Kapitel 1
Romy
„Hast du es schon mitbekommen?“, höre ich die junge Frau ihre Freundin fragen. In dem Moment, in dem ich ihren Milchkaffee auf den Holztisch vor ihr stelle, verstummt sie und wirft mir statt einer weiteren Ausführung ein breites Lächeln zu. Ihrer Begleitung serviere ich eine Waffel, erhasche ein leises Dankeschön und wende mich dann ab. Gerade rechtzeitig, um meine kleine dreijährige Cousine dabei zu beobachten, wie sie in den Mann rennt, der eben drei Kugeln Kürbiseis bestellt hat. Mr. Brown, mein alter Chemielehrer, lässt vor Schreck das Eis auf den rot gefliesten Boden fallen, wo es mit einem dumpfen Klatschen aufkommt. Im nächsten Moment tritt meine Cousine genau in die Eispfütze, was sofort für lautstarkes Geschrei ihrerseits sorgt. Das Chaos ist perfekt.
„Antonia!“, schimpft meine Tante und kommt mit weit aufgerissenen Augen zu uns nach vorne. Sie ist gerade damit beschäftigt, eine neue Lieferung in unserem kleinen Lager zu verstauen. Ich bin mir sicher, dass sie sich in diesem Augenblick Vorwürfe macht, weil sie ihre Tochter für einen Moment unbeaufsichtigt gelassen hat. Mr. Brown starrt uns abwechselnd an. Antonia beginnt wegen des harschen Ausrufes ihrer Mutter zu weinen. Schlagartig wird es still im Eiscafé. Die Blicke der Gäste, die sich ein spätes Frühstück oder einen warmen Kaffee gönnen, landen auf Mr. Brown und machen ihn schnell zum Schuldigen, obwohl er rein gar nichts für Antonias Tränen kann. Innerlich wünsche ich ihm, dass er einen Moment länger in dieser unangenehmen Situation verharren muss. Bis zu seiner Rente war er einer dieser Lehrer, vor dem sich meine gesamte Klasse gefürchtet hatte. Jede Unterrichtsstunde hatte er sich ein neues Opfer ausgesucht, und es so lange mit unmöglich zu beantwortenden Fragen gelöchert, bis man kurz vor einem tränenreichen Nervenzusammenbruch war. Zwar hatte die ganze Klasse dadurch jeden Mittwoch wie wild Chemie gepaukt – was sicherlich der Hauptbeweggrund für seine schrecklich fiese Art war –, doch es ist noch heute Grund genug, dass ich Rachegelüste verspüre. Mr. Brown kann von Glück reden, dass diese Eisdiele kein Ort für Rache ist.
„Es tut mir wirklich leid. Meine Tochter ist ein Wirbelwind“, beteuert meine Tante. Mr. Brown nickt mechanisch und nimmt damit die Entschuldigung an. Zu einer deutlicheren Gefühlsregung ist er nicht fähig, was ich in unzähligen trockenen und langweiligen Schulstunden am eigenen Leib erfahren musste. Lehrer wie Mr. Brown waren es, die dafür gesorgt haben, dass ich nach meinem Abschluss erst einmal keine Lust mehr hatte, zu studieren. Viel lieber habe ich das Pauken an den Nagel gehängt und begonnen, in der Eisdiele zu arbeiten. Erst recht, als bei Tante Sue Multiple Sklerose diagnostiziert wurde, und es nicht klar war, wie viel sie zukünftig würde arbeiten können. Zu diesem Zeitpunkt konnte niemand von uns ahnen, dass die Krankheit Sue zum Glück bei Weitem nicht so sehr im Griff halten würde wie befürchtet.
Und wer weiß, vielleicht ringe ich mich irgendwann in den nächsten Jahren doch noch dazu durch, ein Studium zu beginnen. Aktuell bin ich jedoch zufrieden. Endlich wieder zufrieden! Nachdem zwischenzeitlich alles danach aussah, als würde ich nie mehr auch nur in die Nähe eines guten Gefühls kommen können.
Ich löse mich aus meiner Schockstarre. Rasch wische ich meine klebrigen Finger an der bunt gepunkteten Schürze ab, die ich mir locker um die Hüfte gebunden habe, und umrunde den Verkaufstresen. Nicht allerdings, ohne vorher einen kleinen Stapel der geblümten Servietten mitzunehmen, der gefährlich nahe an einer Ecke der Theke liegt. Meine Tante hat in jeder Pore dieses Ladens bewiesen, dass sie ein Händchen für Inneneinrichtung hat. Die Farben passen alle zusammen und sogar die bunte Herbstdekoration, die das Eiscafé seit einigen Tagen komplettiert, wirkt schick statt kitschig.
Das Sues ist ein wahrer Wohlfühlort. Genau wie unsere komplette Heimatstadt Melmoth Lakes. Alles, was für das Sues gilt, gilt auch für unser Städtchen. Liebevoll. Riesiger Zusammenhalt. Hin und wieder laut. Und manchmal ganz leise. Ich bereue es keine Sekunde, dass ich hiergeblieben bin. Denn hier gibt es alles, was ich brauche.
Ich reiche Mr. Brown den dünnen Stapel Servietten. Langsam blicke ich an ihm herunter und verkneife mir ein Lachen. Meine Stimme klingt so ernst wie selten im Leben: „Sie haben einen kleinen Fleck mit Kürbiseis auf dem Schuh, Mr. Brown.“ Wie in Trance sieht er an sich hinab. Die Haare an seinem Hinterkopf werden bereits weniger, und die Art, wie er immer wieder skeptische Blicke auf meine schreiende Cousine wirft, macht deutlich, dass er selbst keine Kinder hat. Oder dass er Kinder hasst, wie er es uns stets in der Schule hatte spüren lassen.
Meine Tante versucht weiterhin, Antonia zu beruhigen, und zieht sie trotz des Lärms erstaunlich sanft mit sich in die Küche, die sich im hinteren Teil des Eiscafés direkt neben dem Lager befindet. Nur das Personal – unsere Familie – hat Zutritt zu diesen vollgestellten Räumen. Ich gehe zurück hinter die Theke, schichte drei neue Kugeln Kürbiseis aufeinander und laufe dann im Slalom um die Eisspuren herum, die Antonia hinterlassen hat.
„Entschuldigen Sie“, sage ich und tausche seine benutzten Servietten gegen das frische Eis. „Aber Eis ist ja im Grunde nur Wasser, das den Aggregatszustand gewechselt hat“, verkünde ich mit fester Stimme. Für einen Augenblick blitzt Erkennen in seinen Augen auf. Ich schenke ihm ein Lächeln, das alles andere als ernst gemeint ist. Diese kleine Spitze habe ich mir nicht verkneifen können. Oder wollen. Obwohl ich mir auch nicht vorwerfen lassen will, unsere Kunden unprofessionell zu behandeln. Hier und da verhalte ich mich jünger, als es meine neunzehn Jahre voraussetzen. Aber ich lebe für meinen Job im Sues und liebe im Grunde meines Herzens jeden, der den Weg zu uns findet. Nun ja, jeden außer Mr. Brown.
Ohne ein weiteres Wort tippt er sich an die Stirn, als wolle er sich an einem Abschiedsgruß versuchen, und verlässt mit lauten Schritten das Eiscafé. Kurz blicke ich ihm hinterher und hoffe, dass er wegen dieses Vorfalls nicht über das Sues schimpft. Die Leute in Melmoth Lakes lieben Klatsch und Tratsch und beweisen bei jeder Gelegenheit, dass sie meisterhaft darin sind, die Gerüchteküche brodeln zu lassen.
Bei aller Sorge um unseren Ruf wird mir klar, dass nur wenige Schritte entfernt eine Kürbiseispfütze darauf wartet, weggewischt zu werden. „Nach diesem Zusammentreffen habe ich mir einen Kaffee verdient“, sichere ich mir selbst eine Belohnung zu.
Rasch durchquere ich die Eisdiele. Mit wenigen Handgriffen habe ich einen Lappen und einen kleinen Eimer mit Wasser befüllt aus dem Lager geholt. Die klebrigen Überreste des Eises sind rasch weggewischt. Meine Unsportlichkeit rächt sich in dieser gekrümmten Haltung jedoch besonders deutlich. Ein schmerzhafter Stich in meinem unteren Rücken erinnert mich daran, dass ich mal dringend ins Fitnessstudio gehen müsste. Zum Glück verdrängt mein Verstand diese Warnung schnell wieder und rasch kehre ich in die normale Betriebsamkeit zurück. Ich bringe einem jungen Pärchen die Rechnung für ihre beiden Eisbecher und nehme in der kommenden halben Stunde ein Dutzend weiterer Bestellungen an. Anfang Herbst wird die Nachfrage nach unseren Eisbechern zwar immer weniger, dafür backe ich wohlriechende Waffeln und dekoriere diese mit heißen Himbeeren. Das Sues hat nur fünfzehn Tische. Heute sind sie alle besetzt und ich komme einfach nicht dazu, meinen Belohnungskaffee zu trinken. Gerade räume ich die Spülmaschine aus, da spüre ich die Hand meiner Tante auf der Schulter. „Mach eine Pause, Romy.“
„Hat Antonia sich beruhigt? Soll ich erst nach ihr schauen?“, erkundige ich mich nach meiner Cousine. Sue schüttelt entschieden den Kopf. „Brauchst du nicht. Ich habe ihr ein Bilderbuch in die Hand gedrückt und gesagt, dass sie heute Abend noch etwas im Fernsehen schauen darf, wenn sie für einen Moment einfach sitzen bleibt und sich die bunten Seiten anschaut.“
„Wie gut, dass du keine Erziehungsratgeber schreibst“, necke ich meine Tante und ernte ein lautes Lachen. Tante Sue streicht sich eine ihrer blonden Strähnen aus dem Gesicht, von denen ich mir wünsche, ich hätte sie ebenfalls geerbt. Stattdessen wird meine Stirn von rotbraunen, unbändigen und äußerst lockigen Haaren umrahmt. Etwas, was mich vor dem Spiegel und beim Friseur schon zahlreiche Nerven gekostet hat. Mittlerweile habe ich akzeptiert, dass auch der obsessive Gebrauch eines Glätteisens niemals lange, glatte Haare zaubern wird.
Sue seufzt. „Wie kann es sein, dass Toni so ein Wirbelwind ist? Sowohl Ron als auch ich sind die Ruhe in Person.“
Innerlich stimme ich ihr zu. Meine Tante und mein Onkel führen das beschaulichste Leben, das ich kenne. In dem kleinen Fachwerkhaus, in dessen Anbau sich das Sues befindet, war es vor Antonias Geburt nie laut. Ich habe die meiste Zeit meiner Kindheit hier verbracht. Damals, als jede Tür in Melmoth Lakes für uns Kinder offen stand, sind meine Freunde und ich trotzdem meistens bei Sue und Ron gelandet. Es war der heimeligste Ort, den es gab. Zugegeben, man hatte uns schon damals gerne vorgeworfen, dass unsere vielen Besuche am Eis liegen würde, aber es war vor allen Dingen die Herzlichkeit, die jeder an Sue und Ron geliebt hatte. An der Behaglichkeit, die einen in ihrer Nähe umfängt, hat sich bis heute nichts geändert. Nur gibt es seit drei Jahren eben einen kleinen, tollpatschigen Wirbelwind, der hin und wieder alles durcheinanderbringt und dem Haus eine Magie einhaucht, die einzig Kinder zu erschaffen vermögen.
Damals bei meinen Eltern war es meistens laut. Sie konnten ganze Abende damit verbringen, über die verschiedensten Themen zu debattieren. Jedenfalls bis zu jener Nacht, in der plötzlich alles auf den Kopf gestellt worden war.
„Mach dir endlich deinen Kaffee und setz dich einen Moment hin“, unterbricht Sue mich. Innerlich bin ich ihr dankbar, dass sie mich davor bewahrt, meine Gedanken allzu weit kreisen zu lassen.
„Wieso bewirft Antonia unseren alten Chemielehrer mit Kürbiseis?“ Die Stimme gehört Hanna. Meiner besten und engsten Freundin, die in diesem Moment durch die Tür des Sues stolpert. Grinsend schaue ich sie an. Die Klatsch-und-Tratsch-Bühne hat also schon ihren Vorhang fallen lassen.
„Ist das die Wahrheit? Oder wurden Sie hier gerade auf Glatteis geführt?“, gebe ich mit verschwörerischem Unterton zurück.
„Wohl eher auf Kürbiseis“, erwidert Hanna und lacht. Ein langer Schal hängt lose um ihren Hals und ihr grauer Mantel schwingt um ihren Körper. Um ihre Schulter baumelt eine Jutetasche, die schwer und ausgebeult aussieht. Ich bin mir sicher, dass sich vor allem Bücher und Unterlagen für ihr Studium in dem Beutel befinden. Sie studiert Literaturwissenschaften an der Clemson University. Dafür pendelt sie pro Weg eine knappe Stunde, aber sie hat sich in all den Monaten noch nie beschwert. Obwohl sie jedes Buch der Welt bereits zu kennen scheint und alle ihre Literaturwissenschaftskurse mit Bravour meistert, verlässt sie niemals ohne diese Utensilien ihre Wohnung. Sie ist die Person, die im Bus nachfragt, welchen Roman der Sitznachbar gerade liest oder die ungefragt Empfehlungen gibt, wenn sie jemanden Klappentexte studieren sieht. Sie sucht bei jedem Ausflug immer zuerst den nächstgelegenen Buchladen auf und gibt dort eine Menge Geld aus. Kurzum: Hanna ist der geborene Bücherwurm.
„Machst du mir einen Cappuccino, Süße?“, bittet Hanna mich und lässt sich auf ihren Stammplatz fallen. Ich mache mich an der riesigen Maschine zu schaffen, bis dampfender Kaffee aus ihr herausquillt und in eine golden eingefärbte Emaille Tasse rinnt. Ich schnappe mir zwei Kekse, einen für mich und einen für meine beste Freundin und garniere damit die Untertassen, ehe ich sie auf dem Tisch vor Hanna abstelle. Die Sitzbank sieht schon knittrig aus von den vielen Menschen, die hier gesessen und ihre Eisbecher oder Kaffees genossen haben. Ich rutsche nah an Hanna heran und positioniere mich so, dass ich die restlichen Gäste des Sues im Blick habe. Zwar bedient meine Tante unsere Gäste während meiner kleinen Pause, aber ich beobachte schlichtweg zu gerne das Treiben um uns herum.
„Also noch mal: Wieso bewirft Antonia eure Kunden mit Kürbiseis?“, will Hanna stirnrunzelnd wissen. „Oder haben unsere Tratschtanten die Situation mal wieder etwas überspitzt dargestellt?“
Wissend lächle ich sie an. „Welche Tratschtanten meinst du genau?“
„Na die, die mit ihren Kinderwagen vor dem Sues stehen und jede Bewegung analysieren, die hier drinnen vonstattengeht.“
„Dann hätten sie etwas genauer hinsehen sollen. Es war ein Unfall. Antonia ist durch die Gegend gerannt und in Mr. Brown hineingerast.“
„So ähnlich habe ich es mir gedacht. Er wirkte etwas verstrahlt. Genau wie damals im Unterricht.“ Hanna lacht leise und nimmt einen Schluck Cappuccino. „Genau so stelle ich mir übrigens Edward Rochester vor.“
„Wen?“
„Edward Rochester. In meiner Vorstellung sieht er genau aus wie Mr. Brown.“
„Nie gehört.“
Hanna schnaubt laut. „Wie kann es sein, dass du meine beste Freundin bist? Wir haben –“
„Nichts gemeinsam?“, beende ich ihren Satz und lasse es wie eine Frage klingen. Hanna hält inne. Sie denkt demonstrativ eine Spur zu lange nach und erntet dafür einen Stoß mit meinem Ellenbogen in ihre Rippen.
„Wer ist Edward Rochester?“, lasse ich nicht locker. „Und meinst du das etwa als Kompliment?“
„Er wird beschrieben als Mann im mittleren Alter, mit schwarzen Haaren, einem strengen Gesicht und einer komischen Stirn. Kein besonders ansehnlicher Mann also, aber Jane Eyre scheint etwas an ihm zu finden. Komisch, wo sie doch nicht viel älter ist als wir. Ich werde es nie ganz verstehen.“
„Und ich werde dich nie ganz verstehen. Egal, wie sehr ich es auch versuche“, sage ich mit amüsierter Stimme und trinke endlich einen großen Schluck Kaffee. Das bittere Getränk weckt sofort neue Energie in mir. „Koffein ist die beste Erfindung der Welt.“
Eine Weile beobachten wir das Kommen und Gehen in der Eisdiele. Sue rückt Stühle, bedient die Kunden, benutzt blind die Kaffeemaschine und räumt geräuschlos Geschirr hin und her. Versonnen zähle ich die Leute, die Kürbiseis bestellen – es sind sieben; Mr. Brown, der wie Edward Rochester aussieht, nicht mitgezählt –, und versuche, mir die Anzahl zu merken. Die Idee mit dem ausgefallenen Eis zu jeder Saison ist auf meinem Mist gewachsen. Und was würde sich besser anbieten als eine leckere Kugel Kürbiseis zur frisch begonnenen Herbstsaison? Sue hat mir versprochen, dass ich ab sofort zu jeder Jahreszeit eine neue Sorte kreieren darf, wenn die Sache mit dem Kürbis läuft. Dafür, dass das Eis erst seit vorgestern in der Auslage liegt, finde ich die Statistik super.
Hanna legt plötzlich eine Hand auf meinen Unterarm und ich zucke zusammen, weil meine Gedanken erneut abgeschweift sind. Normalerweise ist es nicht meine Art, immer wieder in die Welt meiner Gedanken zu verschwinden, aber heute scheint irgendetwas in der Luft zu liegen. „Was ist los?“, möchte ich erschrocken wissen. Hanna hat ihre Augen aufgerissen wie jemand, der mir die wichtigste Neuigkeit der Woche erzählen muss. „Hast du gesehen, dass es einen Buchverkauf an der Schule gibt?“
„Wo? Auf der Lincoln High?“, vergewissere ich mich skeptisch. Die Schule, die Hanna und ich selbst besucht haben.
„Ja, ich hatte einen Flyer im Briefkasten“, antwortet Hanna.
„Meinst du nicht, dass du genug Bücher hast?“, frage ich zögerlich. Ich habe schnell gelernt, dass man Hanna niemals raten sollte, erst einmal all die Bücher zu lesen, die sie schon besitzt, ehe sie sich neue kauft. Mein Vorschlag ist in einem handfesten Streit gemündet – und wir haben uns in unserer jahrelangen Freundschaft weniger als ein Dutzend Mal überhaupt gestritten.
Hanna schüttelt den Kopf. „Nein, das meine ich nicht. Jeder kann seine aussortierten Bücher spenden und dann werden sie dort gesammelt und anschließend verkauft. Jeder, der mitmachen möchte, kann sich einen Dienst zuteilen lassen, entweder zur Früh- oder zur Spätschicht. Der Erlös geht an das Kinderheim. Ich glaube, es wird auch Kuchen und Kaffee verkauft, vielleicht will deine Tante ja auch mitmachen? Was meinst du, sollen wir mithelfen?“, fragt Hanna ungeduldig, die Hand nach wie vor auf meinem Arm abgelegt.
Ich habe Hunderte Erinnerungen an unsere Schulzeit auf der Lincoln High. Gute und schlechte. Mein erster Kuss mit Ted Olsson, der immer dachte, ihm würde eine große Basketballkarriere bevorstehen und der heute in einem Bekleidungsgeschäft arbeitet. Die Sportstunde, in der ich mir meinen Fußzeh gebrochen hatte. Unzählige Pausen, die ich gemeinsam mit Hanna auf den Treppenstufen vor den Wissenschaftsräumen verbracht hatte, in der Hoffnung, dass ihr Schwarm endlich vorbeiläuft und sie ihm ein schüchternes Lächeln zuwerfen kann. Beim Gedanken daran grinse ich. Vielleicht ist es wirklich an der Zeit, den Erinnerungen eine neue hinzuzufügen. „Wäre bestimmt cool, mal wieder dort zu sein“, murmle ich leise. Hanna quietscht freudig auf.
„Dann melde ich uns an. Wir können sicherlich ein Zweierteam bilden. Das wird super.“
Ich kenne keinen Menschen, der so schnell euphorisch werden kann wie sie. Vor allem bei Themen, die entfernt etwas mit dem Lesen zu tun haben.
„Wann ist denn dieser Buchverkauf?“, hake ich nach, als ich feststelle, dass Hanna meine Worte bereits als Zustimmung gewertet hat.
„Nächsten Sonntag.“
„In weniger als einer Woche schon?“
„Jap.“
„Na prima“, murre ich und ärgere mich über mein vorlautes Mundwerk. „Vielleicht sollte ich die Eckdaten das nächste Mal vorher klären.“
Hanna zuckt mit den Schultern. „Du kannst jetzt unmöglich noch ablehnen. Außerdem hast du selbst gesagt, dass es cool werden wird.“
„Das ist im Grunde genommen auch schon alles, was ich dazu gesagt habe, Hanna.“
Sie grinst mich breit an und isst den letzten Rest ihres Kekses, dann springt sie auf. „Verdammt, ich muss langsam los. Ich sollte heute dringend noch eine Hausarbeit fertigmachen.“
„Da werde ich dich nicht aufhalten“, sage ich und stehe auf, um sie zum Abschied zu umarmen. Ihr blonder Zopf wippt bei jeder Bewegung, die sie macht, um ihre Büchertasche so zu schultern, dass es nicht unbequem ist. Wir winken uns, wie es eine Tradition zwischen uns geworden ist, sobald unsere Wege sich trennen.
„Ach, und Romy?“, ruft Hanna, als sie schon fast durch die Tür der Eisdiele getreten ist. In der Hand hält sie ihre gestrickte Wollmütze mit Hahnentritt-Muster und ist im Begriff, diese auf den Kopf zu ziehen.
Fragend schaue ich sie an, gespannt auf die Worte, die so wichtig sind, dass sie sich noch einmal umdreht.
„Man kann nie genug Bücher besitzen.“
Ryan
Cole rast in seinen Rollerblades an mir vorbei. Für den Bruchteil einer Sekunde sieht es so aus, als würde er hinfallen. Doch er fängt sich wieder und lacht schallend, als er im nächsten Moment gegen den Zaun knallt, der das Grundstück umgibt.
„Jetzt komm schon, Ryan“, ruft mir mein kleiner Bruder zu und winkt theatralisch.
„Bitte nicht“, murmle ich so leise, dass nur ich es hören kann. Das Lachen meiner Mutter neben mir beweist allerdings, dass sie meine Worte genauso vernommen hat.
„Hast du Angst?“, ruft Cole. So laut, dass man es ganz sicher in der ganzen Stadt hört. Ich verdrehe die Augen.
„Große Brüder haben keine Angst“, gebe ich zurück und stoße mich vom Geländer unserer Veranda ab. Sofort rolle ich los, rudere mit den Armen und sehe in diesem Moment einen Stein, der direkt vor mir liegt. Und dem ich mit diesen verfluchten Rollerblades an den Füßen nun irgendwie ausweichen muss.
In der nächsten Sekunde höre ich, wie sowohl Cole als auch meine Mum schallend lachen. Direkt darauf folgt ein Schlag und ich lande mit dem Hintern auf dem feuchten Asphalt unserer Einfahrt.
„Nicht witzig“, sage ich und schaue genervt zwischen den beiden hin und her.
„Fährt ohne Probleme 250 Sachen auf der Rennstrecke, aber mit seinem Bruder Rollerblades zu fahren ist dem Jungen zu viel“, spottet in diesem Moment auch mein Dad, der hinter der Haube seines riesigen Chevrolets hervorschaut. Er grinst belustigt und klopft sich die Hände an seiner Arbeitskleidung ab. Meinem Dad gehört eine Dachdeckerfirma, die in dritter Generation in Familienbesitz ist. Er beschäftigt rund ein Dutzend Mitarbeiter, was mir persönlich zu viel Verantwortung wäre. Ich wusste schon immer, dass ich aller Wahrscheinlichkeit nach nicht in seine Fußstapfen treten würde. Mein Interesse ging bereits in jungen Jahren in eine ganz andere Richtung. Statt von ihm zu lernen, wie man Dächer baut, habe ich meine freie Zeit lieber auf der Kartbahn verbracht. Ich bin froh darüber, dass Dad mir die Entscheidung, einen anderen Weg einzuschlagen, niemals übel genommen hat. Deswegen sind meine nächsten Worte nicht ganz ernst gemeint, denn dafür liebe ich meine Familie viel zu sehr. „Fallt mir ruhig alle in den Rücken. Ich bin wie ein Elefant und merke mir alles. Eines Tages zahle ich es euch heim.“
„Nach einem Elefanten sah es eben in der Tat aus“, witzelt Mum und hält sich vor Lachen den Bauch.
Ich blicke in die Runde. In die Gesichter meine Familie. Es ist schön, sie alle um mich zu haben, auch wenn der Grund für meine Rückkehr in meine Heimatstadt alles andere als schön ist. Viel lieber wäre es mir, wenn ich nicht deswegen hier wäre. Nicht, um mich abzulenken von dem, was so tiefe Kerben in mein Vertrauen in mich selbst geritzt hat, weswegen ich verkrampft an etwas anderes zu denken versuche.
„Mum, was ist das eigentlich für ein Rauch, der da aus dem Küchenfenster kommt?“
Sofort reißt meine Mum ihre Augen auf. „Der Kuchen!“, schreit sie und rennt in der nächsten Sekunde zurück ins Haus, aus dessen Küchenfenster nicht der Hauch einer Rauchwolke dringt.
„Du sollst deine Mutter nicht auf den Arm nehmen“, sagt Dad, muss aber genauso über ihre Reaktion schmunzeln wie ich. Er lässt die Motorhaube zuschnappen und wischt sich die öligen Hände an seiner Hose ab. Das Tüfteln an Autos wurde ihm in die Wiege gelegt und nicht einmal bei seinem Firmenwagen kann er es lassen, am Motor herumzuwerkeln. Das Logo des Dachdeckerbetriebs nimmt die gesamte Fahrerseite ein, einzig die Telefonnummer ist vor lauter Staub nicht mehr zu erkennen.
„Wer hat denn hier wen auf den Arm genommen?“, gebe ich zurück und schnalle mir, immer noch auf dem Boden sitzend, umständlich die Rollerblades von den Füßen. Als meine geschundenen Füße endlich an der Luft sind, stöhne ich erleichtert auf. „Meine Güte, wie kann man sich so etwas freiwillig antun?“
„Ist doch cool“, ruft mein kleiner Bruder, der im letzten Jahr einen ziemlichen Wachstumsschub für seine elf Jahre gemacht hat, und rast an mir vorbei. Ich schüttle den Kopf, dann stehe ich mühsam auf und folge meiner Mum ins Haus.
Natürlich rieche ich keinen Rauch. Stattdessen duftet es himmlisch nach Zitronenkuchen. Ich stelle die Rollerblades im Flur neben die Treppe, die ins Obergeschoss führt, und schleiche auf leisen Sohlen in die Küche. Mum hebt gerade die Kuchenform aus dem Ofen und verstärkt damit den himmlisch süßen Geruch.
„Es duftet wie im Himmel“, lobe ich sie. Ich sehe ihr an, dass sie versucht, nicht zu grinsen und stattdessen böse dreinschauen will, aber es gelingt ihr nicht.
„Wenn du weiterhin so frech bist, wirst du niemals erfahren, wie der Himmel riecht“, neckt sie mich. Ich greife mir theatralisch an die Brust, als würde mein Herz bei ihren Worten schmerzen. „Als Strafe dafür, dass du deine alte Mutter so in Hektik versetzen musstest, darfst du Peter jetzt ein Stück Kuchen vorbeibringen.“
„Peter?“, frage ich. Es ist lange her, dass ich so viel Zeit bei meinen Eltern und Cole war. Die letzten Jahre hatte ich damit verbracht, zu trainieren und mich auf die nächste Saison vorzubereiten. Es blieb keine Zeit für ausschweifende Familienbesuche oder Abstecher in die Nachbarschaft meiner Kindheit.
„Peter Prince. Unser einziger Nachbar, Ryan. Du kennst ihn bestimmt noch von früher“, sagt Mum, als wäre das etwas, was ich wissen müsste. Dann scheint sie sich zu erinnern, dass meine einzige Nachbarschaft in den letzten Jahren die Formel-1-Rennstrecken dieser Welt gewesen sind und sie setzt zu einer Erklärung an. „Peter ist ganz alleine. Er lebt drüben in der alten Villa. Die, um die ich ihn schon seit Jahren beneide.“
„Da, wo wir früher immer Äpfel aus dem Vorgarten geklaut haben?“
Ich habe unser etwas abseits gelegenes Haus schon immer geliebt. Stundenlang konnten wir Verstecken spielen oder sind mit einem Ball bewaffnet durch die Felder gezogen. Meine Freunde und ich hatten jedes Jahr wieder den Sommer unseres Lebens, bis wir irgendwann alle von unseren Berufen oder einem Studium eingenommen wurden. Ich war der Erste von uns, der damals aus Melmoth Lakes weggezogen ist. Mit sechzehn, nicht einmal ansatzweise erwachsen, hatte ich endlich begonnen, meinen Traum zu leben. Den einzigen, den ich jemals hatte, nachdem mein Dad mich im zarten Alter von vier das erste Mal zu einer Kartbahn mitgenommen hatte. Seitdem wollte ich Rennfahrer werden. Am liebsten in der Formel 1, was meiner Mum viele schlaflose Nächte und meinen Dad viele lange Fahrten in die abgelegensten Ecken des Landes gekostet hatte. Später hatten sie mich nach Europa begleitet, hatten an jeder Rennstrecke gestanden und mich angefeuert. Ich habe erst als Testfahrer für eines der besten Teams fungiert und wurde schließlich zu einem der beiden Hauptfahrer. Ich erinnere mich noch heute daran, wie aufgeregt ich bei meinem ersten Rennen war. Daran, dass ich das Auto beinahe gegen die erstbeste Streckenbegrenzung gesteuert hätte. Kein Rennen ging je so schnell vorüber wie dieses. Ich habe es auf Platz vier beendet, was einem kleinen Wunder gleicht, wenn man bedenkt, dass ich das erste Mal offiziell im Cockpit saß. Die harte Arbeit und das Training hatten sich in diesem Moment ausgezahlt. Aus einem Kart wurden richtige Rennwagen, aus kleinen Medaillen wurden hohe Preisgelder und Pokale.
„Ihr dachtet nur, ihr hättet diese Äpfel geklaut“, reißt meine Mum mich aus meinen Gedanken. „Tatsächlich aber haben wir ihm dafür immer etwas von unserer Marmelade abgegeben.“
„Er wusste es die ganze Zeit?“
Mum lächelt breit. „Natürlich, wo denkst du hin?“
„Du zerstörst meine Kindheit. Ich dachte, ich wäre ein Rebell gewesen.“
„So schlimm kann deine Kindheit nicht gewesen sein“, sagt Mum und drückt mir einen Teller in die Hand, auf dem ein dampfendes Stück Kuchen liegt. „Bis du drüben bist, ist das Stück genug abgekühlt, dass er es direkt essen kann.“ Mum scheucht mich aus der Küche, indem sie erneut das Geschirrhandtuch durch die Luft wirbelt. „Sag liebe Grüße von uns allen.“
Kapitel 2
Romy
Dunkelheit hat sich über die Straßen gelegt, als ich die Tür der Eisdiele hinter mir zuziehe. Ich höre, wie Sue den Schlüssel im Schloss umdreht, dann höre ich sie gedämpft, wie sie etwas zu Antonia sagt. Die Taktik mit dem Bilderbuch hat nicht lange funktioniert, aber es hat auch keinen zweiten Kürbiseis-Unfall mehr gegeben. Stattdessen ist es beachtlich ruhig im Sues geblieben, sodass ich am Ende sogar eine Runde Karten mit den alten Damen gespielt und haushoch verloren habe. Was auch daran liegen könnte, dass die drei Frauen mich kontinuierlich abgelenkt haben, indem sie mir von der Affäre erzählt haben, die einer ihrer Enkel mit der Lehrerin seiner Tochter hat. Eine unangenehme Geschichte, die Mrs. Garcia so brühwarm und ernst erzählt hat, dass ich mich an meinem Wasser verschluckt habe. Ich liebe die Gespräche mit unserer Stammkundschaft und dass man nie den neusten Klatsch und Tratsch verpasst. Ich bin durch das Sues so vielen Menschen begegnet und habe über die Jahre zu schätzen gelernt, was es bedeutet, ein Teil dieser Gemeinschaft zu sein. Meine Heimat ist klein genug, um die meisten Gesichter zuordnen zu können. Man lebt hier nicht nebeneinander her, weiß aber auch nicht haargenau, welche Art von Blumen der Nachbar zwei Häuser weiter in seine Kübel gepflanzt hat. Es ist das unaufgeregte Miteinander, das ich so liebe. Wir haben unsere eigenen kleinen Feste und Traditionen in Melmoth Lakes und sind alle stolz darauf, Teil der Stadt zu sein. Und vor allem werden hier die Bordsteine nicht um vier Uhr am Nachmittag hochgeklappt, wie es in Kleinstädten manchmal der Fall ist.
Ich schlendere zu meinem Auto, das ich um die Ecke geparkt habe. Ich liebe den Herbst mit all seinen warmen Farben, aber dafür hasse ich es, im Dunkeln zu fahren. Und da dieser Teil des Jahres bekanntermaßen derjenige ist, in dem es immer früher dunkel wird, wird mir mein Weg nach Hause von nun an von Tag zu Tag unbehaglicher werden. Ich erinnere mich an die Erzählung von einem unserer Kunden. Angeblich hat es vor zwei Wochen einen Überfall gegeben. Zwar wurde nichts gestohlen und niemand verletzt, aber das ändert nichts daran, dass ich wenig Lust verspüre, ein ähnliches Erlebnis zu haben. Eigentlich bin ich kein ängstlicher Mensch, aber meine Gedanken schweifen automatisch zu diesem Thema. Ich versuche, mich von dem unguten Gefühl in meiner Magengegend abzulenken, indem ich darüber nachdenke, welchen Film ich mir heute Abend ansehen möchte. Die ersten herabgefallenen Blätter rascheln bei jedem meiner Schritte und meine braunen Stiefeletten hinterlassen eine Schneise im herbstlichen Boden.
Das Eiscafé liegt direkt in der Innenstadt von Melmoth Lakes. Ein Schuhgeschäft und ein Antiquariat befinden sich in der gleichen Gasse. Eine Seitenstraße weiter befindet sich ein kleines Lebensmittelgeschäft sowie ein Restaurant, bei dem man die besten Burger im ganzen Bundesstaat genießen kann.
Es mag nach wenig klingen, aber im Grunde ist das alles, was man zum Leben braucht. Ich liebe das beschauliche Städtchen mit seinen bunten Bewohnern. Man weiß, wer anzurufen ist, wenn man etwas braucht. Dank einer hervorragend funktionierenden Gerüchteküche wird man außerdem immer rechtzeitig vorgewarnt, wenn sich ein neues Drama anbahnt.
Ich schlüpfe auf den Fahrersitz meines Wagens und starte den Motor. Die Lüftung wirbelt mir die losen Strähnen meiner Haare durcheinander, die sich den Tag über mehr und mehr selbstständig gemacht haben. Mein Dad ist diesen alten Pick-up früher gefahren, doch nachdem das Schicksal uns mit voller Wucht getroffen hat, habe ich ihn zwangsläufig übernommen. Vielleicht wäre die Geschichte meiner Familie anders verlaufen, wenn Dad damals mit dem Pick-up gefahren wäre und nicht mit dem Kleinwagen meiner Mum. Hätte dieses große Auto vielleicht das Schlimmste verhindert? Oder wäre Dad dennoch so schwer verletzt worden? Ein weiterer Punkt, über den ich viel zu häufig grüble und der mir unruhige Nächte beschert. Das Auto ist zu groß, zu sperrig und eigentlich auch viel zu teuer im Unterhalt, aber ich bringe es nicht über mein Herz, es wegzugeben. Ich bin froh, dass die hiesige Werkstatt Chad gehört, der drei Stufen über mir in der Schule war und den ich schon jahrelang kenne.
Dafür, dass ich jeden Tag nur rund zehn Minuten zwischen meiner Wohnung und der Innenstadt pendele, ist ein Pick-up zu groß, da brauche ich mir nichts vormachen. Ich belüge mich hin und wieder gerne selbst und behaupte, dass ich damit viel besser die Einkäufe für die Eisdiele erledigen kann. Die Wahrheit ist, dass all das von verschiedenen Lieferanten übernommen wird. Ein Detail, das ich gerne ausklammere, um mich mit allen Mitteln an dem Gefährt festhalten zu können. Und damit an all den Erinnerungen.
Ich lenke den Wagen aus den engen Gassen unseres Städtchens heraus und gelange schon bald auf eine kurvige Landstraße, die die abgelegeneren Häuschen mit der Innenstadt verbindet. Ein paar alte Farmen stehen hier und es gibt sogar einen kleinen Reiterhof. Ansonsten sind vor allem massig Felder vorzufinden, auf denen momentan Kürbisse in allen Größen und in den verschiedensten Orangetönen wachsen. All das zieht an mir vorbei, während ich ein Lied von Linkin Park aus dem Radio mit summe, bis ein rotes Lämpchen an meinem Armaturenbrett mich mit einem Schlag verstummen lässt.
„O nein.“
Ich bremse um einiges stärker, als nötig gewesen wäre, und fahre rechts ran. „Bitte nicht jetzt, lieber Autogott! Es ist doch dunkel. Nur noch ein paar Meter, dann bin ich zu Hause.“ Ich stelle den Motor ab und versuche, ihn erneut zum Starten zu bringen. Es könnte sein, dass die rot leuchtende Lampe sich dadurch in Luft auflöst. Eine weitere Lüge, die ich mir selbst weismachen will. Schnell merke ich, was für eine ausgesprochen schlechte Idee das gewesen ist. Der Motor stottert ohrenbetäubend laut in der Stille um mich herum. Nur anspringen mag er nicht mehr.
„Verdammter Mist!“, fluche ich stürmisch und schlage auf das Lenkrad ein. Als würde mir das in irgendeiner Form weiterhelfen. „Nicht jetzt, nicht hier. Einfach nein.“
Soll ich Hanna anrufen? Meine buchverrückte Freundin, die das Autofahren noch weniger mag als ich? Geistesabwesend schüttle ich den Kopf und wähle stattdessen den Namen von Chad in der Kontaktliste des Handys. Es klingelt eine Ewigkeit. Dann meldet sich seine gehetzt klingende Stimme. „Romy?“, fragt er, als wäre es nicht offensichtlich.
„Bist du bereit, mein Retter in der Not zu sein?“, erwidere ich geknickt. Man hört mir deutlich an, wie sehr die Situation mich mitnimmt. Ich bin müde, mir ist kalt. Und eine ganz leise Angst zupft an meinem Gemüt.
„Was ist los?“
„Hast du einen Abschleppwagen?“
Chad seufzt. „Nicht mehr. Früher hatten wir einen, aber seitdem ich alleine bin, rentiert sich das nicht mehr. Ich komme auch so nur schwer mit den Aufträgen hinterher.“
Nach dem Tod seines Dads vor drei Jahren hat Chad dessen Werkstatt kurzerhand übernommen. Wie ich hat er Melmoth Lakes nie verlassen.
„Das hilft mir leider nicht“, stöhne ich verzweifelt. „Mein Auto ist liegen geblieben.“
„Mist. Kann dein Onkel dich nicht irgendwie abholen?“
„Keine Ahnung. Ich habe noch nicht mit ihm gesprochen. Ich weiß gar nicht, was ich tun soll.“
Am anderen Ende der Leitung ist es kurz still, dann höre ich es scheppern. „Ich habe keinen Abschleppwagen, aber ein Abschleppseil. Das müsste mit Rons Auto funktionieren. An meinem Wagen kann man kein Seil befestigen.“ Das Bild von Chads gelben Sportwagen taucht vor meinem inneren Auge auf.
„Dann rufe ich gleich Ron an.“ Meine Worte klingen wie eine Frage. Chad übergeht sie. Stattdessen fragt er: „Hast du schon ein Warndreieck aufgestellt?“
„Verdammt, nein. Ich möchte eigentlich nicht aussteigen.“ Ich spreche nicht an, dass ich insgeheim Angst davor habe, dass auch ich überfallen werden könnte.
„Glaub mir, noch weniger möchtest du, dass jemand dir ins Auto knallt.“ Chad setzt mit seinen Worten eine ganze Kette an Reaktionen in Gang. Die Erinnerung an das, was Mum und Dad passiert ist. Sofort wird mir heiß, im nächsten Augenblick fange ich zu frieren an. Ein dicker Kloß bildet sich in meinem Hals und macht es mir unmöglich, zu sprechen.
„Vielleicht sollte ich einfach noch einmal probieren, ob er nun anspringt“, versuche ich mich aus der Situation zu befreien. Ich drehe den Schlüssel abermals im Zündschloss, doch mit demselben Ergebnis. Die Scheinwerfer flackern kurz, der Motor stottert, dann gibt er auf. Ich lege den Kopf auf das Lenkrad und seufze. Ich fürchte, dass meiner Mum die Ohren klingeln in ihrem meilenweit entfernten Wohnzimmer, wenn ich erneut einen Fluch ausspreche. Abgesehen davon muss Chad es nicht mit anhören, wo er so lieb ist und mir helfen will. Mir wird nichts anderes übrig bleiben. Ich werde auf ihn und Ron warten und dann nach Hause laufen müssen. Durch die kühle Dunkelheit. Meine Lust hält sich durchaus in Grenzen, aber es kommt auch nicht infrage, die Nacht im Gästezimmer von Ron und Sue zu verbringen. Das ist etwas, was ich wirklich nur in Ausnahmefällen in Anspruch nehmen möchte.
„Stell das Warndreieck auf, Romy. Und versuche, Ron zu erreichen. Ich mache mich auf den Weg zu ihm. Wir sagen dir Bescheid, wenn wir losfahren.“
„Danke, Chad“, entgegne ich voller Inbrunst. Genau das meine ich, wenn ich vom Zusammenhalt in unserer Nachbarschaft spreche. Chad hat das Gespräch beendet und das monotone Geräusch einer toten Leitung dringt an mein Ohr. Mit wenigen Handgriffen wähle ich die Nummer meines Onkels und erkläre ihm in knappen Sätzen, was geschehen ist und wo genau ich mich befinde. Ich fühle mich fast ein wenig schuldig, als er ohne zu murren erklärt, dass er schon vom Sofa aufgestanden und auf dem Weg zur Garage ist. Jeden meiner Anläufe, mich zu entschuldigen, blockt er gnadenlos ab. Mit dem Versprechen, in einer Viertelstunde bei mir zu sein und alles andere mit Chad zu klären, legen wir auf.
Plötzlich klopft es ans Fenster zu meiner Linken. Aufgeschreckt fahre ich hoch und erstarre. Jetzt sterbe ich, denke ich in einem Anflug von Irrationalität. Ein verrückter Axtmörder oder ein Clown oder noch schlimmer: Ein axtschwingender Mörderclown versucht mich in seine Klauen zu kriegen, und ich werde nie wieder Kürbiseis verkaufen oder mit Hanna über Buchcharaktere sprechen oder am Buchverkauf auf der Lincoln High teilgenommen haben, schießt es mir durch den Kopf, als es erneut klopft. „Kann ich dir helfen? Bist du verletzt?“, fragt eine tiefe Stimme, die ich deutlich hören kann, obwohl es in meinen Ohren rauscht.
Herrje, Romy!, schimpfe ich mit mir selbst und beginne mich langsam aus meiner Schockstarre zu lösen. Ich sollte wirklich weniger Gruselstreifen ansehen. Aber gerade um Halloween herum gibt es praktisch nichts anderes auf Netflix zu finden. Und nach wie vor spukt mir die Erzählung über den Überfall im Kopf herum. Ob ich nun die Nächste bin?
„Ist alles in Ordnung?“, fragt mich die Stimme wieder. Eine männliche, tiefe und … vertrauenerweckende Stimme? Die absolut nicht nach einem Axtmörder klingt. Natürlich nicht. Ich wende meinen Blick zu der Stimme und atme erleichtert auf. Kein Clown. Und auch kein axtschwingender Mörder.
Genau genommen gefällt mir das, was ich dort sehe, sogar ziemlich gut. Der Kerl in Sportklamotten ist durchaus ansehnlich. Ein dunkler Dreitagebart bedeckt sein Gesicht, das so aussieht, als würde es häufig ein Lächeln tragen. Unter der Kapuze seines grauen Hoodies kringeln sich schwarze Locken.
„Wenn du mir eine Antwort geben könntest, wäre das vielleicht ein Anfang.“ Seine Stimme setzt in meinem bescheuerten Herz etwas in Gang, was es augenblicklich schneller schlagen lässt. Ob das nur an meiner Nervosität liegt? Immerhin ist diese Situation alles andere als normal.
Ich bemerke, wie ich ihn durch die Scheibe anstarre, und wende schnell meinen Blick ab.
„Peinlich“, murmle ich, ziehe die Handbremse an und bedeute dem Mann einen Schritt zur Seite zu gehen, damit ich aussteigen kann. Er tritt zur Seite, ich öffne die Tür und komme mit wackligen Beinen zum Stehen. Meine kurzzeitige Panik hat seine Spuren hinterlassen.
„Hi“, kommt es wenig einfallsreich aus meinem Mund. „Mein Auto hat schlappgemacht. Und ich sollte ein Warndreieck aufstellen.“
„Das mit dem Auto habe ich mir gedacht“, erwidert er und schmunzelt. Dabei beweist er, dass ich recht habe. Das Lächeln steht ihm ausgesprochen gut. An seinen Augen entstehen tiefe Lachfältchen, die sein Sympathielevel augenblicklich noch weiter in die Höhe schnellen lassen. „Hauptsache, dir ist nichts passiert.“
Macht er sich etwa Sorgen um mich? Ich kann nichts daran ändern, dass mich seine selbstlose Fürsorglichkeit mit Wärme durchflutet. „Ich habe schon meinen Onkel angerufen, damit er mich abholt. Aber das dauert noch einen Moment und kannst du glauben, dass ich keine Ahnung habe, wie ich dieses blöde Warndreieck aufstellen muss? Wo ist das überhaupt? Ich habe das in der Fahrschule gelernt, aber wer merkt sich all diese Details?“ Verzweifelt werfe ich die Arme in die Luft.
Ich merke nur am Rande, dass ich sinnloses Zeug rede, weil ich zu sehr damit beschäftigt bin, die Situation einzuordnen. Ein gut aussehender Mann, ein kaputtes Auto. Eine dunkle Landstraße und meine viel zu dünnen Klamotten, die überhaupt nicht für einen Marsch nach Hause gemacht sind. Alles in allem eine ungünstige Kombination. Ich bin mir sicher, dass Hanna schon mindestens fünf Thriller gelesen hat, die auf diese Weise beginnen. Meine Angst ist überzogen, immerhin sind wir hier in Melmoth Lakes. Trotzdem ist da eine leise Stimme in meinem Hinterkopf, die die Möglichkeit eines Überfalls in Dauerschleife thematisiert.
Ob es auch Liebesromane gibt, die auf diese Weise beginnen? Der Gedanke erscheint einfach so, ohne dass ich ihn ausbremsen kann.
„Das Dreieck ist bestimmt im Kofferraum. Wenn du ihn öffnest, schaue ich nach. Und du kannst auch die Motorhaube aufmachen. Ich werfe einen Blick rein. Manchmal ist so ein Problem schnell gefunden.“
Augenblicklich bin ich froh, dass ich mittlerweile genau weiß, an welchem Hebel ich ziehen muss, um die Motorhaube öffnen zu können. Ich benehme mich auch so schon peinlich genug, da muss ich nicht obendrein mit Unwissen glänzen.
„Du kennst dich mit Autos aus?“, frage ich und folge seinen Anweisungen. In mir keimt das Gefühl auf, dass ich irgendetwas sagen sollte, um unsere Begegnung nicht noch kurioser zu gestalten. Der Fremde wirft mir einen Blick zu, den ich nicht deuten kann und der so wirkt, als mache sich dieser Mann aus einem mir verborgenen Grund über meine Frage lustig. Ich beschließe, lieber den Mund zu halten. Vielleicht gehören in seiner Welt Autos und Männer unweigerlich zusammen.
Mit wenigen Handgriffen hat er mein Warndreieck gefunden, ist einige Meter die Landstraße entlang gejoggt und hat es aufgestellt. Dann kommt er zurück und wendet sich der geöffneten Motorhaube zu, während ich nur ein krächzendes „Danke“ verlauten lasse.
Er leuchtet mit der Taschenlampe seines Handys in den Motorraum. Es sieht so aus, als wisse er, wonach er schauen muss, während ich nutzlos daneben stehe und vom einen auf den anderen Fuß hüpfe, damit ich nicht zu frieren beginne.
„Scheint ein größeres Problem zu sein“, meint er schließlich. Meine Bewegungen scheinen ihn kaum zu interessieren, wenn er sie überhaupt wahrnimmt.
„Nicht gut“, sage ich entnervt und höre mit meiner Zappelei auf, weil er sich mir wieder zuwendet. „Also wirklich keine Chance, dass ich damit noch nach Hause komme?“
Er schüttelt entschieden den Kopf. „Heute nicht mehr, nein. Kommt dein Onkel dich abholen? Ich könnte jetzt einen unangebrachten Spruch darüber bringen, dass ich dich ansonsten abschleppe, aber das klingt mir eindeutig zu sehr nach Macho,“ ergänzt er mit einem Augenzwinkern.
„Einen Versuch ist es trotzdem wert“, kontere ich und grinse.
Moment. Habe ich das gerade ernsthaft gesagt?
In das Gesicht des Fremden mischt sich Belustigung. Über meine Worte oder vielleicht auch über den entrüsteten Blick, mit dem ich nun schnell in die Dunkelheit starre. Bloß nicht länger zu ihm sehen. Weil ich das Gefühl habe, irgendetwas tun zu müssen, ziehe ich erneut mein Handy aus der Hosentasche. Vielleicht hat Ron schon ein Statusupdate geschickt und teilt mir mit, dass er in wenigen Augenblicken da sein wird? Das Ergebnis meiner Handysichtung ist jedoch ernüchternd. Keine Nachricht. Kein Anruf. Nichts, was dafür sorgt, dass ich mich aus dieser Situation bald befreien kann.
Will ich das überhaupt?
Ich öffne den Chat mit Hanna. Sie kann mir nicht helfen, aber sie muss sich als meine beste Freundin wenigstens meine missliche Lage anhören.
Mein Auto ist liegen geblieben. Das ist die schlechte Nachricht. Ein gut aussehender Kerl hat mich gefunden. Das ist die weniger schlechte Information. Er kann mein Auto aber nicht reparieren. Freud und Leid liegen so nah beieinander!
„Wo wohnst du denn? Ist es weit von hier?“
Die Stimme des Fremden lässt mich von meinem Handy aufschauen.
„Kennedy Lane“, sage ich sofort. „Aber nicht, dass du jetzt anfängst, mich zu stalken.“
Er runzelt die Stirn. „Warum sollte ich das tun?“, fragt er mir ehrlicher Neugierde in der Stimme.
„Ich weiß es nicht. Ich kenne dich nicht. Ich bin froh, dass du kein Clown bist.“
„Kein … Clown?“, fragt er verwirrt.
Ich winke ab. „Eine blöde Angewohnheit, seitdem Hanna mir von diesem Buch von Stephen King erzählt hat.“
„Du hast gedacht, ich wäre Pennywise?“
„Du kennst das Buch?“
„Hab den Film gesehen“, gibt er zu.
„Ich bin beruhigt, dass du nicht rund 1000 Seiten über einen Clown gelesen hast, wenn ich ehrlich sein soll. Ich bin mir nicht sicher, ob man das tut, wenn man alle Sinne beisammen hat.
Er fängt an zu lachen. „Ich glaube, in diesem Buch geht es um mehr als nur um einen Clown.“ Wieder erscheinen diese Lachfältchen um seine Augen. Ich muss sie mir dringend einprägen, denke ich, dann klingelt mein Handy.
„Hi, Ron“, melde ich mich. Erleichterung durchströmt mich. Auch wenn der Fremde weder ein Clown noch unfreundlich ist, bin ich nicht unbedingt erpicht darauf, länger in der Dunkelheit zu stehen und zu warten, bis ich meine Füße vor Kälte nicht mehr spüre. Ron versichert mir, dass er in drei Minuten da ist, dann höre ich den Motor aufheulen. Anscheinend besteht sein Mittel der Wahl darin, jegliche Geschwindigkeitsbegrenzungen zu missachten, um mich aus meiner Lage zu befreien. Er legt auf und lässt mich erneut mit dem Nicht-Axtmörder allein.
„Mein Onkel ist gleich da. Danke für die Hilfe“, sage ich unbeholfen an den Fremden gewandt. Ich will ihn loswerden und gleichzeitig auch nicht. Eine seltsame Gefühlskombination, die sich da in mir zusammenbraut.
„Nicht dafür“, sagt er mit tiefer Stimme. Alles an ihm wirkt auf eine irritierende Art vertraut auf mich, obwohl ich ihn noch nie gesehen habe. Vermutlich kommt er nicht aus der Gegend.
„Soll ich noch warten? Jetzt, wo du nicht mehr denkst, ich würde nach deinem Leben trachten?“
Es ist an mir zu grinsen. Mein Innerstes will laut Ja schreien. „Nicht nötig.“
„Sicher?“, vergewissert er sich. Mein Herz klopft bei seiner besorgten Nachfrage kurz ein wenig unregelmäßiger als zuvor.
„Ganz sicher“, sage ich, obwohl es sich wie eine Lüge anfühlt. Nicht, weil ich Angst habe. Eher, weil ich den Eindruck habe, dass wir uns gut und gerne noch länger unterhalten könnten. „Es dauert nicht lange. Die Wege in Melmoth Lakes sind nie weit. Ich werde einfach nach Hause laufen. Das traust du mir ja wohl auch ohne Sportkleidung zu, oder?“
„Du wirkst einfach etwas … ach, egal.“
„Denkst du etwa, ich wäre ängstlich?“, frage ich mit gespielter Empörung.
„Auf die Idee wäre ich niemals gekommen!“, beteuert er. Wir lächeln uns für einen kurzen Moment an, der noch eine Ewigkeit andauern könnte, wenn es nach mir geht. Doch dann nickt der Fremde mir zu und der Moment ist vorbei. „Sorry, dass ich nicht helfen konnte“, entschuldigt er sich.
Ich will gerne etwas erwidern. Schlau klingen oder wenigstens charmant, doch da hat er sich längst umgedreht und joggt zurück in die Richtung, aus der er gekommen ist. Dabei wirft er einen kurzen Blick zurück.
Mein Blick bleibt eine Weile auf seinem Rücken haften, bis der Ton einer eingehenden Nachricht mich auf dem Konzept bringt.
Hanna: Ich hoffe, du warst vorsichtig!
Romy: Er kennt Pennywise. Ist das gut oder schlecht?
Hanna: Buch oder Film?
Romy: Film!
Hanna: Dann eher schlecht, aber besser als nichts.
Ryan
Sie hat mich nicht erkannt.
Der Badezimmerspiegel ist beschlagen und ich sehe nur meine Konturen. Fein perlt das Wasser an dem Glas herunter. Ich habe so heiß geduscht, dass Nebel im Zimmer steht. Es hat lange gedauert, bis meine durchgefrorenen Knochen wieder warm wurden und ich mich daran erinnert habe, dass ich auch noch Fußzehen besitze. Verdammt, es wurde schnell kalt! Und dunkel. Zugegeben: Es ist nicht die beste Idee gewesen, in diesem vermaledeiten Ort erst so spät abends joggen zu gehen. In Los Angeles ist es selten eisig. Eine weitere Sache, an die ich mich gewöhnen muss. Wie an so vieles. Es ist ungewohnt, wieder meine Familie um mich herum zu haben. Sich das Badezimmer und den Kühlschrank zu teilen, wo ich doch auf eine vermeintlich erwachsene Art und Weise überzeugt davon war, diese Zeiten hinter mir gelassen zu haben.
Mein Besuch bei unserem Nachbarn Peter hat länger gedauert als erwartet. Er hat darauf bestanden, das Stück Kuchen mit mir zu teilen – und mich beschleicht der Verdacht, dass Mum das gewusst und mir deswegen ein so großes Stück mitgegeben hat. Schon auf dem Weg zu Peters Haus sind die Kindheitserinnerungen nahezu greifbar auf mich eingestürmt und spätestens, als ich in seinem Wohnzimmer gesessen bin, habe ich mich wieder wie ein kleiner Junge gefühlt. Dass ich an meinem persönlichen Tag X aus Melmoth Lakes verschwunden bin, heißt nicht, dass ich hier keine gute Zeit hatte. Ich habe dieses Städtchen nie abgeschrieben, aber schlichtweg auch nicht mehr damit gerechnet, zurückzukommen.
Die Eindrücke des Tages haben mir stechende Kopfschmerzen bereitet, die auch die heiße Dusche nicht nehmen konnte. Seit einer Woche bin ich zurück. Eine Woche, in der vor allem mein kleiner Bruder Cole aufgeblüht ist und mir um das ein oder andere Mal ein schlechtes Gewissen verpasst hat. Es ist mir nicht bewusst, wie sehr er mich vermisst. Dabei hätte ich wissen müssen, dass es einem Elfjährigen nicht reicht, seinen Bruder nur hin und wieder auf einer Rennstrecke zu sehen. Ihn nur zu umarmen, wenn er in seinem Rennanzug steckt. Der Club der miesen Geschwister hat mich aufgenommen. Dabei habe ich doch nur meinen Traum gelebt. Jedenfalls bis vor Kurzem.
Jemand donnert mit der Faust an die Badezimmertür.
„Ryan? Du vergisst hoffentlich nicht, dass das hier das einzige Badezimmer im Haus ist?“
„Gut, dass du mich dran erinnerst, Dad“, rufe ich eine Spur zu laut. Ich hätte nichts dagegen gehabt, mich noch eine Weile mit meinen trüben Gedanken im Bad verbarrikadieren zu können. Und mit dem schlechtesten Gewissen der Welt, das vor einer guten Stunde neu dazugekommen ist. Der Grund dafür ist niemand geringeres als ein rothaariges Mädchen, das neben ihrem Pick-up mit Motorschaden gestanden hat. Und die ich wie den letzten Vollidioten habe stehen lassen. Wie habe ich allen Ernstes hinnehmen können, dass sie alleine nach Hause läuft? Ich hätte sie begleiten müssen. Doch statt ihr das Angebot zu machen, sie bis zu ihrer Wohnung zu geleiten, habe ich den Rückzug angetreten. Und das nur, weil sie in mir ein seltsames Gefühl der Verwirrung und der Faszination gleichermaßen ausgelöst hat.
Sie hat mich nicht erkannt, wiederholt sich mein Gedanke. Finde ich das gut oder schlecht? Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie wirklich keinen Schimmer gehabt hat, wer ich bin. Ich kann mittlerweile zwischen gespielter und echter Unwissenheit unterscheiden. Bei ihr war sie alles, aber nicht gespielt.
Aus meiner Kehle dringt ein entnervtes Stöhnen, das einzig und allein mir selbst gilt. Die Jahre in Los Angeles haben mich wohl zu einem Arschloch werden lassen. Vielleicht tut es meinem Ego gut, wieder auf den Boden der Tatsachen gedrückt zu werden. Es wäre nicht schlecht, wenn die Wucht des Aufpralls weniger heftig gewesen wäre, aber nötig scheine ich es zu haben.
„Ryan?“, ertönt ein weiterer auffordernder Ruf meines Dads. Er klingt schon um einiges genervter. Schnell rubbel ich mir die Haare trocken und schlüpfe in frische Klamotten. Den Hoodie und die Jogginghose stopfe ich in den Korb für die Schmutzwäsche und trete mit nackten Füßen in den Flur.
„Hast du versucht, eine Sauna in unserem Badezimmer zu eröffnen?“, fragt Dad mit Blick auf die warmen Nebelschwaden, die hinter mir auftauchen.
„Würde das Haus doch ziemlich aufwerten, meinst du nicht?“
„Du bist ein Spinner“, kommentiert Dad, schlägt mir freundschaftlich auf die Schulter und schließt sich im Bad ein. Lächelnd trete ich den Rückzug in mein altes Jugendzimmer an, das Mum und Dad in all den Jahren nie verändert haben. Selbst nach einer Woche zu Hause bin ich jedes Mal überrascht, wie all die Gefühle meines jugendlichen Ichs hier konserviert sind. Ich durchlebe den ersten Liebeskummer noch einmal, wenn ich auf den Schreibtisch blicke, an dem ich, statt Hausaufgaben zu machen, Liebesbriefe verfasst hatte. In einem kleinen Glas liegen Münzen, die ich sparen wollte, um eines Tages mit meinen Freunden in den Urlaub zu fliegen. Unser Traum war Europa. Wir wollten die Welt sehen, hübsche Mädchen kennenlernen, hatten geglaubt, dass wir uns das alles irgendwann würden leisten können. Die traurige Wahrheit ist, dass wir diesen Träumen nie nachgegangen sind. Mittlerweile weiß ich nicht einmal mehr, was meine besten Freunde von damals machen. Ob sie bis heute hiergeblieben sind? Haben sie schon geheiratet? Kinder? Mich durchzuckt ohne Vorwarnung ein Stich der Eifersucht. Zur Ablenkung lasse ich meinen Blick weiter durch den Raum schweifen.
Die Bettwäsche mit den Autos darauf ist der eindeutige Beweis dafür, dass ich schon früh wusste, dass das meine Welt ist. Sogar die Poster von bekannten Rennfahrern hängen unverändert an den Wänden. Sie sind das Einzige, was ich an diesem Raum nicht leiden kann. Früher waren sie die beste Motivationsquelle, doch heute verspotten sie mich. Kurzerhand hänge ich sie alle ab. Um sie wegzuschmeißen, bin ich dennoch nicht in der Lage. Stattdessen rolle ich sie zusammen und lege sie in meinen Bettkasten, bevor ich mich rücklings auf die Matratze fallen lasse. Das Quietschen erinnert mich einmal mehr daran, dass ich mittlerweile keine sechzehn mehr bin und von dem schlaksigen Jungen nichts übrig geblieben ist. Seitdem ich für meine Karriere von zu Hause weggegangen bin, hat sich so viel verändert. Ein Glück ist die Liebe, mit der mich meine Familie empfängt, unverändert geblieben. Es ist genau das, was ich im Moment brauche.
Der Wecker neben mir zeigt an, dass es erst halb acht ist, doch draußen sieht es viel eher nach Mitternacht aus. Durch das breite Fenster aus meinem Zimmer kann ich sehen, wie Blätter vom Wind davongetragen werden und in der Dunkelheit verschwinden. Nieselregen hat eingesetzt und hinterlässt kleine Punkte auf der Glasscheibe, die langsam von der Schwerkraft nach unten getragen werden. Von dem goldenen Herbsttag scheint nichts mehr übrig geblieben zu sein und ich bin heilfroh, meine Joggingrunde beendet zu haben.
Ich hätte es wissen müssen, dass es mir nicht lange gelingen würde, die Gedanken an das Mädchen zu verdrängen. Mit aller Wucht kehren sie nun, da ich in die Dunkelheit hinausschaue, zurück. Die Landstraße, auf der ihr Wagen liegen geblieben ist, ist keine Meile von unserem Haus entfernt. Ich bin auf dem Rückweg von meiner Laufrunde gewesen, als ich sie gesehen habe und noch einmal umgekehrt bin. Es ist meine Pflicht gewesen, wenigstens nach ihrem Wagen zu sehen, auch wenn mir schon klar gewesen ist, dass ich ihr vermutlich nicht helfen kann. Aber da ich mein Geld mit Autos verdiene …
Ich sehe sie genau vor mir. Ihre rotbraunen, störrischen Haare. Die Sommersprossen, die ihre Wangen zieren. Und die grünen Augen, die in dem wenigen Licht, das uns umgeben hat, beinahe golden wirkten. Ihr helles Lachen und die Art, wie sie auf meinen Witz reagiert hat, haben es mir mehr angetan, als ich zugeben möchte. Beim Rückweg sind meine Knie sicherlich nicht vor Anstrengung weich gewesen, sondern aus einem ganz anderen Grund.
Ich bin ein Idiot.
Wenigstens nach ihrem Namen hätte ich fragen können. Oder mir ihr Handy schnappen, um meine Telefonnummer einzuspeichern. Und auf alle Fälle hätte ich nachdrücklicher anbieten sollen, sie zu begleiten. Mein Dad würde wütend auf mich sein, wenn er erfährt, dass sein Sohn die gute Erziehung zu einem Gentleman innerhalb weniger Minuten in den Wind geschossen hat. Stöhnend reibe ich mir über das müde Gesicht. Meine Haare sind feucht vom Duschen, und hinterlassen einen Abdruck auf dem Kopfkissen. Ich kann nicht hier liegen und mich diesen wirren Gedanken hingeben. Ich fürchte, dass ich sonst bis zum Morgengrauen mürbe geworden bin. Wie so oft in letzter Zeit ist an Schlaf nicht zu denken, also stehe ich auf, ziehe mir ein paar dicke Socken an, die meine Mum vor Jahren einmal gestrickt hat, und gehe hinunter ins Wohnzimmer. Aller Wahrscheinlichkeit nach findet sich ein Bier im Kühlschrank und ein schlechter Film im Fernsehen. Dieses Programm ist mir lieber, als mich hier in Mitleid zu suhlen und an ein gewisses rothaariges Mädchen zu denken, für das ich – egal, wie ich es drehe und wende – in meinem Leben überhaupt keinen Platz habe.