Leseprobe Nell Sweeney und der schwarze Freitag

1. Kapitel

Boston, 25. September 1869

„Erwarten Sie jemanden, Mrs. Hewitt?“ Nell Sweeney nahm einen Spatel warmen Leims und strich ihn auf die Leinwand, die vor ihr auf der Staffelei stand.

„Für Besucher dürfte es wohl noch ein wenig zu früh sein, möchte ich meinen.“ Viola Hewitt rollte den Rollstuhl fort von ihrem gerade in Arbeit befindlichen Werk – ein Stillleben mit Herbstfrüchten – und kramte in den Farbtuben und terpentingetränkten Lappen auf ihrem Arbeitstisch. „Wo zum Kuckuck habe ich nur meine Uhr gelassen?“

„Ich hole sie dir, Nana“, rief Gracie Hewitt und sprang auf. Sie hatte auf dem Boden des Wintergartens gehockt und mit Kreide die Muster nachgezeichnet, die die Morgensonne durch die großen bleigefassten Fenster auf die dunklen Schieferplatten warf. Mit sicherem Griff klaubte sie die diamantbesetzte Taschenuhr aus dem Gewirr an Malutensilien, ließ den Deckel aufspringen und reichte sie Viola.

Nell, stets ganz die Gouvernante, meinte: „Könntest du uns denn sagen, wie spät es ist, Gracie?“

Angestrengt betrachtete Gracie das Zifferblatt.

„Wo ist der kleine Zeiger?“, fragte Nell und fuhr mit dem Spatel über die straff gespannte Leinwand, um den überschüssigen Leim abzunehmen.

„Auf der Acht.“

„Und der große?“

„Auf der Drei.“

„Und damit wäre es …“

„Acht … hm …“ Gracie runzelte die Stirn. „Halb acht?“

„Viertel nach acht“, sagte Nell.

„Ganz gut für den Anfang“, ließ Viola sich mit ihrer rauen Stimme und dem britischen Akzent vernehmen, während sie einen Klecks Ultramarin in das helle Krapp-Rot auf ihrer Palette mischte. „Nell, meine Liebe, wie kommen Sie darauf, ich könnte zu so früher Stunde jemanden erwarten? Vor zehn Uhr bin ich nicht für Besuch zu sprechen – und zudem nicht gesellschaftsfähig gekleidet.“ Wie auch Nell trug sie ein einen grauen Kittel voller Farbkleckse über ihrem Kleid.

„Es hat an der Haustür geklopft“, sagte Nell und tauchte ihren Spatel wieder in den Leimtopf, der in einem heißen Wasserbad stand. „Haben Sie es nicht gehört?“

„Ich trage meine Ohren nur noch zur Zierde“, erwiderte Viola, während draußen bereits Schritte zu hören waren, die recht gemessen den langen Korridor hinab in Richtung des Wintergartens kamen.

Hodges, der schon etwas betagte Butler der Hewitts, tauchte an der offenen Tür auf und wirkte seltsam zögerlich. „Entschuldigen Sie vielmals die Störung, Mrs. Hewitt, aber Ihr Sohn wünscht Sie zu sprechen.“

„Harry?“, fragte Viola ungläubig. Denn ihr mittlerer Sohn, der einem dekadenten und ausschweifenden Lebenswandel frönte, hatte die letzten anderthalb Jahre in selbst auferlegtem Exil verbracht und keinen Fuß mehr über die Schwelle der Familienresidenz an der Tremont Street gesetzt. Soweit Nell wusste, hatte Viola ihn im Juni dieses Jahres das letzte Mal bei einer Abendgesellschaft im Hause der Pratts gesehen. Damals war zur allgemeinen Überraschung seine Verlobung mit Cecilia Pratt bekannt gegeben worden. Von Violas vier Söhnen waren nur drei noch am Leben, und nur der jüngste, der zweiundzwanzigjährige Martin, lebte noch zu Hause. Und er war es auch, der sich als Einziger eines guten Einvernehmens mit seinen Eltern erfreute.

„Nein, nicht Mr. Harry, Ma’am“, meinte Hodges. „Es ist … Dr. Hewitt. William.“

„Will?“ Ungläubig schaute Viola ihn an, bevor sie sich zu Nell umsah, die ihre Verwunderung zu teilen schien.

Fast sechs Jahre war es her, dass der älteste Sohn der Hewitts zuletzt im Haus seiner Eltern gewesen war. Schon in seiner Kindheit und Jugend war Will weniger ein Teil der Familie gewesen, als vielmehr ein seltener Gast, hatte man ihn doch in jungen Jahren – als er in Gracies Alter gewesen war – nach England verfrachtet, wo er von verschiedenen Verwandten aufgezogen wurde, die ihm recht gleichgültig begegneten. Später hatte er dann eine ganze Reihe von Internaten besucht, womit wohl der Grundstein seiner nunmehr drei Jahrzehnte währenden Entfremdung von Viola und ihrem Gatten gelegt worden war. Im vergangenen Frühjahr, bevor die Hewitts samt ihrer Dienerschaft zur Sommerfrische nach Cape Cod und Will nach Europa aufgebrochen waren, hatte Wills abgekühltes Verhältnis zu seiner Mutter sich ein wenig zu erwärmen begonnen. Doch was den gestrengen und ehrwürdigen August Hewitt anbelangte, so bezweifelte Nell, dass er und Will jemals wieder ein freundliches Wort miteinander wechseln würden.

Während sie den Leim auf die Leinwand spachtelte und glattstrich, lauschte sie Wills näherkommenden Schritten und dachte, dass sie seinen gemächlichen, weit ausholenden Gang immer und überall erkennen würde. Sie versuchte, tief Luft zu holen, woran ihr Korsett sie allerdings hinderte, und sie kam sich ziemlich dumm vor, so viele Lagen unsinniger Kleider zu tragen, wo ihr weit wallender Malkittel doch ohnehin alle modischen Mühen verbarg und sie darin gewiss aussah wie eine unförmige, unschöne, unelegante Bäuerin. Dass sie sich die Haare hastig zu einem Knoten gedreht hatte, der nur von zwei langen, farbbeklecksten Pinseln zusammengehalten wurde, war in dieser Hinsicht auch nicht gerade hilfreich.

Die Schritte verstummten.

Nell drehte sich um, den leimtriefenden Spatel in der Hand, und sah Will in schwarzem Gehrock und brauner Hose, den flachen Zylinder in der Hand und das dunkle Haar ordentlich gekämmt, in der Tür stehen. Seit sie von Cape Cod zurückgekehrt war, hatte sie ihn nur zwei Mal gesehen und beide Male viel zu kurz. Früher hatte er sich oft zu ihr und Gracie gesellt, wenn beide ihren nachmittäglichen Ausflug in den Common oder den Public Garden machten – vorausgesetzt, er war gerade in Boston und reiste nicht umher, um seinen Lebensunterhalt in irgendwelchen fernen Orten mit Glücksspiel zu verdienen. Doch seit er Poker und Faro aufgegeben hatte und an der medizinischen Fakultät in Harvard lehrte, verfügte er am Tag nur noch über wenig Zeit.

„Mutter.“ Er verneigte sich vor Viola und trat in den sonnendurchfluteten Wintergarten. „Welch rege Betriebsamkeit so früh am Morgen.“

„Fast schon unschicklich, ich weiß“, erwiderte Viola.

„Genau das dachte ich gerade.“

Jedes Mal, wenn Nell ihn mit seiner Mutter zusammen sah, war sie wieder verblüfft, wie sehr die beiden sich ähnelten, und zwar nicht nur äußerlich – der hohe Wuchs, das dunkle Haar –, sondern auch in der Art zu sprechen. Wenngleich Wills Akzent viel ausgeprägter war als der von Viola, die immerhin schon seit zweiunddreißig Jahren in Boston lebte, so pflegten doch beide den distinguierten Ton der britischen Oberschicht. Selbst als er noch dem Opium verfallen gewesen war, verbittert und heruntergekommen, mit sich und der Welt am Ende, hatte Will stets wie ein Gentleman geklungen – und, trotz aller Anstrengungen, sich von der „leeren, golden patinierten Welt“, in die er hineingeboren worden war, abzuwenden, zumeist auch wie einer verhalten.

„Nell.“ Wieder verneigte er sich und lächelte sie mit diesem kühlen und doch so vertraulichen Lächeln an, wie nur er es konnte.

„Wie schön, dich zu sehen, Will.“

„Onkel Will!“ Nachdem sie sich ihre Kreidefinger an ihrer Kittelschürze abgewischt hatte – eine umsichtige Geste, die ihr vor ein paar Monaten noch nicht in den Sinn gekommen wäre –, stürzte Gracie sich in Wills Arme.

Er stöhnte in gespielter Anstrengung, als er sie hoch in die Luft hob, sorgsam darauf bedacht, dass sie nicht mit dem Kopf an die Decke stieß. „Beim Zeus aber auch! Jedes Mal, wenn ich dich sehe, bist du schon wieder ein Stück gewachsen – eine Bohnenstange mit rabenschwarzem Haar, genau wie deine Nana.“ Und an Viola gewandt meinte er: „Sie ist dir wie aus dem Gesicht geschnitten.“

Gracie verdrehte die Augen, als hätte „Onkel Will“, wie sie ihn nannte, etwas ganz ungeheuerlich Dummes gesagt. „Aber Nana ist doch gar nicht meine richtige Mama! Sie hat mich nämlich ausgesucht, weil sie schon immer ein kleines Mädchen wollte, aber nie eins hatte, und jetzt hat sie dafür mich. Ich bin adaptiert, nicht wahr, Nana?“

„Adoptiert. Das stimmt, mein Liebling.“ Viola bedachte ihren Sohn mit einem bedeutungsvollen Blick, bevor sie sich abwandte und ihre Palette auf den Arbeitstisch legte.

Will schien jäh ernüchtert, gab dem kleinen Mädchen einen Kuss auf die Stirn und setzte sie dann ab. „Das weiß ich doch. Ich wollte dich nur ärgern.“

Er sah zu Nell hinüber, die ihm ein flüchtiges Lächeln schenkte, bevor sie sich hinkniete, um den Leim aufzuwischen, der auf den Boden getropft war, als sie den Spatel so gedankenverloren in den Händen gehalten hatte. Will legte seinen Hut beiseite, raffte seine Hosenbeine hoch und hockte sich neben sie – etwas ungelenk, da sein rechtes Bein durch eine alte Schussverletzung versehrt war. „Lass mich das machen.“ Er nahm ihr den Lappen aus der Hand und putzte den Leim auf. „Dich den Boden scheuern zu sehen, ist ungefähr so, als sähe man ein Trauertäubchen im Unrat sitzen.“

Da sie Trauertauben eigentlich immer für grau und zauselig und eher unscheinbar gehalten hatte, wusste Nell nicht so ganz, was sie von seiner Bemerkung halten sollte.

„Onkel Will, weißt du was?“, rief Gracie da aber auch schon ganz aufgeregt. „Morgen habe ich Geburtstag, und am nächsten Tag fahre ich mit dem Zug und dann mit einem Dampfschiff!“

„Wirklich?“

Gracie nickte heftig. „Der Zug fährt nach …“ Hilfesuchend sah sie ihre Nana an.

„Nach Bristol in Rhode Island“, sagte Viola.

„Genau, nach Bristol in Rhode Island, aber das ist gar keine Insel, und von da gehen wir auf ein Dampfschiff, das Providence heißt und wie ein richtiger Palast aussieht.“

„So, so, die Providence, was? Dann fährst du wohl nach New York?“

„Dein Vater und ich nehmen Gracie auf einen Geburtstagsbesuch mit. Zu deiner Großtante nach Gramercy Park“, klärte Viola ihn auf. „Wir werden die ganze Woche fort sein.“

„Wirklich?“ Nun klang Will tatsächlich verwundert, und Nell wusste auch weshalb. August Hewitt hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass er Gracies Gegenwart in seinem Hause ebenso störend fand wie die Anwesenheit der irischen Gouvernante, der man das Kind anvertraut hatte. Auf seinen Wunsch hin hatte Gracie ihre Mahlzeiten – außer an Festtagen – gemeinsam mit Nell oben im Kinderzimmer im zweiten Stock einzunehmen, und lange hielt er Gracies Nähe nie aus, bevor er Anweisung gab, die Kleine doch bitte aus seinem Blickfeld zu entfernen. Dass er sich nun gar auf eine einwöchige Reise mit dem Kind einließ, war daher äußerst bemerkenswert.

„Tante Hewitt hat uns praktisch befohlen, sie endlich zu besuchen, nachdem sie erfahren hatte, dass Gracie schon fünf wird“, sagte Viola. „Sie hat geschrieben, sie fürchte, eines Tages zu sterben, ohne die Kleine jemals gesehen zu haben. Ich meinte, dass es an mir gewiss nicht scheitern solle, sie aber erst deinen Vater überzeugen müsse. Daraufhin hat sie ihm geschrieben – ich weiß nicht, was, aber an jenem Tag, da der Brief eintraf, schlug dein Vater beim Abendessen vor, nach Gramercy Park zu reisen. Wir werden Nurse Parrish mitnehmen, damit sie sich um Gracie kümmert.“

„Edna Parrish?“, fragte Will zweifelnd. „Die dürfte mittlerweile auch schon an die neunzig sein. Schafft sie eine solche Reise überhaupt noch?“

„Sie ist dreiundachtzig und hat mir versichert, sich wirklich sehr auf die Reise zu freuen. Sie liebt New York und war seit Jahren nicht mehr dort.“

Nell mitzunehmen, war natürlich nicht infrage gekommen, denn Mr. Hewitts Abneigung gegen sie war ebenso groß wie seine Abneigung gegen Will. Einzig der Nachsicht seiner geliebten Frau gegenüber sowie Violas eiserner Entschlossenheit war es geschuldet, dass Nell so lange im Hause der Hewitts hatte bleiben können.

„Du musst Bilder von allem malen, was du in New York siehst“, sagte Will zu Gracie, „damit du mir alles zeigen kannst, wenn du wieder zurück bist. Ich weiß nämlich, dass du ebenso gern malst wie deine Nana und Miss Sweeney.“ Er zeigte auf die krakeligen, doch äußerst ausgelassen anmutenden Kreidemuster, die sich zwischen den Staffeleibeinen über den Boden rankten. „Das ist dein Werk, nicht wahr?“

„Hmmm-mmmh.“

„Ja, Sir“, verbesserte Nell sie leise.

„Ja, Sir“, sprach Gracie brav nach. „Ich habe die Morgensonne gemalt, weil Miss Sweeney nämlich gesagt hat, sie fehlt ihr, wenn sie weggeht.“

„Das ist sehr aufmerksam von dir“, meinte Will und richtete sich umständlich auf, während Gracie eifrig weitermalte.

„Und von dir ist es auch sehr aufmerksam“, ließ seine Mutter ihn wissen, „uns mit deinem Besuch zu beehren. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie viel mir das bedeutet, Will. Dein, ähm … dein Vater ist übrigens im Büro, und so …“ Sie warf einen kurzen Blick zu Gracie, die wieder bäuchlings auf dem Boden lag, die Kreide fest in der Hand. „Nun ja, du weißt schon. Du musst also nicht fürchten, dass es zu Unannehmlichkeiten kommt.“

„Er arbeitet?“, fragte Will verwundert. „Am Samstag?“

„Es wird immer schlimmer mit ihm“, meinte Viola mit einem müden Lächeln. „An sechs Tagen die Woche ist er bereits bei Sonnenaufgang unten an der India Wharf.“ Selbst in den Kreisen der keineswegs als untätig bekannten „Kabeljau-Aristokratie“ galt August Hewitts Arbeitseifer, mit dem er sich dem von seinem Urgroßvater gegründeten Reederei-Imperium widmete, als legendär.

„Ich wünschte, behaupten zu können, dass mein Besuch allein der Aufmerksamkeit geschuldet ist“, sagte Will. „Tatsache ist, dass ich leider schlechte Nachrichten bringe.“

„Oje.“ Violas Lächeln schwand dahin. „Nachdem gestern dieses schreckliche Debakel auf dem Goldmarkt war, möchte ich heute wahrlich keine weiteren schlechten Nachrichten hören. Dein Vater weiß von Männern, die ihr gesamtes …“ Auf einmal sah sie auf und musterte ihn. „Aber mit dir ist doch alles in Ordnung, oder, Will? Du hast doch nicht …?“

„Du lieber Himmel, nein. Ich habe nicht in Gold investiert.“ Wie Nell zu wissen meinte, bewahrte Will seine nicht unbeträchtlichen Spielgewinne in einer alten Arzttasche aus Krokodilsleder auf – ein Geschenk von Viola, als er sein Medizinstudium in Edinburgh abgeschlossen hatte. „Nein, ich habe den gestrigen Tag recht unbeschadet überstanden. Aber wie du ganz richtig meintest, können manch andere dies nicht von sich behaupten.“ Er sah sich um und rieb sich den Nacken. „Gibt es hier eigentlich auch Stühle oder …?“

„Hier, warte.“ Nell zog einen mit bunten Farbklecksen übersäten Küchenstuhl unter einem der Tische hervor. „Keine Sorge, die Farbe ist trocken.“

Will setzte sich und schlug die Beine übereinander, wobei er sein versehrtes Bein mit den Händen über das andere hob. „Nell wird dir gewiss erzählt haben, dass ich eine außerordentliche Professur in Harvard angenommen habe – allerdings nur für ein Semester. Zwar liegt mir das akademische Leben überhaupt nicht mehr, aber Isaac Foster hat mich dazu überredet, und immerhin bietet sich mir so die Möglichkeit, einige recht interessante Forschungen zu betreiben. Wusstest du, dass Foster im Sommer zum stellvertretenden Dekan der medizinischen Fakultät ernannt worden ist?“

Viola nickte. „Winnie Pratt hat es erwähnt – nein, sie hat sich damit gebrüstet –, als sie mir aus der Sommerfrische schrieb, dass Dr. Foster sich mit ihrer Tochter Emily verlobt habe.“

„Ich lehre dort Rechtsmedizin“, fuhr Will fort. „Professor Cuthbert in Edinburgh nannte es forensische Studien, also die Anwendung medizinischer Erkenntnisse auf die Jurisprudenz. Bevor ich die Stelle antrat, stellte ich einige Bedingungen. Unter anderem, dass mir das Recht zugestanden wurde, bei allen einigermaßen interessant wirkenden Leichen, die in der Leichenhalle des Massachussetts General Hospital landen, Obduktionen vornehmen zu dürfen.“

„Interessant wirkende Leichen?“, fragte Viola argwöhnisch.

Besorgt sah Nell zu Gracie hinüber, doch die Kleine war viel zu sehr in ihr Kunstwerk versunken, als dass sie der Unterhaltung der Erwachsenen Beachtung geschenkt hätte. Will warf Nell ein wissendes Lächeln zu, als wolle er sagen: Du weißt, was ich meine.

„Ja, doch“, meinte sie daher. „Es gibt wirklich Leichen, die von besonderem Interesse sind.“ Nell wusste, wovon sie sprach. Bevor sie als Gouvernante zu den Hewitts gekommen war, hatte sie vier Jahre bei Dr. Greaves gearbeitet, dort sehr profunde Kenntnisse der Krankenpflege erworben und auch bei einigen sehr faszinierenden Autopsien assistiert. „Wenn man erst mal weiß, wonach man sucht und worauf man achten muss, kann die Obduktion eines Menschen, der gewaltsam oder auf unerklärliche Weise zu Tode gekommen ist, höchst aufschlussreich sein.“

„Ich dachte, die zuständigen Coroner würden derlei Untersuchungen vornehmen“, meinte Viola.

„Durchaus“, erwiderte Will. „Aber die meisten sind medizinische Laien, weshalb sie Ärzte beauftragen und bezahlen müssten, um die Autopsien fachkundig vorzunehmen – falls sie sich überhaupt die Mühe machen, was nur selten der Fall ist. Ich nehme ihnen nun Mühen und Kosten ab, indem ich mich der komplizierten Fälle selbst annehme. Gestern Abend wurden gleich zwei Leichen im Massachussetts General abgeliefert, deren Tode zwar nichts miteinander zu tun zu haben scheinen, doch haben beide Männer sich selbst das Leben genommen.“ Nach kurzer Pause fügte er hinzu: „Ich bedauere es sehr, aber einer der beiden war Noah Bassett.“

„Nein.“ Zutiefst betroffen ließ Viola sich in ihren Rollstuhl sinken. „Oh nein, Will, nein. Nicht Noah.“

Will schaute Nell an, als erhoffe er sich von ihr Unterstützung bei der Überbringung der betrüblichen Nachricht. Mit einiger Mühe rang sie sich ein ermutigendes Lächeln ab, wenngleich auch sie angesichts dieser traurigen Neuigkeit entsetzt und schockiert war. Bei den Gelegenheiten, da er und seine beiden Töchter zu Besuch gekommen waren, hatte sie Mr. Bassett sehr ins Herz zu schließen begonnen.

„Mir graute davor, es dir sagen zu müssen“, meinte Will, wieder an seine Mutter gewandt, „weil ich weiß, wie viel dir die Freundschaft mit den Bassetts bedeutet hat. Aber ich wollte es dir lieber persönlich mitteilen, bevor du es aus der Zeitung erfährst.“ Will beugte sich nach vorne und stützte die Ellenbogen auf die Knie.

„Danke, Will.“ Fassungslos schüttelte Viola den Kopf. „Ich wünschte, es käme völlig unerwartet, dass Noah … so etwas tun würde, aber in Anbetracht dessen, was er in den letzten Jahren hat durchmachen müssen … Weißt du zufällig, ob er von der Goldkrise in den Ruin getrieben worden ist?“

„Es lässt sich nur vermuten, aber ich werde noch versuchen, es herauszufinden. Um bei einem solchen Todesfall verlässliche Aussagen treffen zu können, bedarf es nicht nur der gründlichen Obduktion des Opfers, sondern auch der weiteren Untersuchung seiner Lebensumstände – seiner Geistesverfassung, seiner finanziellen Situation, der genauen Todesursache. Ich bin auch gekommen, um etwas darüber in Erfahrung zu bringen, wenngleich bislang alles darauf hindeutet, dass Mr. Bassett von eigener Hand gestorben ist.“

„Wie …“ Viola zögerte, als sei sie unschlüssig, ob sie es wirklich wissen wollte. „Wie hat er …“

Nach einem kurzen Blick auf Gracie senkte Will die Stimme und sagte: „Anscheinend hat er sich in sein Schlafzimmer eingeschlossen, den Badezuber mit warmem Wasser gefüllt und sich die Speichenschlagadern mit einem …“

„Die Speichenschlagadern?“, fragte Viola entgeistert.

„Er hat sich die Pulsadern aufgeschnitten“, warf Nell hilfreich ein und strich den Leim auf ihrer Leinwand glatt.

„Mit einem Federmesser“, ergänzte Will. „Sein Tod ist auf den daraus resultierenden massiven Blutverlust zurückzuführen.“

Viola schloss die Augen und erbleichte. „Noah, Noah … Er war genauso alt wie ich. Neunundfünfzig. Unsere Geburtstage lagen nur eine Woche auseinander.“

„Seine Tochter hat ihn gefunden“, sagte Will.

„Welche?“, fragte Nell. „Er hat zwei, und sie leben beide noch bei ihm.“

„Sie heißt Miriam.“

„Ah ja, die ältere“, meinte Viola. „Sie müsste so in deinem Alter sein, Mitte dreißig.“

„Eine alte Jungfer?“, fragte Will.

„Nicht mehr lange. Sie ist mit einem Professor der theologischen Fakultät von Harvard verlobt – Martins Lieblingsprofessor übrigens, Reverend John Tanner.“

„Wirklich?“, fragte Nell. „Ich hatte immer angenommen, Dr. Tanner sei verheiratet. Aber vielleicht dachte ich das auch nur, weil er ein Geistlicher ist.“

„Du kennst ihn?“, erkundigte sich Will.

Nell nickte. „Martin hat ihn ein paarmal hierher eingeladen. Er wirkte sehr sympathisch.“

„Dein Vater war da natürlich anderer Ansicht“, warf Viola ein. „Tanner ist Unitarier. Aber ich stimme Nell zu. Er machte einen guten Eindruck und scheint genau der Richtige für Miriam zu sein. Sie gehört zu jenen Frauen, bei denen man niemals vermuten würde, dass sie in großen Wohlstand hineingeboren wurde. In dieser Hinsicht erinnert sie mich an Noah … wie er einst war. Reif, pragmatisch, zupackend. Ich bin froh, dass sie Noah gefunden hat und nicht Becky.“

„Becky ist die jüngere Schwester?“, vermutete Will.

„Ja. Eigentlich heißt sie Rebecca, aber alle nennen sie nur Becky. Sie ist gerade neunzehn geworden, aber sie wirkt jünger. Eines dieser leutseligen, sorglosen jungen Mädchen, du weißt schon. Aber auf ihre Art sehr liebenswert.“

„Außer den beiden gibt es keine weiteren Kinder?“, fragte Will. „Das ist ein ganz schöner Altersunterschied.“

„Zwischen den beiden gab es noch einen Sohn, Tommy. Er ist im Krieg umgekommen. Und Lucy, Noahs verstorbene Frau, hatte im Laufe der Jahre auch einige bedauerliche Vorkommnisse zu beklagen.“

„Bedauerliche Vorkommnisse?“, fragte Will verständnislos.

„Fehlgeburten“, sagte Nell. Eigentlich neigte Viola nicht dazu, sich derartiger Euphemismen zu bedienen, doch wenn die Sprache auf Kinder kam, war sie außerordentlich zurückhaltend und taktvoll.

„Es war herzzerreißend“, meinte Viola, „mitansehen zu müssen, wie sie all diese Babys verlor. Lucy Bassett war der warmherzigste, großzügigste und geduldigste Mensch, den ich kannte – sie war wie für Noah geschaffen. Alles, was sie sich vom Leben wünschte, war ein Haus voller Kinder, die sie lieben und bemuttern konnte. Miriam bekam sie auch ohne Probleme, doch dann dauerte es sehr, sehr lange, bis sie eines ihrer Kinder wieder ganz austragen konnte. Miriam war elf, als Tommy geboren wurde. Danach gab es mindestens noch eine weitere Enttäuschung. Ich weiß, dass Noah wünschte, sie würde aufhören, auf weitere Kinder zu hoffen, da es jedes Mal wieder eine große Erschütterung für sie war – auch körperlich, denn sie war ja keineswegs mehr die Jüngste –, doch dann kam eines Tages noch Becky auf die Welt. ‚Meine kleine Gottesgabe‘ nannte Lucy sie gern. Nur leider ging es mit ihrer Gesundheit von da an steil bergab. Sie starb an Krebs, als Becky drei war.“

„Wie hat ihr Mann ihren Tod aufgenommen?“, fragte Will.

„Oh, er war am Boden zerstört. Es hat ihn sehr mitgenommen. Er war ein wunderbarer Mann, musst du wissen, aber er hat sich schon immer alles viel zu sehr zu Herzen genommen.“ Violas Stimme klang noch rauer als sonst, ihre Augen schimmerten feucht. Sie fuhr mit der Hand unter die breite Manschette ihres Malkittels und tastete nach dem Taschentuch, das sie stets im Ärmel ihres Kleides bei sich trug.

Will, ganz der Gentleman, zog seins hervor und reichte es ihr.

Während sie sich die Augen abtupfte, fuhr sie fort: „Armer Noah, danach war er nicht mehr wiederzuerkennen. Er war ein stattlicher Mann – groß und kräftig gebaut und schon immer ein bisschen, nun ja, sagen wir korpulent. Mit seinem buschigen Backenbart hat er mich stets an einen großen, gutmütigen Bären erinnert. Er war sehr beliebt, ein warmherziger Mensch, den jeder mochte. Aber nachdem er Lucy verloren hatte, wurde er … nun ja, da erinnerte er mich eher an einen dieser zotteligen, tapsigen Hunde, die stets etwas traurig und verloren dreinschauen. Und als er dann kurz vor dem Ende des Krieges auch noch Tommy verlor, da schien er ganz … zusammenzubrechen. Er zog sich immer mehr zurück, vernachlässigte sein Äußeres, besuchte seine Freunde nicht mehr. Als wir – Nell, Gracie, Martin und ich – ihm dieses Jahr einen Neujahrsbesuch abstatten wollten, sagte Miriam uns doch, er sei noch im Bett. Um zwei Uhr mittags!“

„Bevor ich mit Sicherheit sagen kann, dass es sich um einen Selbstmord handelt, werde ich mit seinen Töchtern sprechen müssen“, meinte Will. „Aber wenn er seit Jahren schon an schweren Depressionen litt, scheint es nur umso wahrscheinlicher, dass ein plötzlicher finanzieller Verlust der Auslöser gewesen sein könnte. Mr. Munros Fall ist da schon etwas weniger offensichtlich.“

„Philip Munro?“, fragte Viola.

Will nickte. „Er war der andere Mann, den ich gestern obduziert habe.“

„Ach, du meine Güte!“, rief Viola. „Und er ist doch noch so jung! War so jung.“

„Neununddreißig“, sagte Will. „Du kanntest ihn anscheinend.“

„Jeder kannte ihn, wir alle. Nun ja, zumindest alle, die in bestimmten Kreisen verkehrten.“ Nell wusste, dass sie Bostons Oberschicht meinte, einen kleinen, feinen Mikrokosmos, eng vernetzt und von einem rigiden Verhaltenskodex beherrscht. Sie sagte: „Dein Bruder Harry kannte ihn besonders gut. Seit einem Jahr waren sie befreundet und seitdem fast unzertrennlich.“

„Wirklich?“, fragte Will ungläubig. „Munro war gut zehn Jahre älter als Harry.“

„Aber beide sind sie Junggesellen und von ähnlichem Temperament. Nachdem Harry in die Back Bay gezogen ist, wohnten sie bloß noch zwei oder drei Blocks voneinander entfernt. Und nach allem, was man so hört, dürfte auch eine gute Portion Heldenverehrung im Spiel gewesen sein. Harry soll Mr. Munro sehr bewundert haben.“

„Noch mehr als sich selbst?“, fragte Will spöttisch.

„Doch, ja“, meinte Viola. „Mr. Munro war wie gesagt älter als Harry und vermögender zudem – ein charismatischer Lebemann, der es aus eigener Kraft zu Ansehen und Reichtum gebracht hatte. Gutaussehend, sportlich, draufgängerisch. Das dürfte Harry sehr beeindruckt haben.“ Ungläubig schüttelte sie den Kopf. „Es ist nicht zu fassen. Ausgerechnet Philip Munro.“

„Weshalb überrascht dich das so sehr?“, fragte Will.

„Nun, weil … weil er Philip Munro war. Er wirkte stets … so überlegen, so selbstbewusst, fast schon arrogant, aber kann man es ihm verdenken? Er war geradezu unanständig reich, musst du wissen. Kein altes Vermögen zwar, neues Geld – sein Vater war Lehrer in Brookline –, aber Geld zählt in dieser Stadt ja einiges.“

„Aber ebenso ein guter Stammbaum“, wandte Will ein. „Wurde er von den etablierten Kreisen denn als ihresgleichen akzeptiert? Ist er in den Somerset Club aufgenommen worden? Oder haben sie hinter seinem Rücken schlecht über ihn geredet?“ Genau das würde Nell auch gefragt haben.

„Nun …“ Viola schien ihre Antwort ganz genau abzuwägen. „Hier in Boston ist es nicht ganz so schlimm wie in New York, wo man seit mindestens sechs Generationen zu den tonangebenden Familien gehört haben muss, bevor man in bestimmten Kreisen überhaupt wahrgenommen wird. Aber natürlich gibt es auch in dieser Stadt gewisse Hierarchien, und wenngleich Erfolg durchaus gewürdigt wird – insbesondere wirtschaftlicher Erfolg –, so zählt letzten Endes wohl doch, von welcher Familie man abstammt. Leider, wie ich hinzufügen möchte.“

Wie stets, wenn sie von der Bostoner Gesellschaft sprach, war eine gewisse Distanz aus Violas Worten herauszuhören. Sie hatte sich viele ihrer jugendlichen, unkonventionellen Ideale bewahrt und sich in der engen, von Sittsamkeit und Wohlstand geprägten Welt ihres Gatten nie gänzlich zu Hause gefühlt.

„Nein, in den Somerset Club ist er nie eingeladen worden“, fuhr sie fort. „Und natürlich gab es Gerede, aber weniger, weil es ihm am richtigen Stallgeruch mangelte, als vielmehr wegen seines Privatlebens – wenngleich das eine gern für das andere verantwortlich gemacht wurde.“

„Wenn Munros Privatleben auch nur annähernd dem von Harry ähnelte“, meinte Will trocken, „durchaus verständlich. Insbesondere in Anbetracht seines Alters. Dir mag neununddreißig jung erscheinen, aber eigentlich sollte man sich in diesem Alter nicht mehr mit unreifen Taugenichtsen wie Harry die Nacht um die Ohren schlagen.“

„An Philip Munro schieden sich die Geister, gar keine Frage. Ein sehr eigenwilliger junger Mann“, pflichtete Viola ihm bei. „Es heißt auch, er habe sich bei seinen Geschäften auf hochriskante Transaktionen und gewagte Spekulationen eingelassen, aber letztlich ist er stets unbeschadet durchgekommen und hat aus allem Gewinn geschlagen.“

„Was für Geschäfte waren das?“, erkundigte sich Will.

„Zumeist Börsengeschäfte, glaube ich, aber ich muss gestehen, dass ich nicht genau weiß, was er eigentlich gemacht hat. Aktien, Rohstoffe, was weiß ich – davon verstehe ich herzlich wenig. Dein Vater schätzte ihn nicht besonders und meinte, er sei kein Geschäftsmann, sondern ein Spieler. Wie hat er ihn noch gleich genannt? Ach ja, einen ‚neureichen Räuberbaron‘. Erstklassige Verbindungen soll er gehabt haben – wichtige Freunde in New York und Washington, einflussreiche, mächtige Männer, die sich gegenseitig Informationen zuspielen und einander helfen. Meines Wissens waren er und einige seiner Geschäftsfreunde zum Abendessen mit dem Präsidenten geladen, als Präsident Grant im Juni zum Jahrestag des Kriegsendes in Boston war.“

„War bestimmt gut fürs Geschäft“, bemerkte Will.

„Er hat wirklich im großen Stil Geld verdient, und seine Gewinne brachten ihm stets noch mehr Gewinn ein. Es dauerte gar nicht lange, bis all jene Männer aus Bostons besseren Kreisen, die sich zunächst noch über ihn mokiert hatten, vor seiner Tür Schlange standen, um sich Rat zu holen, wie sie es ihm an finanziellem Erfolg nachtun könnten – dein Vater natürlich nicht, doch die meisten der anderen wohl schon. Vor seiner Hintertür, wohlgemerkt, denn schließlich wollte kein Gentleman, der etwas auf sich hält, mit Leuten wie Philip Munro in Verbindung gebracht werden.“

„Sie wollten sich nicht mit ihm sehen lassen“, stellte Will fest, „aber ihr Geld vertrauten sie ihm ohne Bedenken an?“

Viola lächelte. „Durchaus, denn sie erhielten stets das Mehrfache des Investierten zurück. Für Philip Munro war Geld nichts, dessen man sich schämen müsste, er hatte keinerlei Bedenken oder Skrupel – im Gegensatz zu den Gentlemen, die seinen Rat suchten. Er kaufte und verkaufte, intrigierte und spekulierte, als wäre alles nur ein Spiel, dessen Regeln er bestimmen und neu erfinden konnte, wie es ihm gerade beliebte.“

„Und machte er dabei stets Gewinn?“, fragte Will.

„Meistens, und genug, um sich die mächtigsten Männer Bostons gewogen zu halten.“

„Weißt du, ob er womöglich auch gemeinsame Sache mit den Goldkäfern gemacht hat?“ Damit meinte Will Jay Gould und Konsorten. Ihre profitgierigen Machenschaften hatten Präsident Grant dazu genötigt, einen Teil des Goldschatzes der Regierung zu verkaufen, um den in die Höhe getriebenen Preis zu senken – was dann zu dem gestrigen Zusammenbruch des Goldmarktes geführt hatte. Gould war einer der berüchtigtsten Spekulanten an der Wall Street und seit gestern wohl auch der meistgehasste Mann Amerikas. Jeder, der gestern Mittag, als der Preis so jäh abgestürzt war, noch Gold besessen hatte, dürfte herbe Einbußen erfahren haben. Unzählige Anleger standen vor dem finanziellen Ruin.

„Ich glaube, niemand wusste so genau, was er da eigentlich so kaufte und verkaufte und wie er seine Gewinne erzielte – nur, dass er sehr erfolgreich damit war. Sollte er mit Gold spekuliert haben, bleibt bloß zu hoffen, dass er Harry nicht dazu überredet hat, sich daran zu beteiligen.“

„Störte es dich gar nicht, dass Harry mit jemandem wie Munro befreundet war?“, fragte Will.

„Deine Frage“, erwiderte Viola mit einem süffisanten Lächeln, „setzt voraus, dass ich Einfluss darauf hätte, was Harry tut und mit wem er Umgang pflegt. Natürlich mochte ich Mr. Munro nicht sonderlich – keineswegs wegen seiner Herkunft, wohlgemerkt, sondern wegen seines Lebenswandels. Aber ihm ist es zu verdanken, dass dein Bruder angefangen hat, im Peabody Club drüben in Cambridge Kricket zu spielen, worüber ich eigentlich recht erfreut war. Ich dachte mir, etwas frische Luft und Bewegung könnten Harry gewiss guttun. Es überrascht mich, dass er dich nie gebeten hat, ihn mal zu begleiten.“

Sichtlich darauf bedacht, seine Worte sorgsam zu wählen, erwiderte Will: „Harry und ich sehen uns eher selten.“

Zumal, dachte Nell bei sich, seit Will seinen Bruder letztes Jahr zusammengeschlagen hatte, nachdem er herausgefunden hatte, dass der sich im Absinthrausch an Nell hatte vergehen wollen – etwas, das Viola hoffentlich nie erfahren würde.

„Harry wird sich das sehr zu Herzen nehmen“, meinte Viola leise und schaute hinaus auf ihren kleinen Garten, der im englischen Stil angelegt war, und nun, am Ende des Sommers wie jedes Jahr etwas verwildert und ins Kraut geschossen aussah. „Wie ist er gestorben?“, fragte sie, ohne den Blick vom Fenster zu wenden.

„Das lässt sich meiner Meinung nach noch nicht eindeutig sagen. Gefunden wurde er auf der Treppe seines Hauses in der Marlborough Street, direkt unter dem Fenster seines Arbeitszimmers, das im dritten Stock liegt. Das Fenster stand offen, und es besteht wenig Zweifel, dass er von dort oben gefallen ist, aber Zeugen gibt es keine. Er hat eine unverheiratete Schwester, die bei ihm lebt, doch mir wurde gesagt, dass sie gerade Mittagsschlaf hielt, als es passierte, und niemand der Dienstboten hat den Sturz gesehen. Sein Schädel war stark zerschmettert, aber gerade das lässt mich daran zweifeln, dass er an den Folgen des Sturzes gestorben ist.“

„Ich hab keine Kreide mehr.“ Einen letzten Kreidestummel in der Hand, stand Gracie vor ihrem Kunstwerk – und zwar auf eine Weise, die Nell sofort wachsam werden ließ. „Kann ich noch welche haben?“

Viola, die nicht weit von Gracie saß, zog sie zu sich heran und flüsterte ihr etwas ins Ohr.

„Nein“, beharrte die Kleine und schüttelte entschieden den Kopf. „Ich muss nicht.“

„Ich glaube schon.“

Gracie überkreuzte ihre Beine. „Nein, ich brauche nur ein neues Stück Kreide, damit ich das hier fertig malen kann.“

„Zuerst aufs WC“, sagte Nell. „Dann hole ich dir frische Kreide.“

„Ich gehe schon mit ihr“, meinte Viola und bedeutete dem Kind, ihr zu folgen, als sie mit ratternden Rädern über den Steinboden des Wintergartens fuhr. „Sie sollten sich mit der Leinwand beeilen, bevor der Leim eintrocknet, Nell. Komm, Gracie.“

Gracie schüttelte noch immer den Kopf. „Aber ich muss doch gar nicht …“

„Danach gehen wir noch in der Küche vorbei und lassen dir von Mrs. Waters eine schöne Tasse heiße Schokolade machen.“

Und schon ließ Gracie ihren Kreidestummel fallen und eilte ihrer Nana hinterher. „Kann ich auf deinem Schoß fahren?“, rief sie draußen auf dem Korridor. „Kann ich? Bitte!“

„Ob du kannst?“, entgegnete Viola.

„Darf ich?“, bettelte sie, während sie in zunehmend bedrängter Manier von einem Fuß auf den anderen trat. „Bitte, Nana!“

„Hmmm … vielleicht auf dem Rückweg.“