen den Blumen nun Vögel sah. Mr Briggs kniete vor einigen strahlenden Dahlien und neben ihm hockte ein junger, blonder Mann, der Freddie sein musste. Beide Männer hatten ihr den Rücken zugekehrt und sie noch nicht bemerkt.
Nell blinzelte. Das glaubt mir doch kein Mensch, flüsterte sie schockiert. Irgendetwas war eigenartig an den Büschen und den Vögeln. Zum einen bewegten sie sich nicht und als sie genauer hinsah, merkte sie, dass gar nicht alle Büsche und Blumen lebendige, wachsende Pflanzen waren. Manche waren echt, aber zwischen ihnen steckten Kreationen aus geschnitztem Holz, deren Blätter angemalt waren. Sie hatte es kaum ganz begriffen, da bemerkte sie immer mehr Vögel. In den Büschen neben ihr saßen Amseln und Drosseln. Sie konnte ein Rotkehlchen allein in einem Busch sitzen sehen und da war eine Blaumeise, eine Drossel, eine Goldammer, Finken und noch viele mehr. Alle stumm, aus Holz geschnitzt und bemalt.
Nell stand sprachlos da und staunte über die Schönheit, die sie umgab. Mr Briggs und Freddie arbeiteten sich den Säulengang entlang. Zuerst fingen die Vögel in einem Busch an zu singen, dann im nächsten und dann sang eine Nachtigall. Sie schloss die Augen und war von Vogelgesang umgeben. ‚Kommen Sie singend zurück‘ hatte Joe Carter gesagt und schon jetzt kam es ihr vor, als würde sie in eine Welt des Gesangs mitgenommen. Als ein Busch verstummte, ging ein anderer an und stieg in den Chor einer nimmer endenden Melodie ein.
Als sie schließlich verstummte, schlenderte Mr Briggs lächelnd auf sie zu.
„Freddie. Singende Vögel“, sagte er, in einem so seltenen Versuch zu kommunizieren. Vielleicht konnte er nur in diesem Garten über etwas anderes als seinen Namen, Rang und seine Nummer sprechen, überlegte Nell.
Mr Briggs drehte sich um und nickte Freddie zu, als versichere er ihm, dass sie keine Gefahr darstellte und Freddie näherte sich ihnen zögerlich, wobei er sich stark auf seinen Gehstock lehnte. Er sah sie jedoch nervös an.
„Was halten Sie davon, Miss?“, fragte er schüchtern.
„Es ist ein Garten des Friedens“, antwortete Nell. Überall in diesem verzauberten Garten steckte Frieden, durch den Gesang der Vögel, die Vögel selbst und die Blumen und Büsche. Dieser Garten war aus Liebe angelegt, verstand sie plötzlich. Das war jemands Garten Eden. Vermutlich Freddies und er schien Mr Briggs erlaubt zu haben, diesen mit ihm zu teilen. War es so?
So wollte gerne mehr Fragen stellen, doch sie wusste, dass es nichts brachte. Dies war kein Moment, um nach Antworten zu suchen. Sie war privilegiert, diesen geheimen Garten betreten dürfen zu haben, aber sie war nicht Teil dessen und sollte gehen. Mr Briggs und Freddie waren schon wieder dazu übergegangen, sich den Vögeln zuzuwenden. Als sie durch das Tor zurück in die reale Welt hinaustrat, kam Joe auf sie zu.
„Haben Sie gehört, die singenden Vögel, was?“, grunzte er.
„Das habe ich. Es sind Singvogelautomaten, oder? Hat Ihr Sohn sie hergestellt? Er ist sehr talentiert“, brachte Nell hervor, noch immer halb im Gesang der Figuren versunken. Die Worte wurden dem, was sie gehört hatte, nicht gerecht, doch Joe musste zufrieden gewesen sein, denn er sprach weiter. „Mr Danson hat es ihm beigebracht. Vor diesem Sir Gilbert hat das Anwesen ihm gehört. Wurde ihm von den Bontems drüben in Frankreich vor dem Krieg beigebracht. Hat versucht, es seinem Sohn beizubringen, dem jungen Mr Danson, das Schnitzen, aber der hatte kein Talent, also hat er es meinem Freddie beigebracht, als der noch ein junger Bursche war.“
Nell zögerte, doch dann fragte sie mutig: „Hat es einen Grund, dass Freddie den Garten so liebevoll gestaltet?“
„Vielleicht.“
„Dann ist es also ein Geheimnis. Seins und Mr Briggs?“
Joe starrte sie an. „Seins. Charlie Briggs hilft ihm. Der Krieg stellt Dinge mit einem an. Hat er mit meinem Freddie.“
„Der Verlust des Beins?“
„Das und Schlimmeres. Freddie hatte ein Mädchen kennengelernt. Französin. Eine Sängerin. Sie waren verliebt. Er sagte ihr, sie solle nach dem Krieg nach England kommen und er würde ihr einen Garten voller singender Vögel anlegen.“
„Und das hat er getan. Was ist passiert?“
„Marie-Hélène kam nie an.“
„Lernte sie jemand anderes kennen?“
„Nein, Miss. Sie starb.“