Kapitel 1
Maddie
Justin Bieber leckte mein Gesicht ab und ich lächelte ihn dankbar an. Mit so einem herzlichen Empfang rechnete ich jedoch nicht durch alle Bewohner von Cotton Village, denn die Stadt, in der ich aufgewachsen war, hatte mir jahrelang mehr schattige als helle Seiten gezeigt.
»Wann lerne ich endlich, die richtigen Entscheidungen zu treffen?«, fragte ich das weiße Alpaka, das seinen flauschigen Kopf auf meinen Schoß sinken ließ.
Auf dem staubigen Boden sitzend schaute ich zum Horizont, hinter dem die Sonne verschwand. Der Himmel färbte sich in das Rosa einer Zuckerwatte und ich wünschte mir, dieser friedliche Moment würde nicht vergehen. Abgesehen von Justins Atemgeräuschen, dem Singen der Vögel und dem Rascheln der Bäume schwieg die Welt. Hier gab es keine Schuldgefühle, keinen Schmerz und auch keinen Entscheidungen, die ich treffen musste. Aber ich würde mich nicht verstecken oder vor meinen Problemen fliehen. Ich war zurückgekommen, um mich meinen Ängsten zu stellen. Egal, wie sehr es wehtun würde.
Alles wird gut, Maddie. Du wirst es diesmal richtig machen.
Justin hob den Kopf und bewegte seine Vorderbeine, wobei mir der Geruch von Erde und Heu in die Nase stieg. Seine Ohren, die aus der langen Ponyfrisur herauslugten, legte er nach hinten und in der nächsten Sekunde stand er ruckartig auf.
»Hey, was …«
Das Babyalpaka rannte los und wirbelte Staub auf, der in meine Atemwege gelangte. Ein Hustenanfall überkam mich und mein Blick folgte Justin, der sich zu den anderen Alpakas auf die Wiese gesellte.
»Ein Ich habe keine Lust mehr auf dich hätte gereicht!« Noch immer hustend stand ich auf und wedelte mit der Hand vor meinem Gesicht herum. Das Geräusch von knirschenden Kieselsteinen schlich sich in meine Ohren.
»Ich denke, er hat eher keine Lust auf mich.«
Ich drehte mich um und sah Blossom an. Ein breites Lächeln umspielte die Lippen meiner Schwiegermutter. Ihre Augen hatten dieselbe Farbe wie die des Himmels an einem sonnigen Tag und ihre Wangen strahlten wie immer so rosa, als wäre sie bei Minusgraden zu lange draußen gewesen. Sie sah perfekt aus ‒ auch wenn sie öfter das Gegenteil behauptete und immer darauf pochte, ein paar Kilos zu viel auf den Hüften zu haben.
»Wie lange stehst du schon da?«, fragte ich und stand auf.
Während ich den Staub von meiner Jeans klopfte, schaute ich zu Justin, der zusammen mit Lenny Kravitz ein Wettrennen über die Wiese veranstaltete. Beide Alpakababys waren am selben Tag geboren worden und sie beschäftigten sich mit nichts außer Essen, Schlafen und auf den Friseurtermin zu warten. So ein Leben wünschte ich mir auch.
»Wir sind gerade aus der Stadt gekommen.« Lächelnd zog mich meine Schwiegermutter in eine Umarmung. Ihre Stimme klang so, wie Marmelade schmeckte und ihre honigblonden Haare, die dieselbe Farbe hatten wie meine eigenen, kitzelten mir um die Nase. »Willkommen zurück, mein Schatz.«
Ich vergrub mein Gesicht in ihrem Hals, atmete ihren Duft von Keksen und Rosen ein und zog sie noch fester an mich heran.
Es ist die richtige Entscheidung, Maddie.
»Was ist los?«, fragte Blossom und strich mir über den Kopf.
Die Wahrheit war, dass meine Gefühle Achterbahn fuhren. Cotton Village war ein kleines Paradies in Alabama. Hier gab es Felder, die nach Freiheit rochen, Wasserfälle und Bäche, zu denen ich nach der Schule mit meiner besten Freundin gegangen war. Alle Einwohner hier kannten sich mit Vornamen. In Mrs. Sunrises Coffee- and Bookshop hatte ich unzählige regnerische Tage verbracht und auf dieser Farm Chris kennengelernt. Hier lebten seine Eltern, die mich bei meinem neuen Anfang unterstützten, mit ihren Alpakas, die mir immer ein Lächeln auf meine Lippen zauberten. Sie waren meine Anker, die mich nicht wieder in die Dunkelheit sinken ließen. Ich war vor elf Jahren aus der Stadt geflüchtet. Dafür hatte es damals genauso viele Gründe gegeben wie zu bleiben.
»Ich habe dich vermisst«, log ich und ließ sie los.
Natürlich hatten mir Blossom und die Zeit, die wir miteinander verbracht hatten, gefehlt. Aber ich war nur zurückgekehrt, weil Leo jetzt hier wohnte und ich mir das Beste für ihn wünschte.
Zwischen ihre Augenbrauen grub sich eine senkrechte Falte und sie legte ihre Hände auf meine Schultern. »Warum hast du nicht gesagt, wann du genau hier sein würdest? Ich hätte Leo darauf vorbereitet. Er hat …«
Sie machte eine Pause. Ihr Lächeln wankte.
»Er hat die ganze Zeit über dich gesprochen.«
Eine Lüge, die das Loch in meiner Brust nur tiefer klaffen ließ. Das letzte Mal, als ich mit meinem Sohn geredet hatte, lag Wochen zurück. Ich hatte stundenlang geweint, nachdem Leo mich darum gebeten hatte, ihn endlich abzuholen und ich ihn schon wieder hatte vertrösten müssen. Die Wut, die ich über den Bildschirm in seinen Augen gesehen hatte, würde ich nie vergessen und alles in mir fürchtete, er hätte mir noch immer nicht vergeben. Danach war Leo zufälligerweise bei jedem Anruf unterwegs oder keiner ist rangegangen.
»Ich wollte euch überraschen.«
Ich wollte nicht, dass mein Sohn mich hasste.
»Nun, das ist dir gelungen.« Sie presste einen Kuss auf meine Stirn. »Ich habe Apfelkuchen gebacken. Wie wäre es, wenn wir dazu einen Tee trinken und ein wenig reden?«
»Ich will vorher Leo sehen.«
Lachfältchen bildeten sich um ihre himmelblauen Augen und sie strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Er ist mit Cole in der Scheune. Sie basteln an Grandpas Traktor. Die Jungs werden sich vor Einbruch der Dunkelheit nicht daran erinnern, dass es uns gibt.«
Ihre Worte ließen die Angst in meiner Brust aufflammen. Leo sollte mich nicht vergessen. Keine Sekunde. Eine Weile war ich nicht die Mutter gewesen, die er brauchte und aus dem Grund hatte ich zugestimmt, dass er vor sechs Monaten zu meinen Schwiegereltern gezogen war. Mit beschissenen Eltern kannte ich mich aus und meine größte Angst war, dass er genauso unglücklich heranwuchs, wie es bei mir der Fall gewesen war. Mein Sohn verdiente Besseres. Hier zu wohnen war eine Übergangslösung. Es hatte all meine restlichen Kräfte abverlangt, es zuzulassen ‒ nur bis mein Herz ein wenig geheilt war. Jetzt konnte ich Leo nicht ein zweites Mal aus seiner gewohnten Umgebung herausreißen. Daher hatte ich unser Zuhause in Atlanta aufgelöst, um nach Cotton Village zu ziehen. Während dieser Zeit war mein schlechtes Gewissen mit jedem Tag größer geworden. Doch es war nicht mit der monströsen Angst vergleichbar, die ich jetzt verspürte.
»Dann helfe ich den beiden«, schlug ich vor.
Blossom lächelte steifer, aufgesetzter. »Ich habe mir gedacht, dass du direkt zu den Alpakas kommen würdest.«
»War es nicht immer so? Ich komme zu Cher, die mich immer komplett ignoriert, Leo läuft zu Cole und Chris sucht sich …«
Blossom senkte den Kopf und ein Schatten legte sich auf ihr Gesicht. Eine Welle der Erinnerungen brach über mich herein, trieb mir Tränen in die Augen. Erinnerungen an eine glückliche Zeit, die auf keinen Fall wieder zurückkommen würde. An Chris, der ebenfalls nie wiederkehren würde. Wie sehr hasste ich den Kloß, der in meiner Kehle anschwoll, wenn wir über ihn redeten.
Dein Sohn braucht dich, Maddie.
Blinzelnd räusperte Blossom sich. »Cher ist schon längst geschlechtsreif, Liebes. Sie wird nicht auf dich zukommen wie ein Alpakababy.«
Ihre Stimme versagte für eine Sekunde und ich meinte, in ihren Augen ebenfalls Tränen glitzern zu sehen.
Themenwechsel.
Ich liebe dich, Blossom.
»Dafür habe ich jetzt Justin.« Ich rang mir ein trauriges Lächeln ab und hoffte, nicht so gebrochen zu klingen, wie ich mich fühlte.
Sie legte die Stirn in Falten. »Justin?«
Ich zeigte auf das Babyalpaka mit dem milchweißen Fell und der Schrägponyfrisur. »Ich habe ihn Justin Bieber getauft.«
Blossom lachte. Das Geräusch lockerte den Knoten in meinem Hals. »Den Namen trage ich auf die Tafel ein. Die Kinder werden ihn lieben.«
Die schwarze Kreidetafel mit den Namen der Alpakas hing am Farmtor. Nur die Familienmitglieder bekamen die Ehre, das Vieh zu taufen. Den meisten Tieren hatte ich Namen gegeben. Nur Regenbogen war von Leo und Midnight von Chris getauft worden.
Chris.
»Sicher.« Ich ignorierte, wie eng sich meine Brust anfühlte, und hakte mich bei Blossom unter. »Waren die Kinder diese Woche schon hier?«, fragte ich, während wir den Weg in die Scheune nahmen.
»Wie jeden Montag. Öfter mute ich es meinen Tieren nicht zu. Die Schüler sind wilder als die Alpakas.«
Mein Mundwinkel zuckte. Die Farm war kein Streichelzoo, das betonten meine Schwiegereltern immer wieder. Sie züchteten die Alpakas hauptsächlich wegen der Wolle. Blossom leitete eine Strickgruppe, die sich dreimal pro Woche traf, um aus der Wolle Klamotten herzustellen, die anschließend in der Stadt verkauft wurden. Um mehr Zeit mit ihr zu verbringen, hatte ich angefangen, stricken zu lernen, was mir bis heute nicht gut gelang. Der Tag in der Woche, an dem die Kinder aus der Grundschule für eine Wandertour mit den Alpakas auf die Farm kommen durften, war Coles Idee gewesen. Damit sollte Chris den Kleinen eine Freude machen. Es hatte so gut funktioniert, dass Chris und ich nicht nur beste Freunde geworden waren ‒ wir waren seelenverwandt gewesen. Jetzt fehlte mir jedoch ein Teil meiner Seele und mit den Scherben, die mir geblieben waren, musste ich so tun, als wäre ich ganz. Für meinen Sohn.
Leos Lachen drang zu uns, noch bevor wir die Scheune erreicht hatten, und ich drosselte meine Schritte. Das Geräusch fühlte sich an, wie ins warme Wasser zu steigen, bildete jedoch einen zweiten Knoten in meiner Kehle. Ich drängte die aufsteigenden Tränen zurück und blieb neben Blossom im Scheunentor stehen. Verwirrung ließ meine Gesichtszüge entgleiten. Nicht nur Leo und Cole, sondern auch noch ein fremder Mann betrachteten Grandpas Traktor. Mit einem Schraubenzieher in der Hand stieg er auf die Vorderachse, beugte sich über den Motor und werkelte herum. Er hielt den Kopf gesenkt, wobei ihm die braunen Haare in die Stirn fielen, und seine Armmuskeln spannten sich unter seinem T-Shirt, während er Kraft beim Schrauben ausübte.
»Ich hätte mir denken können, dass Cole dich einspannen würde«, sagte Blossom mit einem Lächeln in der Stimme.
Der Mann hob den Kopf und unsere Blicke trafen sich. Sein Mund stand leicht offen. Bartstoppeln zierten seine Wangen und die schweißnassen Haare klebten an seiner Stirn. Er sah unglaublich attraktiv aus und es war schon sehr, sehr lange her, dass ich einen Mann gut aussehend fand. Vor Chris hatte es vielleicht nur einen gegeben. Nach ihm … Ich sollte keinen Mann nach ihm anziehend finden.
»Mom? Warum bist du hier?« Leos Stimme löste meine Aufmerksamkeit von dem Fremden.
Ich sah ihn an. Seine in ihm tobenden Gefühle zeichneten sich deutlich in seinen grünen Augen ab. Chris’ Augen. Es war so, als würde mein Sohn mit einem leuchtenden Textmarker hervorheben, wie sehr er von mir enttäuscht war.
Kein Wunder. Ich hatte mein einziges Kind im Stich gelassen. Angst tobte in meiner Brust. Trotzdem kam ich Leo näher, ging vor ihm in die Hocke und flehte ihn stumm an, dass er mir vergab.
»Mir geht es endlich besser, mein Löwe. Jetzt kann ich bei dir bleiben.«
»Ich bin kein Löwe, sondern ein Junge.« Er trat einen Schritt zurück, kreuzte die Arme vor der Brust und ließ meine Hände von sich heruntergleiten.
Für einen kurzen Moment verfluchte ich mich selbst, nicht früher gekommen zu sein. Schuldgefühle würden mich ewig begleiten und ich musste mir immer wieder in Erinnerung rufen, dass ich nur das Beste für meinen Sohn gewollt hatte. Chris’ Tod hatte mich zerstört und ich hätte keine gute Mutter für Leo sein können. Aber jetzt war alles anders. Ich war endlich hier und bereit, neu anzufangen.
»Natürlich.«
Leo schaute von mir weg, lief stattdessen auf Blossom zu und umarmte ihre Taille. »Atlas hat gesagt, dass Grandpas Traktor wieder fahren kann.«
So hätte er mich begrüßen sollen. Ich hatte es vermasselt.
»Atlas?« Ich versuchte, das ungute Gefühl, das meine erste Begegnung mit meinem Sohn in meinem Bauch verursachte, zu ignorieren und stand wieder auf.
»Ich denke, dass es funktionieren kann. Die Maschine hier hat nur eine neue Glühkerze gebraucht.« Der Mann stieg vom Traktor und zog ein dunkelblaues Tuch aus der Jeans heraus, um den Dreck von seinen Fingern zu wischen. »Dr. Atlas James Prescot«, sagte er und streckte mir die Hand entgegen.
Doktor. War er Coles Arzt? In den letzten Monaten hatte niemand mir etwas von einem neuen Doktor in der Stadt erzählt. Cotton Village besaß nur eine Praxis, in der Dr. Silver und seine Frau praktizierten. Das nächste Krankenhaus war in Birmingham, zwanzig Meilen von der Stadt entfernt. Die Frage war auch, was der Arzt hier machte und warum er so vertraut mit meinen Schwiegereltern umging, als wäre er … Teil der Familie.
Blinzelnd griff ich nach seiner Hand. »Maddie Wonder.«
Seine Augen, die die Farben von Gewitterwolken hatten, musterten mich eindringlich. Eine Sammlung ungewollter Gefühle staute sich in meiner Brust, als hätte ich einen Feuerball geschluckt. Rasch zog ich meine Hand zurück und sah zu Cole. »Jetzt kannst du das Ding endlich verkaufen.«
Mein Schwiegervater kam auf mich zu und ich stellte mich auf die Zehenspitzen, um ihm einen Kuss auf die Wange zu drücken. Sein Geruch nach Heu und Aftershave strich mir um die Nase und sein Lächeln erhellte die Dunkelheit in meinem Kopf. »Eigentlich habe ich vor, ihn Leo zu schenken.«
Ich runzelte die Stirn. »Er ist erst acht.«
Leo stöhnte. »Ich wusste, dass sie Nein sagen würde.«
Sie. Ich war nicht mehr Mom. Jetzt hieß ich nur sie.
»Er wird Wanda noch nicht fahren, Liebes. Der Traktor gehört aber ihm, bis er groß genug dafür ist«, erwiderte Cole sanft.
»Ich weiß nicht …« Alles in mir wollte bloß schreien, dass Leo alles haben könne, was er sich wünschte, nur damit ich einen liebevollen Blick von ihm ernten konnte. Aber es wäre nicht richtig und ich sollte das tun, was besser für ihn und nicht das, was leichter für mich war.
»Den Traktor so lange stehen zu lassen, ist nicht gut für die Maschine.«
Blossom trat an meine Seite. Mit ihren Fingerspitzen strich sie über meinen Rücken. »Lass ihm den Spaß, Liebes.«
Ich dachte nicht, dass das ein Spaß war. Das konnte gefährlich werden, da Leo nur einmal auf dumme Gedanken kommen, sich den Traktor schnappen und wegfahren musste.
Mein Sohn schaute mich nicht mehr an und die Rollen wurden somit verteilt. Ich war der böse Cop. Als würde er mich noch nicht genug hassen.
»Ich habe Cole gesagt, dass ich Wanda gut gebrauchen kann«, sagte Atlas. »Nur solange der kleine Mann den Traktor nicht fahren darf. So bleibt die Maschine in Bewegung und ich zahle auch Miete dafür.« Der Arzt sah zu Leo, der zwischen uns hin und her linste. »Und … du kannst dein Geschenk immer wieder besuchen. Ich wohne ja hier nebenan.«
Wer war er und warum hatten meine Schwiegereltern noch nie über einen Dr. Atlas James Prescot gesprochen?
»Das klingt nach einer guten Lösung«, fand Blossom.
»Nur wenn deine Mom damit einverstanden ist«, fügte Atlas an Leo gerichtet hinzu.
Ich sah ihm in die grauen Augen. Mein Herz schlug auf falsche Art und Weise. Das hier war mir zu viel. Der Traktor, den Cole mit Chris und nicht mit einem Fremden hätte reparieren sollen. Leos Ablehnung und ein Neuanfang, für den ich noch immer nicht bereit war. Der Umzug und die Angst, mein Leben doch nicht in den Griff zu bekommen. In jeder Zelle meines Körpers verspürte ich den Drang, wegzulaufen, zu schreien, mich in mein Zimmer zu verkriechen und zu weinen.
»Liebes?«, flüsterte Blossom. »Ist alles in Ordnung?«
»Ja. Alles gut.« Langsam ging ich wieder in die Hocke und sah Leo in die Augen. »Du darfst dich reinsetzen. Aber nur, wenn ein Erwachsener dabei ist, okay, mein …« Seinen Spitznamen schluckte ich herunter, zusammen mit meinem Stolz. Es ging nicht um mich.
Er lächelte auf eine Weise, die sein ganzes Gesicht erhellte, sah aber dabei Cole an. »Darf ich jetzt aufsteigen, Grandpa? Atlas setzt sich zu mir.«
»Eigentlich wollte ich schon seit einer halben Stunde nach Mariah Carey sehen. Sie humpelt«, erwiderte Atlas und rieb sich den Hinterkopf.
Dr. Atlas James Prescot ist also Tierarzt.
»Darf ich mit ihm mitgehen?«, fragte Leo jetzt an Blossom gewandt.
Er bittet sie um Erlaubnis. Nicht mich.
Da war die Angst wieder. Wie ein gähnendes Monster drohte sie mich und all meine Hoffnung zu schlucken.
Langsam stand ich auf, ignorierte die Eifersucht und all die dunklen Gefühle in meiner Brust.
»Willst du nicht lieber mit mir spazieren gehen? Wir könnten auch zusammen in die Stadt fahren, um dir Spiderman-Bettwäsche zu kaufen.«
Er schüttelte den Kopf. »Grandma hat mir schon Spiderman-Bettwäsche gekauft. Jetzt will ich nach Regenbogen sehen, sie ist bestimmt bei Mariah Carey.«
Ich rang mir ein Lächeln ab. »Wenn das in Ordnung für Dr. Prescot ist, darfst du gehen.«
»Atlas«, korrigierte er mich.
Ich sah ihn an.
»Sie dürfen mich Atlas nennen.«
»Dann nennen Sie mich Maddie.«
Nach einem knappen Nicken sah er wieder Leo an. »Komm mit, Champ. Dein Grandpa hat mir gesagt, dass du einem Alpaka einen Namen gegeben hast. Ich will wissen, welchem.«
Meine Augen brannten, während ich Leo betrachtete, der neben Atlas hinausging.
»Liebes«, sagte Cole und kam vorsichtig einen Schritt näher.
Blinzelnd räusperte ich mich. »Ich nutze dann die Zeit, um in die Stadt zu fahren.«
»Liebes«, wiederholte er.
»Ich brauche neue Gardinen für das Haus und Leo neue Bettwäsche. Keine Spiderman-Bettwäsche, ich weiß. Aber vielleicht finde ich andere, die ihm gefallen könnte.«
»Ich kann dich fahren«, schlug Blossom vor.
Ich schüttelte den Kopf und eilte zum Scheunentor. »Ich bekomme das allein hin.«
Ich musste meinen Neuanfang schaffen. Die Zeit blieb nicht stehen und Leo brauchte jetzt eine Mutter, bevor jemand anderes die Rolle übernahm. Doch in diesem Moment gestattete ich mir, ein letztes Mal wegzulaufen.
Kapitel 2
Maddie
Der Motor meines Jeeps erstarb und ich zog den Schlüssel aus dem Zündschloss. Mein Blick huschte zum Gehweg. Mrs. Hill spazierte mit ihrer Tochter Alice, die mindestens einen halben Fuß größer geworden war, an mir vorbei. Wie alt musste sie jetzt sein? Vielleicht zehn? Ihre langen Zöpfe schwangen hin und her, während sie neben ihrer Mutter tänzelte. Aus entgegengesetzter Richtung kamen Luca und sein bester Freund Daxton, die sich über etwas unterhielten und wild mit den Händen in der Luft fuchtelten. Ein Lächeln umspielte meine Lippen und ich war mir sicher, dass sie über Football sprachen. Am Schaufenster von Sunrise’s Coffee- and Bookshop reihten sich die April-Neuerscheinungen aneinander und an der Tür hing das Geöffnet-Schild. Ich umklammerte das Lenkrad und mein Herz klopfte schneller. Es war soweit. Ich war wieder da. Nicht nur für einen kurzen Besuch oder um die Feiertage mit Chris’ Eltern zu verbringen.
Ich legte eine Hand auf meine Brust und fuhr mit den Fingerspitzen über den Anhänger meiner Kette ‒ das letzte Geschenk, welches ich von Chris bekommen hatte. Irgendwie gab mir das kühle, runde Metall Kraft, den Kopf zu heben und nach vorne zu schauen.
Ein letztes Mal atmete ich durch, bevor ich aus meinem Auto stieg und in den Coffee- and Bookshop trat. Der Duft von frisch gekochtem Kaffee und altem Papier schwirrte in der Luft. Meine Muskeln entspannten sich in der Sekunde, in der ich meine beste Freundin sah. In der Ecke, hinter der Kuchentheke, vor einer moosgrünen Wand, stand Leslie Chen. Trotz des Läutens der Türglocke sah sie nicht zu mir. Sie hantierte mit einer Espressotasse und schob diese zu einem breitschultrigen Mann, der auf einem Barhocker saß und in das Buch in seinen Händen vertieft war.
Mein Blick schweifte durch die Buchhandlung. Nach wie vor bestanden die Regale aus alten Obstkisten, die Mrs. Sunrise recycelt hatte. Sie formten breite Regalreihen in der Mitte des Raumes und stapelten sich an den weißen Wänden. Erinnerungen an regnerische Tage, die ich an diesem Ort verbracht hatte, liebkosten meine Seele. Als wäre es gestern gewesen, sah ich mich mit Leslie zwischen den Regalen sitzen. Gemeinsam hatten wir Hogwarts, Narnia und Wunderland erforscht. Wir hatten Welten entdeckt, in denen wir nicht die Ausgegrenzten in der Schule gewesen waren.
»Maddie?«
Ich drehte mich zu der Café-Bar um und unsere Blicke trafen sich.
»Hi, Leslie.«
Fassungslos und mit einem breiten Strahlen auf den Lippen umrundete sie den Tresen und warf sich in meine Arme. Meine beste Freundin roch nach Vanille und umarmte mich so fest, als würde sie sicher sein wollen, dass ich wirklich da war.
»Du bist wieder da!«, sagte sie und lehnte sich zurück, um mich genauer zu betrachten. »Ich meine … die ganze Stadt hat gewusst, dass du bald wiederkommst und vom Umzugswagen gestern bei deinen Schwiegereltern habe ich auch schon gehört. Aber nicht einmal ich konnte von ihnen herausbekommen, wann genau du hier ankommen würdest.«
Leslie sah aus, als wäre sie noch immer siebzehn. Ihre schwarzen Haare waren zu einem Dutt gebunden und ihr Pony reichte ihr nur bis zur Mitte ihrer hohen Stirn.
»Sie hätten das vor dir nicht verschweigen müssen. Aber ich gehe davon aus, dass sie mir ein bisschen Privatsphäre verschaffen wollten«, erwiderte ich.
»Hey, Maddie! Willkommen zurück«, rief der Mann am Tresen, den ich als Joe Mallone erkannt hatte. Der breitschultrige Bäcker, den ich über zwanzig Jahre kannte, exte seinen Kaffee und kam auf mich zu.
Mit einer unbeholfenen Bewegung zog er mich in eine halbe Umarmung, ließ mich dann aber schnell los und huschte aus dem Laden.
Verdutzt sahen Leslie und ich zur Tür, durch die er gegangen war, bis meine beste Freundin eine wegwerfende Handbewegung machte. »Es war besser so. Ich liebe Überraschungen.« Sie schaute kurz über meine Schulter und ihre Augen leuchteten wie polierte Obsidiane. »Und? Wo ist der kleine Mann?«
Seit ich vor elf Jahren nach Atlanta gezogen war, war kein Tag vergangen, an dem Leslie und ich nicht miteinander gesprochen hatten. Sie hatte sich für die University of Alabama entschieden, während ich bloß weit hatte wegziehen wollen. Chris hatte sich nur meinetwegen in dieselbe Universität eingeschrieben und am Anfang war es meine größte Angst gewesen, dass meine Freundschaft mit Leslie die Entfernung nicht überstehen würde. Doch unsere Beziehung war echt und weder die Zeit noch die zweihundert Meilen hatten sie zerstören können. Außerdem hatten wir uns nicht nur gesehen, wenn ich nach Cotton Village kam, um mit Chris seine Eltern zu besuchen, sondern auch Leslie war immer zu meinem und Leos Geburtstag zu uns gefahren.
»Er ist auf der Farm geblieben. Ich muss ein paar Sachen für die Hütte besorgen und habe mich gefragt, ob du heute arbeitest.«
Stürmisch umarmte sie mich erneut, nahm meine Hand und zog mich zu der Leseecke, in der zwei Sessel und ein runder Couchtisch standen.
»Wie geht es dir?«, fragte sie. Ein trauriger Glanz stahl sich in ihre dunklen Augen. Ein Ausdruck, den ich im letzten Jahr zu oft gesehen hatte.
Schulterzuckend betrachtete ich meine Hände. »Ich habe meine Alpakas wiedergesehen und das gibt mir schon ein bisschen Kraft.«
Leslie lachte leise und das Atmen wurde plötzlich leichter.
»Und Leo?« Sie verzog leicht die Lippen. »Wie hat er nach so vielen Monaten auf dich reagiert?«
»Er hat sich gefreut«, log ich, atmete tief durch und ignorierte das Ziehen in meiner Brust.
»Oh oh«, sagte sie und zog die Augenbrauen hoch. »Nur gefreut?« Sie las mich wie ein offenes Buch. Jeder andere hätte sich mit der Aussage zufriedengegeben. Aber nicht Leslie.
Ich senkte den Blick und kratzte an meinem Nagellack. »Er hasst mich und will nicht mehr, dass ich ihn Löwe nenne. Aber was hätte ich sonst erwarten sollen? Ich habe zugelassen, dass Blossom und Cole ihn zu sich holten. Er hat sich damals dagegen gewehrt und ich war zu egoistisch, um an ihn zu denken.«
Sie legte ihre Hand auf meine. »Du hast an ihn gedacht, Maddie. Die Liebe deines Lebens wurde dir auf brutale Weise entrissen und es ist okay, dass du ein paar Monate benötigt hast, um auf die Beine zu kommen.«
»Mein Sohn hat mich auch gebraucht.«
»Und du bist jetzt für ihn da.«
Ich sah auf und während sich unsere Blicke miteinander verbanden, trübten mir Tränen die Sicht. »Er hat mit Blossom geredet, als wäre sie seine Mutter und nicht ich.«
»Leo ist acht. Es ändert sich schnell.«
»Ich bin mir da nicht so sicher.«
»Jetzt bist du da und in ein paar Wochen werdet ihr wieder das eingespielte Team sein, das ich so sehr liebe.«
Auch wenn ich meine Gefühle nicht preisgeben wollte, wusste Leslie ganz genau, was mir das bedeutete. Seit ich schwanger geworden war, hatte ich mir gewünscht, die beste Mutter der Welt zu sein. Doch nach Chris’ Tod war ich ein Wrack gewesen, ein Schatten meiner selbst.
»Cole hat Wanda zum Laufen gebracht.«
Leslie holte tief Luft und presste die Lippen aufeinander. Sie war an meiner Seite gewesen, als wir zugesehen hatten, wie Chris den Traktor als neues Projekt zusammen mit seinem Vater gekauft hatte und beide ihn danach hatten reparieren wollen.
»Harter Tag also.«
»Könnte besser sein«, murmelte ich und kaute auf der Innenseite meiner Wange herum.
»Früher oder später hätte Cole den Traktor repariert. Er hat schon zu viel Geld in die Maschine gesteckt, um Wanda einfach verrosten zu lassen.«
»Ich weiß.« Meine Stimme war ein Flüstern, doch es war die Wahrheit. Das Leben musste weitergehen. Auch wenn es wehtat.
»Aber wie hat Cole Wanda repariert? Er hat keine Ahnung von Mechanik. Ich habe eher erwartet, dass er den Traktor verkauft.«
»Jemand hat ihm geholfen«, erwiderte ich schulterzuckend.
Vor meinem inneren Auge sah ich diesen Mann wieder. Ich erinnerte mich, wie er sich über Coles Traktor gebeugt und mich angesehen hatte. Sein intensiver Blick brannte noch immer auf meiner Haut. In meinem Bauch breitete sich wieder ein seltsames Gefühl aus.
»Jemand?« Die Furchen in Leslies Stirn vertieften sich.
»Ein Mann wohnt jetzt neben der Farm. Ein Dr. Atlas James Prescot.«
Ihre Miene erhellte sich. »Du hast also den sexy Tierarzt schon kennengelernt?«
»Wie gesagt, er wohnt nebenan.«
Leslie straffte die Schultern. Ihr Lächeln war heller als ein Feuerwerk. »Als er das Haus von Mrs. Windfort gekauft hat und letzte Woche dort eingezogen ist, gab es in Cotton Village kein anderes Gesprächsthema mehr.«
Leslie war keine Tratschtante. Wenn ich etwas an ihr liebte, dann die Tatsache, dass sie Geheimnisse für sich behalten konnte. Doch hier im Laden bekam man alles mit, was man nicht unbedingt erfahren wollte. Madame Linour war einmal extra hierhergekommen, um bedenkenlos mit ihrer Freundin darüber zu reden, dass ihr Sohn, der gut aussehende Anwalt der Stadt, sich hatte scheiden lassen und wieder bereit für eine Beziehung war. Am nächsten Tag hatte es Einladungen für einen Kinobesuch oder ein Mittagessen auf seinem Anrufbeantworter geregnet.
»Außerdem gab es ausreichend Single Ladys, die mehr über ihn wissen wollten. Aber das Interesse ist abgeflacht, nachdem Dr. Prescot mit einer Rothaarigen gesehen wurde.« Sie hob vielsagend die Brauen.
»Er lässt also nichts anbrennen«, bemerkte ich. Diese Worte klangen falsch aus meinem Mund. Sie wirkten, als würde mich interessieren, mit wem er gesehen wurde oder nicht.
Leslie schüttelte den Kopf. »Sie ist nicht von hier. Vermutlich ist sie seine Freundin, denn Marie-Sue hat keinen Ehering an seiner Hand gesehen.«
Mir drehte sich der Magen um. Vielleicht lag es daran, dass alle nach einer Woche so viel über ihn erfahren hatten. Was wusste die Stadt bereits über mich? Wahrscheinlich war ich schon die Irre, die nach dem Tod ihres Mannes ihren eigenen Sohn im Stich gelassen hatte.
Ich zuckte mit den Schultern. »Bald werde ich seine Freundin auch kennenlernen. Jedenfalls scheint er nett zu sein, denn Leo mag ihn.«
»Als er hier gewesen ist, war er auch sehr freundlich.« Sie hob und senkte ebenfalls die Schultern. »Und seitdem er da ist, redet kaum jemand über dich.«
Seufzend rieb ich mir das Gesicht. »Was weiß die Stadt über Chris?«, sprach ich die Frage aus, die mir in der Kehle brannte.
Leslie senkte die Lider und ihre langen Wimpern berührten beim Blinzeln ihre Wangen. »Charleen ist jetzt Geschäftsführerin der lokalen Zeitung, Maddie. Sie hat darauf bestanden, in der Presse zu berichten, wie er gestorben ist. Alle Einzelheiten.«
Galle stieg in mir hoch und in meinem Kopf drehte sich alles. »Wie kann jemand so bösartig sein?« Meine Stimme brach.
Leslie umschloss meine Hand fester und schaute mir tief in die Augen. »Auch wenn sie das nicht getan hätte, würden alle das wissen. Es war in allen Nachrichtensendungen.«
Mein Herz in meiner Brust fühlte sich klein und immer noch zerstört an. »Ich weiß.«
Der Amoklauf in der Montgomery Primary School hatte einen ganzen Tag gedauert und alle wichtigen Nachrichtensender hatten vor der Tür der Schule kampiert. Meine Hoffnung war jedoch gewesen, dass Atlanta zu unwichtig, zu weit weg von Cotton Village war. Doch diese Stadt, die sonst immer zu sehr mit sich selbst beschäftigt war, hatte sich dazu entschieden, wegzuschauen, als ich es am wenigsten gebraucht hatte.
Leslie atmete tief durch und zog mich erneut in eine Umarmung. »Weißt du noch, was wir als Kinder gemacht haben, wenn es uns schlecht ging?«
Ich drückte sie fester. »Kakao mit Marshmallows im Lagerraum?«
Sie nickte. »Ich stehe jetzt eher auf Cappuccino mit Kakaopulver. Aber ich kann dir einen Kakao zubereiten, den Laden schließen und sicher sein, dass keiner uns hören wird, wenn wir miteinander reden.«
Ich ließ sie los und lehnte mich leicht zurück. »Es ist erst drei Uhr am Nachmittag. Du kannst den Laden nicht schließen.«
»Mom ist nicht da und ich kann tun und lassen, was ich möchte.« Grinsend stand sie auf und drehte das Schild an der Tür um. »Außerdem kommt es nicht täglich vor, dass meine beste Freundin nach Hause zurückkehrt.«
Meine Kehle schnürte sich zu und mein Mundwinkel zuckte. »Ich habe dich vermisst, Les.«
»Willkommen zu Hause, Maddie.«
Kapitel 3
Atlas
Der warme Nachtwind verfing sich in meinen Haaren und der bewölkte Himmel breitete sich über meinem Kopf aus. Ich schleppte mich auf die Veranda meines Hauses und ließ mich auf die Hollywoodschaukel fallen. Wer hätte gedacht, dass Dr. Atlas James Prescot auf einer Veranda-Schaukel in einem Kaff namens Cotton Village sitzen würde? Freiwillig! Vor zwei Jahren hätte ich über so eine Vorhersage gelacht. Doch jetzt war hier der einzige Ort, an dem ich überhaupt ein paar Stunden schlafen konnte. Immer noch keine volle Nacht, aber immerhin ein wenig.
Ich stieß mit den Fußspitzen die Schaukel an, die sich vor- und zurückbewegte. Grillen stimmten ihre nächtliche Symphonie an, Grashalme warfen sich nach links und nach rechts, wie die Wellen des Ozeans, und langsam beruhigte sich mein Herzschlag. Mein Blick streifte über die grüne Wiese, die sich vor meinen müden Augen erstreckte, über die Zäune, die mein Grundstück eingrenzten, und fand die kleine Hütte neben dem Anwesen der Familie Wonder. Maddie Wonder wohnte in diesem Häuschen mit ihrem Sohn.
Wieso dachte ich an ihre nussbraunen Augen, an das Muttermal über ihrer Oberlippe, an ihre blonden Haare? Wieso war ich in der Scheune geblieben, als ich erfahren hatte, dass sie vorbeikommen würde? Ich hätte sie nicht sehen und nicht mit ihr reden sollen. Doch jetzt war es zu spät.
Die Tür knarrte und leichte Schritte fegten über den Holzboden.
»Schlecht geträumt?«
Ich sah auf. Sages rote Haare flatterten im Wind wie die Flamme einer Kerze und sie zog ihre Strickjacke enger an sich. Wie konnte man in Alabama frieren? Meine Schwester sah wie Feuer aus, war aber eine Frostbeule.
Ich nickte knapp und rutschte zur Seite, um ihr neben mir Platz zu machen. Sie setzte sich, hakte sich bei mir unter und legte die Wange auf meine Schulter. »Willst du mir davon erzählen?«
Ich schüttelte den Kopf und presste einen Kuss auf ihren Scheitel. Sie roch nach Lilien und Tau. Ein vertrauter Duft, der mir in den Wochen, in denen wir getrennt gewesen waren, schmerzlich gefehlt hatte.
Sage atmete tief durch und ich hörte in ihrem Seufzer all die Proteste, die sie gegen mein Schweigen hatte. »In der Hütte brennt Licht«, stellte sie fest. Sie zitterte.
Ich zog die Wolldecke aus der Truhe neben der Hollywoodschaukel und legte sie über ihre Schultern.
»Die Schwiegertochter von Cole und Blossom Wonder ist heute dort eingezogen«, sagte ich betont beiläufig.
Sage sah zu mir auf, ihre Wange immer noch an meine Schulter gepresst. »Warum wohnt sie in der Hütte und nicht in dem großen Haus?«
Ich zählte die Sommersprossen auf ihrer Nase und nahm mir vor, ihr eine stärkere Sonnenschutzcreme zu kaufen. Sie mochte schon achtundzwanzig Jahre alt und nur fünf Minuten jünger als ich sein, aber sie würde bis zu unserem letzten Tage immer meine kleine Schwester bleiben und ich würde mich dauerhaft um sie kümmern.
»Sie hat einen Sohn. Ich gehe davon aus, dass sie ein bisschen Privatsphäre wollen.«
Sage strahlte heller als die Sonne. In meiner Dunkelheit war meine Schwester mein Licht, meine Familie, alles, was mir geblieben war.
»Wie alt ist der Junge? Vielleicht kann meine Ella sich mit ihm anfreunden, wenn wir herziehen. Sie braucht Freunde.«
Ich zog die Brauen zusammen und straffte die Schultern, sodass Sage sich zurücklehnen musste, um mir in die Augen zu schauen. »Hast du diese verrückte Idee noch nicht aus dem Kopf bekommen?« Meine Stimme klang barscher als beabsichtigt. Manchmal war das notwendig.
Sie kreuzte die Arme vor der Brust. »Ich werde dich hier nicht alleinlassen, Atlas. Mom und Dad würden das nicht wollen.«
Ich schloss die Augen, atmete tief durch und massierte den Punkt zwischen meinen Augenbrauen. »Mom und Dad würden nicht wollen, dass du deine Lebensziele meinetwegen aufgibst.«
Sage und ich waren seit unserer Kindheit unzertrennlich und aus einer Großstadt wegzuziehen, um hier ein neues Leben aufzubauen, hatte leider auch bedeutet, dass wir Abstand voneinander hatten nehmen müssen. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass meine Schwester mir folgen würde, nicht erwartet, dass sie ihre Familie davon überzeugen würde, in meiner Nähe zu bleiben.
»Ich gebe mein Leben nicht deinetwegen auf.« Sie sah mich mit ihren flehenden blauen Augen an. »Hier geht es dir besser und ich hoffe, Ella wird auch wie früher werden. Du kannst wieder praktizieren und hast noch keine Panikattacke gehabt. Irgendwie scheinen die Luft, die Mücken oder die blöden Alpakas dir gutzutun.«
Ich hob eine Augenbraue. »Die Alpakas sind nicht blöd.«
Sie tat es mir nach. »Natürlich sind sie es. Weibliche Alpakas spucken Männchen an, wenn sie nicht an ihnen interessiert sind.«
Ich grinste sie an. »Das hast du als Teenager aber auch getan.«
Sage verengte die Augen und in der nächsten Sekunde schleuderte sie mir ein Kissen ins Gesicht. Sie lachte und es klang wie Befreiung. Es fühlte sich an, als wäre ich normal.
»Du kannst deinen Mann und deine Tochter nicht dazu zwingen, nach Cotton Village zu ziehen«, sagte ich mit ernster Stimme und legte den Arm um sie.
Sage lehnte erneut ihren Kopf an meine Schulter und atmete tief durch. »Sie wollen das tun. Für mich und für dich auch. Ray kann auch hier arbeiten. Das ist einer der Vorteile, selbständiger Webdesigner zu sein. Er ist an kein Büro gebunden.«
»Und Ella?«, fragte ich. »Sie liebt ihr Haus und …«
Sage sah zu mir auf. »Meine Tochter liebt mich und ihren Lieblingsonkel und wir wollen, dass es dir gutgeht. Außerdem braucht sie genauso einen Tapetenwechsel wie du, denn alles, was passiert ist, ist an ihr nicht spurlos vorübergegangen. Die Therapie zeigt Wirkung, aber ein Neuanfang wird auch ihr guttun. Was gibt’s Besseres für ein kleines Kind als die Natur?«
»Sage …«
»Du kannst nicht von mir verlangen, dass ich glücklich bin, wenn es meinem Zwillingsbruder schlecht geht.« Sie nahm mein Gesicht in ihre Hände. »Ich liebe dich, Atlas, und ich werde dich nicht alleinlassen. Nicht nachdem wir unsere Eltern verloren haben. Nicht nach allem, was passiert ist. Ray weiß das, Ella weiß das. Jetzt musst auch du das kapieren.«
Ich presste meine Stirn gegen ihre und atmete ihren Duft ein. »Ich will nur nicht auch noch dein Leben zerstören«, flüsterte ich.
Sie umarmte mich. Stürmisch und vorbehaltlos, wie Sage war. »Mein Leben geht nur kaputt, wenn du nicht ein Teil davon bist. Es wäre so, als würde die Hälfte meines Herzens fehlen.«
Ich zog sie noch fester an mich. Meine Augen brannten und meine Kehle schnürte sich zu. »Er ist acht Jahre alt.«
»Wer?« Ihre Stimme klang brüchig.
Ich ließ sie los und sie wischte rasch eine Träne weg, die über ihre Wange gerollt war.
»Maddies Sohn. Er heißt Leo und ist acht.«
»Das ist doch toll. Die Alpakas und ein Freund. Ella wird ausflippen.« Sie lächelte, aber ich erkannte ihre Zweifel im Zittern ihres Mundwinkels.
»Ich liebe dich.«
Sie nickte. »Ich dich auch. Von hier bis zum Neptun.«
Sage würde keinen Rückzieher machen. Nicht einmal, wenn ich sie anflehen würde. Doch auch ich war nicht dazu fähig, zurück nach Hause zu kommen. Vor allem nicht jetzt, nachdem ich Maddie kennengelernt hatte.
***
Der Regen peitschte gegen die Fensterscheibe und ein Blitz erhellte den Himmel. In meinem Bett liegend kreuzte ich die Arme hinter meinem Kopf und zählte die Sekunden, bis ein Donner grollte und die Wände meines Zimmers zu beben schienen. Ich würde nicht wieder einschlafen. Eigentlich erwartete ich, dass Sage bei dem Lärm zu mir kam und anfing, über die letzte Folge von The Bachelor zu quatschen. Doch vor einer Stunde war sie ins Gästezimmer gegangen und hatte kein Lebenszeichen mehr von sich gegeben.
»Selig sind diejenigen, die schlafen können«, sagte ich zu mir selbst und stand auf.
Mein Blick huschte zum Badezimmer und der Gedanke an das orangefarbene Röhrchen im Badezimmerschrank schwirrte für eine Sekunde in meinem Kopf umher. Ich verbannte die Idee in die hinterste Ecke meines Bewusstseins und schlich die Treppe hinunter. Noch bevor ich die letzte Stufe erreichte, hallten donnernde Geräusche durch das Wohnzimmer. Doch es war nicht der Sturm, sondern jemand klopfte an der Tür. Ich schaute zur Uhr. Drei Uhr morgens. Wer …
Das Klopfen wurde lauter und eine panische Stimme schrie meinen Namen. Mein Herz schlug schneller. Etwas brodelte tief in meiner Brust und drohte an die Oberfläche zu kriechen.
»Ganz ruhig, Atlas. Du bist zu Hause. Du bist in Sicherheit«, flüsterte ich mir selbst zu, während ich zur Tür ging.
Als ich sie aufriss, stand sie da. Maddie.
»Hey«, sagte ich. Mein Herzschlag hätte sich beruhigen sollen. Es war nur Maddie. Maddie, die, vom Regen durchnässt, auf meiner Willkommensmatte stand und hektisch atmete.
Maddie, deren braune Augen nicht vom Regen, sondern von Tränen feucht waren.
»Bitte hilf mir«, keuchte sie.
Mein Puls schlug schneller und das Monster, das in meinem Inneren wohnte, drohte aufzuwachen.
»Was ist passiert?«, fragte ich und trat näher. Vorsichtig legte ich die Hände auf ihre Schultern.
»Es war so dunkel und der Zaun war kaputt. Sie hatte nichts auf der Wiese zu suchen. Dann ist sie durch den kaputten Zaun … ich …« Sie vergrub das Gesicht in den Händen. »Ich habe Regenbogen angefahren.«
Das Alpaka.
Leos Alpaka.
»Wo ist sie?«, fragte ich und nahm ihr Gesicht in die Hände, damit sie mich ansehen musste.
Maddie ließ die Hände sinken und presste ihre bläulichen Lippen fest aufeinander. »Ich konnte sie nicht bewegen. Sie ist zu schwer.«
Ich nickte. »Bring mich einfach zu ihr, okay? Es wird alles gut.«
Es wird alles gut. Ein Satz, den ich seit Monaten nicht mehr ausgesprochen hatte. Zu niemandem. Auch nicht zu mir selbst. Doch als ich in Maddies Augen schaute und sich ein Fünkchen Hoffnung in sie stahl, fühlten sich meine Worte so echt an.
»Regenbogen gehört Leo. Er darf sie nicht meinetwegen verlieren! Nicht auch noch sie. Er hasst mich jetzt schon.« Ihre Stimme brach und Tränen rollten ihr über die Wangen. Keine Ahnung, was sie zu sagen beabsichtigte. Es blieb auch keine Zeit, um nachzufragen. Wir mussten ein Leben retten und vielleicht würde es mir diesmal gelingen.
Eilig zog ich meine Schuhe an. »Bring mich zu ihr«, wiederholte ich, nahm ihre Hand in meine und ließ mich von Maddie hinaus in den Sturm führen.