Leseprobe Neuanfang in Angel's Cove

Kapitel 1

Samantha

»Du packst?« Um ein Haar wäre mir der heiße Kaffee im Becher übergeschwappt. Wie versteinert blieb ich im Türrahmen stehen. Ich fühlte mich, als ob mir jemand eine stählerne Faust in den Magen gerammt hätte, als ich Ethan im Schlafzimmer über eine offene Reisetasche gebeugt entdeckte.

Er drehte sich zu mir um, ein Ausdruck der Resignation im Gesicht und ein zusammengefaltetes Sweatshirt in der Hand. »Wie du siehst.«

Mir verschlug es die Sprache. Panisch versuchte ich, meine wild durcheinanderwirbelnden Gedanken zu sortieren. »Du triffst heimlich Vorbereitungen, dich aus dem Staub zu machen, während ich mir nichts ahnend in der Küche meinen Morgenkaffee hole?«

Ethan atmete tief ein. »Heimlich? Komm schon, Sam, tu nicht so erstaunt. Ich sagte dir doch, dass mich das hier tierisch nervt.«

»Ja, du bist genervt. Das hast du oft genug betont. Stell dir vor, ich bin ebenfalls mit den Nerven am Ende.« Mein Pulsschlag beschleunigte sich. Ich bemühte mich, das dumme Zittern meiner Kinnpartie zu unterdrücken.

»Dann wirst du verstehen, dass ich raus muss. Ich kriege keine Luft mehr.« Er wandte mir den Rücken zu, um ein weiteres Shirt zusammenzulegen.

»Aber –« Ich streckte einen Arm nach der Wand aus, als würde ich dort Halt suchen. »Warum, Ethan?«

»Warum, warum.« Er knurrte. »Ich brauch eine Auszeit. Versteh das doch.« Auf die ihm eigene sorgfältige Art legte er das Shirt in die Tasche. Hatte er dies hier etwa geplant?

Mir wurde heiß. Dann eiskalt. Meine Knie wurden weich, und ich stand wie gelähmt, konnte mich nicht rühren. »Wohin?«

»Zu meiner Schwester nach Baltimore. Hab mir ein paar Tage freigenommen«, erklärte er beiläufig.

Fassungslos starrte ich auf seinen Hinterkopf mit dem stylish geschnittenen Haar. Als Inhaber eines Fitnessstudios legte Ethan viel Wert auf eine gepflegte Erscheinung. »Können wir nicht noch einmal darüber reden?« Mein Herz klopfte wild und unregelmäßig. Sollte ich jetzt auch Ethan verlieren?

»Wir haben doch schon tausend Mal darüber gesprochen, Sam. Ich kann nicht mehr. Ich brauche einen Tapetenwechsel.« Er betonte die Worte der zwei letzten Sätze überdeutlich, als sei ich ein kleines Kind, das nichts begriff.

Eisige Kälte kroch mein Rückgrat hoch. »Und ich brauche dich, Ethan. Bitte geh nicht.« Ein Ruck ging durch meinen Körper. Ich stellte meinen Kaffee auf der schwarzen Ebenholzkommode ab, ging zu ihm und berührte seine Schulter. Es versetzte mir einen Stich, als er zusammenzuckte. Fast so, als würde er sich vor mir ekeln. Er streifte mich mit einem flüchtigen Blick. Seinen Bernsteinaugen fehlte das warme Funkeln, in das ich mich einst so unsterblich verliebt hatte.

»Es hat keinen Sinn, Sam.«

»Was hat keinen Sinn?« Ich wollte nicht wahrhaben, was Ethan versuchte, mir zu sagen. Eine Klaue der Angst streckte ihre hässlichen Krallen nach mir aus.

»Du machst mich fertig, Sam.«

Seine Worte trafen mich wie eine Ohrfeige. »Warum denn?«, flüsterte ich, obwohl ich es besser wusste.

Ethan sank auf die Bettkante und fuhr sich mit allen zehn Fingern durch sein erdbeerrotes Haar, das einige Nuancen heller als mein eigenes schimmerte. »Verdammt nochmal, Sam, das alles hier ist mir zu viel.« Er machte eine ausladende Handbewegung. »Deine Albträume und deine ständige Leichenbittermiene.«

Ich fühlte Verzweiflung aufsteigen. Wie so oft in der letzten Zeit. »Es war auch dein Kind, Ethan.« Meine Stimme drohte wegzukippen. Ich umschlang meinen Oberkörper, als könnte ich mich so vor den aufwallenden Emotionen schützen. Warum, verdammt nochmal, ging Ethan so gefühllos mit der ganzen Sache um? Fühlte er nicht den gleichen Schmerz wie ich? Diese Leere? Als es passiert war, hatte ich gar nicht mehr aufhören können zu weinen. Ethan war lediglich mit versteinerter Miene herumgelaufen und hatte so viel Zeit wie möglich in seinem verdammten Fitnessclub verbracht, wie er das immer machte, wenn ihm Dinge unangenehm waren.

»Herrgott, Sam. Es ist jetzt mehr als acht Wochen her. Irgendwann musst du auch mal über die Sache hinwegkommen.« Mit einem lauten Schnauben sprang er auf, um sich erneut seinem Gepäck zu widmen.

Ich starrte auf seinen breiten Rücken. »Sache nennst du das also?«

Er fuhr herum und funkelte mich an. »Siehst du? Genau das meine ich. Ständig drehst du mir das Wort im Mund herum. Es gibt nur noch dieses eine Thema.«

»Du weißt, wie sehr ich mir dieses Baby gewünscht habe«, fiel ich ihm ins Wort. Ich konnte nichts dagegen tun, dass mir Tränen in die Augen stiegen. Seit der Fehlgeburt war ich nah am Wasser gebaut.

Ethan musterte mich lange und hart. Er machte keinen Versuch, mich zu trösten. Dabei wünschte ich mir einfach nur, er würde mich in den Arm nehmen und mich halten. Meinen Schmerz verstehen. »Es hat eben nicht sein sollen«, sagte er schließlich.

Seine kühlen Worte schnitten mit scharfer Klinge in mein Herz. »Das war es jetzt also? Geben wir auf?«

Schulterzucken. Er wich meinem Blick aus. »Wir sollten eine Pause machen. Es wird mir echt zu viel. Unser Leben dreht sich nur noch um deinen Kinderwunsch.«

Um deinen, hatte er gesagt. Ich hatte schon länger das Gefühl, dass er nur noch halbherzig bei der Sache war.

»Liebst du mich nicht mehr?«

»Und du?«

Ich richtete meinen verschwommenen Blick auf das Fenster, hinter dem der stete Regen aus einem grauen Frühlingshimmel fiel. Ich hatte keine Antwort auf Ethans Frage. In der letzten Zeit hatte sich unser Alltag um das Thema Schwangerschaft gedreht. Da ich als Einzelkind Geschwister schmerzlich vermisst hatte, konnte ich mir nichts Schöneres vorstellen, als das Getrappel vieler kleiner Füße und Kinderlachen im Haus. Seit der Highschool sehnte ich mich danach, ein Baby im Arm zu halten. Eine Familie zu haben. Zwischen Ethan und mir hatte es im letzten Collegejahr gefunkt. Ein halbes Jahr später waren wir verheiratet gewesen. Als ich ihm gesagt hatte, dass ich es nicht erwarten könnte, eine Mom zu werden, hatte er mich stürmisch geküsst. Hey Babe, hatte er lachend gesagt, wenn es dich glücklich macht, machen wir ein Baby. Anfangs hatten wir unseren Spaß gehabt, aber das Ganze war schnell in einen Zwang ausgeartet. Es hatte einfach nicht klappen wollen. Wir zogen das gesamte Programm durch. Sex nach Plan, Tabletten, Hormonspritzen. Kein Wunder, dass Ethan irgendwann genervt war. Wir stritten viel. Irgendwie hatten wir uns im Lauf der Zeit über all dem verloren.

»Mach es uns nicht unnötig schwer. Ich brauche Abstand. Muss wieder zu mir finden. Und du auch«, sagte Ethan.

Mein Kopf wusste, dass er recht hatte. Aber in meinem Magen krampfte sich ein unverdauliches Knäuel zusammen. »Lass mich nicht allein, Ethan.« Nicht mit den schrecklichen Erinnerungen.

Ethan streckte flüchtig eine Hand nach meiner Schulter aus. Durch den dünnen Stoff meines Schlafshirts fühlten sich seine Finger genauso eisig an wie der Ring, der mein Herz umschloss. »Ich werde jetzt fahren, Samantha. Finde dich damit ab.« Das klang so endgültig, so hoffnungslos.

»Wann wirst du wiederkommen?«

»Ich weiß es nicht.« Er senkte den Blick, doch ich hatte das Flackern in seinen Augen registriert.

Ich musterte seine attraktiven, entschlossenen Züge. Das markante Kinn, und den Mund mit den breiten Lippen, die sich zu einem harten Strich gewandelt hatten. »Du hast keinen Plan?«

»Herrgott, Sam. Muss ich dir über jeden meiner Schritte Rechenschaft ablegen?«

»Wir sind verheiratet.«

Er füllte seine Lungen mit Luft und stieß sie mit einem Zischen wieder aus. »Ist wohl so.«

»Was soll das bitteschön heißen?«

»Wir brauchen beide eine Auszeit.«

»Ich brauche keine Auszeit. Ich brauche dich.« Ein spitzer Schmerz, wie von einem Dolch, fuhr durch meine Mitte.

Er richtete seinen harten Blick auf mich. »Ich habe keine Kraft mehr, Sam.«

Hilflos sah ich zu, wie er die restlichen Wäschestücke in der Tasche verstaute und anschließend den Reißverschluss schloss. Verdammt, Ethan, du Feigling. Wenn es kompliziert wird, haust du ab? Wie hatten wir so schön vor dem Altar geschworen? In guten, wie auch in schlechten Zeiten. Das hier waren definitiv die schlechten Zeiten. Ich ballte meine Hände zu Fäusten. »Du hast kein schlechtes Gewissen? Nicht ein kleines bisschen?« Ein Nerv an meiner Schläfe zuckte.

Ethan ließ sich nicht provozieren. Schwungvoll nahm er die Tasche auf und schob sich, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, an mir vorbei. Mit hämmerndem Herzen folgte ich ihm in den Flur, wo er sich die Autoschlüssel und seine Jeansjacke schnappte.

»Ethan –«

»Pass auf dich auf.«

Ich weiß nicht, was mich wütender machte. Die Tatsache, dass Ethan so gleichgültig schien. Oder die Erkenntnis, dass es das Alleinsein war, vor dem ich mich fürchtete. Allein zu sein mit meiner Trauer und den Erinnerungen. Ethan sollte den Schmerz mit mir teilen, verdammt nochmal, und sich nicht einfach davonstehlen.

Ein kühler Windstoß trug einen Schwall Regen herein, als Ethan die Tür öffnete. Typisch Frühling in Chicago. Schaudernd verschränkte ich die Arme vor der Brust. Obwohl ich in meinem kurzen Shirt erbärmlich fror, blieb ich stehen und sah meinem Ehemann nach. Das Garagentor rollte lautlos nach einem Knopfdruck auf die Fernbedienung hoch. Ich stand noch immer da, als Ethan seinen Wagen, einen dunkelblauen Mercedes-Geländewagen, aus der Einfahrt manövrierte. Auch dann noch, als sich der rote Schein seiner Rücklichter nach und nach im herabströmenden Regen verlor. Keine Ahnung, wie lange ich so dastand und einfach nur auf den vor Nässe glitzernden Asphalt starrte. Erst als Berta von nebenan mit einem Plastiksack über der Schulter zur Mülltonne schlurfte und einen neugierigen Blick in meine Richtung warf, erwachte ich aus meiner Starre. Bevor meine Nachbarin irgendwelche unbequemen Fragen stellen konnte, wirbelte ich herum. Nachdem ich die Tür hinter mir geschlossen hatte, lehnte ich mich mit dem Rücken gegen das Holz und sank in die Knie. Ich schlug die Hände vors Gesicht und weinte.

 

 

In den folgenden Tagen schlich ich wie ein Zombie durchs Haus. Ich wusste nichts mit mir anzufangen. Die Stille bedrückte mich. Ich konnte mich auf nichts konzentrieren, nicht arbeiten. Nicht einmal spazieren gehen mochte ich. Ein Frühlingssturm fegte über Chicago hinweg und es schüttete Tag und Nacht. Tagsüber lungerte ich auf der Couch in Jogginghose und einem T-Shirt und zappte mich durch die Fernsehkanäle. Nachts lag ich zusammengerollt in unserem Ehebett und grübelte. Hätte ich vielleicht irgendetwas tun können, um dieses Baby zu retten? Gegen Anfang der zwölften Woche hatte das kleine Herz aufgehört zu schlagen. Meine Gynäkologin hatte uns lapidar erklärt, dass dies im ersten Schwangerschaftsdrittel häufig geschah, oft ohne erkennbaren Grund. Ich konnte keinen Trost darin finden. Ich hatte mir dieses Kind so gewünscht. Kaum hatte ich mich an den Gedanken gewöhnt, dass ich schwanger war, hatte ich auch schon Abschied nehmen müssen. Ich konnte diesen Abschied nicht einfach als schicksalsgegeben hinnehmen, wie Ethan es offensichtlich tat. Aus tiefster Seele seufzend stellte ich Teewasser auf. Seitdem Ethan gegangen war, hatte ich Unmengen Kräutertee in mich hineingeschüttet. Ich trank keinen Kaffee mehr, hatte mir eine Zwangspause verordnet. Zu viel Koffein. Ich war ohnehin schon ein nervöses Wrack. Was war nur mit Ethan und mir geschehen? Das traurige Ereignis hatte uns nicht enger zusammengeschweißt, sondern voneinander entfernt. Vielleicht hatte ich ihn auch viel zu sehr mit dieser Babysache gedrängt. Schließlich waren wir erst seit zwei Jahren verheiratet. Vielleicht, vielleicht. Ich würde keine Antwort erhalten. Ethan war abgehauen und hatte mich allein gelassen. Seit er gegangen war, hatte ich nichts von ihm gehört. Kein Anruf, keine Nachricht. Mein Smartphone blieb stumm. Und mein Stolz verbot es mir, ihn anzurufen.

Der Teekessel pfiff. Ich nahm ihn von der Herdplatte und übergoss den Teebeutel mit heißem Wasser. Anschließend nahm ich die Tasse mit den aufgemalten Elchen, die Mom mir vor Jahren zu Weihnachten geschenkt hatte, mit ins Wohnzimmer. Mit untergeschlagenen Beinen kroch ich auf den geblümten Ohrensessel gegenüber dem Fenster. All meine Träume waren zu Staub zerfallen. So viel hatten wir investiert. Zeit. Gefühle. Hoffnungen. Ethan hatte eine unbequeme Wahrheit ausgesprochen, eine Wahrheit, die ich bislang verdrängt hatte. Warum ließ Ethan mich allein? Jetzt, wo ich ihn am dringendsten brauchte?

Erst als ich das Salz meiner Tränen auf den Lippen schmeckte, merkte ich, dass ich schon wieder weinte. Was sollte ich jetzt machen, allein in dem großen leeren Haus? Wir hatten es vor sieben Monaten gekauft. Es besaß einen herrlichen Garten mit einem leuchtend grünen Rasen, dick wie ein Teppich. Dort drüben wird mal eine Schaukel stehen, hatte ich zu Ethan gesagt und auf die Stelle neben dem alten, hohen Nussbaum gedeutet. Verstrickt in diese Erinnerung hob ich die Tasse an den Mund, aber das Bild ließ meine Hände so zittern, dass der Tee überschwappte und ich mich prompt verbrühte. So ein Mist. Ich schniefte. Schluss mit den Tränen, Sam, sagte ich mir. Ich hatte genug geweint. Vielleicht sollte ich es wie Ethan halten und ebenfalls wegfahren? Weg von all dem hier. Von allem, was mich an das Baby erinnerte. Melissa Walker fiel mir spontan ein, meine Collegefreundin. Sie arbeitete als Hebamme in einem kleinen Nest an der Küste von Maine. Wir hatten den Kontakt verloren, als ich mit Ethan nach Chicago gezogen war. Melissa hatte versucht, mich davon zu überzeugen, dass ich einen Fehler machte und Ethan nicht der Richtige für mich sei. Trotzkopf, der ich war, hatte ich ihr diese Ansicht übel genommen. An unseren dummen Streit dachte ich noch immer mit Bauchgrummeln zurück. Mich beschlich das schlechte Gewissen. Bis heute hatte ich es nicht fertiggebracht, den Hörer in die Hand zu nehmen, um mich bei ihr zu melden. Dabei war Melissa so ein fröhlicher, warmherziger Mensch. Wir hatten uns immer gut verstanden. Womöglich hatte sie mir längst verziehen? Es gab nur einen Weg, dies herauszufinden. Auf einmal überkam mich wahnsinnige Sehnsucht, meine Freundin wiederzusehen. Vielleicht wäre es tatsächlich eine gute Idee, Chicago eine Zeit lang den Rücken zu kehren. Ich war unabhängig und frei, ich konnte tun und lassen, was ich wollte. Dank Ethans einträglichem Job konnte ich es mir leisten, von zu Hause aus zu arbeiten. Ich entwarf Werbeprospekte, Broschüren oder Flyer für Firmen am PC, und konnte mir meine Arbeitszeit frei einteilen. Was hielt mich also davon ab, mir meinen Laptop zu schnappen und nach Maine zu fahren? Mom, die in einem Pflegeheim in Downtown lebte, würde mich nicht vermissen. Sie würde nicht einmal merken, dass ich die Stadt verlassen hätte. Die wenigen Freunde, die ich in Chicago gefunden hatte, seit wir von Boston hergezogen waren, waren eher Ethans als meine. Es gab niemanden hier in der Stadt, an dem mein Herz wirklich hing. Beflügelt von der Idee, ans Meer zu fahren, schob ich meine Teetasse auf das Tischchen neben mir und sprang auf, um mir mein Smartphone vom Küchentresen zu schnappen.

Kapitel 2

Cole

Während ich darauf wartete, dass der Kaffee durchlief, strich ich mir mit den Fingern geistesabwesend durch die vom Duschen feuchten Haare und ging im Kopf noch einmal die Checkliste für den Flug durch. Mein Gedankenstrom stoppte abrupt, als ich hörte, wie jemand die Haustür mit dem Türklopfer bearbeitete. Wer zum Henker war das? Hatte ich irgendeinen Termin verpasst? Ich riskierte einen Blick zur Wand, wo die Küchenuhr neben der Spüle tickte. Zum Henker, ich war nicht auf Besuch eingestellt. Heute Abend würde ich nach New York fliegen, um mein neuestes Bauprojekt zu betreuen, und hatte noch gefühlte tausend Dinge zu erledigen. Ein unwilliges Grunzen ausstoßend schob ich meinen Stuhl zurück und tappte barfuß in den Flur.

»Cole? Cole, bist du da?« Eine weibliche Stimme. Eine mir ziemlich bekannte weibliche Stimme.

Unwillkürlich huschte ein breites Grinsen über mein Gesicht. Abgesehen von Mom war meine Schwester Melissa die einzige Frau, deren unangemeldetes Erscheinen Freude bei mir auslöste. »Mel, Schwesterherz. Wie schön, dich zu sehen«, begrüßte ich sie, nachdem ich die Tür schwungvoll aufgerissen hatte. »Was führt dich zu dieser frühen Stunde zu mir?« Spielerisch zog ich an ihrem geflochtenen Zopf, der unter der unvermeidlichen Strickbeanie hervorblitzte. Melissa bestritt ihren Lebensunterhalt als Hebamme in Angel’s Cove und befand sich eigentlich immer im Einsatz. Deshalb trug sie ihr langes dunkles Haar gern zurückgebunden, damit es sie nicht bei der Arbeit behinderte. Sie erwiderte mein Grinsen.

»Willst du mich nicht reinlassen?«

Ich trat beiseite, damit sie an mir vorbei in den großzügigen Vorraum schlüpfen konnte, wo sie sich von ihren Sneakers befreite. »Käffchen?«

»Liebend gern.« Sie pfefferte ihre hüftlange Strickjacke über die Lehne des wuchtigen Ohrensessels und folgte mir in die Küche.

»Oder Brandy?« Ich warf ihr einen Blick über die Schulter zu.

»Machst du Scherze, ich bin im Dienst.«

Ich grinste. »Wollte nur mal fragen. Mach’s dir bequem, Schwesterherz.« Ich machte eine einladende Geste Richtung Küchentisch. »Kaffee kommt sofort.«

Mit einem unüberhörbaren Seufzen ließ sich Mel auf einen Stuhl sinken und streckte ihre in froschgrüne Sneakersocken eingepackten Füße aus.

Wenig später hielt ich ihr einen Becher mit dampfend heißem Kaffee entgegen. Schwarz, ohne Zucker. So, wie wir beide ihn liebten. »Mel? Erde an Mel. Ist jemand zu Hause?«

Mel hob den Blick und starrte mich mit ihren veilchenblauen Augen an, die sich, wie ich nur allzu gut wusste, bei Ärger violett verdunkelten. Mel und ich hatten beide das nachtschwarze Haar unseres irischen Vaters geerbt und die blauen Augen unserer Mutter. Fremde bemerkten stets auf den ersten Blick, dass wir Geschwister waren. Hin und wieder fragte man uns sogar, ob wir Zwillinge seien, was Mel ärgerte, immerhin war sie fast vier Jahre jünger als ich.

»Dein Kaffee«, erinnerte ich sie, weil sie meilenweit entfernt schien.

»Ach so, ja. Danke.« Sie nahm mir die Tasse ab. »Ich war gerade in Gedanken.«

»Wäre mir niemals aufgefallen.« Um meine Lippen zuckte ein erneutes Grinsen, während ich mich ihr gegenüber am Tisch niederließ.

Sie bedachte mich mit einem vielsagenden Blick. Wir kamen gut miteinander klar. Meistens jedenfalls. Vor allem genossen wir das heitere Geplänkel, das unsere freundschaftliche Beziehung ausmachte. Irgendwie hatte ich in diesem Augenblick allerdings das Gefühl, als läge Mel etwas auf dem Herzen. Ich täuschte mich nicht. »Hör zu, Cole. Ich möchte dich etwas fragen.«

»Schieß los!« Mit meinem Lieblingskaffeebecher, einem überdimensionalen Teil, den ich vor Jahren in einer Bude auf dem Angel’s Cove Handwerkermarkt erstanden hatte, lehnte ich mich zurück. »Ich bin ganz Ohr.«

Melissa legte die schlanken Finger um ihre Tasse. »Du wirst die nächsten Wochen in New York verbringen, richtig?«

»So ist es geplant. Wenn Caldwell mir keine Steine in den Weg legt.« Caldwell war der Bauleiter des geplanten Millionenprojekts und ein schrecklich launischer Mann, mit dem ich Probleme erwartete. Ich beäugte meine Schwester argwöhnisch. »Machst du dir Sorgen, dass du es so lange nicht ohne mich aushältst?«

»Quatschkopf«, kommentierte sie gutmütig.

»Warum fragst du?«

»Da ist diese Frau«, setzte Melissa an.

Nichts Gutes ahnend, lehnte ich mich vor, um meinen Becher auf den Tisch zu schieben.

»Sie hat erst kürzlich ihr ungeborenes Kind verloren –«, fuhr Melissa fort.

»Stopp.« Ich hob eine Hand. »Ich liebe dich von Herzen, Mel, aber bitte verschon mich mit deinen Hebammengeschichten. Es ist noch nicht einmal neun Uhr morgens, und ich hab noch nichts intus außer Unmengen von diesem Gebräu. Also bitte – keine näheren Ausführungen über hormonell bedingte Frauenprobleme.« Ich zog eine Grimasse.

Mel konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Darum geht es nicht. Eine alte Freundin sucht einen Unterschlupf, nur für ein paar Tage. Sie braucht einen Tapetenwechsel, und da meine Single-Wohnung über der Hebammenpraxis zwar kuschelig aber viel zu klein ist, und du ja deine Zelte in der nächsten Zeit woanders aufschlägst, dachte ich …« Sie brach ab und bedachte mich mit diesem speziellen Welpenblick, dem ich schon früher, als wir Kinder waren, nur schwer hatte widerstehen können.

»Da dachtest du, deine Bekannte könnte das gemütliche Heim deines heiß geliebten Bruders übernehmen«, vervollständigte ich ihren Satz.

»Ähm ja. So in etwa.« Mels Wangen färbten sich zartrosa, als sie intensiv das Muster des schwarz-weiß gefliesten Küchenbodens unter ihren Füßen studierte.

»Ich kenn die Frau doch gar nicht. Soll ich eine Wildfremde in mein Haus lassen?«

Mel hob den Blick. »Sam – Samantha ist echt nett, Cole. Wir kennen uns vom College. Du musst dich doch an ihren Namen erinnern, oder?«

»Nope.« Ich schüttelte den Kopf, musste mir allerdings eingestehen, dass ich meist nicht hingehört hatte, wenn Mel damals mit ihren Collegegeschichten aufwartete. Bis über beide Ohren verliebt, hatte ich mich zu jener Zeit nur für eine Frau interessiert. Dumm gelaufen, Cole Walker. Vehement schob ich Amys aufblitzendes Bild beiseite.

Melissa seufzte leise. »Samantha macht eine schwere Zeit durch, Cole. Sie ist verzweifelt, und ihr Mann – egal, jedenfalls würde sie gern ein paar Tage nach Angel’s Cove kommen, und sich eine frische Brise um die Nase wehen lassen.«

»Samantha? Ungewöhnlicher Name.« Nachdenklich nippte ich an meinem Kaffee. Ich sollte mir bald ein paar Eier in die Pfanne hauen oder ein Bagel toasten, so langsam verlangte mein Magen nach etwas Nahrhafterem als Kaffee. Ein lautstarkes Knurren untermauerte meinen Vorsatz.

»Sam ist ungewöhnlich.« Offensichtlich interessierte sich Mel nicht für die Belange meines Magens. »Eine bezaubernde Frau«, schwärmte sie unbeeindruckt. »Total hübsch mit kupferfarbenem Haar und tausend Sommersprossen. Und sie lacht gern, also normalerweise …«

»Mel, du musst mir keine Frau anpreisen. Erstens hab ich kein Interesse an deiner verheirateten Collegefreundin. Und zweitens bin ich sowieso nicht da. Sie kann also aussehen, wie sie möchte.«

»Ich will sie dir ja gar nicht anpreisen, Bruderherz. Aber würdest du vielleicht mal darüber nachdenken, ob Sam hier wohnen kann, solange du in New York bist?«

Wieder fuhr ich mir mit den Fingern durchs Haar, eine Angewohnheit, die ich unbedingt mal ablegen sollte. »Ich find es süß, dass du deiner Freundin helfen möchtest, Mel, aber du weißt, wie ich an meinem Haus, an all dem hier –«, ich machte eine ausschweifende Geste mit der Hand, »hänge. Die Dinge, die ich im Lauf der Jahre gesammelt habe, sind mir lieb und teuer.« Ich räusperte mich. »Nimm es mir nicht übel, aber ich hab kein gutes Gefühl dabei.« Die Vorstellung, eine fremde Frau könnte sich hier einnisten, gefiel mir nicht. Mom und meine Schwester waren die einzigen weiblichen Wesen, denen ich Zutritt über meine Türschwelle gewährte. Seit der unseligen Geschichte mit Amy schützte ich mein Privatleben wie der Secret Service das Weiße Haus. Manche mochten diesen Tick für übertrieben halten, mir vermittelte dies ein Gefühl der Sicherheit und Genugtuung.

»War einen Versuch wert.« Melissa trank ihren Kaffee aus und schüttelte sich. »Verdammt, ich lerne es wohl nie. Dieses tiefschwarze Gesöff, das du mit Vorliebe braust, kann man kaum als Getränk bezeichnen, Cole. Dieser Kaffee ist mit Sicherheit in der Lage, Tote zum Leben zu erwecken.« Sie bedachte mich mit einem frechen Grinsen, das ich geistesabwesend registrierte.

Samantha macht eine schwere Zeit durch, Cole. Sie ist verzweifelt …

Unvermittelt musste ich an Mels Worte von vorhin denken. Vor gar nicht allzu langer Zeit war ich ebenfalls durch die Hölle gegangen. Ich konnte mich noch sehr gut daran erinnern.

Mel schob ihre Tasse auf den Tisch und sprang auf. »Okay, Bruderherz, ich mach mich dann mal vom Acker. Die Arbeit ruft. Stell dir vor, ich hab da eine Schwangere, die unter –«

Ich packte Mel am Ärmel. »Warte. Vermutlich werde ich es bereuen, aber –«

»… du bist einverstanden und lässt Sam hier wohnen?« Ihre blauen Augen blitzten auf. »Ich wusste es!« Bevor ich etwas entgegnen konnte, stellte sie sich auf die Zehenspitzen und gab mir einen dicken Schmatz auf die Wange.

Dieser kleine Teufel. Sie hatte es wieder geschafft, mich herumzukriegen. Wie immer. Ich war noch nie besonders gut darin gewesen, meiner Schwester etwas abzuschlagen. »Ich sehe es ein. Deine Freundin ist in Not, sie kann von mir aus hier wohnen. Vorausgesetzt«, ich hob eine Braue, »sie benimmt sich anständig.«

Mel knuffte mich freundschaftlich in den Oberarm. »Klar wird sie das. Und ich verspreche dir, du wirst gar nicht bemerken, dass sie je einen Fuß in dein Haus gesetzt hat, wenn du aus New York zurückkehrst.«