Leseprobe Neuanfang in White Field

Kapitel 1 – Riley

Ohrenbetäubendes Autohupen, das rauschende Öffnen von Bustüren und der köstliche Duft nach Caramel Macchiato vom Café um die Ecke rissen mich aus meinen Tagträumen.

Ich betrachtete mein Spiegelbild. Der Ansatz meiner Haare war bereits rausgewachsen und offenbarte das kupferne Rot darunter. Als ich vor wenigen Jahren nach New York City gezogen war, hatte ich mich dazu entschlossen, dem Neuanfang den letzten Schliff zu verpassen. Tiefe Augenringe in meinem Gesicht zeugten trotz Concealer davon, dass ich zu viel und lange arbeitete. Vielleicht kam der Anruf meiner Eltern ganz gelegen, um dem stressigen Alltag der Großstadt zu entkommen. Aber ob es eine gute Idee war, zurück an den Ort zu kehren, der so viel von mir abverlangt hatte?

Mein Blick schweifte zu den zwei Koffern, die vor der Tür meines Appartements standen und auf mich warteten. Es ist ja nicht für immer, versuchte ich mir einzureden, nur für ein paar Wochen. Viel länger konnte mein Boss mich auch nicht entbehren, da ich als stellvertretende Leitung die Redaktion am Laufen hielt. Nicht umsonst hatte ich mir vier Jahre lang am College den Hintern aufgerissen, um einen Job bei einer der renommiertesten Lifestyle-Zeitschriften in New York City zu ergattern. Aber ich konnte Mom und Dad nicht weiter vertrösten und sie bei jedem Anruf abwimmeln, zumal sie beide nicht jünger wurden und die wenigen Rinder auf der Farm das Einzige waren, das sie noch hatten. Ich hatte also Kuhfladen und idyllische Abgeschiedenheit gegen pausenloses Gehupe und Stadttrubel eingetauscht, und schmerzhafte Erinnerungen gegen einen Neubeginn. Und verdammt, ich hätte nicht glücklicher sein können.

Ich hatte einen gutbezahlten Job, ein Appartement mit Blick über die beeindruckenden Wolkenkratzer und konnte von hier aus sogar die Baumspitzen des Central Parks erkennen. Was wollte ich mehr? Einen Mann? Ganz sicher nicht, Beziehungen hatte ich vor langer Zeit abgeschworen. Abgesehen davon war mein Herz nicht bereit dafür und ich war mir nicht sicher, ob es das jemals sein würde. Wunden hinterließen immer Narben, sowohl innerlich als auch äußerlich, und ich wollte sie niemandem zeigen. Vor allem aber wollte ich mir selbst nicht eingestehen, wie spürbar die Narben noch in meinem Inneren waren.

Schluss jetzt, ermahnte ich mich selbst und strich mir eine widerspenstige Haarsträhne hinter das Ohr. Ich war nicht mehr das junge Mädchen von damals, ich war eine erwachsene, erfolgreiche Frau und wer weiß was aus ihm geworden war. Aus Jameson. In fünf Jahren konnte viel passieren und die Ungewissheit machte mich verrückt. Warum überhaupt dachte ich über ihn nach? Vielleicht weil Jameson der Grund dafür war, dass ich meinen Heimatort White Field in British Columbia seit Jahren mied? Er und die Erinnerungen an die gemeinsamen Tage und Nächte und das Leben, das wir uns hatten aufbauen wollen, bevor es in einem Meer aus Flammen niedergebrannt war. Die Gedanken daran versetzten mir einen heftigeren Stich in der Brust, als ich erwartete.

Das Uber, das ich bestellt hatte, hupte nun schon zum zweiten Mal. Ich sollte mich beeilen, wenn ich den Flieger nicht verpassen wollte – wobei mir gerade hundert andere Dinge in den Sinn kamen, die ich lieber tun würde. Aber ich tat es Mom und Dad zuliebe und möglicherweise beugte ich mich ihrem Wunsch, weil mich mein schlechtes Gewissen, sie so lange nicht besucht zu haben, schon viel zu lange plagte. Also warf ich mir einen Parka über, schob die Koffer vor die Tür und schloss mein Appartement ab. Nicht ohne einen letzten, sehnsuchtsvollen Seufzer. Ich hatte mich an New York City gewöhnt und konnte es selbst nach Jahren nicht fassen, in einer Stadt wie dieser zu wohnen. In der Stadt, die niemals schlief.

Nachdem der Uber-Fahrer meine Koffer verstaut und irgendwas in einer fremden Sprache vor sich her murmelte, fuhr er Richtung Flughafen. Vermutlich fragte er sich, was zum Teufel ich in den zwei Koffern mitschleppte. Ich hatte eben an alles gedacht – außer an ein Paar Gummistiefel, die seit meinem Umzug nach New York City niemals in meinem Schuhschrank zu finden waren. Wie so vielen anderen Ballast hatte ich sie in White Field zurückgelassen.

***

Acht Stunden später landete ich völlig übermüdet und nicht gesättigt von der Mahlzeit der Airline in Kanada. Es war seltsam, nach so langer Zeit wieder zurückzukehren. Alles war so vertraut und doch so fremd. Ich redete mir sogar ein, dass die kanadische Luft anders roch. Das war natürlich absoluter Unsinn, aber es fiel mir schwer, etwas Gutes an Kanada zu lassen. Weitläufige, dichte Wälder erstreckten sich über ganze Provinzen, kristallklare Seen, himmelhohe Bergspitzen und die Gefahr, in freier Wildnis auf Grizzlybären oder Elche zu treffen – unumstritten besaß Kanada eine atemberaubende Landschaft. Doch all das hatte in den letzten Jahren an Glanz für mich verloren, bis es nur noch eine matte Hintergrundkulisse für ein schnödes Hollywood-Drama war.

Gerade hob ich meine Koffer vom Gepäckband und zog mein Smartphone aus der Hosentasche, um einen entgangenen Anruf auf meiner Mailbox abzuhören. Ich klemmte es mir zwischen Ohr und Schulter, während ich die Koffer in Richtung Ausgang rollte, als ich in einem Pick-up ein bekanntes Gesicht erspähte. Ich musste mich bemühen, mein Smartphone nicht auf den Boden fallenzulassen. Er sah noch genauso aus wie vor fünf Jahren. Die kantigen Gesichtszüge, das dunkle Haar, das sich an den Spitzen lockte, der Dreitagebart, dessen Stoppeln beim Küssen meine Wangen gestreift hatten. Und die stahlgrauen Augen, in denen ich mich stets verlor und die einst so voller Liebe für mich gewesen waren. Ich hatte damit gerechnet, ihm zu begegnen, aber nicht so plötzlich. Nicht an dem verfluchten Flughafen, von dem mich meine Eltern hätten abholen sollen. Was also hatte Jameson hier zu suchen?

»Willst du noch länger da rumstehen?«, fragte er und öffnete die Heckklappe der Ladenfläche. In abgewetzter Jeans, verschmutztem T-Shirt und rotkariertem Flanellhemd, dessen Ärmel er hochgekrempelt hatte, stand er da. Und mit einem Mal hatte er nichts mehr gemeinsam mit dem jungen Mann, der mir in der Highschool den ersten Kuss gestohlen hatte und mit dem ich noch so viele weitere erste Male erlebt hatte. Nichts erinnerte mehr an den losgelösten Typen von damals, der mich mit jedem noch so dämlichen Witz zum Lachen gebracht hatte. In fast feindseliger Manier und einem Ausdruck in den Augen, den ich nicht deuten konnte, stand er mir gegenüber. Jedes seiner Worte schoss mir durch Mark und Bein und ich hasste mich dafür, dass er selbst nach all den Jahren solch eine Wirkung auf mich ausübte. Wie sehr ich doch recht gehabt hatte, dass auch er nicht mehr der junge Mann von damals war. Er war jemand völlig anderes, jemand den ich nicht kannte und dem ich so fern wie noch nie war.

»Was suchst du hier?«, brachte ich eine gefühlte Ewigkeit später hervor.

Spöttisch zog er eine Augenbraue in die Höhe. »Dich abholen. Oder denkst du, ich habe nichts anderes zu tun, als eine Stunde zum Flughafen und wieder zurück zu fahren?«

»Aber … wieso?«

»Deine Eltern haben mich darum gebeten«, antwortete Jameson, nahm plötzlich meine Koffer und hievte sie auf die Ladefläche des Pick-ups, dessen rote Farbe noch verblasster war als vor einigen Jahren. Selbst mit dem Wagen verband ich Erinnerungen, die ich lieber verdrängte. Erinnerungen an lange Sommernächte, in denen wir nicht die Hände voneinander lassen konnten, und schier endlose Tage, an denen die Küsse des anderen wie die Luft zum Atmen gewesen waren.

Völlig verdattert, das Smartphone in der linken und die Handtasche in der rechten Hand, starrte ich auf den Pick-up. Meine Eltern hatten ihn darum gebeten? Waren die denn von allen guten Geistern verlassen? Sie wussten doch genau, dass das mit Jameson und mir alles andere als glimpflich zu Ende gegangen war. Zumal ich es mit meiner Mom abgesprochen hatte, dass sie und Dad mich abholen würden. Am liebsten hätte ich mich wie ein kleines Kind auf den Boden geschmissen und gebrüllt. So finster wie er dreinschaute, ging Jameson das Ganze genauso sehr wie mir gegen den Strich und da ich nicht länger als nötig seinem Blick ausgesetzt sein wollte, stieg ich ein. Im Inneren war es eiskalt und im Fußraum sammelten sich dutzend CDs, von denen ich einige Titel wiedererkannte. Überall schienen Geister zu lauern, denen ich es geschafft hatte, die letzten fünf Jahre erfolgreich auszuweichen. Ich war noch nicht einmal in White Field angekommen und schon bereute ich es, hierhergekommen zu sein. Ich vermisste New York. Ich vermisste es, bis zum Hals in Arbeit zu stecken, sodass erst gar keine Sehnsucht aufkommen konnte. Aber da musste ich nun durch und ich hatte schon wahrlich Schlimmeres gemeistert, wie die College-Prüfungen oder Vorstellungsgespräche, an denen meine gesamte Zukunft hing. Oder Dinge, die ich lieber nicht hätte meistern müssen, und die ich nie vergessen werde. Dinge, die dazu geführt hatten, White Field, Jameson und meiner Familie den Rücken zu kehren. Dinge, über die ich weder nachdenken noch sprechen wollte.

Während die malerische Landschaft Kanadas mit ihren dichten Wäldern und schneebesetzten Bergspitzen an mir vorbeizog, setzte bereits die Abenddämmerung ein. So langsam machte mir der lange Flug zu schaffen und, dass ich nichts außer einer kläglichen Mahlzeit aus labbrigen Nudeln in Tomatensoße gehabt hatte. Hätte ich mir doch besser noch ein Truthahn-Sandwich vom Flughafen mitgenommen – und ein verdammtes Taxi. Stattdessen stand mir eine einstündige Autofahrt nach White Field bevor und ich befürchtete, dass das noch unangenehmer wurde als unser bisheriger Dialog. Jameson sah die ganze Zeit über stur geradeaus, die Hände krampfhaft ums Lenkrad gelegt, ohne auch nur den Anschein zu machen, sich mit mir unterhalten zu wollen. Nicht einmal ein flüchtiger Smalltalk, nur eisernes Schweigen und unbehagliches Räuspern hier und da. Ich traute mich nicht, das Radio anzuschalten oder mich im Spiegel des Blendschutzes anzuschauen. Nach dem mehrstündigen Flug sah ich bestimmt noch müder aus, als ich mich fühlte. Aber was soll’s, Jameson kannte mich schon in so ziemlich allen Gefühlslagen, mit strähnigem Haar, pickeligem Gesicht und ausgebeultem T-Shirt.

Die Fahrt verging so langsam, dass ich glaubte, wir hingen in einem Zeitloch fest. Erst als wir das Ortseingangsschild von White Field passierten, seufzte ich innerlich auf. Alles sah so aus wie damals, die Häuser mit ihren Farmen, in denen kein einziges Licht mehr brannte, die Fußgängerzone mit ihren vielen kleinen Läden und der großflächige See, der von dichten Bäumen umgeben war. Und überall Erinnerungen. Hier hatte ich meine Kindheit und Jugend verbracht und hier hatte ich mein restliches Leben verbringen wollen. Bis ich einfach nur noch weg wollte, weit weg von allem und jedem. In White Field kannte jeder jeden und ich wusste, dass auch meine Ankunft schon vor Wochen allen bekannt war. Bestimmt musste ich Rede und Antwort stehen, warum ich damals so plötzlich verschwunden war, wie mein Leben in New York nun aussah und weshalb ich jetzt zurückgekommen war. Dabei war es unmöglich, dass sie nicht wussten, was der Grund für meine Flucht war. Immerhin waren Jameson und ich seit der Highschool zusammen gewesen und hatten nach dem College heiraten wollen. Die Katastrophe, die darauf folgte, hatte natürlich die Runde gemacht und die mitleidigen Blicke waren Folter gewesen. Jeder einzelne Tag in White Field und in Jamesons Armen war Folter gewesen.

Abrupt kam der Wagen zum Halten und ebenso unvorbereitet riss Jameson die Tür zur Beifahrerseite auf. Die kalte Luft zog herein und ließ mich frösteln. Was hatte er vor?

»Hast du etwa auch vergessen, wo dein Elternhaus steht?«, zischte er und als ich mich zu ihm drehte, traf mich sein eisiger Blick. In ihm lag pure Verachtung.

»Was? Natürlich nicht«, stieß ich hervor.

»Gut, dann steig aus.« Er wandte den Blick von mir ab, starrte aus dem Fenster der Fahrerseite und trommelte ungeduldig mit den Fingern auf dem Lenkrad, als könne er es nicht erwarten, mich loszuwerden.

Viel zu überrumpelt von seinen Worten, um darüber nachzudenken, kletterte ich aus dem Pick-up und hievte die Koffer ungeschickt von der Ladefläche. Kaum landeten sie auf meinen Zehenspitzen, gab Jameson Gas und raste davon in die Dunkelheit. Er hatte mich einfach zurückgelassen! Inmitten der Kälte und Dunkelheit von White Field, in der nur das schwache Licht der Straßenlaternen mir den Weg ebnete. Mit meinem kaum vorhandenen Orientierungssinn hatte ich selbst in New York Jahre gebraucht, nicht die falsche U-Bahn zu nehmen, um von meinem Appartement zur Redaktion zu finden. Da ich in White Field aufgewachsen war, sollte ich es wie meine Westentasche kennen, aber die Dunkelheit, Müdigkeit und der Hunger erschwerten es mir, den Weg ausfindig zu machen. Auch die kühlen Temperaturen in der Nacht war ich nicht mehr gewohnt, da ich in New York City die meiste Zeit im beheizten Büro oder Appartement verbracht hatte. Ich schlang die Arme um meinen Körper und den viel zu dünnen Parka, der mich kaum wärmte.

Nachdem ich schätzungsweise zwanzig Minuten in der Gegend herumirrte, kam sanfter Nieselregen hinzu. Das durfte doch nicht wahr sein! Ich war drauf und dran, meine Koffer in die nächste Regenpfütze zu schmeißen und mir ein Taxi zu rufen, das mich zurück an den Flughafen brachte. Aber in diesem abgelegenen Örtchen würde ich um diese Uhrzeit ohnehin niemanden mehr erreichen. Kaum hatte ich die Hoffnung aufgegeben, die Nacht in einem warmen Bett zu verbringen, erkannte ich in naher Ferne das schnuckelige Blockhaus meiner Eltern. In der Einfahrt stand der rostige Pick-up meines Dads und der vertraute Geruch vom Mist der Rinder stieg mir in die Nase. Früher hatte Dad die größte Rinderherde von allen gehabt und wir mussten uns keine Gedanken darum machen, über die Runden zu kommen. Mittlerweile hatte meine Mom ihn dazu überreden können, einen Teil zu verkaufen, damit er wenigstens etwas zur Ruhe kommen konnte. Ganz von seinen Rindern konnte er sich allerdings nicht trennen, er war eben durch und durch Farmer.

Als ich das Blockhaus erreicht hatte, atmete ich ein letztes Mal geräuschvoll ein und wieder aus, ehe ich anklopfte. Kurz darauf ging im Inneren ein Licht an und die Tür wurde geöffnet. Mit einem strahlenden Lächeln und wirr vom Kopf abstehenden Haaren stand Mom vor mir.

»Da bist du ja, Riley! Komm rein, los!« Sie winkte mich in das Haus, das noch genauso aussah wie vor meiner Flucht. Buchen-Möbel, ein ausladendes, violettes Sofa und ein Kamin, dessen Wärme mich empfing. Im Sessel rechts vom Sofa saß Dad, der gerade ein Kreuzworträtsel ausfüllte. Er legte es beiseite, als er mich erblickte, und seine Augen hellten sich auf.

»Willkommen zuhause, Liebling«, sagte er und nahm mich in seine Arme. Die Umarmung fühlte sich plötzlich wirklich wie Zuhause an, als radiere sie die wenig berauschende Ankunft am Flughafen aus. Darüber musste ich mit ihnen auch noch ein Wörtchen reden.

»Hey Mom, hey Dad«, erwiderte ich, als ich mich aus seiner Umarmung gelöst hatte und mich auf das Sofa fallen ließ. Den alten Röhrenfernseher, der gegenüberstand, hatten meine Eltern auch nie ausgewechselt. Schließlich funktioniere er noch, hatte Dad gesagt und die Schultern gezuckt, als ich ihn als Teenie darauf angesprochen hatte.

»Wie war dein Flug? Hat alles geklappt?«, fragte Mom aus der Küche und kam mit einem dampfenden Teller und einer Tasse Tee zurück, die sie vor mich abstellte. »Du hast bestimmt Hunger, mein Schatz, iss was.«

Beim Duft der Käsemakkaroni lief mir das Wasser im Mund zusammen. Für einen Moment vergaß ich meinen Unmut darüber, dass es bestimmt Mom gewesen war, die es eingefädelt hatte, dass Jameson mich am Flughafen abholte. Stattdessen wärmte ich meine durchgefrorenen Hände an der Tasse und nahm einen ersten Schluck, bevor ich wie ein ausgehungerter Kojote über die Makkaroni herfiel. Als kleines Mädchen waren sie mein Leibgericht gewesen und auch heute noch schmeckten sie einfach himmlisch. Mom hatte mir sogar wie immer eine extra Portion Cheddar und Emmentaler auf die Nudeln getan, zu viel Käse gab es für mich nie.

Die Flammen im Kamin flackerten und leises Stimmengewirr drang aus dem Fernseher. Das Besteck in den Händen und dem Geschmack der köstlichen Makkaroni im Mund, wurde mir plötzlich bewusst, wie viel ich doch in diesem Ort zurückgelassen hatte. Viel mehr als ich dachte. Nicht nur mein altes Kinderzimmer und meine Eltern, die sich stets um mich gesorgt hatten, sondern auch alte Freunde. Es war unausweichlich, sie hier nicht wieder anzutreffen. Sie würden Fragen stellen, auf die ich zwar Antworten hatte, aber die ich mich selbst nach fünf Jahren nicht traute auszusprechen. Selbst wenn ich versuchte, mich bestmöglich auf unliebsame Begegnungen vorzubereiten, wusste ich, dass es wenig bringen würde. Denn es war unmöglich, die Vergangenheit umzuschreiben oder zu verschönern. Sie war in Stein gemeißelt und nichts und niemand konnte etwas daran ändern. Einzig die Zukunft konnte man beeinflussen und selbst da geschahen unvorhergesehene Dinge, die wie ein Meteorit einschlugen.

»Es lief alles bestens«, antwortete ich zwischen zwei Bissen, »bis auf die Tatsache, dass nicht wie verabredet ihr mich abgeholt habt, sondern Jameson.«

Über den Rand ihrer Brille warf Mom meinem Dad einen Blick zu, den er erwiderte. »Ach, Schatz, Dad hatte den ganzen Tag so viel zu tun. Du weißt ja, seine Bandscheiben sind nicht mehr die besten, und ich fahre nicht im Dunkeln. Da dachte ich, ich frage Jameson und er hat bereitwillig zugestimmt. Ich hätte es dir sagen sollen, Riley, aber du warst schon längst im Flugzeug und–«

Ich stieß ein spitzes Lachen aus. »Bereitwillig zugestimmt?«

»Du kennst Jameson, er ist ein überaus netter Junge«, erwiderte Mom leichthin, zuckte mit den Schultern und nippte an ihrem Tee.

»Schon gut, Mom, ich hab deinen Plan durchschaut.«

»Welchen Plan?«

Es machte mich rasend, dass sie dachte, sie könnte ihre Hintergedanken vor mir verbergen. Da war ich fünf Jahre weg gewesen und immer noch glaubte sie, ich sei ein kleines Mädchen, in dessen Angelegenheiten sie sich einmischen durfte.

Krachend landete das Besteck auf dem Porzellanteller und geschmolzener Käse verteilte sich auf der Tischdecke. »Tu doch nicht so, Mom, du wolltest das. Du wolltest, dass Jameson mich abholt!«, platzte es aus mir heraus. »Erwärmt es dein Herz, wenn ich dir erzähle, dass wir uns in die Arme gefallen sind und uns geküsst haben? Dass wir uns alles verziehen haben, was vorgefallen ist, und in eine gemeinsame Zukunft schauen?«

Sie schaute mich für einen Moment entgeistert an, ehe sie begriff, dass ich einen Scherz machte. »Aber Riley, ich –«

»Ich bin euretwegen hergekommen, nicht um der alten Zeiten Willen!«

»Riley, bitte beruhig dich«, schaltete sich nun auch Dad ein, was mir den letzten Rest an diesem katastrophalen Tag gab. Nicht nur dass Mom daran beteiligt war, auch er, ausgerechnet Dad. Käsemakkaroni hin oder her, ich wollte mich einfach nur noch in ein kuschliges Bett legen und schlafen.

Ich erhob mich und stapfte zur steilen Holztreppe, die in das Obergeschoss führte, wo mein altes Kinderzimmer lag. »Ihr wisst beide genauso gut wie ganz White Field, dass Jameson und ich eine zweite Chance vergeigt haben. Und das schon vor langer Zeit.« Dann preschte ich die Treppe hoch und knallte die Zimmertür hinter mir zu.

Tränen schossen mir in die Augen und ich war zu müde, um sie zurückzuhalten. Der Flug, das unvorbereitete Aufeinandertreffen mit Jameson und die vielen Erinnerungen, die mich hier heimsuchten, waren zu viel. Ich war kurz davor, mein Smartphone zu zücken und mir den frühestmöglichen Flug zurück nach New York zu buchen, als ich aus dem Fenster blickte. Von hier aus konnte ich das Haus sehen, das Jamesons Eltern ihm überlassen hatten, nachdem sie die Farm aufgegeben und sich ein kleineres in der Nähe gekauft hatten. Allem Anschein nach hatte er es mittlerweile übernommen, denn draußen in der Einfahrt parkte sein rostiger Pick-up. Auf dem sich nach hinten anschließenden Hof konnte ich eine ganze Reihe von Ställen erkennen, aber es war zu dunkel, um festzustellen, welche Tiere drinstanden. Ob Jameson wohl wie mein Dad Rinder besaß? Ich konnte mich nur zu gut daran erinnern, dass er viel lieber meinem Dad bei den Rindern ausgeholfen hatte als seinem eigenen Dad bei den Schweinen. Schon in der Highschool hatte er davon geträumt, eines Tages eine eigene Farm zu haben, und nur seinem Vater zuliebe hatte er sich zu einem Studium der Betriebswirtschaftslehre durchgerungen.

Auf einmal gingen im ganzen Haus die Lichter an und erst dann wurde mir klar, dass auch er mich womöglich sehen konnte. Also versteckte ich mich schnell hinter den Vorhängen meines Zimmers. Es war verrückt, als Teenager hatten wir dieses Spiel geliebt. Von seinem Zimmer aus konnte Jameson auch in meines blicken und so verbrachten wir ganze Nächte an den Fenstern unserer Kinderzimmer. Zugegeben es war nicht immer ganz anständig gewesen, was wir da trieben, und deshalb mussten wir auch darauf achten, dass unsere Eltern uns nicht dabei erwischten. Damals konnten wir die Finger nicht voneinander lassen und heute konnten wir uns kaum mehr in die Augen schauen.

Den Blick weiterhin auf das Haus gerichtet, erschien plötzlich eine Gestalt vor der Tür, die eintrat. Es war eine Frau, wie ich erkennen konnte, und sie schlang ihre Arme um Jameson. Sie küssten sich und torkelten durch den Raum, bis sie schließlich um sich schlugen. Nein, sie schlugen nicht um sich, sie rissen sich die Kleidung vom Körper! War sie etwa seine Freundin? Oder gar seine Frau?

Ich konnte, nein, ich wollte nicht mehr hinsehen. Rasch zog ich die Vorhänge zu, legte mich in mein Bett und zog mir die Decke bis unter das Kinn.

Hierherzukommen war keine gute Idee gewesen.

Kapitel 2 – Jameson

Sie hatte so anders ausgesehen und doch wie die Riley, die ich geliebt hatte. Ihre Haare waren weniger rot, aber ihre Augen von demselben smaragdgrünen Ton, dem ich mich nie hatte entziehen können. Bis zu dem Tag, an dem sie mich dazu zwang. Sie hatte mich vor vollendete Tatsachen gestellt, ohne uns eine weitere Chance zu geben.

Was hatte ich mir also davon erhofft, eine geschlagene Stunde zum Flughafen zu fahren, um sie abzuholen? Und eine weitere Stunde zurück, in der nur eisernes Schweigen herrschte? Sicher, ich hatte Brenda und Kenneth einen Gefallen getan, aber ich musste mir eingestehen, dass das nicht der wahre Grund war. Wollte ich sie wiedersehen? Wollte ich mich ein weiteres Mal dem Schmerz aussetzen, den ich damals gefühlt hatte? Verfluchte Scheiße, ich wusste es nicht. Ich wusste nur, dass ich mich wie ein verdammter Vollidiot aufgeführt und sie im Dunkeln im Nirgendwo stehengelassen hatte. Der ganze Zorn, mit dem ich versucht hatte, die letzten Jahre klarzukommen, war plötzlich aus mir herausgeschossen. Und ich konnte rein gar nichts dagegen tun. Oder wollte ich, dass sie ihn zu spüren bekam? Wollte ich ihr zeigen, wie sehr sie mich verletzt hatte?

»Jameson«, schnurrte Megan an meiner Brust.

In einer geschickten Bewegung öffnete ich ihren BH und ließ ihn achtlos neben das Bett fallen. Ich brauchte Ablenkung und Megan konnte sie mir geben. Seit ungefähr einem Jahr hatten wir diese lockere Sache am Laufen und ich war froh, dass sie darin nicht mehr sah, als es war. Sex, einfach unverbindlicher Sex.

Ihre harten Brustwarzen streiften an meiner Brust entlang und ich hoffte, dass meine Gedanken über Riley vertrieben wurden. Aber ich kam nicht darüber hinweg, dass sie plötzlich nach fünf Jahren zurück war. Ihre Eltern wohnten hier und es war ihr gutes Recht, sie zu besuchen, aber ich fragte mich, ob nicht mehr dahintersteckte. Die Hoffnung, dass sie zu mir zurückkam und wir da weitermachten, wo wir aufgehört hatten, hatte ich schon vor langer Zeit verloren. An jenem Ort, an dem ich auch ein Stück von Riley und mir verloren hatte.

Megan rekelte sich auf mir, unsere gierigen Münder fanden zueinander und ihre kleinen, festen Brüste rieben an meiner Haut. Aber die Gedanken an Riley ließen mich nicht los und meine Verärgerung darüber wuchs in Wut. Ich griff Megans Hüfte, rollte mich auf sie und riss ihr den Slip vom Körper. Ihre Scham glänzte, sie war bereit und endlich war auch ich es. Ich versenkte mich in ihr und ihr ungezügeltes Stöhnen erfüllte meine Ohren, meinen Kopf und sogar meine Gedanken. Diesmal erfüllte der Sex mit Megan nur seinen Zweck, nicht mehr. Dass es daran lag, dass Riley zurück war, wollte ich mir nicht eingestehen. Schließlich hatte jeder mal einen schlechten Tag.
Nachdem ich Megan mehr oder weniger noch in der Nacht rausgeschmissen und mich unter die Dusche gestellt hatte, schenkte ich mir ein Glas Whiskey ein. Er war nicht, wie in Kanada üblich, mild, sondern hatte es in sich. Mein Dad hatte ihn mir vor Jahren aus einer nahegelegenen Destillerie mitgebracht, wo der Whiskey noch nach alter kanadischer Tradition aus Roggen gebrannt und lange in Eichenfässern gelagert wurde. Dementsprechend herb schmeckte er und war somit genau das, was ich brauchte.

Ich ließ mich auf das Sofa fallen, legte den Kopf in den Nacken und genoss den Geschmack des strengen Whiskeys auf meiner Zunge. Bestimmt würden meine Eltern mich fragen, ob ich mitbekommen hatte, wer zurück war, und wie ich sie beide kannte, wussten sie längst, dass ich Riley abgeholt hatte. Wie in den meisten kleinen Ortschaften konnte man sich auch in White Field dem Klatsch und Tratsch nicht entziehen. Aber ich liebte die Kleinstadt in der Provinz von British Columbia und hatte nie vor, sie zu verlassen. Schon seit Generationen war meine Familie eine Farmerfamilie und ich hatte nie Zweifel daran gehabt, einmal in Dads Fußstapfen als Farmer zu treten. Allerdings züchtete ich nicht wie mein Dad nur Schweine, sondern auch Rinder und Hühner und Gänse und baute mein eigenes Gemüse an. So konnte ich mich teilweise selbst versorgen und durch den Verkauf von Vieh noch etwas Gewinn erzielen. Ich war glücklich damit und in den meisten Monaten nahm ich genug ein, um etwas beiseite zu legen. Auch wenn ich es vor meinem Dad niemals zugeben würde, durch mein Studium der Betriebswirtschaftslehre konnte ich die Ein- und Ausgaben besser kalkulieren als er. Und falls es mal ganz schlecht laufen sollte, was ich natürlich nicht hoffte, hatte ich genug Erspartes.

Kurz nach Mitternacht löschte ich alle Lichter im Haus und begab mich in mein Bett, das ich genauso unaufgeräumt vorfand, wie ich es verlassen hatte. Megans blumiges Parfüm hing noch in der Luft, aber ich war zu erschöpft, um das Fenster zu öffnen. Stattdessen ließ ich mich in das Bett fallen und schon bald übermannte mich ein traumloser Schlaf.

***

Am nächsten Morgen war ich bereits um kurz nach vier Uhr auf den Beinen und griff blindlings nach einem neuen T-Shirt im Kleiderschrank, das ich mir überwarf. Am Ende des Tages musste es sowieso in die Waschmaschine, die so gut wie jeden Tag lief. Zwar bot meine Mom mir immer wieder an, meine Wäsche zu waschen, aber ich war kein kleiner Junge mehr – auch wenn sie das natürlich anders sah.

»Ich wasche gerne deine Wäsche, Jameson, dann hab ich wenigstens was zu tun«, beteuerte sie stets und fuhr mir dann durch die Haare.

Seitdem meine Eltern mir vor vier Jahren die Farm übergeben und in ein kleineres Häuschen wenige Straßen entfernt gezogen waren, fiel es ihnen schwer, die Füße stillzuhalten. Dad fehlten seine täglichen Aufgaben und seine Tiere und Mom das Gefühl gebraucht zu werden. Ich konnte es ihnen nicht verübeln, schließlich musste es nicht einfach sein, alles, was man sich über Jahrzehnte hinweg aufgebaut hatte, abzugeben. Jedenfalls konnten sie sich sicher sein, dass die Farm bei mir in guten Händen war. Für mich kam nie ein anderer Beruf infrage und ich mochte es, mein eigener Herr und für alles selbst verantwortlich zu sein. Ein Bürojob von 9 bis 17 Uhr? Unvorstellbar für mich. Ich war in der wilden Natur Kanadas aufgewachsen und für mich gab es nichts Schöneres, als den Tag draußen zu verbringen. In einem Großraumbüro würde ich mich nur eingesperrt fühlen.

Während der Kaffee kochte, wusch ich das Geschirr der vergangenen Tage (oder waren es bereits Wochen?), das sich in der Spüle stapelte. Dabei huschte mein Blick auf das Nachbarhaus von Brenda und Kenneth, in dessen oberen Stockwerk sich Rileys Kinderzimmer befand. Die Vorhänge waren zugezogen und ich fragte mich, ob auch Riley an damals zurückdenkt. Als wir noch Jugendliche waren und die Nächte an den Fenstern in unseren Zimmern verbrachten, Botschaften auf Papier kritzelten und sie dem anderen hochhielten, wir uns nach und nach von Kleidungsstücken entledigten oder uns einfach nur ansahen. Es fühlte sich verboten und zugleich romantisch an. Die Nächte gehörten uns und ich konnte es bereits am Abend kaum erwarten, Riley am Fenster zu erblicken und ihr dabei zuzusehen, wie sie voller Absicht ihr T-Shirt auszog.

Die Erinnerung durchfuhr mich wie ein Stromschlag, der mich zurück ins Hier und Jetzt katapultierte. Ein Teller landete klirrend auf dem Holzboden und zerbrach. Scheiße, kaum war sie zurück, brachte sie meine gesamte Welt durcheinander und die verdrängten Erinnerungen zum Vorschein. Ihre Rückkehr forderte meinen mühevoll erbauten Schutzpanzer heraus und ich durfte nicht zulassen, dass sie ihn durchbrach. Denn sie allein war überhaupt erst der Grund, weshalb ich ihn erbaut hatte.

Es war besser, ich dachte nicht länger über das nach, was in der Vergangenheit lag. Riley würde in wenigen Wochen wieder abreisen, da war ich mir sicher, also versuchte ich, ihr so gut es ging aus dem Weg zu gehen. Das würde mir zwar nicht immer gelingen, da White Field ein kleines Örtchen war und ich Kenneth auf der Farm aushalf, aber es würde ja nicht für immer sein. Sie würde wieder abreisen und dann alles wie immer werden, so als war sie gar nicht hier gewesen.

Nachdem ich meine morgendliche Tasse Kaffee in einem Zug geleert hatte, putzte ich mir die Zähne und schlüpfte anschließend in meine Arbeitsschuhe. Zu guter Letzt zog ich mir ein Flanellhemd über und trat in die kühle Morgenluft hinaus. Um diese Uhrzeit war es in British Columbia noch ziemlich frisch, die Morgendämmerung würde erst in ungefähr zwei Stunden einsetzen. Bei meiner Arbeit betrachtete ich, wie die Sonne aufging – was gab es Besseres?

Als Erstes kümmerte ich mich um meine dreiundvierzig Rinder, versorgte sie mit Getreideschrot und frischem Wasser. Oftmals musste ich zweimal am Tag Wasser auffüllen, da ein Rind am Tag bis zu 70 Liter trank und 51 Kilo fraß. Insgesamt bemaß die Farm 125 Hektar, dazu kam noch ein Feld, das ich nutzte, um Heu herzustellen. Bis ich die Rinder versorgt hatte und das Wasser aufgefüllt war, verging gut eine Stunde. Danach widmete ich mich den Schweinen, denen ich meist gemahlenes Getreide wie Hafer, Mais und Gerste, Wurzelgemüse, Kräuter und Grünfutter zu essen gab. Zwar aßen sie weitaus weniger als die Rinder, aber auch sie benötigten reichlich Wasser, weshalb ich die Beckentränke mehrmals täglich auffüllte. Als Farmer hatte man rund um die Uhr zu tun, dafür lebte ich aber am wohl schönsten Fleck der Erde.

Als ich die Schweine versorgt hatte, war bereits die Sonne aufgegangen und ich genoss den Anblick der weißen Bergspitzen und des dichten Waldes, der den angrenzenden Lake Rayronto umgab. Im Sommer war er ein beliebter Treffpunkt, um schwimmen zu gehen, die Seele baumeln zu lassen oder einfach die Sonne zu genießen, im Winter hingegen war der See gefroren und das Eis so dick, dass man unbedacht Schlittschuhlaufen konnte. In den letzten Jahren verbrachte ich allerdings mehr Zeit auf der Farm als woanders, sie war mein Ruhepol und ich kein junger Kerl mehr, der immer auf Achse sein musste. Wenn es die Arbeit zuließ und ich guter Laune war, ging ich auch mal mit meinen alten Freunden vom College einen trinken. Tatsächlich stand ich mit einigen noch in Kontakt, zwei waren sogar selbst Farmer, und wir unterhielten uns oft über die guten, alten Zeiten. Obwohl es mir vorkam, als hätte ich erst gestern das College abgeschlossen, fühlte es sich an, als sei alles andere Jahrzehnte her – der erste Kuss mit Riley, die vielen gemeinsamen Nächte und Tage, der Einzug in das Farmhaus und wie der Traum unserer Zukunft zerbrach. Wie alles, das uns verband und wir uns aufgebaut hatten, in sich zusammenfiel und Riley mit Füßen trat, was ich mühevoll versuchte zusammenzusetzen. Für nichts und wieder nichts.

Bevor ich weiter die Tiere versorgte, beschloss ich mir eine zweite Tasse Kaffee zu gewähren. Die hatte ich definitiv nötig, nicht nur schwarz, sondern dunkelschwarz und bitterstark.

Kapitel 3 – Riley

Blinzelnd öffnete ich die Augen und fragte mich eine Sekunde lang, wo ich war, aber dann dämmerte es mir. Eine Zimmereinrichtung, die an die 90er erinnerte und nie ausgetauscht worden war, der vertraute Geruch von Kuhmist und das ohrenbetäubende Krähen eines Hahns. Das war eindeutig White Field, wie ich es kannte, die meiste Zeit meines Lebens geliebt hatte und nun verabscheute.

Ich starrte eine ganze Weile gen Decke, ehe ich die Bettdecke zurückschlug und meine Gliedmaßen streckte. Sollte ich die Vorhänge zurückziehen und damit riskieren, womöglich Jameson zu sehen? Na gut, ich konnte ihm nicht die nächsten fünf Wochen aus dem Weg gehen, aber ich würde mein Bestes geben. Bald war ich wieder in New York, würde meinem Leben nachgehen und keine Gedanken mehr an ihn verschwenden. So war der Plan und ich würde einen Teufel tun, mich nicht an ihn zu halten. Komme, was wolle.

Dennoch plagte mich ein schlechtes Gewissen, weil ich mich ausgerechnet an meinem Ankunftstag mit meinen Eltern gestritten hatte. Es änderte zwar nichts daran, dass ich über Moms Verschwörung verärgert war, aber sie hatten sich so sehr auf mich gefreut und unser Wiedersehen war alles andere als gut verlaufen. Also musste ich wohl oder übel über meinen Schatten springen und mich bei meinen Eltern entschuldigen.

Nachdem ich mir also ein schlichtes Oberteil und eine Jeans angezogen und mich frisch gemacht hatte, ging ich hinab in die Küche. Dort stand Mom bereits am Herd und der köstliche Duft von Pancakes stieg mir in die Nase.

»Guten Morgen, mein Schatz«, begrüßte sie mich und schenkte mir, trotz unserer gestrigen Auseinandersetzung, ein warmes Lächeln. Die roten, von grauen Strähnen durchzogenen Locken hatte sie zu einem unordentlichen Knoten auf dem Kopf gebunden. Zum Glück hatte ich von Mom nur die roten Haare geerbt und nicht noch die widerspenstigen Locken – das hätte mir gerade noch gefehlt. Lediglich an den Spitzen kräuselten sich meine Haare und wenn ich morgens vor der Arbeit noch Zeit hatte, glättete ich sie meist.

Unschlüssig stand ich in der winzigen Küche herum und wusste nicht so recht, wohin mit mir. »Morgen, Mom.«

»Gut geschlafen?« Sie wendete einen Pancake und gab noch einen Schuss Öl in die Pfanne, woraufhin es laut zischte.

»Mhm, geht schon«, murmelte ich.

»Setz dich, Riley, die Pancakes sind gleich fertig.«

Das war typisch meine Mutter. Sie war immer um Harmonie bemüht und hatte mir meinen Ausraster von gestern Abend schon längst verziehen. Aber ich konnte es nicht so einfach auf mir sitzenlassen, zumal sie sich beide so sehr auf mich gefreut hatten und ich ihnen so böse Worte vor den Kopf geworfen hatte.

»Mom, wegen gestern«, setzte ich an und nestelte an einer meiner Haarsträhnen herum, »es tut mir furchtbar leid, wie ich euch angegangen bin. Ich war fix und fertig nach dem Flug und nicht darauf vorbereitet gewesen, dass Jameson mich abholt.«

Sie drehte den Gasherd aus, legte den letzten Pancake auf einen Teller und setzte sich dann zu mir an den Tisch. »Ach, Riley, das ist schon alles vergessen«, erwiderte sie und legte ihre faltige Hand auf meine. »Und wenn, sollte ich diejenige sein, die sich bei dir entschuldigt. Es war ein blöder Einfall von mir. Ich hatte gehofft, dass Jameson und du euch aussprechen könntet … «

Ich seufzte. Sie wusste genauso gut wie ich, dass eine Aussprache nicht alle Fehler und Missverständnisse aus der Welt schaffte. Dafür war viel zu viel vorgefallen und ich hatte mir vor fünf Jahren, als ich White Field verlassen hatte, geschworen, mich nicht länger damit zu quälen. Nicht nur mein Leben sondern auch das von Jameson war weitergegangen. Was nutzte es, mich in den Scherben der Vergangenheit zu wälzen, die nur noch mehr innere Narben hinterließen?

»Ich weiß es zu schätzen, Mom, aber ich glaube nicht, dass es damit getan ist. Zumal Jameson nicht den Eindruck gemacht hat, als hätte er mich aus einem anderen Grund abgeholt als mich zu bestrafen.«

Ein trauriger Ausdruck trat auf ihr Gesicht und sie drückte meine Hand. »Bestrafen? Für was denn? Dafür, dass … «

»Dafür, dass ich damals geflohen bin«, vollendete ich ihren Satz. Womöglich war es damals nicht die beste Idee gewesen, von heute auf morgen die Koffer zu packen und alles, einschließlich Jameson und unserer Zukunft, hinter mich zu lassen. Aber in dieser Zeit hatte ich keinen anderen Ausweg gesehen. Mein Leben war ein einziger Scherbenhaufen gewesen und ich wusste weder ein noch aus. Das Schicksal hatte mit voller Wucht zugeschlagen und mich niedergeworfen, mir die Kräfte und die Zuversicht geraubt.

»Sei nicht so hart mit dir, Riley, was damals geschehen ist, war für euch beide nicht einfach«, versuchte Mom mich zu besänftigen.

Es braucht Zeit, darüber hinwegzukommen. Es ist ein herber Schicksalsschlag, aber es ist nicht das Ende. Du darfst nicht aufgeben. Auch anderen widerfährt das, es wird schon wieder.

Wie oft hatte ich solche Sätze gehört? Wie oft hatten die Menschen geglaubt, ihre gut gemeinten Ratschläge und Zusprüche würden den Schmerz lindern? Ich konnte und wollte all das nicht mehr hören, aber zugleich wusste ich, dass mir genau das in White Field noch bevorstand. Die Bewohner kannten mich von Kindheitstagen an, mit den meisten von ihnen hatte ich die örtliche Junior High besucht und auf dem Abschluss getanzt. Jeder kannte jeden und die Menschen standen sich hilfsbereit und aufgeschlossen gegenüber, was es aber erschwerte, Dinge für sich zu behalten – hier machte alles in Windeseile die Runde. In White Field wurde ich mit dem konfrontiert, dem ich all die Jahre aus dem Weg gegangen war.

»Iss erstmal einen Pancake«, schlug Mom vor und servierte mir einen besonders dick geratenen, ehe sie sich mit der flachen Hand gegen die Stirn schlug. »Wo bin ich nur mit meinen Gedanken? Das Wichtigste hab ich vergessen!« Sie stand auf, öffnete den Küchenschrank und kam mit einer Flasche kanadischem Ahornsirup zurück.

Ich grinste sie an. »Ohne Ahornsirup schmecken Pancakes nicht halb so gut!«

Sie tat mir reichlich Sirup auf den Teller und lachte. »Ich hatte schon befürchtet, du hättest in New York schon die gute, alte kanadische Kultur vergessen!«

»Also wirklich, Mom, wie könnte ich nur? Zuhause bekomme ich die Pancakes nicht mal annähernd so gut hin wie du! Entweder brennen sie an, ich vergesse eine Zutat oder ich habe erst gar keine Zeit, mir welche zuzubereiten.«

Während wir uns die Pancakes munden ließen, belehrte Mom mich natürlich wieder, dass ich viel zu viel arbeite und ich mich in meinen jungen Jahren doch lieber anderen Dingen widmen sollte. Einen Mädelstag veranstalten, auf Dates gehen, Cocktails schlürfen und es richtig krachen lassen – danach stand mir jedoch nicht der Sinn. Ich hatte mich für New York entschieden, weil es, nun ja, meine erste Möglichkeit war und ich dort sofort einen Job fand. Aber auch, weil ich mein ganzes Leben lang davon geträumt hatte, eines Tages in dieser atemberaubenden Stadt zu leben. Der Job in der Redaktion war alles, was ich mir gewünscht hatte, und er bot mir vielerlei Möglichkeiten. Mein Boss vertraute mir und war überzeugt von meinen journalistischen Fähigkeiten. Das wollte ich auch hoffen, schließlich hatte ich am College alles gegeben. Allein deshalb hatte ich es geschafft, ihn zu überreden, mir ein paar Wochen freizugeben. Im Gegenzug dazu versprach ich ihm einen ausführlichen, mehrseitigen Reisebericht, wie es sich im ländlichen Kanada so lebte.

»Großartig, Riley, ich seh schon die Headline vor mir: Leben im wilden Kanada, zwischen Grizzlybären und dichten Baumspitzen«, hatte mein Boss Jack geschwärmt, »von unserer waschechten kanadischen Redakteurin Riley Wilson!«

Er setzte auf mich und ich wollte ihn auf keinen Fall enttäuschen. Für den Reisebericht hatte ich nur fünf Wochen Zeit, aber ich war jahrelang nicht mehr hier gewesen, wie sollte ich es also authentisch rüberbringen? Die Leserinnen und Leser würden sofort weiterblättern, sobald sie merkten, dass ich mir Anekdoten aus den Fingern sog.

»Ist Dad schon draußen bei den Rindern?«, fragte ich Mom, die gerade ihren zweiten Pancake verputzt hatte.

Sie strich sich eine gelockte Strähne hinters Ohr. »Ich kann ihn einfach nicht davon abhalten, jeden Morgen um fünf Uhr aufzustehen. Dabei würde ihm ein bisschen Ruhe guttun.«

»Immerhin hat er schon einen Großteil seiner Rinder abgegeben, das ist ihm schon schwer genug gefallen«, rief ich ihr in Erinnerung, woraufhin sie geräuschvoll ausatmete und bedächtig nickte.

Was das anging, konnte ich Dad gut verstehen. Immerhin wusste ich, wie es sich anfühlte, wenn sich das Leben vom einen auf den anderen Tag änderte. Sein ganzes Leben lang war Dad Farmer gewesen und kannte nichts anderes als seine Rinder und die wenigen Hühner. Sie gehörten zu ihm wie Ahornsirup zu Kanada und zuzugeben, dass er all dem nicht mehr gewachsen war, hatte ihm schwer zugesetzt.

»Du hast recht, das ist schon mehr, als ich jemals erhofft habe«, räumte sie ein. »Du kennst ihn ja.«

Ich lächelte und erinnerte mich an die Zeiten, in denen ich Dad oftmals mit den Tieren zur Hand gegangen war und mich weder vor Mist noch Kuhfladen ekelte. Sorglos flitzte ich durch die Ställe, kraulte die Rinder zwischen den Ohren und fütterte sie mit der Hand. Es kam mir vor, als wäre das eine Ewigkeit her. Hatte ich mich in den fünf Jahren in New York City etwa so verändert?

Nachdem ich Mom geholfen hatte, das Geschirr zu waschen und abzutrocknen, wühlte ich in meinem Koffer nach einem passenden Paar Schuhe. Aber weiße Sneaker oder nietenbesetzte Stiefel waren wohl nicht das richtige Schuhwerk.

»Habt ihr noch ein Paar Gummischuhe übrig?«, fragte ich Mom, die gerade im Bad stand und sich das Haar bürstete.

»Schau mal im Schuhschrank, da müssten deine alten immer noch stehen.«

Und tatsächlich – in dem selbstgebauten Schränkchen von meinem Dad unter der Treppe standen meine türkisfarbenen Gummistiefel mit gelbem Blumenmuster. Die hatte ich bis vor fünf Jahren fast jeden Tag getragen und dementsprechend abgenutzt sahen sie aus. Ich schlüpfte hinein und sofort fühlte ich mich der Farmerstochter von früher wieder näher. Als hätte ich ein verlorengeglaubtes Stück meiner selbst wiedergefunden.

»Sie stehen dir nach wie vor«, meinte Mom zwinkernd, schulterte eine Handtasche und schlüpfte in ihre beigen Loafer.

»Gehst du wieder in den Kindergarten, Bücher vorlesen?«, erkundigte ich mich.

»Nein, heute gehe ich ins Seniorenheim, die alten Leute ein bisschen bespaßen, mit ihnen reden, was so anfällt.« Sie zuckte mit den Schultern und tat so, als sei es völlig normal, dass sie mehreren Ehrenämtern nachging.

»Ins Seniorenheim?« Ich runzelte die Stirn. »Machst du das etwa noch zusätzlich zu der Tätigkeit im Kindergarten und im Feinkostladen von Patricia?«

Sie nickte. »Ach, du weißt doch, die Menschen im Seniorenheim bekommen immer seltener Besuch und niemand sollte einsam sein. Und da ich sowieso kaum was zu tun habe … «

»Das hört sich für mich nicht gerade an, als hättest du«, mit den Fingern zeichnete ich Anführungszeichen in die Luft, »kaum was zu tun.«

Wir sahen uns an und dann mussten wir auf einmal lauthals lachen. Genau wie Dad konnte Mom es nicht sein lassen, und ausgerechnet sie verlangte von ihm kürzerzutreten. Kein Wunder, dass die beiden sich vor 33 Jahren kennen und lieben gelernt hatten, sie passten zusammen wie die Faust aufs Auge.

»Bis zum Mittag bin ich wieder da, dann gibt es Poutine«, verkündete sie, ehe wir uns voneinander verabschiedeten und die Haustür hinter ihr ins Schloss fiel.

Himmel, wann hatte ich das letzte Mal Poutine gegessen? Es war die kulinarische Spezialität in Kanada schlechthin und in New York war es schier unmöglich, anständiges Poutine zu bekommen. Mir lief bereits das Wasser im Mund zusammen und ich konnte das Mittagessen kaum erwarten! Ein Gutes hatte es doch hergekommen zu sein.

Nachdem ich mir meine Jacke übergezogen hatte, trat ich in die kühle Morgenluft und lief den matschigen Weg entlang zu den Ställen der Rinder. Bereits von Weitem hörte ich das vertraute Muhen und kaum erblickte ich die Hereford-Rinder, stahl sich ein Lächeln auf mein Gesicht. Na gut, möglicherweise hatte ich das Landleben doch vermisst – aber nur ein bisschen. Von Dad war hingegen weit und breit keine Spur. Wo steckte er nur?

Ich stieg durch das stählerne Gerüst in den Stall hinein und sank sogleich mehrere Zentimeter in Stroh und Fäkalien ein. Mit schweren Schritten durchquerte ich die mehrere Hektar große Stallung und fuhr mit den Fingern über das weiche Fell der Rinder, die mir ihre feuchte Nase entgegenstreckten. Jedes der Tiere hatte ein anderes Fellmuster, ihre Schwänzchen wippten von links nach rechts und sie ließen sich von meiner Anwesenheit in keiner Weise stören. Ich stapfte durch den Stall und ließ meinen Blick über die Tiere schweifen, es waren deutlich weniger als vor fünf Jahren. Dass er so viel aufgegeben hatte, fühlte sich für mich auf seltsame Weise bedrückend an. Ich war so lange nicht hier gewesen, was hatte ich wohl noch verpasst?

So einiges, wie sich herausstellte, als ich die Stimme meines Dads und eine weitere, nur allzu bekannte, vernahm. Zwischen den Rindern und einem gigantischen Heuballen standen niemand anderes als mein Dad und Jameson. Während sie mit Heugabeln das Futter auflockerten, unterhielten sie sich, lachten losgelöst und bemerkten mich gar nicht.

Ich war nicht darauf vorbereitet, ihn so schnell wiederzusehen und genau das traf mich eiskalt. Wie messerscharfe Spitzen, die sich in meinen Brustkorb bohrten, und mir die Luft zum Atmen raubten. Jameson trug, wie bereits gestern, ein Flanellhemd, darunter ein T-Shirt und das lockige Haar klebte ihm auf der Stirn. Er wirkte stämmiger, muskulöser und erwachsener, aber nicht weniger gutaussehend. Dessen war sich sicherlich auch die Frau, die ihn gestern Abend besucht hatte, im Klaren. Nicht dass Jameson je ein Aufreißer gewesen war, aber es grenzte an ein Wunder, dass er nicht schon verheiratet und Vater war. Er hatte eine Art an sich, unverfänglich mit anderen in Kontakt zu treten, der man sich nicht entziehen konnte. Er war mehr als der Typ von Nebenan, war sich dem aber nicht bewusst.

Da sah Jameson auf einmal auf und direkt in meine Augen. Am liebsten hätte ich mich abgewandt, um nicht seinem feindseligen Blick ausgesetzt zu sein, aber ich wollte nicht aufgeben. Einen Teufel würde ich tun, um ihm diese Genugtuung zu bescheren.

»Riley, guten Morgen«, durchbrach Dad den unangenehmen Moment und winkte mich zu ihm. »Wolltest du deinem alten Herrn zur Hand gehen?«

»Jetzt, wo ich schonmal da bin-«

»Weißt du überhaupt noch, wie das funktioniert?«, fuhr Jameson dazwischen und stützte den Ellbogen auf dem Griff der Heugabel ab, als wollte er mich herausfordern. »Körperliche, ehrliche Arbeit? Oder hast du schon vergessen, woher du stammst und wie man eine Mistgabel hält?«

Was bildete er sich nur ein? Woher nahm er das Recht, über mich zu urteilen, obwohl er keinen blassen Schimmer davon hatte, wie mein Leben die letzten Jahre verlaufen war? Hoffte er, mich so schneller loszuwerden? Störte ich sein trautes Landleben und sein – offensichtlich – aufregendes Sexleben? Aber Jameson hatte die Rechnung ohne mich gemacht, ich zeigte mich nicht unterwürfig und zog den Schwanz ein. Ganz im Gegenteil: Ich holte zum Gegenschlag aus und er sollte sich lieber warm anziehen. In New York City musste ich mich besonders zu Beginn meiner Journalistenkarriere mit sexistischen und chauvinistischen Männern rumschlagen, ich hatte gelernt, für mich einzustehen.