Leseprobe Nicht mein Kind

Das Kind

Ryan steht vor dem Haus, in dem seine Mutter ihre anderen Kinder großgezogen hat, während er in einem Heim unter Fremden aufwuchs. Nette Leute. Die meisten von ihnen. Aber trotzdem Fremde, die nicht wussten, wie man ein Kind liebt, das nicht ihr eigenes ist. Diese rote Hochglanztür hätte seine Haustür sein sollen. Nummer Achtzehn. Dieselbe Zahl wie sein Alter.

Bis heute haben seine Finger noch nie den Türklopfer aus Messing berührt. Ihn drei Mal gegen das Holz zu schlagen, fühlt sich nicht so an, als würde er nach Hause kommen. Es klingt wie eine Waffe, die losgeht. Er blickt sich nervös um und ballt die Fäuste in den Jeanstaschen.

Er hätte auf dem hölzernen Bänkchen neben einem Topf mit verwelkten Blumen im Vorgarten sitzen und verbotene Zigaretten rauchen sollen. Seinen ersten Kuss hätte er sich mitten in der Nacht geholt, während er vor neugierigen Blicken geschützt an der Gartenmauer gelehnt hätte. Er hat sich noch nie um besorgte Eltern scheren müssen, die sich fragen, was ihr Teenager so treibt.

„Kann ich Ihnen helfen?“ Der Mann, der ihm die Tür öffnet, hat ein Geschirrtuch über der Schulter und eine Brandwunde auf dem Arm, die so aussieht, als würde sie bald Blasen bilden. Sein offenes Hemd ist voller Schweißflecken; darunter lugen ein paar drahtige, schwarze Brusthaare hervor, die schon angegraut sind. Er ist hager und riecht nach gerösteten Zwiebeln. Seine schokoladenbraunen Augen wirken betrübt, und aus seinen kurzgeschorenen Haaren ragen widerspenstige schwarze Löckchen wie Frühlingszwiebeln heraus. Der erste Gedanke, der Ryan, dem Psychologiestudenten, durch den Kopf schießt, ist, dass dieser Mensch mit seinem Leben unzufrieden ist und Geheimnisse hat.

Ryan ignoriert die verwirrte Miene des Mannes und späht über dessen Schulter – beide sind ungefähr gleich groß – in den Flur. Er erhascht Fetzen eines ansteckenden Lachens, einen nackten Knöchel und das Aufblitzen eines quietschenden, aufblasbaren Gegenstands, während zwei Kinder unter lautem Gelächter durch den Flur in ein Zimmer flitzen. Der Mann spürt Ryans Neugier und zieht die Tür ein Stück zu, um ihm die Sicht zu versperren. Er ist zu höflich, um Ryan abzuweisen, aber er macht deutlich, dass er zu tun hat. Jede Menge. Zum Beispiel zwei kleine Kinder zu hüten.

Der Rauch eines Grills dringt durch das Haus und steigt in Ryans Nase. Sein Magen zieht sich vor Hunger zusammen. Er hat seit gestern nichts mehr gegessen – und das war nur ein halbes Sandwich, das jemand im Bus liegengelassen hatte.

Offensichtlich war die Familie gerade mitten beim Grillen draußen im Garten, als er an die Haustür klopfte. Sicher gibt es halbverkohlte Würstchen, ein aufblasbares Planschbecken, ein riesiges Trampolin, sonnengebräunte Haut, Wespenstiche und Tränen, wenn die Kinder ins Bett müssen. Gibt es vor dem Schlafengehen nicht immer Tränen? Ist das nicht bei unerwünschten Kindern wie Ryan der Fall?

Sein Blick wandert zurück zu dem Mann, dessen schokoladenbraune Augen auf Ryans Antwort warten. Sein Gesichtsausdruck zeigt, dass er hofft, Ryan hätte sich in der Tür geirrt und würde wieder verschwinden. Aber es ist die richtige Adresse. Und er ist auch der Richtige. Der Ehemann seiner Mutter. Der Stiefvater, der von Ryans Existenz nichts weiß. Und es sind auch die richtigen Kinder. Sein Halbbruder und seine Schwester.

Kapitel 1: Dino

Neun Monate früher

Auf Drängen seiner Eltern hatten sie zwar eine traditionelle kirchliche Hochzeit gehabt, doch Dino und Tara waren keine gläubigen Christen, was für einen katholisch erzogenen Jungen aus Italien wie ihn ungewöhnlich war. Der Nachteil daran war, dass ihre Kinder Fabio und Bella keine Ahnung hatten, wie man sich in der Kirche benimmt. Ihr Gebrüll und ihre Proteste waren dem Pfarrer und der andächtig stillen Gemeinde nicht verborgen geblieben. Dadurch fühlt sich Dino als Vater nun noch mehr als sonst wie ein Versager.

Zwar sind seine Mutter und sein Vater da, um dafür zu sorgen, dass die Kleinen während der Trauerfeier keinen Unfug machen, aber auch seine bejahrten Eltern können sie kaum bändigen – vor allem Papà, der schon früh an Alzheimer erkrankt ist. Sie sind keineswegs ungezogene Kinder, aber mitunter sind sie laut und temperamentvoll. Wie Tara und er. Sie können lachen und in der nächsten Minute schreien.

Weder er noch Tara waren besonders gut in der Kindererziehung, was seine Mutter äußerst kritisch beobachtet hat. Italienische Eltern sind streng. Und wer wüsste das besser als Dino selbst? Das war auch der Grund, weshalb er und Tara sich bewusst von seinen Eltern distanzierten – ein eiskalter Schachzug, wie ihm jetzt bewusst ist. Nach den Erfahrungen der letzten beiden Wochen weiß er nicht, was er ohne sie gemacht hätte.

Er kam nicht immer mit seinem Vater klar. Aber der strenge, kühle Mann, vor dem er früher so viel Angst hatte, übernahm die Kontrolle, während Dino wegen des plötzlichen Verlusts seiner Frau Tara am Boden zerstört war und einen Nervenzusammenbruch hatte. Er kann sich immer noch nicht dazu bringen, über die Umstände ihres Todes nachzudenken. Sie wurde brutal von einem Wagen überrollt und der Mann am Steuer beging Fahrerflucht, ohne dass die Polizei ihn ausfindig machen konnte. Nun sucht Dino ständig nach Dellen in den Stoßstangen der Autos. Zum Zeitpunkt des Unfalls überquerte Tara gerade eine Straße am anderen Ende der Stadt in einer Gegend, in der sie gar nichts zu suchen hatte. Wenn schon die Polizei nicht ermitteln konnte, was sie dort wollte, wie sollte er es dann herausfinden?

Dino betrachtet seine Schuhe, das einzige dunkle Paar, das er passend zu seinem billigen Anzug von der Stange finden konnte. Er könnte sich dafür, dass er nicht daran gedacht hat, sie zu putzen, in den Hintern treten. Sie sind genauso abgewetzt und ungepflegt wie er selbst. Tara hat immer gesagt, er sei der schönste Mann, der ihr je begegnet war, doch jetzt würde sie ihren dunkelhaarigen, braunäugigen, gutaussehenden Italiener nicht wiedererkennen. Er vergisst ständig zu essen und die Zähne zu putzen, und er hat stark abgenommen.

Das Leben ohne Tara, als alleinerziehender Vater, gestaltet sich schwieriger, als Dino es sich je vorgestellt hat. Früher hat er in seiner Freizeit mit den Kindern herumgealbert, als wären sie ein Teilzeithobby. Er wollte noch mehr Kinder, doch Tara bestand darauf, dass zwei genug waren, und sie sorgte dafür, dass es in der Familie rundlief. Einkaufen. Arzttermine. Die pünktliche Begleichung der Rechnungen. Manchmal wurden die Rechnungen nicht rechtzeitig bezahlt, damit sie einen der seltenen Familienausflüge genießen konnten.

Die plötzliche Erkenntnis, dass Tara es gehasst hätte, an einem Montag beerdigt zu werden, schmerzt wie eine Brandwunde, auf die man einen Eisbeutel drückt. Warum hat er nicht schon früher daran gedacht? Das war der Tag in der Woche, den sie am wenigsten mochte, denn er bedeutete, dass sie nach dem Wochenende wieder zur Arbeit gehen und die Kinder wieder in die Schule schicken musste. Sie waren nicht reich. Sie besaßen kein großes Haus, so wie Taras Verwandte. Sie wohnten zur Miete und das Geld war jeden Monat knapp. Aber sie waren trotzdem eine glückliche Familie und brauchten niemanden sonst. Es waren immer Dino und Tara gewesen und dann, als die Kinder da waren, waren es Dino, Tara, Fabio und Bella, eine intakte kleine Einheit. Tara war seine erste große Liebe – und er ihre; zumindest hatte sie das gesagt. Und er glaubte ihr … bis er den Brief fand, aber nachdem er ihn gelesen hatte, war er nicht mehr sicher, was er davon halten sollte. Nein, das stimmt nicht. Er weiß, was er davon halten soll. Er will diese Gedanken bloß nicht laut aussprechen.

Der Brief ist zerknittert und von Tränen durchnässt, weil er zu oft gelesen wurde. Dino hat ihn noch nicht mal seiner Mutter gezeigt, und dabei stehen sie sich sehr nahe. Ihm ist bewusst, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt ist, sich damit zu befassen, aber er kann an nichts anderes denken. Er hat noch nicht entschieden, was er in der Angelegenheit unternehmen wird, also bleibt der Brief in seiner Hosentasche stecken.

Entscheidungen zu treffen war immer Taras Job. Wie alles andere auch. Dino war nur dem Namen nach Ehemann und Vater, was ihn verunsicherte, welche Rolle er spielen sollte. Eines ist ihm jedoch klar: Als betrogener Ehemann soll er auf der Beerdigung seiner Frau eine Trauerrede halten, was bedeutet, dass er lügen muss. Er wollte es nicht tun, aber sein Vater bestand darauf. Darauf muss Dino sich jetzt konzentrieren – seinem Vater den Gefallen zu tun. Nicht auf den Brief.

Auf der Toilette im Erdgeschoss, weg von den Kindern, hat er geübt, die Trauerrede vorzulesen, und er musste jedes Mal weinen, wenn er über die Worte stolperte, die er sich notiert und dann wie besessen hingekritzelt hat: hingebungsvoll, treu, liebevoll, gütig.

All das war Tara. Aber sie war auch eine Lügnerin. Eine Fremde.

Während er auf die Kanzel zugeht, reibt der Brief gegen sein Bein. Das Papier knistert an seinem Oberschenkel und erinnert ihn daran, dass Tara nicht die war, für die er sie gehalten hat. Sein Vater klopft ihm im Vorbeigehen auf die Schulter für den Mut, vor allen Trauergästen über den Verlust seiner Frau zu sprechen, die für ihn verlorener ist, als sie je ahnen könnten. Doch im Grunde war Tara die Mutige. Die Vorkämpferin, wie er sie immer genannt hat.

Als er die Kanzel erreicht, führt ihn der Pfarrer drei kleine Stufen hinauf, die ihm jetzt riesig vorkommen. Plötzlich hat Dino einen Kloß im Hals. Er wäre lieber an irgendeinem anderen Ort, egal wo. Sogar auf Arbeit. Er beliefert Kunden, die viel wohlhabender sind als er, mit Kisten voller Obst und Gemüse aus biologischem Anbau. Seine Gefühle sind ganz normal. Schließlich ist es die Beerdigung seiner Frau. Am besten wird es sein, die Trauerrede einfach hinter sich zu bringen. „Presto, presto“, wie Papà sagen würde.

Während Dino das Mikrofon in die feuchte Hand nimmt, schindet er noch ein paar Sekunden Zeit heraus, indem er so tut, als müsste er es justieren. Dann richtet er den Blick auf die Trauernden, die sich an diesem bitterkalten Oktobertag hier versammelt haben. Ihm fällt auf, wie leer die Kirche ist. Rasch zählt er die Anwesenden. Dreißig Leute. Tara war dreiunddreißig, also nicht einmal eine Person pro Lebensjahr ist erschienen. Das ist wohl der Preis, den man dafür zahlt, wenn man Geheimnisse vor anderen hat. Auch wenn er wütend auf Tara ist, verletzt ihn das in ihrem Namen. Wo sind denn alle? Zwar hatte sie keine engen Freunde, aber er dachte, dass sich wenigstens ihre Arbeitskollegen blicken lassen würden.

Im Vergleich dazu wimmelte es auf den Beerdigungen in Altamura, Apulien, wo seine Eltern vor ihrer Auswanderung nach Großbritannien gelebt hatten, von Trauergästen. Während er in die Hand hustet, fällt sein Blick auf die gebrechlichen Körper seiner Eltern auf der vordersten Kirchbank. Beide sind erst Anfang sechzig, aber das silberweiße Haar und die von der Sonne gegerbte Haut lässt sie viele Jahre älter wirken. Sein rothaariges Töchterchen Bella sitzt auf dem Schoß ihres Opas und spielt mit seiner Krawatte, während sein fünfjähriger Sohn Fabio missmutig die Arme verschränkt hat, weil er seinen Vater aufs Podium begleiten wollte, es aber nicht durfte.

In diesem Augenblick erinnert er Dino so stark an Tara, dass er nicht glaubt, die Trauerrede halten zu können. Was hat er sich bloß gedacht? Er kann das nicht. Nicht vor all den Leuten. Plötzlich ist dreißig eine riesige Menge. Sicher wird er in Tränen ausbrechen und sich lächerlich machen, was seinen Vater dazu bringen wird, den Kopf über ihn zu schütteln. Tara hätte es durchziehen können, wenn die Rollen vertauscht wären, aber Dino kann es nicht. Er war noch nie gut im Redenschwingen.

In diesem Moment sieht er sie –

Taras drei ältere Brüder.

Und Dinos Blut gefriert in seinen Adern.

Sie alle haben die gleichen blassgrünen Augen, die Sommersprossen und das dichte hellblonde Haar, so wie er sie vom letzten Mal in Erinnerung hat. Das war damals vor zehn Jahren auf seiner und Taras Hochzeit, als er ihnen beim Tanzen zusah. Die Brüder haben mehrere Jahre Altersunterschied, doch sie sehen sich so ähnlich wie Drillinge. Während sie in passenden silbergrauen Anzügen dicht nebeneinander auf der Bank sitzen, erinnern sie ihn an Sardinen in einer Dose.

Als einer der Brüder Dino anlächelt – er ist nicht sicher, ob es Chris, James oder David ist –, ist seine Entscheidung gefallen. Ohne das Lächeln hätte er eine Entschuldigung gemurmelt und die Sache abgeblasen. Er wäre einfach gegangen. Doch nun zieht er den Brief – statt der Laudatio, die er vorlesen sollte – aus der Tasche und entfaltet ihn laut knisternd direkt vor dem Mikrofon.

Er räuspert sich, zupft an seiner Krawatte, die zu eng sitzt, und zögert. Seine Hilflosigkeit hätte Tara dazu veranlasst, aufs Podium zu stürmen, um ihn aus dieser misslichen Lage zu befreien – so wie auch sein Sohn es gern getan hätte. Vergeblich sucht er sie unter den Trauergästen, obwohl er weiß, dass sie nicht da ist. Als ihm diese Tatsache noch einmal bewusst wird, steigen ihm kalte Tränen in die Augen.

„Ich war mit zwei Frauen verheiratet. Einer, die ich kannte. Und einer, die ich nicht kannte“, stellt er mit eisiger Stimme fest und dabei verhärtet sich sein Blick. „Bevor meine Frau starb, schrieb sie mir einen Brief. Darin erzählte sie mir Dinge über sich, die ich nicht gewusst habe. Geheimnisse, die sie vor mir verbarg – vor uns allen.“ Dino hält inne und ignoriert das Geräusch von scharfen Atemzügen und geschocktem Murmeln, das in der Kirche widerhallt.

„Sie hat mich darum gebeten, niemandem von diesem Brief zu erzählen, und mich angefleht, ihn nach dem Lesen sofort zu vernichten. Aber das werde ich nicht tun.“ In Dinos Schläfe pocht ein Schmerz, und er stützt sich so schwer aufs Pult, dass seine Knöchel weiß werden. „Vielleicht haltet ihr mich jetzt für treulos, weil ich gegen Taras Willen verstoße, aber ich habe mich entschieden, den Inhalt des Briefes mit euch zu teilen.“

Dino funkelt die drei Brüder, die nun unbehaglich auf ihren Sitzplätzen hin und her rutschen, demonstrativ wütend an. „Angefangen mit Lüge Nummer eins.“

Kapitel 2: Tara

Im Alter von dreizehn Jahren

Ich erzähle Lügen. Ganz viele. So bin ich, Tara. Das schwarze Schaf. Der hässliche Freak mit krausen roten Haaren und blasser Haut, die leicht verbrennt. Sie hat mir den Spitznamen „Vampirmädchen“ eingehandelt, weil ich nur selten in die Sonne gehe. In der Schule tuscheln alle über meine Sommersprossen. Das war schon immer so. Hätte ich nicht drei gutaussehende ältere Brüder, die mir einen höheren Status verleihen, dann wäre ich eine echte Außenseiterin. Anscheinend bin ich aus den falschen Gründen bei den anderen Mädchen in der Schule beliebt, aber ich werde auch verachtet. Die meisten Jungs ignorieren mich. Das macht mir aber nichts aus.

Als Dreizehnjährige ohne echte Freunde verbringe ich die meiste Zeit allein auf meinem Zimmer, das eigentlich mein Rückzugsort sein sollte, aber das ist es nicht – es ist eher ein Versteck vor meiner Mutter und meinen Brüdern. Wenn ich nicht anwesend bin, können sie mich nicht auslachen, beleidigen und runtermachen. Aus Räumen, in denen sie sich aufhalten, zu verschwinden, ist zu einem meiner Partytricks geworden, so wie der eines Zauberers. Also willkommen in meinem Zimmer. Es hat rosa gestrichene Wände, gelbe Vorhänge und eine rosafarbene Tagesdecke mit Herzmuster.

Ich halte mich für eine Kuriosität, weil ich mich nicht für Jungs, Make-up und Klamotten interessiere und lieber auf meinem linierten Notizblock Geschichten entwerfe. Ich nehme ihn überallhin mit, für den Fall, dass Mum beschließt, ihre Nase in Dinge zu stecken, die sie nichts angehen, und damit einer meiner Brüder nicht die Gelegenheit bekommt, ihn noch einmal in den Mülleimer zu werfen, weil er weiß, wie viel mir mein Gekritzel bedeutet. In Wahrheit hat Mum nicht genug Interesse an mir, um herauszufinden, worüber ich schreibe. Sie sieht und hört nur, was sie will. Normalerweise gehöre ich nicht dazu.

An den Wänden meines Zimmers hängen keine Poster von Boybands. Stattdessen habe ich Fotos von Pferden. Ich blättere auch nicht in Hochglanzzeitschriften für Mädchen, in denen es um Jungs, Make-up und Mode geht. Nein, ich habe die Buchreihe Der silberne Hengst von Elyne Mitchell gelesen und wünschte mir, sie wäre meine leibliche Mutter. Ich besitze die ganze Reihe, auch wenn ich noch nie auf einem Pferd gesessen habe.

Dreizehn ist zu alt, um von Pferden zu träumen oder kindische Geschichten zu schreiben, aber ich bin nun mal eine Spätentwicklerin. Immer noch ein kleines Mädchen im Körper eines größeren Mädchens – ich habe noch nie einen Jungen geküsst, igitt, und meine Periode habe ich auch noch nicht bekommen. Aber das verrate ich meinen Schulkameradinnen nicht, denn wer will schon als eines der letzten Mädchen in der neunten Klasse, das zur Frau wird, bekannt sein?

Die Luft in meinem Zimmer ist stickig und ich kann das Fenster nicht öffnen. Eigentlich wollte Dad es reparieren, aber er starb, bevor er dazu kam. Er war erst sechsundvierzig, als er auf dem Parkplatz von Morrisons an einem Aneurysma starb, aber er sah viel älter aus, weil er sein Leben lang geraucht und getrunken hatte. Als er noch lebte, hackte Mum auf ihm herum und sagte, Heimwerken sei das Einzige, in dem Dad gut sei. Mittlerweile hat sie ihre Meinung geändert und macht jetzt, da er tot ist, einen Heiligen aus ihm, nachdem sie ihm jahrelang damit drohte, ihn wegen seines Alkoholkonsums zu verlassen. Mum ist davon überzeugt, dass ich genauso werde wie er, eine nutzlose Trinkerin, aber ich bin fest entschlossen, ihr das Gegenteil zu beweisen. Wenigstens war er freundlich … sogar als er gelähmt war.

Wir warten alle darauf, dass Mum sich fängt und wieder normal wird. Aber ich glaube nicht daran. Schwarz steht ihr. Und sie liebt die Aufmerksamkeit, die ihr als trauernde Witwe entgegengebracht wird. Wir müssen uns an neue Regeln halten – na ja, ich zumindest – meine älteren Brüder sind weniger davon betroffen, weil sie kommen und gehen können, wann sie wollen. Es hat sich nicht viel geändert. Jungen haben immer noch mehr Freiheiten als Mädchen, auch wenn wir in der realen Welt weniger geschützt sind als je zuvor. Mum besteht darauf, dass die Vorhänge immer zugezogen sind und dass nicht mehr gelacht oder geschrien wird und wir vor allem nicht draußen spielen dürfen, denn was würden die Nachbarn sagen, wo doch unser Vater erst vor kurzem gestorben ist? Wer spielt in meinem Alter noch draußen?, war mein erster Gedanke, als ich das hörte.

Mein ältester Bruder David, der sich jetzt für den Mann im Haus hält, erinnert mich jeden Tag barsch: „Belästige Mutter nicht.“ Selbst seine Ermahnungen gehen mit Kniffen in meinen Arm einher, während seine schleimigen grünen Augen mich mit bohrendem Blick ansehen, weil wir uns unsichtbar machen sollen. Er ist Mums zweiter Liebling, aber die drei Söhne sind ihr Ein und Alles. Meine Brüder heben sich durch ihr gutes Aussehen, die hochgewachsene Figur, die grünen Augen und ihr sandfarbenes Haar von der Masse ab, während ich aus den falschen Gründen auffalle.

Eigentlich könnte man meinen, dass ich als einzige Tochter meiner Mutter wenigstens ein bisschen von ihr geliebt würde, doch sie hat mir nie verziehen, dass ich mich – wie sie selbst – als rothaarige, sommersprossige, hässliche Vogelscheuche entpuppt habe. Außerdem erinnere ich sie zu stark an Dad. An die Seite von ihm, die sie nicht leiden konnte – stur, lebhaft und schwer zu kontrollieren. Es ärgert sie, dass ich nicht die gleichen Dinge mag wie sie. Ein Mädchen, das weder backen noch sticken oder häkeln kann – alles ihre Hobbys – und das sich nicht für Klamotten interessiert, ist nicht das, was sie erwartet hat, als sie erfuhr, dass sie ein Mädchen zur Welt bringen würde. Ihr ist peinlich, dass ich jungenhaft, geradeheraus und gegenüber anderen Leuten unbeholfen bin. Für sie bin ich das schwarze Schaf. Eine Außenseiterin. Eine Unruhestifterin.

Früher war ich ein kommunikatives, freundliches und kontaktfreudiges Mädchen mit einer eigenen Meinung. Bis mir klar wurde, dass es sinnvoller war, den Mund zu halten. So konnte man mich leichter übersehen. Nicht beachtet zu werden ist alles, was ich will. Seit Dads Tod ist mein Leben viel schlimmer geworden. Er war der Einzige, der mich vor meiner Mutter und meinen Brüdern in Schutz nahm und sagte, sie seien nichts weiter als Tyrannen.

Meine Angst, nach Hause gehen zu müssen, erschwert den Unterricht. Früher hatte ich lauter Einser, aber jetzt schaffe ich es kaum noch, mit einer Vier versetzt zu werden. Man könnte meinen, bei meinen Lehrern würden alle möglichen Alarmglocken schrillen, aber keiner hört meine stummen Hilferufe oder fragt, ob alles in Ordnung ist. Selbst als ich mich mit anderen geprügelt und die Lehrer lautstark verflucht habe, führten sie mein verändertes Verhalten auf den Tod meines Vaters zurück und ließen Milde walten. Aber Milde ist nicht das, was ich brauche.

Ich bin noch zu jung, um auszuziehen, doch ich träume ständig davon, von Zuhause wegzulaufen. Ich weiß, dass ich hier nicht gewollt bin. Aber wohin soll ich gehen? Wir haben keine Verwandten in der Gegend, an die ich mich wenden könnte, und es gibt auch keine Erwachsenen, denen ich vertraue. Ich habe noch nicht mal einen Lieblingslehrer. Und schon gar keinen Lieblingsbruder!

Wir sind alle nur zwei Jahre auseinander, also sind auch sie kaum mehr als Kinder. Aber wenn ich instinktiv weiß, dass ihr gemeines Verhalten nicht richtig ist, warum ist es ihnen dann nicht bewusst? Sie sind schließlich älter als ich. Und dann frage ich mich, was mit mir nicht stimmt, was der Grund dafür ist, dass meine ganze Familie mich so sehr hasst. Bin ich wirklich das schwarze Schaf, für das mich alle halten? Ist es meine eigene Schuld, dass ich so oft runtergemacht werde?

Kapitel 3: Dino

In der Kirche ist es eiskalt. Der Sarg ist unglaublich klein. Für eine erwachsene Frau war Tara sehr zierlich, 1,57 Meter groß, und wog gerade mal fünfzig Kilo, aber dafür hatte sie ein großes Herz und hitziges Temperament. Ein großes Blumengesteck in den Lettern MUM aus violetten Blüten, weil Lila Taras Lieblingsfarbe war, steht auf dem Naturholzsarg, für den Dino extra bezahlt hat. Oder besser gesagt, seine Eltern. Er weiß nicht mehr, warum er einen umweltfreundlichen Abschied für eine gute Idee hielt, da Tara sich nicht im Geringsten um Umweltschutz scherte. Für sie war die Familie das Allerwichtigste.

Und nun sind es ihre drei Brüder, auf die Dino den Fokus richtet, während er abwägt, was er für sie empfindet – jetzt, da er die Wahrheit über sie und ihre schwerwiegenden Taten kennt. Wie Tara mochte auch er sie nie sonderlich, doch er tolerierte sie ihr zuliebe bei den Familientreffen und weil auch ihm Familie wichtig ist. Er fühlt sich betrogen und sogar beschmutzt, seit er weiß, dass sie geholfen haben, die Geheimnisse seiner Frau zu vertuschen, und dass sie ihm bei jeder einzelnen Begegnung ins Gesicht gelogen haben. Die Fountains haben ihn ausgetrickst und sich allesamt als Lügner entpuppt.

„Lüge Nummer eins wird Taras Brüder nicht überraschen, weil sie aktiv mitgeholfen haben, ihr Geheimnis vor mir und meiner Familie zu verbergen.“ Seine Stimme dröhnt so laut und deutlich wie seine Gefühle gegenüber seiner Frau. „Sie waren auf meiner Hochzeit und haben beim Empfang mit mir gelacht und gescherzt, obgleich sie wussten, dass meine Ehe mit Tara auf einer Lüge beruhte, aber das haben sie verschwiegen. Könnt ihr euch vorstellen, wie ich mich fühle?“ Dino muss schlucken. Seine Brust schmerzt. Alles tut weh. Sein ausgestreckter Finger verwandelt sich in eine Faust, mit der er den Brüdern am liebsten auf den Kopf hauen würde. „Als wir uns kennenlernten, sagte meine Frau mir, ich sei ihre erste große Liebe und sie noch eine Jungfrau, aber das war eine Lüge und ihr habt das gewusst.“

„Solche Geschichten sollten heute keine Rolle spielen“, widerspricht der größte der drei Brüder. Ist das vielleicht David, der Älteste?

„Oh ja, du hast völlig Recht, das sollten sie nicht, und Tara hätte hundert Männer vor mir haben können und es hätte keinen Unterschied gemacht, aber die Tatsache, dass sie mich angelogen hat, dass ihr alle die Wahrheit verschwiegen habt, tut am meisten weh.“

Aus dem Augenwinkel bemerkt Dino, dass der Pfarrer auf ihn zueilt, wobei der Saum seines weißen Talars über den Boden schleift, zweifellos, um ihn von der Kanzel zu holen. Dino schüttelt den Kopf, streckt dem Pfarrer entschlossen die Handfläche entgegen und wirft ihm einen warnenden Blick zu.

„Es ist weder der richtige Zeitpunkt noch der Ort dafür, Dino. Das hier ist Gottes Haus.“ Der Pfarrer bleibt beharrlich, nähert sich jedoch nicht weiter.

„Es ging uns nichts an“, sagt der älteste Bruder trotzig und mit aufgeblähter Brust.

„Es ging euch sehr wohl etwas an, denn ihr habt alle drei ein verletzliches minderjähriges Mädchen dazu gedrängt, ihr Baby zur Adoption freizugeben, als ihr erfahren habt, dass sie schwanger war, und ihr dann gedroht, ja den Mund zu halten, um die Familienehre nicht zu beflecken. Und ihr habt eure Sache gut gemacht, denn sogar mir, ihrem Mann, hat sie nichts von Lüge Nummer zwei erzählt.“ Dinos Stirnrunzeln überträgt sich von seinem Gesicht auf die Mienen der Trauergäste. Er hört die Leute nach Luft schnappen. Fassungslose Stille. Murmeln. Rascheln.

Plötzlich wirken die Brüder erschrocken, wie verängstigte Tauben auf dem Dach. Sie blicken einander an, als hätten sie sich noch nie zuvor gesehen.

Die Trauergemeinde beginnt, sich aufzulösen. Dino weiß nicht, was er tun soll – sie zurückrufen und zwingen, ihm zuzuhören? Oder sie gehen lassen? Auch wenn der Angriff auf Taras Brüder gerechtfertigt erscheint, ist Dino bewusst, dass der Pfarrer Recht hatte, als er sagte, dass dies der falsche Zeitpunkt und Ort ist. Heute soll es darum gehen, sich von Tara zu verabschieden, statt ihre beschämende Vergangenheit noch einmal Revue passieren zu lassen. Dino strafft die Schultern und schüttelt den Gedanken ab, denn es war von Anfang an nicht Taras Schande.

Dinos Mutter ist schon mit den Kindern auf halbem Weg zur Kirche hinaus. Fabio stemmt sich die ganze Zeit dagegen, und Dino ist fest entschlossen, das Gleiche zu tun. Er lässt sich nicht stoppen, egal wie heftig sein Vater vor Enttäuschung den Kopf schüttelt. Die Kinder sollten jedoch nicht mithören, was ihrer Mutter widerfahren ist. Es ist das Beste, sie aus der Kirche wegzubringen.

Die Brüder sind aufgestanden, als wollten auch sie gehen. Das kann Dino aber nicht zulassen. Falls nötig, wird er sie einsperren und die Türen verbarrikadieren. Übertreibt er? Wahrscheinlich. Ist das wichtig? Nein, verdammt noch mal. Dann beobachtet er, dass sie sich schweigend austauschen, so als ob sie sich die beste Verteidigungsform zurechtlegen würden. Hochgezogene Augenbrauen. Schulterzucken. Stirnrunzeln. Der Bruder, der vorhin gesprochen hat – Dino ist überzeugt, dass es David ist –, rückt jetzt die Krawatte zurecht, öffnet den obersten Knopf seines Jacketts und reckt das Kinn. Dann wendet er sich an den Pfarrer, ohne Dino auch nur eines Blickes zu würdigen.

„Wir sind nur gekommen, um unserer Schwester Respekt zu erweisen, und ich kann Ihnen versichern, dass wir Tara nicht überredet haben, ihr Baby zur Adoption freizugeben. Aber ich kann verstehen, warum es ihr Jahre später vielleicht lieber war, das zu glauben. So brauchte sie sich weniger Vorwürfe zu machen.“ David rümpft die Nase, als wäre das Ganze nur eine leichte Unannehmlichkeit. „Wir wollen zwar im Hause Gottes nicht schlecht über die Toten reden, Pfarrer“, dies als bedeutungsvoller Seitenhieb auf Dino, „aber unsere kleine Schwester war manchmal, sagen wir mal, kreativ, wenn es um die Wahrheit ging. Sie hatte schon immer eine überaktive Fantasie.“

In ihrem Brief warnte Tara Dino vor, dass die Brüder stur zusammenhalten würden, weil in ihren Augen Blut dicker war als Wasser. Das war der Grund, warum sie selbst als Erwachsene nie mit dem Finger auf ihre Geschwister zeigte, weil sie wusste, dass sich die Brüder gegen sie verbünden würden und keiner ihr glauben würde.

Tara schrieb lange, wirre Sätze über ein schwarzes Schaf. Sie ergaben für Dino nicht viel Sinn, aber er konnte herauslesen, dass Tara sich damit selbst meinte, was ihn wütend machte. Er war noch nie ein gewalttätiger Mann, nicht einmal in seiner eigensinnigen, hormongesteuerten Jugendzeit, als er an die falschen Leute geraten war und seinen Eltern Sorgen machte. Aber wenn er fünf Minuten mit den Brüdern allein sein könnte, würde er sie für das, was sie Tara angetan hatten, mit bloßen Händen erwürgen.

„Blödsinn“, schreit Dino so laut, dass seine Kehle brennt und die Augen aus den Höhlen hervorquellen. „Sie war doch erst fünfzehn, verdammt noch mal, und da ihr älter wart, hättet ihr auf sie aufpassen sollen.“ Seine Arme hängen herunter und er ballt die Hände zu Fäusten. Statt Blut strömt Wut durch seine Adern. „Stattdessen habt ihr sie erpresst, genau das zu tun, was sie nicht wollte – nämlich ihr Baby wegzugeben.“

Im erbärmlichen Versuch, die Trauergäste auf seine Seite zu ziehen, lässt der älteste Bruder den Blick unsicher durch die Kirche schweifen. „Das ist nicht wahr. Das hat sie sich bloß ausgedacht. Damals hast du Tara noch nicht gekannt. Sie war eine schwererziehbare Jugendliche. Eine Ausreißerin, die sich nichts sagen ließ …“