Leseprobe Nichts bleibt verborgen

1

Sie war eine außergewöhnliche Frau, die ihre Besonderheiten hinter einer Fassade der Normalität verbarg. Sie wollte nicht auffallen – so sein wie alle anderen –, doch in besonderen Momenten, in denen das Schicksal sie herausforderte, war sie imstande, über sich hinauszuwachsen und alles zu geben, was in ihrer Macht stand. Das war Hannah Harth. Eine scheinbar ganz normale Frau, Ende dreißig.

Hannah war auf dem Weg zum ersten Besichtigungstermin einer Luxusimmobilie ihres größten Kunden, der Haus & Grund Immobiliengesellschaft. Die HGI war ein Franchise mit Sitz in Frankfurt am Main und unzähligen Außenstellen in Deutschland, Österreich, Luxemburg und der Schweiz. Hier wurden nicht einfach Wohnungen und Häuser vermittelt, »hier werden Träume verwirklicht«, so der Slogan, der auf sämtlichen Visitenkarten und Broschüren stand. Jedes Objekt, das bei der HGI in die Vermarktung kam, wurde auf höchstem Niveau, nach amerikanischem Vorbild, bestmöglich in Szene gesetzt. Von den professionellen Fotos – hier setzte man auf brillante Optik und ein hohes Maß an Arbeit in der hauseigenen Photoshop-Abteilung – bis zu kurzen Videoclips mit Drohnenaufnahmen und persönlicher Ansprache des Immobilienmaklers vor Ort. Alles war auf dem neusten Stand der Technik und endete mit dem Satz: »Hier wird Ihr Traum Realität!«

Neben den Maklern, die alle aussahen wie Models, den Fotografen, Designern und Drohnenfilmern, war Hannah das letzte Glied in der Kette. Um den Deal vor Ort abzurunden, wurde sie mit ihrem Service für besondere Objekte gebucht: Sie sorgte für das i-Tüpfelchen bei der Besichtigung potenzieller Käufer teurer Häuser, indem sie die oft leeren Räume mit Leben füllte. »Räume mit Leben füllen« hieß dabei, die ausgeräumten und häufig seelenlosen Zimmer von Stadtvillen mit Möbeln und Dekorationsartikeln so auszustatten, dass sich die Zielgruppe in das Objekt verliebte.

Bei Häusern, für die ihr Service nötig war, hieß diese Zielgruppe meistens DINK: »double income, no kids«, auf Deutsch: kinderlose Paare mit dickem Einkommen. Dabei ging es in erster Linie darum, die fehlende Vorstellungskraft der potenziellen Käufer durch einen Einrichtungsvorschlag anzuregen. Oft sprang dabei direkt ein Folgejob für Hannah raus, denn nicht selten verliebten sich die Kunden in das Setting. Hannah wurde infolgedessen beauftragt, passende Möbel zum neuen Haus zu besorgen. Ein Service, den sich die schüchtern wirkende, zierliche Frau angemessen bezahlen ließ.

Wer jetzt denkt, dass ein paar Möbel rücken kein Job wäre, der täuscht sich. Hannahs Leistung bestand in erster Linie darin, leere Wohnungen und ganze Häuser schnell auszustatten und dann wieder abzubauen. Sie arbeitete mit drei Monteuren zusammen, die aus ihrer angemieteten Halle alles zu den Objekten hin transportierten, aufbauten und oft bereits eine Woche später abbauten und wieder einlagerten. Die Deko war teilweise Attrappe (Fernseher, Laptops, Gemälde), jedoch sah alles am Ende aus wie eine perfekt ausgestattete Wohnung aus einer Hochglanz-Einrichtungszeitschrift. Hannahs Blick fürs Detail war nicht selten der letzte Funke, der das Feuer bei den Interessenten entfachte und somit den Deal zustande brachte.

Wenn es die Zeit erlaubte und der Auftragswert hoch genug war, erkundigte sie sich im Vorhinein über die Interessenten: Bei dem Juristenpaar mit Affinität zu Sportwagen und teurem Riesling (deren Instagram-Profile machten die zentralen Punkte in wenigen Sekunden deutlich) hatte sie entsprechende Bücher in den Schränken und Zeitschriften auf dem Wohnzimmertisch platziert. Der Abstellraum wurde mit Weinregalen und edlen Rieslingen der Mosel ausgestattet, die sich Hannah von einem befreundeten Weinhändler ausgeliehen hatte. Und tatsächlich: Der zufällige Blick in die unbedeutende Kammer unter der Treppe verwandelte die bis dato skeptische Haltung des Mannes in ein träumerisches Glänzen in seinen Augen. Hannah war eine Woche damit beschäftigt, den neuen Eigentümern erst das Haus einzurichten und dann die Besenkammer zum temperierten Weinlager ausbauen zu lassen.

Eine Berufsbezeichnung dafür, was Hannah tat, gab es nicht; eine Ausbildung, die ihre Fähigkeiten vermittelte, fiel ihr nicht ein. Auf ihrer Visitenkarte stand »Interieur Designerin« – das klang professionell und der Begriff war keine geschützte Berufsbezeichnung. Ähnlich wie Anti-Aging-Therapeut, Privatdetektiv oder Virologe. Sicherlich war das, was sie tat, der Traumjob vieler Innenarchitekten, die ihr Studium aus den falschen Gründen gewählt hatten. Doch Hannah hatte weder ein Studium noch eine Ausbildung, die auf diesem Gebiet eine Expertise dargestellt hätte. Sie hatte vorher überhaupt keine Berührungspunkte mit der Branche gehabt, außer dass ihr Ex-Freund Olaf als Immobilienmakler gearbeitet hatte.

Vor etwa fünfzehn Jahren verhalf sie dem talentfreien Olaf vom letzten Platz des internen Rankings auf das Siegertreppchen, indem sie seine Objekte durch geliehene Möbel und Gemälde aufwertete. Olafs Erfolg wurde schnell als Erfolg seiner Freundin konstatiert, und so kam es, dass dieser nicht nur das Unternehmen, sondern letztlich auch ihre Beziehung verlassen musste. Hannah blieb und machte sich infolge der nachweislich guten Bilanz selbstständig. Sie wirkte oft schüchtern und zurückhaltend, da sie das Reden üblicherweise ihren Gesprächspartnern überließ. Wenn sie jedoch etwas sagte, dann meist mit Bedacht. Nüchtern betrachtet war sie eine knallharte Geschäftsfrau in Gestalt eines scheuen Mädchens.

Ihr Gang war zielstrebig und mit ihrer Handtasche in der angewinkelten Armbeuge und dem engen Kostüm wirkte sie selbst wie eine Interessentin für das pompöse Anwesen. Sie hatte ein paar Straßen weiter auf einem kleinen Parkplatz geparkt, um sich die Nachbarschaft näher anzusehen. Es war Freitagmorgen und alles lief nach Plan; so wie Hannah es mochte. Die Häuser in diesem Viertel waren alle mehrere Millionen Euro wert – eine Gegend in Mainz, die abwertend das Reichengetto genannt wurde. Oft hatte sie solche Villen im benachbarten Wiesbaden, das von vielen aus dem Rhein-Main-Gebiet auch Spießbaden genannt wurde. Frankfurt und Mainz waren heterogener strukturiert, voll von Kontrast in Bauweise und Lebensführung der Menschen. Ein Junkie komatös vor einem Nobelclub? In Frankfurt kein Problem. In Wiesbaden lag eher eine Gucci-Handtasche vor einer Prada Boutique. Mainz war da ruhiger. Die Landeshauptstadt von Rheinland-Pfalz lag eben auf der richtigen Seite des Rheins, wie man sich dort sicher war.

Das Rot der Morgensonne ließ einen heiteren Tag erahnen; wieder einer dieser milden Frühlingstage, die sich mehr nach Sommer als nach Winter anfühlten. Auch kalendarisch lag der Winter bereits in der Vergangenheit, obwohl es dieses Jahr keinen Schnee gegeben hatte. Vorsichtig tastete sie über ihre goldbraunen Haare, die sie bei Terminen wie diesen am liebsten als Pferdeschwanz zusammengebunden trug. Alles saß perfekt. Ihr Auftreten gehörte zu ihrem Gesamtkonzept, ebenso wie ihre Arbeit an den Tagen davor. Hannah stand den Maklern oft beratend zur Seite und wäre selbst bei den meisten Verkäufen ohne das männliche Pendant die bessere Verkäuferin gewesen. Doch manche Kunden standen eben auf den schmierigen männlichen Makler, der reden konnte wie ein Wasserfall – und heute war Frank Dellowere da, das Klischee eines solchen Exemplars. Gemeinsame Verkaufstermine mit ihrem gut aussehenden Kollegen sahen meistens wie folgt aus: Frank spulte seinen Text ab, redete in Superlativen und wählte die ganze Bandbreite an blumigen Adjektiven, um das vorliegende Anwesen und seine Vorteile darzustellen. Während Hannah die Frauen in Bezug auf die Möglichkeiten der Einrichtungen von Wohn- und Essbereichen mit ihrer ruhigen und klugen Art inspirierte, hörte man Frank mit großem Getöse Dinge beschreiben, die für Männer dieser Kategorie wichtig waren: Smarthome-Systeme mit allerlei technischen Spielereien, Garagengröße und die Vorstellung, welche Autos dort nebeneinander Platz finden könnten …

Bei lautstarkem Gelächter aus dem Schlafzimmer wusste Hannah, mit welch zweideutigen, sexistischen Anspielungen Frank seinen Kunden in Stimmung brachte. Kurzum: Jeder hatte seine Aufgabe und bei Objekten jenseits der Millionengrenze musste man heutzutage auffahren, was möglich war.

»Ready for the show?«, begrüßte Frank seine Kollegin stimmgewaltig aus seinem Tesla Model X, als dieser in die Einfahrt einbog. Frank war Mitte fünfzig, versuchte aber optisch wie Ende dreißig zu wirken. Er trug eine schwarze Sonnenbrille, obwohl es stark bewölkt war. Sein Zahnpastalächeln wusste er gekonnt einzusetzen: Nach Begrüßungsfloskeln wie diesen ließ er sein Gesicht mit einem breiten Grinsen gerne wirken und verharrte einige Sekunden in einer einstudierten Mimik, die an Politiker auf Wahlplakaten erinnerte. Oder eben an Werbegesichter für Zahnpastatuben. Meistens wurde dieser Move von ihm selbst aufgelöst; langes Schweigen hielt Frank nicht aus.

Hannah lächelte gekünstelt.

»Ich bin gespannt, was du wieder gezaubert hast …«, schmeichelte er seiner jungen Kollegin, während er geräuschlos mit seinem neuen Auto in die Einfahrt glitt. Geschmeidig sprang er aus dem Wagen und ging auf die Haustür zu. Wobei das eine echte Untertreibung war. Schon der Eingang deutete an, was sich hinter der weißen Fassade mit den bodentiefen Fenstern verbarg: kein Haus von der Stange; hier hatte sich ein Architekt Gedanken über jedes Detail gemacht. Ein halbkreisförmiger Balkon überdachte den Eingang und wurde von zwei Säulen im römischen Stil getragen. Diese Säulen umrahmten die Tür, zu der man über vier ebenfalls halbkreisförmig angeordnete, tiefe Treppenstufen gelangte. Pfeiler dieser Art – sechs an der Zahl – befanden sich ebenso auf der Rückseite des Hauses. Dort zog sich über die komplette Länge von zehn Metern eine Balustrade, zu der man vom ersten Stock aus zu mehreren Zimmern Zugang hatte – und die eine gemütliche Veranda mit Blick auf den üppigen Garten darunter bot.

Insgesamt ein Traum von Anwesen, wenn auch ein wenig zu viel Kitsch und epochale Anspielungen, hatte sich Hannah beim ersten Anblick vor einer Woche gedacht. Sie hatten nur wenige Minuten, bis das erste Paar von insgesamt drei Interessenten auftauchen würde. Die ersten beiden entsprachen dem Klassiker solcher Käufer: ein DINK-Paar Ende dreißig. Die letzten Interessenten waren zwei Männer Anfang vierzig in einer bilderbuchartigen homosexuellen Beziehung, wie der Instagram-Account des Hübscheren der beiden zeigte. Offenbar ein Model, oder zumindest wollte er das Bild eines solchen auf seinem Profil verkaufen.

»Kannst du die beiden übernehmen, ich habe noch einen Anschlusstermin …«, war die fadenscheinige Ausrede von Frank. Dabei war beiden klar, dass der eigentliche Grund ein anderer war.

»Hast du Angst, dass deine Masche bei dem schwulen Paar nicht zieht?«, scherzte Hannah, während Frank die Tür zum Anwesen aufsperrte.

Ein kritischer Blick ohne Kommentar war seine Antwort.

»Du bekommst auch die Hälfte der Provision!«, erweiterte er sein Angebot.

»Wenn das Paar am Ende das Haus kauft, will ich neunzig Prozent.«

»Das ist ein Witz?«

Sie blickte ihn kritisch an. »Wie oft mache ich Witze dieser Art?«

Er schwieg, denn er kannte die Antwort. Frank war kurz sprachlos, was selten vorkam. Beim Thema Provision war der Spaß schnell vorbei. Bevor er seine Rechnungen im Stillen durchdenken konnte, legte Hannah nach: »Achtzig Prozent. Mein letztes Angebot.«

»Okay, wir werden sehen, wie es läuft. Ich denke, wir tüten das direkt beim ersten Paar ein. Das hab ich im Gefühl …«

Hannah enthielt sich spitzer Kommentare – auf das Gefühl von Frank hätte sie jedoch nicht gewettet.

2

Frank und Hannah betraten das leere Haus durch den imposanten Eingang. Der erste Raum hinter der Pforte glich eher einem Foyer als einer Diele. Eine unnötige Verschwendung von Raum, wie Hannah fand, aber schließlich gab es keine zweite Chance für einen ersten Eindruck. Und der war bei diesem Anwesen ein Statement.

Frank pfiff anerkennend, denn Hannah hatte in den vergangenen Tagen aus dem kargen, weißen Eingang eine Atmosphäre geschaffen, die ihn sofort anzusprechen schien. Dahinter ging eine breite Treppe aus weißem Carrara-Marmor in den zweiten Stock, während rechts und links jeweils zwei Türen zu Esszimmer und Küche auf der linken, und zu Gästezimmer und WC auf der rechten Seite führte. Wie sie diesen kühlen Marmorboden hasste. Hannah fand, dass er aussah wie kleine, weiße Grabsteine. Eine gruselige Vorstellung, dass der Boden des Eingangs aus einer Aneinanderreihung von Kindergräbern bestand. Die Worte Carrara und Marmor lösten bei zahlreichen Menschen eine Emotion aus, die sie nicht nachvollziehen konnte.

Mit Blumenarrangements, einer Sitzgruppe aus schwedischen Designermöbeln und abstrakten Gemälden an den Wänden hatte Hannah der Eingangshalle wieder Leben eingehaucht. Und das war schließlich ihr Job, denn genau solche Anwesen waren zwar begehrt, wirkten jedoch ohne Einrichtung oft wie Bahnhofshallen. Den tief hängenden Kronleuchter hatte sie kurzerhand abmontiert und durch moderne Hängeleuchten mit goldenem Innenanstrich ersetzt. Diese verliehen der Diele zusätzlich Wärme und eine Wohlfühlatmosphäre. Hannah atmete tief ein und aus. Mit zeitlichem Abstand gefiel ihr das Ambiente noch besser als gestern.

»Wo ist denn der Adonis hin? Den hast du dir sicher mit nach Hause genommen …«, scherzte Frank, dem die fehlende Statue im Erker unter der Treppe aufgefallen war. Statt des nackten Adonis stand dort eine smaragdgrüne Vase mit einer Pflanze, die er nicht namentlich bestimmen konnte, wohl aber aus anderen Arrangements seiner Kollegin kannte.

»Auf den Kitsch steht doch heute niemand mehr … Außerdem war das nicht Adonis, sondern ein schlechtes Replikat von Michelangelos David. Im Original übrigens aus Carrara-Marmor. Dieser hier war aber aus einem billigen Speckstein. Der steht im Keller, kannst du dir gerne selber mit nach Hause nehmen. Passt bestimmt zu deiner Einrichtung …«

Hannah musste über die Vorstellung schmunzeln. Obwohl sie ihren Kollegen noch nie zu Hause besucht hatte, glaubte sie zu wissen, in welchem Stil seine Wohnung eingerichtet war. Doch bevor Frank seinen Senf dazugeben konnte, klopfte es an der Tür und eine schrille Stimme unterbrach ihre Gedanken.

»Hallöchen. Wir sind etwas zu früh, aber Sie sind ja schon da …«

Frank war umgehend in seiner Rolle. »Willkommen in diesem schönen Anwesen. Hier wird Ihr Traum Realität! Ich bin Frank Dellowere. Nennen Sie mich gerne Frank.«

Während die wasserstoffblonde Frau im smaragdgrünen Kleid sich vor Freude kaum zu beruhigen schien, begutachtete der Mann, der deutlich älter als seine Frau aussah, kritisch das Mauerwerk und die Bodenfliesen.

»Schatz, sieh dir diese Vase an …« Die Frau stürmte auf den Erker zu. »Passend zu meinem Kleid. Wunderschön!«

Der Mann wirkte nervös. Zu viel Euphorie trieb den Preis in die Höhe, er schien ein Gegengewicht zu der Begeisterung seiner Frau abliefern zu wollen.

»Ich habe gehört, das Haus hatte viele Vorbesitzer. Es ist schon das dritte Mal bei Ihnen in der Vermarktung. Irgendwo scheint es ja einen Haken zu geben …«

In Situationen wie diesen kam Franks Stärke zum Einsatz. Er war schlagfertig und konnte lügen, ohne rot zu werden. Während sie bei solchen Fragen ins Schleudern geraten wäre, behielt Frank die Contenance und antwortete, als wäre er auf Fragen wie diese vorbereitet. »Objekte wie diese spielen in einer Liga, in der viele gerne mitmischen möchten – die Champions League quasi. Am Ende reicht es aber nicht, auf dem Platz aufzulaufen, man muss auch abliefern, wenn Sie verstehen, was ich meine …«

Hannah verdrehte die Augen, ohne dass es jemand mitbekam, doch der Mann schien zu verstehen.

Frank fügte hinzu: »Das Haus ist ein Traum, es gibt keinen Haken. Nur, das alles hat natürlich seinen Preis. Schon der Architekt ist eine Hausnummer. Ich meine, welches Anwesen in der Stadt ist noch von Henry Hearthstone entworfen worden? Soweit ich weiß, eine seiner letzten Arbeiten, vor seinem viel zu frühen Tod. Wenn man so will, sein letztes Vermächtnis und, wie ich finde, einer der Höhepunkte seiner Arbeit.«

Hannah machte eine lautlose Geste, als ob sie sich in einen Eimer übergeben müsste, denn der Mann stand mit seinem Rücken zu ihr im Eingang und die Frau war durch die offene Flügeltür in den Wohnbereich gegangen. Die Information, wer der Architekt war und dass dieser bereits mit Ende fünfzig an den Folgen seiner Alkoholsucht gestorben war, wusste Frank überhaupt nur von ihr. Der Rest war eine glatte Lüge. Doch er klang überzeugend – wie immer, wenn er jemandem erfundene Fakten erklärte, als ob er ein Experte auf diesem Gebiet wäre. Eine Stärke, die nur so lange funktionierte, wie sein Gegenüber selbst keine Ahnung hatte. Doch genau diesen Punkt schien Frank im Gefühl zu haben. Sein Gegenüber hatte keinen Plan, wer Henry Hearthstone war. Dieser hatte zwar einen eigenen Wikipedia-Artikel, aber der war nicht länger als der von anderen unbedeutenden Persönlichkeiten, über die es nicht viel zu sagen gab (in diesem speziellen Fall war das bedeutendste Detail, dass der Vater Harrison Hearthstone selbst ein berühmter Architekt gewesen war – mit deutlich mehr Referenzen als sein Sohn).

Frank schien die Geste der Übelkeit von Hannah nicht mitbekommen zu haben – oder hatte diese gekonnt ignoriert – und lenkte das Thema auf die kürzlich nachgerüsteten elektrischen Details. Sein Monolog wurde durch den schrillen Schrei der Ehefrau seines Gesprächspartners aus dem Nebenraum unterbrochen. Hannah zuckte von dem lauten Gekreische zusammen. Während Frank und sein Gegenüber in einer Art Schockstarre verharrten, rannte Hannah los. In dem Moment, als sie durch die Tür in den Wohnbereich trat, sah sie die eben noch freudig erregte Frau, die sich vor das Sofa schwallartig übergab. Sie klammerte sich dabei an der Stuhllehne im Essbereich fest.

Erst als Hannah vorsichtig näher trat, erkannte sie, was der Grund für den Kontrollverlust der Frau war: Auf dem Sofa saß ein Mann, der offensichtlich nicht mehr am Leben war. Seine Augen waren offen und die Angst stand ihm ins Gesicht geschrieben. Mit nassen Haaren und geplatzten Adern im Gesicht starrte die Leiche vermeintlich aus dem großen Fenster hinaus. Seine Hände waren vor dem Körper an den Handgelenken mit schwarzem Kabelbinder fixiert. Auch wenn kein Tropfen Blut zu sehen war, war doch offensichtlich, dass der Mann keines natürlichen Todes gestorben war. Im Gegenteil. Was zu seinem Tode geführt hatte, wusste sie nicht. Aber dass es sich um einen grausamen Mord handelte, das war Hannah von der ersten Sekunde an bewusst. Er hatte eine offene Wunde am Kopf und mehrere Striemen am Hals. Der Mann musste gefoltert oder zumindest einer an Brutalität überlegenen Person zum Opfer gefallen sein. Für einen kurzen Moment dachte Hannah, es sehe aus, als ob der Mann ertrunken wäre. Doch da war eine Sache, die sie noch mehr beschäftigte und alles andere in den Hintergrund stellte …

3

Während die Polizeibeamten der Schutzpolizei das Haus und den Wohnbereich absperrten, wartete Hannah mit ihrem Kollegen Frank in der Diele. Der Rettungswagen war als Erster vor Ort – kaum fünf Minuten, nachdem sie den Notruf abgesetzt hatte. Frank hatte es seither die Sprache verschlagen. Die ersten Fragen der Sanitäterinnen, ob alles okay sei, hatte er lediglich mit einem zaghaften Nicken erwidert. So schnell konnte sich das Blatt wenden: Hannah versuchte Ruhe zu bewahren und erklärte den Beamten den Verlauf der letzten halben Stunde, während Frank wie ein Häufchen Elend mit gesenktem Haupt versuchte, die Nerven zu behalten. Nachdem die beiden Rettungssanitäterinnen mit allerlei Geräten und Koffern ins Haus gerannt gekommen waren, hatten diese schnell festgestellt, dass dem Mann auf dem Sofa nicht mehr zu helfen war, und sich den übrigen Anwesenden gewidmet. Die größte Hilfe war bei der völlig apathisch zitternden Frau nötig, die sofort von den beiden in den Rettungswagen begleitet wurde.

Hannah ging im Kopf die letzten Tage durch. Sie hatte gestern gegen sechzehn Uhr das Anwesen verlassen, nachdem sie die letzten Dinge ausgerichtet und kontrolliert hatte. Der Aufbau war vorgestern so weit zu Ende gewesen, weshalb es nur noch die Feinheiten zu richten gab. Der Reinigungsdienst, mit dem sie zusammenarbeitete, war vorgestern Abend im Haus gewesen und hatte die Böden und Armaturen auf Hochglanz poliert. Das machte sie üblicherweise nicht am letzten Tag, das Haus sollte schließlich nicht nach Putzmittel riechen, sondern nach dem Duft, den sie für jede Immobilie separat auswählte. Hier kam ein dezentes, kaum wahrnehmbares Aroma aus Orangenblüten zum Einsatz, das über einen Diffusor unter der Treppe seit gestern auf unterster Stufe zum Gesamtkonzept beitrug. Dieser spezielle Duft wurde oft in Hotellobbys eingesetzt und schien Hannah hier passend – jedenfalls bis vor etwa zehn Minuten.

Zeitlich gesehen war also ihres Wissens niemand mehr seit gestern Abend hier gewesen, was Frank ebenfalls durch ein Kopfschütteln auf Nachfrage bestätigte. Bei der Leiche handelte es sich nicht um den Besitzer der Immobilie. Obwohl Hannah diesen noch nie gesehen hatte, wusste sie von einem Porträt, wie er aussah. Er war wesentlich jünger als der Tote und befand sich zudem beruflich im Ausland. Ein Umstand, der ihr bei den Vorbereitungen entgegenkam: Ein Haus, in dem die Besitzer wohnten, war schwierig umzugestalten. Bei dem vorliegenden Objekt hatte sie aber außer ihrem eigenen Personal und dem Fotografen der Immobiliengesellschaft niemanden gesehen. Wobei. Sie stockte kurz in ihren Überlegungen. Am Montag hatte jemand an der Tür geklingelt. Sie stand zu diesem Zeitpunkt auf einer Leiter im Obergeschoss und überstrich mit weißer Farbe seltsame Streifen an der Decke über dem Ehebett. Was hier stattgefunden hatte, konnte sie sich auch nach langen Überlegungen nicht vorstellen. Die feinen Spuren wären niemandem aufgefallen, aber Hannah hatten sie vom ersten Tag der Besichtigung an gestört. Als sie die Leiter herunterstieg, nach unten zur Haustür ging und diese schließlich öffnete, sah sie den gelben Wagen des Paketzustellers, der bereits auf dem Weg zum nächsten Haus war. Auf der Türschwelle stand ein Päckchen. Sicherlich hatten die Eigentümer einen Garagenvertrag. Das Anwesen war immerhin bestens durch Kameras gesichert. Dieses Päckchen hatte Hannah im Keller in einem Schrank deponiert, wo sie alle persönlichen Gegenstände, die noch im Haus auffindbar waren und ihr Arrangement stören würden, hingebracht hatte. Neben dem Specksteinreplikat von Michelangelos David. Ob der Inhalt mit dem Mord zu tun hatte? Zu viele Gedanken poppten wie Push-Nachrichten nach einem Terroranschlag in ihrem Kopf auf. Und genauso kam sie sich vor. Es war ein Albtraum, doch sie musste einen kühlen Kopf bewahren. Einen Gedanken hatte sie immerzu verdrängt. Es war kein richtiger Gedanke, sondern eher ein Gefühl; eine Intuition, die sie versuchte auszublenden. Doch tief im Inneren wusste sie es: Sie kannte den Mann, der dort auf dem Sofa saß und offenbar seine gerechte Strafe erhalten hatte.