1. Kapitel
Juni 1869
Boston
Was Nell Sweeney an der heutigen Ausgabe des Daily Advertiser zuerst auffiel, noch bevor sie die in großen Lettern gesetzte Überschrift las, war die dem Artikel beigefügte Illustration. Mit raschen Strichen hingetuscht zeigte sie das Porträt einer dunkelhaarigen Dame von faszinierender Schönheit: wild lodernde Augen, kühne Wangenknochen und geschminkte Lippen, die leicht geöffnet waren, sodass ihre Zähne weiß hervorschimmerten. Mit beiden Händen hielt sie einen Dolch umklammert, der so groß wie ein Fleischermesser war.
Die Bildunterschrift lautete: Die verstorbene Mrs Kimball als Lady Macbeth.
Verstorben? Nell setzte sich an den Küchentisch – eine von langem Gebrauch schon recht abgenutzte Kiefernholztafel, an der bei Bedarf auch alle zwanzig Bediensteten der Familie Hewitt Platz fanden –, stellte ihre Kaffeetasse ab und schlug die Zeitung auf.
SCHRECKLICHES VERBRECHEN
IN BEACON HILL
„Drama des Lebens“ nimmt tragisches Ende für
MRS VIRGINIA KIMBALL
Schauspielerin erschossen in ihrem Haus aufgefunden
GANZ BOSTON IN ANGST UND SCHRECKEN
„Lesen Sie gerade den Artikel über die Schauspielerin, die umgebracht worden ist?“, fragte Peter, einer der beiden jungen, blau livrierten Lakaien der Hewitts, und sah vom anderen Ende des langen Tisches herüber, wo er sich mit großem Appetit über sein Frühstück hermachte, das aus kaltem Schinken, Hühnerklein und frisch gebackenen Scones bestand.
Mit einem kurzen Blick auf Gracie, die unter der Aufsicht von Mrs Waters, der Köchin der Hewitts, an der großen Herdstelle auf einem kleinen Trittschemel stand und in einem Topf mit Porridge rührte, legte Nell mahnend einen Finger an die Lippen, damit Peter nicht gar so laut von dem Verbrechen sprach. Als Nell das kleine Mädchen das erste Mal im Morgengrauen mit hinunter in die Küche gebracht hatte, damit es sich einmal ansehen konnte, wo ihr Frühstück, das es jeden Morgen oben im Kinderzimmer serviert bekam, eigentlich zubereitet wurde, hatte die schon recht betagte Köchin schiere Zustände bekommen. Angehörige der Herrschaft pflegten keinen Umgang mit den Dienstboten, und bei der Hausarbeit waren sie schon gar nicht behilflich! Erst als Viola Hewitt sich dann persönlich der Sache angenommen und entschieden hatte, dass Gracie ruhig all das lernen sollte, was Nell als ihre Gouvernante für angemessen hielt, hatte Mrs Waters sich schließlich widerwillig gefügt.
„Die Kleine ist doch gerade viel zu beschäftigt, als dass sie mitbekäme, was wir hier reden.“ Peter deutete mit dem Kinn auf das Bild Virginia Kimballs. „Haben Sie sie mal spielen sehen?“
Nell schüttelte den Kopf, während sie nachdenklich die Porträtzeichnung betrachtete. „Ich dachte, sie hätte sich längst von der Bühne zurückgezogen.“
„Hat sie auch. Aber als Kind hab ich sie mal in Romeo und Julia gesehen. Also, natürlich nicht in der Vorstellung, nur bei der Probe, aber schon so richtig mit Kostümen. Mein Cousin Liam und ich waren nachmittags ins Boston Theatre geschlichen und haben uns oben im ersten Rang versteckt, ganz vorn, um endlich mal einen Blick auf sie zu erhaschen. Auf Plakaten hatten wir sie ja oft gesehen, aber in Wirklichkeit war sie noch viel schöner als auf den Bildern – glaubt man gar nicht, weil sie ja schon damals nicht mehr die Jüngste war. Sie war da bestimmt schon … hmm, mal überlegen … Also, das war in dem Sommer, als ich elf geworden bin, und wenn da in der Zeitung steht, dass sie achtundvierzig war, als sie gestorben ist, dann müsste sie …“ Seine Stirn legte sich in tiefe Falten, während er grübelnd nachrechnete.
„Dann muss sie damals fünfunddreißig gewesen sein“, kam Nell ihm zuvor. Dem Künstler, der Mrs Kimball gezeichnet hatte, war es gelungen, das leidenschaftliche Funkeln ihrer Augen so einzufangen, dass sie wie eine Wahnsinnige und eine Verführerin zugleich wirkte.
„Als die Probe schon halb durch war“, fuhr Peter fort, „hab ich in einer der Logen kurz ein Licht aufflackern sehen, so als ob jemand sich ein Zündholz anreißen würde. Im Theater gibt es ja ganz vorn an der Bühne so richtig elegante Logen mit roten Samtvorhängen, gleich drei Stück übereinander.“
„Proszeniumslogen“, sagte Nell. Es waren die teuersten Logenplätze im besten Theater Bostons, vielleicht gar die teuersten Theaterplätze im ganzen Land. Die oberste Proszeniumsloge auf der rechten Bühnenseite war für die Hewitts reserviert.
„Hatte sich ‘ne Zigarette angezündet in der Loge“, sagte Peter bedeutungsvoll. „Und obwohl es sonst da drin ganz dunkel war, konnte ich bei jedem Zug deutlich sein Gesicht sehen.“ Vergnügt grinsend tunkte er ein Stück Scone in den milchigen Tee. Sein strohblondes Haar fiel ihm in die Stirn. „Da kommen Sie nie drauf, wer das war.“
„William Hewitt“, erwiderte Nell.
Verdutzt sah Peter auf. „Woher wissen Sie denn das?“
„Jemand hat mir mal gesagt, dass Will eine … eine …“
„Will?“, wiederholte Peter und hob fragend die Brauen.
„Ich meinte natürlich Dr. Hewitt. Aber seine Mutter nennt ihn immer Will und deshalb …“ Nell hoffte, dass die glühende Hitze, die ihr langsam den Hals hinaufkroch, nicht zu jenem verräterischen Erröten erblühen würde, das ihr nur zu oft das Leben schwer machte. Doch zum Glück war Peter einer der wenigen Bediensteten im Hause der Hewitts, den sie zu ihren Freunden zählen konnte. Vor den anderen würde sie sich eine solche Blöße niemals geben dürfen.
„Jemand hat mir mal gesagt, dass Dr. Hewitt eine … eine kleine Romanze mit Mrs Kimball hatte“, schloss sie. Es war allgemein bekannt, dass der älteste der vier Söhne der Hewitts, der in England aufgewachsen und zur Universität gegangen war, bei den Besuchen in der Neuen Welt seiner Schwäche für Schauspielerinnen ausgiebig nachgegeben hatte.
Und so lachte Peter nur stillvergnügt, während er sich ein paar dicke Schinkenscheiben in mundgerechte Stücke schnitt. „Sah für mich aber irgendwie nach mehr als einer ‚kleinen Romanze‘ aus – zumindest von seiner Seite. Den hatte es ganz schön erwischt, wenn Sie mich fragen. Auf dem Sitz neben sich hatte er einen riesigen Strauß weißer Rosen liegen, so einen großen Strauß hatte ich noch nie gesehen, einen ganzen Berg von Rosen! Und wie er sie angesehen hat, während sie da unten auf der Bühne stand … Hoffnungsloser Fall.“
„Sie haben damals schon gewusst, wer er ist?“, fragte Nell. „Sie sind doch ein Kind gewesen und haben noch gar nicht für die Hewitts gearbeitet. Zudem hat Dr. Hewitt vor dem Krieg nur wenige Wochen im Jahr in Boston verbracht. Manche der Bekannten seiner Eltern wussten ja nicht einmal, dass es noch einen weiteren Sohn gab.“ Dies mochte zwar mehr als seltsam erscheinen, zumal wenn man die herausragende Rolle bedachte, die die Familie in der Bostoner Gesellschaft spielte, aber Will hatte für diese Welt immer nur Verachtung übrig gehabt und sie während seiner Ferien gemieden. Außerdem hatte er sich mit dem Patriarchen der Familie, dem ehrenwerten August Hewitt überworfen, war ihm eigentlich seit frühester Kindheit ein Dorn im Auge gewesen, weshalb er auch schon in jungen Jahren nach England verschifft worden war. Dort hatten Verwandte den kleinen Missetäter dann untereinander weitergereicht und von einem Internat auf das nächste bis hin nach Oxford verfrachtet. Erst als er sein Leben selbst in die Hand zu nehmen begann, sich dem Willen seines Vaters widersetzte und nach Edinburgh ging, um Medizin zu studieren, war ihm, als hätte auch er einen Platz in der Welt, eine Aufgabe, die seinem Leben Sinn gab. Doch dann kam der Krieg, der alles veränderte.
„Oh, damals wusste ich natürlich nicht, wer er war“, erwiderte Peter, „aber er ist mir im Gedächtnis geblieben, wie er da so saß – mit seinem glänzend schwarzen Haar und so elegant gekleidet und … ich weiß auch nicht. Er hatte so was an sich, eine Ausstrahlung, als ob er schon viel älter wäre, ein richtiger Gentleman, ein Mann von Welt, obwohl er ja damals kaum älter gewesen sein kann als …“, Peter zuckte mit den Achseln und schaufelte sich Hühnerklein auf seine Gabel, „… Mitte zwanzig vielleicht?“
„Er müsste damals einundzwanzig gewesen sein.“
„Ich weiß noch, dass ich dachte, er sieht aus wie ein junger Prinz – von der Zigarette mal abgesehen. Eigentlich hab ich immer nur Arbeiter und Taugenichtse rauchen sehen – Leute wie mein Pa und seine Kumpels eben. Also irgendwie passte das gar nicht zusammen, sein Aussehen und die Zigarette – oh, und nicht zu vergessen sein englischer Akzent! Als ich dann ein paar Jahre später anfing, hier zu arbeiten, habe ich ihn gleich wiedererkannt. Trotz der Uniform, die er da anhatte.“
Nach Ausbruch des Bürgerkrieges war Will in die Staaten zurückgekehrt, um sich der Unionsarmee als Arzt zu verpflichten. Von den anderen drei Hewitt-Söhnen meldete sich nur Robbie, der Zweitälteste, freiwillig. Harry, drittältester Sohn und stets sich selbst am nächsten, fand gute Gründe, um unbeschadet zu Hause bleiben zu können, und Martin, der Jüngste, war einfach noch zu jung gewesen.
Viola Hewitt hatte Nell vor einiger Zeit einmal eine Fotografie gezeigt, die ihre beiden ältesten Söhne kurz nach deren Aufnahme in das 40. Regiment der berittenen Infanterie von Massachusetts zeigte. In ihren blauen Uniformröcken mit den blank polierten Messingknöpfen und den verwegen aussehenden Schlapphüten hatten Will und Robbie eine recht schnittige Figur abgegeben – insbesondere der hochgewachsene und kantige Will, der über der rotbraunen Schärpe noch einen Offizierssäbel trug, denn sein Dienst als Feldarzt hatte ihm den Rang eines Majors eingebracht. Robbie, der sich als Sergeant gemeldet hatte, war im Februar 1864 gerade zum Captain aufgestiegen, als beide Brüder in der Schlacht von Olustee den Konföderierten in die Hände fielen und nach Andersonville gebracht wurden. Das berüchtigte Gefangenenlager war die Hölle auf Erden gewesen, die Robbie das Leben gekostet und Will bleibende Schäden an Leib und Seele zugefügt hatte.
„Miss Sweeney, schau mal!“, rief Gracie und kletterte, eine große Schüssel in den kleinen Händen, von ihrem Schemel herunter. Die viel zu lange Schürze schleifte über den Boden, als das Mädchen herübergeeilt kam. „Schau, den hab ich gemacht. Mit Honig und Rosinen! Probier mal!“
Nell probierte von dem Haferbrei, den Gracie ihr erwartungsvoll hinhielt, und zeigte sich sehr angetan. „Oh, das ist aber wirklich lecker, mein Schatz. Das ist gewiss das beste Porridge, das ich jemals gegessen habe. Du wirst ja eine richtig gute Köchin!“ Nachdem sie ihrem Lob noch eine Umarmung hatte folgen lassen, kehrte Gracie auf ihren Schemel am Herd zurück, und Nell wandte sich wieder ihrem Gespräch mit Peter zu.
„Ihnen war Dr. Hewitts Akzent aufgefallen?“, fragte sie. „Hatte er denn mit Ihnen gesprochen?“
Kauend schüttelte Peter den Kopf. „Nein, mit mir nicht – aber mit ihr, als die Probe vorbei war und sich alle noch mal verbeugt haben. Da ist er aufgestanden und hat laut applaudiert und ihr was zugerufen. ‚Bravo, Mrs Kimball, hervorragend‘ … oder so. Danach hat er die Blumen runtergeworfen, und sie landeten genau vor ihren Füßen. Ich dachte ja, sie würde sie aufheben, aber sie hat nur gelächelt und gesagt: ‚Orchideen sind mir lieber, Doc. Ein so kluger Junge wie Sie hätte sich doch eigentlich ein wenig erkundigen können.‘“
Die Worte ließen Nell kurz zusammenzucken, erinnerten sie sie doch wieder an das, was sie über Wills vergebliches Werben um Virginia Kimball gehört hatte – dass es da einen italienischen Grafen geben sollte, der ihr das Haus in Beacon Hill und all die diamantenen Geschmeide gekauft hatte, die ihr Markenzeichen geworden waren. Das hatte sie jedoch nicht davon abgehalten, mit Will zu kokettieren, bis dann besagter Graf seinen Besuch ankündigte und sie den in sie vernarrten jungen Arzt wissen ließ, er solle nun ein guter Junge sein und sich trollen und sie nicht länger belästigen.
„Uns, also Liam und mich, hat damals überrascht, dass sie ein bisschen so sprach wie die Leute aus den Südstaaten. Wenn sie auf der Bühne stand und spielte, klang sie wirklich klasse … Sie wissen schon, ganz vornehm und so ein bisschen eingebildet. Irgendwie englisch. Aber egal. Sie hat die Rosen jedenfalls da liegen lassen und ist mit wallendem Kleid von der Bühne gerauscht, und ihr Gefolge hinter ihr her. Ich dachte mir, der Bursche da drüben mag ja vielleicht aussehen wie ein Prinz, aber sie ist eben die Königin – und das weiß sie auch ganz genau.“
„Oh ja, das kann ich mir gut vorstellen“, murmelte Nell und wandte sich endlich dem Zeitungsartikel zu.
Durch einen Akt unsäglicher Grausamkeit ist Mrs Virginia Kimball, die auf Bostons Bühnen gefeierte Schauspielerin, dem Leben entrissen worden. Gegen vier Uhr am gestrigen Nachmittag fand sich Mr Maximilian Thurston, selbst ein bedeutender Dramatiker unserer Stadt, in Mrs Kimballs Haus in der Mt. Vernon Street ein. Er und Mrs Kimball, die seit Jahren Nachbarn und gute Bekannte waren, pflegten jeden Tag um diese Zeit miteinander Tee zu trinken. Nachdem er zweimal angeklopft und niemand ihm geöffnet hatte, machte Mr Thurston schließlich die Tür auf und rief: „Virginia! Bist du zu Hause?“ Der mittlerweile recht beunruhigte Besucher sah sich zunächst im Erdgeschoss von Mrs Kimballs Stadthaus um und ging dann, nachdem er dort niemanden angetroffen hatte, hinauf in den ersten Stock, wo sich ihm ein Anblick der schrecklichsten und bedauerlichsten Art bot.
Mrs Kimball lag an der Schwelle ihres Schlafzimmers, das Mieder ihres Kleides blutgetränkt, neben ihr auf dem Boden eine Remington-Taschenpistole, welche von Mr Thurston als jene der Schauspielerin identifiziert wurde. Wenngleich tödlich verletzt, regte sich noch ein letzter Lebensfunke in Mrs Kimball, der sie Mr Thurstons Hand ergreifen ließ, bevor sie in seinen Armen verschied. Ein weiterer Schrecken sollte Mr Thurston ereilen, als er am Fuße von Mrs Kimballs Bett den leblosen Leib ihrer jungen Dienerin Fiona Gannon vorfand. Sie war in den Kopf geschossen worden.
Es kursieren bereits zahlreiche Gerüchte und Mutmaßungen über dieses tragische Ereignis, was gewiss nicht verwunderlich ist, bedenkt man den legendären Ruhm der Verstorbenen und die Umstände ihres Todes. Laut einem dieser Gerüchte, dessen Wahrheitsgehalt indes noch zu prüfen bleibt, soll man Miss Gannon mit einigen der berühmten Halsketten ihrer verschiedenen Dienstherrin in Händen aufgefunden haben. Von den zuständigen Behörden wurden Gutachter an den Tatort entsandt, und für heute Nachmittag wurde die amtliche Untersuchung des Todesfalls anberaumt, die zweifellos mehr Licht in diese höchst betrübliche Begebenheit bringen wird.
Angehörige von Mrs Kimball sind nicht bekannt, ebenso wie auch ihr früheres Leben vor ihrer Ankunft in unserer Stadt vor über zwanzig Jahren geheimnisumwittert bleibt. Aus diesem Grund hat ihr Anwalt Mr Orville Pratt von der Kanzlei Pratt & Thorpe die traurige Pflicht auf sich genommen, die letzten Verfügungen seiner Mandantin zu treffen. Nach einem privaten Trauergottesdienst, der morgen Vormittag, den 3. Juni um 10 Uhr von Reverend Dr. Ezra Gannett in der Arlington Street Church abgehalten wird, soll Mrs Kimball auf dem Forest Hills Cemetery in Roxbury beigesetzt werden. Mr Pratt kündigte an, einen Gedenkstein für ihr Grab in Auftrag zu geben. Seines Wissens war Mrs Kimball zum Zeitpunkt ihres Todes 48 Jahre alt, doch wie so viele Umstände ihres Lebens, wird wohl auch dies noch eine Weile Anlass zu allerlei Vermutungen geben.
„Morgen früh soll sie schon beigesetzt werden?“ Nell schob die Zeitung so entschieden von sich, als ob dadurch alles weniger wahr, weniger schrecklich würde. „Ist das nicht etwas übereilt?“
„Macht man vielleicht so bei den Unitariern“, meinte Peter achselzuckend und stippte mit einem Stückchen Scone den letzten Rest seines Hühnerkleins vom Teller. „Ist nämlich eine Unitarier-Kirche, wo der Gottesdienst stattfindet.“
Nell wusste über die Unitarier kaum mehr, als dass der erzfromme Kongregationalist August Hewitt seinen jüngsten Sohn Martin, der in Harvard Theologie studierte, gern bezichtigte, dieser religiösen Strömung zugeneigt zu sein. So sehr lehnte Mr Hewitt jeden auch nur angedeuteten Anflug von Liberalität bei seinem sonntäglichen Gottesdienst ab, dass er kürzlich erst der King's Chapel, die er und Viola seit über dreißig Jahren besuchten, seine Zugehörigkeit aufgekündigt und sich der entschieden kongregationalistischen Park Street Church zugewandt hatte. Dass seine Gemahlin noch immer der King's Chapel die Treue hielt, die dem Namen nach zwar zur anglikanischen Kirche gehörte, für August Hewitt indes „unitaristisch unterwandert“ war, gefiel ihm gar nicht – wie sähe das denn aus, hielt er seiner Frau vor, wenn ein Paar ihres gesellschaftlichen Standes verschiedenen Kirchen angehörte? –, aber Viola Hewitt hatte schon immer ihre eigenen Entscheidungen getroffen, und daran würde sich wohl so bald auch nichts ändern. Für Nell, die noch nie die genauen Unterschiede zwischen den verschiedenen protestantischen Glaubensrichtungen verstanden hatte, war dieser eheliche Zwist allenfalls verwirrend bis verwunderlich.
„Mir erscheint es etwas unschicklich, sie keine zwei Tage nach ihrem Tod beizusetzen“, meinte Nell. „So bleibt ja kaum Zeit, um jene, die sie kannten, davon in Kenntnis zu setzen, damit sie ihr die letzte Ehre erweisen können.“
Lautes Gelächter lenkte Nells Aufmerksamkeit zur Dienstbotentreppe, die Dennis, ebenfalls ein Lakai, doch dunkelhaarig und stämmiger als Peter, soeben heruntergepoltert kam. „Glauben Sie vielleicht, irgendwer in dieser Stadt will dabei gesehen werden, wie er so einer die letzte Ehre erweist?“, fragte er höhnisch.
Hinter Dennis kam Mary Agnes Dolan, eines der Stubenmädchen, die Treppe herunter. Sie war eifrig damit beschäftigt, sich ihr schwer zu bändigendes rotes Haar, das wild in alle Richtungen stand und schimmerte wie blank polierte Kupferdrähte, unter die weiße Rüschenhaube zu stecken. Dennis und sie nahmen sich zwei Teller und bedienten sich am Herd.
„Sag mal, Denny“, rief Peter, „hab ich dich nicht schon frühstücken sehen, als ich vor einer halben Stunde unten war?“
„Stimmt. Ich hab' seitdem aber wieder mächtig Hunger bekommen.“ Dennis warf Mary Agnes einen vielsagenden Blick zu, die ihm vergnügt zuzwinkerte und ihn mit der Schulter anstubste.
Peter sah kurz etwas irritiert zu Nell hinüber und griff dann rasch nach der Teetasse. Seine Ohren glühten.
Im Vorbeigehen schnappte Dennis sich die Zeitung und reichte sie Mary Agnes, als sie sich nebeneinander an das andere Ende des Tisches setzten. „Hier, von der hab ich dir vorhin erzählt“, sagte er und zeigte auf das Bild von Virginia Kimball, spießte dabei mit dem Messer eine Scheibe Schinken auf und schob sie sich in den Mund.
„Wie meinten Sie das eben, als Sie sagten, niemand wolle auf ihrem Begräbnis gesehen werden?“, fragte Nell.
Dennis lachte in sich hinein und noch während er mit offenem Mund kaute, sagte er: „Sagen wir mal so: Ich hab da ein paar Sachen gehört, die eine so sittsame kleine Miss wie Sie geradewegs in Ohnmacht fallen lassen würden.“
„Alles nur Gerüchte“, befand Peter.
Dennis verdrehte die Augen. „Sie war eine Schauspielerin, Pete. Du weißt ebenso gut wie ich, was das heißt. Hure bleibt Hure, und wenn sie sich noch so viele Diamanten …“
„Pass auf, was du hier vor der Dame sagst“, warnte ihn Peter.
„Wenn die Dame die Antwort nicht verträgt, sollte sie besser gar nicht erst fragen“, entgegnete Dennis.
„Sie könnten zumindest darauf Rücksicht nehmen, was Sie vor Gracie sagen“, wies Nell ihn zurecht.
„Und was ist mit mir?“, beschwerte sich Mary Agnes, den Mund voller Hühnerklein. Sie sah ziemlich beleidigt aus, als niemand es für nötig befand, darauf etwas zu erwidern.
Finster schaute Dennis auf Gracie, die noch immer eifrig in ihrem Porridge rührte, ihnen den Rücken zuwandte und glücklicherweise viel zu beschäftigt war, um von dem Gespräch etwas mitzubekommen. „Also, wenn ihr mich fragt“, meinte er, „dann hat dieser kleine Fehltritt hier im Haus gar nichts zu suchen, ebenso wenig wie …“
„Denny!“ Peter sah sich besorgt um. „Was glaubst du eigentlich …?“
Nell beugte sich zu Dennis vor und konnte ihre Stimme vor Wut nur mühsam beherrschen. „Wenn Mrs Hewitt erfahren sollte, wie Sie dieses Kind soeben genannt haben, würde sie Sie auf der Stelle entlassen – und zwar ohne Referenz.“ Als Viola Gracie gleich nach deren Geburt vor fünf Jahren adoptiert hatte, hatte sie dem Hauspersonal gegenüber deutlich gemacht, sie wünsche von allen, dass sie das Kind fortan ebenso behandelten wie ihre leiblichen Kinder. Jeder, der auch nur andeutete, dass sie das uneheliche Kind eines einstigen Zimmermädchens war, würde fristlos entlassen.
„Woll'n Sie ihn jetzt vielleicht verpetzen?“, fragte Mary Agnes spöttisch.
„Nee, das mach ich schon“, murmelte Peter. „Wenn er sowas noch einmal sagt, werde ich es tun. Oh ja, das werde ich“, bekräftigte er. „Langsam treibst du es wirklich zu weit, Denny.“
„Und du glaub bloß nicht, du könntest die da …“, Dennis deutete verächtlich mit dem Kopf auf Nell, „… mit deinem Gerede beeindrucken. Die hat's doch längst schon auf wen anders abgesehen. Dabei kommen wir alle aus demselben irischen Sumpf, aber das vergisst sie halt gern mal, die feine Miss Sweeney.“
Die feine Miss Sweeney. Hochnäsig. Eingebildet. Zimperlich. Kleine Aufsteigerin. Das hatte Nell alles schon viel zu oft gehört – und noch ganz anderes dazu.
Gouvernante zu sein, und damit weder eine Bedienstete noch eine Dame von Stand, sondern eine jener unabhängigen, für ihren eigenen Lebensunterhalt arbeitenden Frauen, die meist noch immer als eine exotische Spezies betrachtet wurden, war an sich schon kompliziert genug, da man nie wirklich dazugehörte, weder zur Familie noch zum Personal. Aber eine Gouvernante mit so bescheidenem Hintergrund zu sein, wo doch die meisten Gouvernanten selbst den besseren Kreisen entstammten, war nicht nur ungewöhnlich, sondern stieß oft auch auf ungewöhnlich heftige Ablehnung. Die anderen Bediensteten, zumindest die meisten, lehnten sie schon allein aufgrund der besonderen Behandlung ab, die sie genoss und die sie sich ihrer Meinung nach unrechtmäßig erschlichen hatte. Und was die Familie und deren Freunde anging … nun, da gab es durchaus erfreuliche Ausnahmen wie Viola und Will, aber die meisten begegneten ihr mit leisem Argwohn und einer gewissen Herablassung; manche gar, wie August Hewitt und sein Sohn Harry, suchten ihre Abneigung erst überhaupt nicht zu verbergen.
Und so gab es im Haushalt der Hewitts – und eigentlich im gesamten Mikrokosmos aus Pomp und Privilegien, in dem die Bostoner Oberschicht sich seit Generationen eingerichtet hatte – niemanden, der so gewesen wäre wie Nell. Keine Nische tat sich in der streng hierarchisch gegliederten Bostoner Gesellschaft für sie auf, es gab keine anerkannten Verhaltensregeln, die für sie zutreffend gewesen wären, es war schlichtweg kein Platz für sie vorgesehen, keine etablierte Rolle. Dies konnte ihr Leben einerseits recht einsam machen, und oft war es das auch. Doch der Mangel an vorgegebenen Konventionen verschaffte ihr auch den Freiraum, eigene Regeln aufzustellen – in gewissen Grenzen, versteht sich –, und mittlerweile war sie sehr versiert darin, die Grenzen dieser Regeln stetig ein wenig zu erweitern.
„Denny hat recht, Pete. Du verschwendest nur deine Zeit.“ Mary Agnes warf Nell einen hämischen Blick zu. „Ihre Hoheit hat es längst auf was Besseres abgesehen als dich. Weißt du eigentlich schon, mit wem sie sich nachmittags immer im Public Garden trifft?“
Noch während Nell überlegte, was sie darauf erwidern sollte – ob sie überhaupt darauf eingehen sollte –, kam Peter ihr auch schon zu Hilfe. „Du solltest nicht auf so dummes Gerede hören, Mary Agnes – ihr beide nicht, egal, ob es nun um Nell oder um Mrs Kimball oder ganz jemand anders geht.“
„Insbesondere Mrs Kimball“, sagte Nell. „Die arme Dame wurde ermordet, Himmel noch mal, und euch fällt nichts Besseres ein, als über sie herzuziehen! Dem Tod eines jeden Menschen sollte mit Respekt begegnet werden, wenn nicht gar mit Trauer. Wenigstens das hat ein jeder von uns verdient.“
„Scheint der gute Brady wohl auch zu finden“, bemerkte Dennis feixend.
„Was soll denn das nun wieder heißen?“, wollte Nell aufgebracht wissen. Brady, der Kutscher der Hewitts, war ihr während ihrer fünf Jahre, die sie nun schon bei der Familie lebte, zu einem guten väterlichen Freund geworden. Auf ihn ließ sie nichts kommen.
Grinsend stopfte sich Dennis die Hälfte seines Scones in den Mund. „Er war vorhin auch hier, als ich gefrühstückt hab – mein frühes Frühstück, mein' ich. Na, und da wollt' ich ein wenig mit ihm plaudern, aber er will nur in Ruhe seine Zeitung lesen, aber so isser er nun mal, unser Brady. Und plötzlich …! Da fällt ihm auf einmal so richtig die Kinnlade runter.“ Zum besseren Verständnis stieß Dennis einen erstickten Schrei aus und schlug sich entsetzt die Hand vor den Mund. „Ich wollt' wissen, was denn los wär, aber er kriegt das gar nicht mit. Liest einfach weiter. Und als er dann fertig war, also ich könnt' schwören, dass er Tränen in den Augen hatte! Ein erwachsener Mann, so alt wie mein Pa, vielleicht sogar noch älter, und heult wie'n Mädchen.“ Dennis schüttelte den Kopf. „Wer hätte gedacht, dass er so eine Memme ist?“
„Wo ist er jetzt?“, fragte Nell.
„Wo soll er schon sein? Er ist dann gleich weg und hat gesagt, er muss jetzt den Brougham waschen“, meinte Dennis achselzuckend.
Sichtlich besorgt sah Nell von Dennis zu Gracie, die noch immer emsig rührte, und wandte sich dann bittend an Peter. „Peter, könnten Sie vielleicht kurz ein Auge auf Gracie haben, während ich …“
„Klar. Geh'n Sie schon“, unterbrach Peter und scheuchte sie mit knapper Geste vom Tisch und zur Hintertür hinaus.
2. Kapitel
Nell trat in den Hinterhof hinaus, der in den blutroten Schein der aufgehenden Sonne getaucht lag. Es war ein kleiner Hof, unverhältnismäßig klein fast, wenn man Größe und Pracht des „Palazzo Hewitt“ bedachte, wie Will das mit Blick auf den Boston Common gelegene Stadthaus seiner Ähnlichkeit mit den italienischen Palazzi der Renaissance wegen gern nannte. Viola hatte auf der winzigen Fläche einen bezaubernd verwilderten Garten im englischen Stil angelegt, der seitlich von efeubewachsenen Gattern und hinten von einem weitläufigen Gebäude mit rot geziegeltem Dach begrenzt war, das wie eine toskanische Villa aussah und als Kutschenhaus diente, oder besser gesagt als Kutschenhaus samt Stallungen. Die eine Hälfte des Erdgeschosses war in Pferdeboxen unterteilt, in der anderen war der Hewittsche Fuhrpark untergebracht und im oberen Geschoss die Unterkünfte der männlichen Dienerschaft.
Vor dem großen, mit schweren Eisenstreben beschlagenen Flügeltor zögerte Nell, denn es war verschlossen, und eigentlich schloss Brady nie das Tor, während er im Kutschenhaus arbeitete, schon gar nicht an einem so herrlich milden Sommermorgen. Sie klopfte und wartete, und als sich drinnen noch immer nichts rührte, klopfte sie noch einmal. „Brady?“
Ganz am Anfang, als sie gerade für die Hewitts zu arbeiten begann, hatte Nell den liebenswerten und ihr wohlgesonnenen Iren einmal als „Mr Brady“ angeredet. Daraufhin hatte er gelacht und gesagt: „Einfach nur Brady, Miss – der gute alte Brady.“ Sie wusste bis heute nicht, ob es sein Vorname oder sein Nachname war, und obwohl sie bald Freunde geworden waren, bestand er noch immer darauf, Nell wegen ihrer gehobenen Stellung im Haushalt der Hewitts als „Miss Sweeney“ anzureden.
Mit einem schweren Knarzen zog sie das Tor einen Spalt weit auf und trat in das lang gestreckte hohe Gemäuer des Kutschenhauses. Drinnen war es kühl und dämmrig, denn die wenigen Fenster, die es gab, waren winzig. Außer dem leisen Rascheln ihrer Röcke war kein Laut zu hören. Nach ein paar Schritten vernahm sie dann aber doch aus dem Bogengang, der sich zu ihrer Rechten auftat und in die Stallungen führte, gedämpftes Wiehern. Es roch nach Pferden und Heu. Links standen in doppelter Reihe die im Dämmerlicht nur schemenhaft auszumachenden Kutschen. Ganz hinten sah Nell einen hell strahlenden Lichtschein. Sie blinzelte kurz und war geblendet, erkannte dann jedoch, dass es eine Laterne war, die von einem der Deckenbalken hing.
Während sie dem Licht entgegenging, kam sie an Mr Hewitts einsitzigem Coupé vorbei, an Violas eleganter Victoria-Kutsche, Martins Buggy, dem kleinen Ponywagen, den Gracie letztes Jahr von Viola zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte, einem viersitzigen Schlitten für winterliche Ausfahrten, zwei unscheinbaren Gigs, dem Pferdekarren der Dienstboten, und schließlich gelangte sie zum Prunkstück der Sammlung, dem großen Brougham.
Die stattliche Familienkutsche war von glänzenden Wassertropfen bedeckt und schimmerte wie schwarzes Glas, nur der lederne Kutschbock war mit einem Öltuch bedeckt, damit er nicht nass wurde. Wasser tropfte und strömte von der Karosserie und den hohen Rädern und sickerte in das festgestampfte Erdreich; ein Eimer, über dessen Rand ein Putzlappen hing, stand auf einer Bank in der Ecke. Brady, in Hemdsärmeln und mit einer mittlerweile völlig durchnässten Schürze, stand mit dem Rücken zu Nell und rieb mit einem Ledertuch über den Wagen, um ihn wieder auf Hochglanz zu bringen.
Nell wollte gerade erneut seinen Namen sagen, als er innehielt und sich mit dem Ärmel über die Augen fuhr. Ohne sich umzudrehen, sagte er mit breitem irischem Akzent und mürrischer Stimme: „Geh'n Sie schon, Miss. Alles in Ordnung.“
„Kannten Sie sie denn?“, fragte Nell leise.
Er stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus. „Sie war meine Nichte.“
Etwas verdutzt fragte Nell nach: „Virginia Kimball war Ihre Nichte?“ Doch dann begriff sie. „Ah … Sie meinen das Dienstmädchen?“
„Fee Gannon. Eigentlich Fiona, aber wir haben sie immer Fee genannt. Die Tochter meiner kleinen Schwester.“ Er schniefte, straffte die Schultern und polierte weiter.
„Oh, Brady … das tut mir leid.“ Sie trat zu ihm und ließ ihre Hand auf seinem breiten Rücken ruhen.
Unbeirrt rieb er das Ledertuch über den Brougham, sorgsam darauf bedacht, auch noch die letzten Streifen und Wasserflecken von der schwarz glänzenden Oberfläche zu tilgen.
Dass man ihr in den Kopf geschossen hatte, war schon schlimm genug, dachte Nell. Aber man sollte Miss Gannon mit einigen der berühmten Halsketten ihrer verschiedenen Dienstherrin in Händen aufgefunden haben …
„Brady …“, begann sie vorsichtig.
„Sie war's nicht.“ Er sah kurz über die Schulter und begegnete Nells Blick. Seine sonst so freundliche Miene war einem so verweinten und leidvollen Ausdruck gewichen, dass sich ihr das Herz in der Brust zusammenzog. „Sie ist ein gutes Mädchen.“ Er wandte sich wieder seiner Arbeit zu. „War ein gutes Mädchen. Sie würde niemals … Sowas könnte sie gar nicht …“ Mit der Faust hieb er gegen das Wagenfenster, brummte etwas Verdrießliches vor sich hin und polierte dann mit dem quietschenden Leder über das Glas, um den Abdruck seiner Hand wieder wegzuwischen. „Das stimmt nicht, was da so geschrieben wird. Es stimmt einfach nicht! Die kannten sie ja nicht mal. Nicht so, wie ich sie kannte. Die ha'm doch gar keine Ahnung!“
„Ich weiß.“
„Nein, tun Sie nicht!“, fuhr Brady sie an. Es war das erste Mal, dass er ihr gegenüber so die Stimme erhob, und es traf sie sehr, beunruhigte sie zutiefst und ließ sie sich ganz verloren fühlen. „Sie können es gar nicht wissen, weil Sie sie nämlich auch nicht kannten.“ Sein Kinn erzitterte, und wieder traten ihm Tränen in die Augen. „Sie wissen ja nicht …“ Die Worte gingen in einem erstickten Schluchzen unter. Er sank gegen den Brougham, das Polierleder flatterte zu Boden; schützend hielt er sich seine großen abgearbeiteten Hände vors Gesicht.
Nell nahm ihn tröstend in den Arm, führte ihn zu der Bank in der Ecke und stellte den Eimer mit dem Putzlappen auf den Boden. „Setzen Sie sich. Setzen Sie sich, Brady.“
Mittlerweile weinte er wirklich und stieß dabei leise Verwünschungen aus, die Nell nicht verstehen konnte. Sie reichte ihm ihr Taschentuch. Er nahm es und verbarg sein Gesicht dahinter, beugte sich vornüber und brach in lautes, heiseres Schluchzen aus, derweil sie ihm den Rücken tätschelte und tröstende Laute murmelte.
Die Minuten vergingen und bis Brady sich wieder gefasst hatte, war es im Kutschenhaus schon ein wenig heller geworden. Durch die Ostfenster schien die Sonne herein und ließ die Wassertropfen auf dem Brougham verdunsten.
„Den kann ich jetzt grad noch mal waschen“, stellte Brady mit zitternder und tränenschwerer Stimme fest, als er sich mit Nells Taschentuch die Nase putzte. „Ganz fleckig und streifig wird er sein, wo ich noch nicht poliert hab'.“
„Das kann warten.“ Nell schloss ihren Arm fester um den Mann, der ihr während der letzten fünf Jahre so oft Trost und rettender Fels in der Brandung gewesen war. „Geht es wieder?“
Brady seufzte tief, die Ellenbogen schwer auf die Knie gestützt. „Sie war meine einzige Verwandte. Also hier drüben, meine ich. Die andern sind ja alle noch in der alten Heimat.“ Er knüllte das feuchte Taschentuch zusammen, wischte sich damit die Augen, strich es dann sorgsam wieder glatt und runzelte die Stirn, als er das kunstvoll gestickte Monogramm in der Ecke entdeckte. „Oh je, schau'n Sie nur, was ich mit Ihrem schönen Taschentuch gemacht habe. Ich weiß noch genau, wann Mrs Hewitt es Ihnen geschenkt hat.“
„Das macht nichts.“
„Ich lass' es waschen“, versprach er und legte es ordentlich zusammen.
„Um mein Taschentuch sorge ich mich wirklich nicht, Brady“, versicherte ihm Nell. „Ich mache mir vielmehr Sorgen um Sie. Ich fühle mich so …“ Hilflos. Beunruhigt. Er war tatsächlich wie ein Vater für sie – gewiss mehr, als ihr leiblicher Vater es ihr jemals gewesen war. Brady war immer da, wenn sie ihn brauchte – aufmunternd, unerschütterlich, zuverlässig. Jeden Sonntag fuhr er sie früh im Morgengrauen ins North End, damit sie die Frühmesse in St. Stephen besuchen konnte. Meist nahmen sie dabei eine der kleinen Gigs, damit sie vorn beieinander sitzen und sich unterhalten konnten. Er gab ihr allerlei gute Ratschläge oder erzählte ihr lustige Begebenheiten … Manchmal sang er ihr sogar etwas vor – Kirchenlieder oder Trinklieder, je nach Laune. Ihn nun so völlig aufgelöst zu sehen … Ihr war, als verlöre sie selbst jäh allen Halt.
„Ich kann mich erinnern, dass Sie mal von ihr gesprochen haben“, sagte Nell. Brady redete nur wenig von sich, aber von Fee hatte er mit großer Begeisterung erzählt. Als sie mit gerade einmal fünfzehn Jahren zur Waise geworden war, hatte er ihr eine Stelle als Dienstmädchen beschafft.
„Aber ich dachte, Sie würde noch für die Pratts arbeiten“, meinte Nell. Orville Pratt, einer der reichsten und mächtigsten Männer Bostons, betrieb gemeinsam mit August Hewitts bestem Freund Leo Thorpe eine Anwaltskanzlei.
Brady nickte. „Bei denen hat sie angefangen. Als ihre Eltern gestorben sind, hab' ich sie da als Zimmermädchen untergebracht. Auch schon lange her, 1863 war das. Oder besser gesagt, Mrs Hewitt hat ihr mir zuliebe die Stelle besorgt. Sie ist eine wirklich wunderbare Dame mit einem großen Herzen. So was findet man in den höheren Schichten nicht mehr oft.“
„Das stimmt allerdings.“
Zitternd holte Brady tief Luft und atmete dann langsam wieder aus. „Fee ist mit den Pratts aber nie gut zurechtgekommen. Meinte, die würden zuviel von ihr erwarten.“
„Im Hinblick auf das Arbeitspensum …?“
„Das auch, und dann, wie sie sich zu verhalten hätte – selbst wenn sie frei hatte.“
„Daran ist aber nichts Ungewöhnliches“, wandte Nell ein, „vor allem bei einer Familie, die gesellschaftlich so hoch angesehen und bedeutend ist.“
Brady blickte düster zu Boden und rieb sich das Kinn. „Aye, aber Fee hat's eben nicht gefallen.“ Er runzelte die Stirn. „Wissen Sie, meine Schwester und ihr Mann waren ganz einfache und unkomplizierte Leute. Fee hat nie richtig gelernt, sich anzupassen. Sie war beileibe kein schlechtes Mädchen, ganz gewiss nicht, aber sie mochte einfach nicht so tun, als ob sie was wär', was sie nicht ist.“
Nell nickte unverbindlich. Sie wusste allzu gut, wie es war, eine Rolle spielen zu müssen, und es bekümmerte sie sehr, dass dieser grundehrliche Mann, mit dem sie sich so gut angefreundet hatte, nicht die geringste Ahnung hatte, wer und was sie in früheren Jahren gewesen war. Will Hewitt war der Einzige – der Einzige in Boston, wohlgemerkt –, der davon wusste.
„Fee hat es nie gemocht, Dienstmädchen zu sein“, fuhr Brady fort. „Sie wollte ein Kurzwarengeschäft aufmachen.“
„Im Ernst?“
„Oh ja, sie hat ihren ganzen Lohn dafür gespart. Viel war's ja nicht. Die Pratts haben ihr nur anderthalb Dollar die Woche gezahlt. Gott weiß, wie lange sie da hätte sparen müssen, aber sie war nicht davon abzubringen. Das hatte ihr schon immer gefallen, schöner Tand und Firlefanz. Bänder und Spitzen … Handschuhe und Sonnenschirme, Hauben und Hüte … Sie wollte auch Meterware verkaufen und ich glaube auch Schreibpapier und so was. Immer wieder und wieder hat sie davon geredet, aber ich kann mich nicht mehr an alles erinnern. Wahrscheinlich hab' ich gar nicht richtig zugehört, weil ich mir dachte, das klappt ja sowieso nich'.“ Er schloss die Augen und rieb sich das Gesicht.
„Und wann hat sie angefangen, für Virginia Kimball zu arbeiten?“, erkundigte sich Nell.
Brady drehte und wendete das feuchte Taschentuch in den Händen. „Erst vor drei Wochen. Manchmal hab' ich sie ja sonntags im Pearson's auf einen Tee getroffen. Es war der erste Sonntag im Mai, als sie mir gesagt hat, dass Mrs Kimball sie von den Pratts abgeworben hätte.“
„Abgeworben? Als Zimmermädchen?“, fragte Nell ein wenig verwundert.
„Als Mädchen für alles. Es gab da keine anderen Dienstboten – nur sie.“
„Oje.“
„Ja, dachte ich auch und hab' sie gleich gewarnt, auf was sie sich da einlässt. Ich hab' zu ihr gesagt, wenn es ihr schon bei den Pratts zuviel war, dann soll sie erst mal abwarten, bis sie alles allein machen müsste. Aber sie meinte, das sei es ihr wert, denn immerhin würde sie ja für Mrs Kimball auch als Kammerzofe arbeiten, und da könne sie bestimmt einiges lernen, was sie für ihren Kurzwarenladen gebrauchen könnte. Und außerdem würde sie bei ihr jetzt ganze zwei Dollar die Woche bekommen, weshalb Fee sich ausrechnete, dass sie den Laden entsprechend eher aufmachen könnte. Oh, und ein eigenes Zimmer hätte sie auch. Sie hatte es immer ganz schrecklich gefunden, sich mit all den andern Mädchen die Dachstube der Pratts teilen zu müssen. Alles in allem gesehen würd' sich's aber gewiss nicht lohnen, hab' ich ihr gesagt und sie gebeten, zu den Pratts zurückzugehen, falls die sie noch nehmen würden. Eine der Pratt-Töchter hatte ihr ja geholfen, die Stelle zu bekommen und …“
„Eines von den beiden Pratt-Mädchen?“, fragte Nell. „Doch nicht etwa Cecilia?“
„Nee, die bestimmt nicht. Die andere, die so lange in Europa war.“
„Ah, Emily.“
„Genau, Emily. Ich sagte zu ihr, vielleicht könnte Miss Emily ja bei ihren Eltern ein gutes Wort für sie einlegen, und wenn das auch nichts bringen würde, könnte ich immer noch Mrs Hewitt um Hilfe bitten, aber Fee wollte nichts davon wissen.“ Er schüttelte den Kopf und sah auf einmal ganz alt und grau und sehr erschöpft aus.
„So wichtig war es Ihnen, dass sie dort nicht arbeitete?“, hakte Nell nach.
„Es war ja nicht nur wegen der Arbeit, sondern wegen … naja, für wen sie arbeitete.“
„Für eine Schauspielerin.“
„Es gefiel mir gar nicht, dass Fee mit solchen Leuten Umgang hatte. Wissen Sie, ich habe immer gewusst, dass ich doch meiner Schwester gegenüber eine Verpflichtung habe, mich um Fee zu kümmern und aufzupassen, damit sie nicht vom rechten Weg abkommt. Und schauen Sie nur, was jetzt passiert ist …“ Seine Stimme brach. „Sie hat eine Kugel in den …“ Er hielt sich das Taschentuch vor den Mund und war wieder den Tränen nah. „Und jetzt glaubt man auch noch, dass … Man hält sie für eine Diebin und eine Mörderin und wird sich so an sie erinnern. Heilige Muttergottes, wie hat es nur jemals dazu kommen können?“
Abermals legte Nell ihren Arm um Brady und meinte: „Heute Nachmittag ist eine amtliche Untersuchung angesetzt. Sollte Ihre Nichte unschuldig sein, so …“
„Sie ist unschuldig! Ich hab' Ihnen doch gesagt, dass sie so was nie hätte tun können.“
„Ja, ich weiß. Ich habe mich falsch ausgedrückt.“ Sie versuchte, sich ihre Zweifel nicht anmerken zu lassen und zuversichtlich zu klingen. „Die Geschworenen werden sich den Tatbestand ganz genau ansehen, und wenn sie zu dem Schluss kommen, dass es kein versuchter Raub war, werden sie Fee von allen Anschuldigungen freisprechen.“
„Ihr Name ist schon längst in den Schmutz gezogen worden – vorn auf der Titelseite, unter einer riesigen Schlagzeile, die selbst ein Blinder noch lesen könnte. Wie will man das denn wiedergutmachen? Und warum sollte das überhaupt jemanden interessieren? Denen da oben ist sie doch egal … nur irgendein irisches Dienstmädchen. Sie wissen ja, was man hier von uns hält. Wir sind für die doch nur Abschaum, fremdes Pack. Denen fällt es im Traum nicht ein, an Fees Schuld zu zweifeln – da können Sie drauf wetten.“
Darauf wusste Nell leider auch nichts zu erwidern, denn wahrscheinlich hatte Brady recht.
Das Kinn kämpferisch vorgereckt schüttelte er dennoch betrübt den Kopf. „Seit mehr als zwanzig Jahren lebe ich jetzt schon in dieser Stadt und in all der Zeit hat sich für uns nichts geändert. Sieht eher so aus, als würd’ es immer schlimmer, je mehr von uns rüberkommen. Die Stadträte, die Verwaltung, die Polizei sind doch alle nur drauf aus, uns einzuschüchtern und kurz zu halten. Manchmal frag' ich mich ja schon, was ich hier eigentlich soll und warum ich nicht einfach in der alten Heimat geblieben bin.“
„Weil es dort nichts zu essen gab“, erinnerte sie ihn und gab ihm einen beschwichtigenden Klaps auf den Rücken. „Und so schlimm, wie Sie sagen, ist es gar nicht. In der Stadtverwaltung sitzen durchaus auch einige Iren und ich kenne sogar einen bei der Polizei.“
„Einen irischen Polizisten? Glaub' ich nicht.“
„Er heißt Colin Cook“, erwiderte sie. „Man hat ihn für die Wache in Fort Hill angeheuert.“
„Ach so … damit er dort die andern Iren in Schach hält, was?“
„Genau. Aber mittlerweile ist er befördert worden und bei der Kriminalpolizei im Rathaus. Er hat es jetzt mit Fällen aus dem gesamten Stadtgebiet zu tun.“
„Ein Detective, alle Achtung.“ Als er sich zu ihr umdrehte, blitzten seine Augen, und zum ersten Mal an diesem Morgen erinnerte er sie wieder an den Brady, der ihr vertraut war. „Wie gut kennen Sie den Burschen denn?“
„Gut genug, um ihn für einen Freund zu halten.“
„Ein Detective ist ja schon was anderes als ein Constable“, sinnierte Brady. „Die klären doch auch Raubüberfälle und Morde und so was auf, oder?“
„Ja, aber Cook ist nur einer von acht oder zehn Kriminalpolizisten im Rathaus. Ich kann gern mit ihm über den Fall sprechen – darauf wollten Sie doch hinaus, oder? –, aber es kann sein, dass er auch nicht mehr darüber weiß als wir beide. Und wir sollten besser keine allzu großen Hoffnungen darauf setzen, dass er die Unschuld Ihrer Nichte beweisen kann.“
„Die beweise ich schon selbst. Aber dafür müsste ich eben genau wissen, was eigentlich passiert ist. Und irgendwas wird dieser Cook uns doch wohl sagen können, oder?“
Unter den gegebenen Umständen fiel es ihr zwar recht schwer, doch Brady zuliebe rang Nell sich ein zuversichtliches Lächeln ab. „Ich werde noch heute Abend zum Rathaus gehen und mit ihm sprechen.“
Er schien enttäuscht. „Warum erst heute Abend?“
„Weil ich mich um Gracie kümmern muss. Außerdem ist Detective Cook tagsüber ohnehin nicht im Büro. Seine Schicht geht von vier Uhr nachmittags bis Mitternacht.“ Sie tätschelte Bradys Hand. „Auf ein paar Stunden kommt es nicht an. Und versuchen Sie, bis dahin nicht allzu viel darüber nachzugrübeln.“
Seine Augen wurden wieder ganz feucht, als er ihre Hand drückte. „Sie sah ein bisschen so aus wie Sie. Vielleicht nicht ganz so hübsch, aber schon ziemlich hübsch. Auch so rotbraune Haare. Sie sind wirklich eine wunderbare junge Dame, Miss Sweeney, ein richtiger Engel. Und wenn Sie Fees Unschuld beweisen könnten, tun Sie wirklich ein gutes Werk.“
Wenn sie Fees Unschuld beweisen könnte. Wie würde Brady es wohl aufnehmen, dachte Nell besorgt, wenn sich herausstellte, dass Fiona Gannon nicht minder schuldig war, als der Daily Advertiser sie dargestellt hatte?