1
Erster Tag
Blut sammelte sich auf dem Küchenboden, wo Bill Rivers nach Luft schnappend lag, während er seine Frau anstarrte. Seine Worte gingen, in dem Versuch Luft zu holen, unter. Caron stand einige Sekunden, die ihr wie eine Ewigkeit vorkamen, regungslos da, und sah zu, wie ihr Mann um Atem rang, während sein Blut aus der klaffenden Wunde sickerte und einen purpurnen Teppich auf die Küchenfliesen malte. Bills Augen verloren ihren Glanz, sein Blick wurde leer, er hörte auf zu atmen. Caron war wie gebannt von diesem Anblick. Sie war es, die ihn getötet hatte. Vor ihr lag die stumme, blasse Version des Mannes, den sie vor vier Jahren geheiratet hatte.
Das Blut wich aus ihrem Gesicht, ihre Lippen kribbelten und ihr ganzer Körper begann zu zittern. Einen Moment lang dachte sie, sie würde ohnmächtig neben ihm zu Boden gehen. Aber nach einem tiefen Atemzug blieb sie bewegungslos stehen und lauschte ihrem Blut, das sie in ihrem Ohren rauschen hörte. Sie würde Bills Stimme nie wieder hören.
Schließlich wanderten Carons Augen zu dem Messer, das sie krampfhaft in ihrer Faust hielt. Entsetzt starrte sie auf das Blut, klebrig und warm, das an ihren Fingern klebte. Das Messer schien fast mit ihrer Hand verschmolzen zu sein, es war eine Verlängerung ihres Körpers. Unfähig, es länger zu ertragen, lies sie los und sah zu, wie das Messer zu Boden fiel. Dann drehte sie sich um, damit sie ihre scharlachroten Hände unter kaltem Wasser abspülen konnte.
Jetzt war sie diejenige, die benommen nach Luft schnappte und gegen die Übelkeit ankämpfte. In ihr herrschte ein nebliges Gefühlschaos. Sie drehte sich zurück, um noch einmal einen Blick auf ihren toten Mann zu werfen. Dann wählte sie mit zitternden Händen den Notruf.
Eine Frau meldete sich am Telefon. Sie fragte mit klarer und deutlicher Stimme, wie sie ihr helfen könne.
„Mein Mann ist tot. Ich habe ihn umgebracht.“ Carons Worte klangen fern, nahezu unwirklich, aber die Dame blieb ruhig und stellte weitere Fragen.
„Atmet der Patient noch?“ Sie wartete auf eine Antwort, welche Caron ihr nicht geben konnte. „Hat er einen Puls?“ Caron blieb weiterhin stumm. Die Dame am Telefon ging zu direkteren Fragen über.
„Wie ist ihr Name? Können sie mir sagen, wo sie sind und ob noch andere Menschen im Haus sind, ein Kind vielleicht?“
Caron erkannte ihre eigene Stimme kaum wieder, als sie es endlich schaffte, leise, kaum hörbar, fast flüsternd zu antworten. Es war, als würde eine Fremde ihren Namen und ihre Adresse nennen.
Die ruhige, gleichmäßige Stimme am anderen Ende der Leitung erklärte, dass ein Krankenwagen unterwegs sei. Die Dame bat Caron, die Tür zu öffnen und in der Leitung zu bleiben.
Es war unwirklich, wie in einem Traum, aus dem sie jeden Moment aufwachen würde, mit Bill, der sich, gesund und munter, sich gerade für die Arbeit fertig machend.
Die Sirenen wurden lauter, als sie sich dem Haus näherten; unmittelbar hinter dem Krankenwagen folgte ein Polizeiauto, das mit quietschenden Reifen vor der Nr. 34 in der Appleton Close zum Stehen kam. Es war früher Morgen und die schwache Aprilsonne verbannte bereits die Feuchtigkeit des nächtlichen Frühlingsregens, als zwei uniformierte Polizisten auf die fröstelnde Caron zuliefen, die in der Tür stand. Sie war erleichtert, dass sie die Verantwortung für alles, was jetzt kam, abgeben konnte. Einer der Männer hantierte mit einem kleinen Gerät an seiner Schulter, das Caron als Kamera erkannte. Jede Bewegung des Polozisten, jede Kleinigkeit, die er von diesem Moment an sah und hörte, würde aufgezeichnet werden.
Es gab einen genauen Ablauf, der befolgt werden musste, und sie schienen zu wissen, was zu tun war. Caron fragte sich, was sie von der Unordnung im Haus halten würden. Kristallgläser und zerbrochene Teller lagen in der sonst so makellosen Küche verstreut herum, Barhocker waren umgekippt und natürlich lag Bills Leiche ausgestreckt auf dem Boden; die Kamera am Körper des Polizisten würde die ganze grausige Szene festhalten. Aber jetzt war keine Zeit, um sich darüber Sorgen zu machen.
Einer der Polizisten führte Caron von der Küche weg, damit die Sanitäter ihre Arbeit erledigen konnten. Er setzte sich ihr gegenüber auf einen Stuhl im Wohnzimmer., Stille breitete sich zwischen ihnen aus. Carons elfenbeinfarbene Haut war noch blasser als sonst. Sie starrte mit ihren braunen, vor Schreck geweiteten Augen ins Leere. Ihren blutbefleckten Bademantel eng um ihren Körper wickelnd, wirkte sie in ihrer schlanken Gestalt mager und verschwand fast in dem großen cremefarbenen Sofa. Es war, als würde sie die ganze Szene aus weiter Ferne betrachten, weder geistig anwesend noch mit Ihrem Körper zugegen.
„Wie alt sind Sie, meine Liebe?“, fragte der Polizist.
„Vierundzwanzig.“ Carons Worte waren kaum mehr als ein Flüstern. Der Polizist nickte und ließ die Stille anschließend erneut den Raum erfüllen. Zwei endlos erscheinende Minuten später kam sein Kollege mit einem Tee in einer von Carons besten Porzellantassen zu ihnen. Der Mann reichte sie ihr die Tasse und murmelte etwas – eine Anweisung sie zu trinken, nahm Caron an. Es schmeckte süß. Normalerweise trank sie ihren Tee ohne Zucker, nahm aber an, dass das Teil der Schockbehandlung war, oder nicht? Der erste Polizist erklärte ihr, dass ein Detective auf dem Weg sei, um ihr ein paar Fragen zu stellen. Caron nickte benommen, hatte seine Worte aber im nächsten Moment schon wieder vergessen. Vielleicht kam der Tee zu spät und sie stand bereits unter Schock?
Das Geräusch einer weiteren Autotür, die draußen zugeschlagen wurde, kündigte die Ankunft zweier weiterer Polizisten an. Ermittler, vermutete Caron, da sie keine Uniformen trugen. Nachdem sie im Flur kurz angehalten hatten, um mit den bereits anwesenden Kollegen zu sprechen, sah Caron sie, hinter ihnen stehend, in die Küche gehen. Vermutlich um die Leiche zu begutachten. Und dann, nur wenige Minuten später, suchten sie sie im Wohnzimmer auf.
Der größere von beiden, der offensichtlich die Ermittlung leitete, zeigte Caron einen Dienstausweis und stellte sich als Detective Inspector Jack Priestly vor. Sie hob den Kopf, um den Neuankömmling anzusehen. Er war über einen Meter achtzig groß, hatte braune Augen und einen offenen, ehrlichen Gesichtsausdruck. Priestlys Gesicht wirkte sympathisch, er hatte ein ausdrucksstarkes Gesicht mit der Gesamthaltung eines Mannes, der viel gesehen hatte, und sich von der Szene im Haus der Rivers nicht aus der Fassung bringen ließ. Als er sich neben sie auf das cremefarbene Sofa setzte, blickte sie in diese freundlichen braunen Augen und hatte das Gefühl, ihm vertrauen zu können.
„Caron, nicht wahr?“, fragte er. Sie nickte, als er fortfuhr: „Bevor Sie eine unserer Fragen beantworten, werde ich Ihnen eine Erklärung vorlesen und dann sagen Sie mir bitte, ob Sie diese verstanden haben.“ Jack rezitierte langsam: „Sie müssen nichts sagen. Aber es könnte sich nachteilig auf Ihre Verteidigung auswirken, wenn Sie bei einer Befragung etwas verschweigen, worauf Sie sich später vor Gericht berufen. Alles, was Sie sagen werden, kann als Beweismittel gegen Sie verwendet werden.“ „Verstehen Sie, was ich gesagt habe, Caron?“ Wieder nickte sie pflichtbewusst und Jack stellte behutsam seine Fragen. Caron antwortete mit leisen, zögernden Worten. Sie beschrieb die Ereignisse des Morgens, während DI Priestly ausdruckslos zuhörte und sie nur selten dabei unterbrach, als sie erzählte, wie sie ihren Mann erstochen haben wollte. Der andere Polizist saß außerhalb ihres Sichtfeldes, doch Caron sich bewusst, dass er eifrig in sein Notizbuch kritzelte.
Draußen schlugen weitere Autotüren zu und Menschen in weißen Overalls strömten ins Haus. Wie eine Invasion, ein Eingriff in ihre Privatsphäre, sie schwärmten aus wie Ameisen, die auf der Suche nach Honig waren. Caron wusste, dass noch Schlimmeres bevorstand und dieser Tag ihr Leben für immer verändern würde. Kameras blitzten und das Summen der Hintergrundgeräusche drang tief in ihr Bewusstsein ein. Da die Kakophonie immer lauter wurde, wurde es schwierig, sich auf die Fragen des Detectives zu konzentrieren.
„Caron?“, DI Priestlys Worte unterbrachen ihre Gedanken. „Wir verlegen die Befragung auf die Polizeiwache.“
„Aber ich habe mich nicht angezogen …“ Sie trug noch ihren Morgenmantel, ein langes Seidenstück, das locker über einem weiten Satinpyjama gebunden war; wunderschöne Kleidungsstücke, die jetzt von dem Blut ihres Mannes gefärbt waren. „Kann ich vorher duschen und mich anziehen?“
„Nein, tut mir leid. Wir brauchen Ihre Kleidung als Beweismittel, aber wir geben Ihnen etwas zum Anziehen, sobald wir auf dem Präsidium sind.“ Jack nahm eine Decke von der Sofalehne und legte sie Caron um die Schultern, die aufgestanden war und unbeholfen auf zitternden Beinen standstand, um abgeführt zu werden.
Als sie das Haus verließen, kam Caron die sonst so ruhige Straße wie eine Szene aus einem Fernseh-Krimi vor. Autos säumten die Straße, Blaulichter flackerten immer noch, und mehrere Nachbarn standen in ihrer Sichtweite, sie beobachteten alles, mit verschränkten Armen und miteinander flüsternd, spekulierend über die Ereignisse in Nr. 34. Gelbes Absperrband war über den Weg durch den Vorgarten gespannt, es flatterte in der leichten Brise wie eine Girlande im Karneval, und ein junger uniformierter Polizist hob es an, um ihnen den Durchgang zu ermöglichen. Rosa Kirschblütenblätter wehten um ihre Köpfe herum, die letzten Blütenblätter der Kirschbäume. Es versprach, ein schöner Tag zu werden, nur nicht für Caron Rivers. Sie senkte den Kopf, um den neugierigen Blicken der Nachbarn ausweichen zu können und ließ sich von DI Priestly in das Polizeiauto helfen, wo sie eine schweigsame Polizistin auf der Rückbank sicher anschnallte.
***
Caron war sich nicht sicher, ob die Polizei sie als Verdächtige oder als Opfer einordnete. Angesichts ihres bereitwilligen Geständnisses, Bill erstochen zu haben, waren sie fast zu freundlich und verhielten sich überhaupt nicht so, wie sie es erwartet hatte. An der Polizeistation angekommen, wurde sie von der Polizistin, die mit ihr im Auto war, in einen Raum geführt. Eine Frau, nicht älter als sie selbst, mit streng zurückgekämmtem Haar und tiefen Akne-Narben in ihrem ausdruckslosen, wenn auch nicht unfreundlichen Gesicht. Die junge Frau erklärte, dass sie Caron für später fotografieren müssten, und positionierte sie an der Wand, wo das Morgenlicht durch das winzige Fenster fiel und Staubkörner in der abgestandenen Luft tanzten. Die Polizistin nahm eine Kamera aus dem Regal und machte mehrere Fotos. Als nächstes drückte sie Carons Finger auf ein elektronisches Pad, mit dem sie ihre Fingerabdrücke aufnehmen konnte, ziemlich anders als das schmuddelige Gerät, das Caron erwartet hatte. Anschließend bat die Frau sie, sich vollständig auszuziehen und den weißen Baumwolloverall anzuziehen, der am Ende eines hohen Untersuchungstisches bereit lag.
„Alles?“, flüsterte Caron.
„Ja. Das gehört zum Ablauf, unvermeidbar.“ Sie lächelte Caron mit zusammengepressten Lippen an. „Es ist etwas unangenehm, ich weiß. Ein Arzt wird Sie umgehend untersuchen und Sie sagen ihm bitte, wenn sie eine Verletzung haben oder sich unwohl fühlen. Er wird ihnen voraussichtlich auch ein paar Fragen stellen. Es wäre das für das Gesamtbild am besten, wenn Sie ihm diese so klar wie möglich beantworten. Wenn der Arzt dann fertig ist, bringt Sie jemand in einen Vernehmungsraum zu DI Priestly.“ Die selbstbewusste Art, in der Polizistin sprach, wirkte in gewisser Weise beruhigend für Caron. Der Ablauf hatte begonnen und die Dinge lagen nicht mehr in ihren Händen; von jetzt an würden andere über Ihre Zukunft entscheiden, dieses Wissen war jedoch, seltsamerweise, ein Trost für sie.
2
Vier Wochen vorher
Caron Rivers wurde zum zweiten Mal in einer Woche in das Wartezimmer des Arztes geschickt. Dr. Choudhry schien es jedoch nicht zu kümmern, wie oft sie kam, und er schien aufrichtig um ihr Wohlergehen besorgt zu sein, und genau das brauchte Caron. Ein pickeliges Kind stieß gegen ihr Bein, und sie versuchte ein Lächeln, als er stehen blieb und sie anstarrte, mit offenem Mund beim Anblick ihres Gesichts.
Ein pickeliges Kind stieß gegen ihr Bein, und sie versuchte ein Lächeln, als er stehen blieb und sie anstarrte, mit offenem Mund beim Anblick ihres Gesichts. Auch andere Patienten im Wartezimmer schauten in ihre Richtung, wandten sich dann verlegen ab, als sie das geschwollene gerötete Auge und den Schnitt auf ihrer Stirn sahen.
Caron ließ den Kopf hängen, sodass ihr üppiges kastanienbraunes Haar ihr Gesicht bedecken konnte. Sie hatte ihr glänzendes, schulterlanges Haar immer als ihr bestes äußerliches Merkmal betrachtet. Doch heute fühlte sie sich alles andere als attraktiv.
Carons Name wurde nur wenige Minuten nach ihrem Termin aufgerufen und gleich darauf fand sie sich geschützt in einem warmen, gemütlichen Zimmer wieder, wo sie den beruhigenden Worten des Arztes sowie der Besorgnis in seiner vollen, tiefen Stimme lauschte. Enda Choudhry war ein dünner Mann mittleren Alters mit ledriger Haut und einem Kopf voller dickem, dunklem Haar, auffällig wegen des markanten Haaransatzes. Seine sanfte Art machte ihn bei den Patienten beliebt., Caron bat immer explizit um einen Termin bei ihm. „Das ist diese Woche schon das zweite Mal, Caron. Glauben Sie nicht, dass es an der Zeit ist, dieses Problem dauerhaft zu lösen?“ Der Arzt sprach leise und mit echtem Mitgefühl in der Stimme, so als wäre ihm seine Patientin wichtig. Caron zuckte niedergeschlagen die Achseln und überließ es ihm, seine eigenen Schlüsse zu ziehen. Enda Choudhry stand auf und trat neben seine Patientin, ihr Haar vorsichtig anhebend, um die offene Wunde an ihrer Stirn zu untersuchen.
„Ich werde eine Krankenschwester bitten, den Schnitt zu reinigen, bevor Sie gehen, und ich empfehle ein Kühlpack für ihr Auge. Das wird sich im Laufe des Tages noch zu einem ordentlichen Veilchen werden entwickeln. Möchten Sie mir erzählen, was diesmal passiert ist?“
Caron senkte den Kopf, wobei sie leise in ihren Schoß sprach. „Es sieht schlimmer aus, als es ist. Es, es war nicht Bills Schuld. Ich hatte vergessen, dass er früher zur Arbeit musste und sein Frühstück war nicht rechtzeitig fertig. Er war wütend, wollte mich aber nicht verletzen. Es war nur ein kleiner Stoß - ich bin ungünstig gefallen.“ Sie zeigte auf ihr Auge und den Schnitt darüber.
„Wir können Ihnen Hilfe vermitteln, Caron. Es gibt heutzutage so viele geschützte Orte für gefährdete Frauen, wo sie jede Menge Unterstützung erhalten. Sie haben die Wahl, wissen Sie, sie müssen nicht bei Bill bleiben.“
„Nein, ich könnte ihn nicht verlassen. Er liebt mich. Es ist nur so, dass ich ihn manchmal mit meiner Schusseligkeit nerve. Aber er würde mir nie wirklich wehtun.“ Sie schien schockiert zu sein, über den Vorschlag.
„Nach Ihrem Zustand bei Ihren letzten Besuchen würde ich sagen, dass er Ihnen schon genug Schmerz angetan hat, und zwar ernsthaft. Bill sollte damit nicht durchkommen. Sind Sie sicher, dass Sie keine Hilfe wollen? Sie müssen ihn nicht anzeigen, wenn Ihnen das Angst macht. Es gibt so viele unterstützende Gruppen, die helfen können, ohne die Polizei einzuschalten.“ Der Arzt runzelte die Stirn, seine Augen waren voller Sorge.
„Wirklich, es geht mir gut und es gibt nichts, über das ich mich beklagen kann. Wir haben ein schönes Haus und ich muss nicht zum Arbeiten raus gehen. Bill ist ein guter Versorger, und außerdem, er ist alles, was ich habe.“ Caron sah nachdenklich und irgendwie abgekämpft aus.
„Würden Sie denn eine psychologische Beratung in Betracht ziehen? Fiona Singleton ist eine ausgezeichnete Therapeutin, sie arbeitet hier in der Praxis.“ Der Arzt wartete ab, während seine Patientin über den Vorschlag nachdachte. „Manchmal kann man eine Situation aus einer anderen Perspektive betrachten, wenn man über die Dinge spricht. Ich könnte einen Termin für Sie vereinbaren, wenn Sie möchten?“
„Denken Sie, es würde helfen?“, fragte Caron, mit einem Funken Hoffnung in den Augen.
„Ich bin mir sicher, dass es das wird. Und ich hole auch eine Krankenschwester dazu, die den Schnitt für Sie reinigen wird...“
Dr. Choudhry griff zum Telefon und bat eine Krankenschwester, die Wunden zu verbinden, bevor er sie aus seinem Behandlungszimmer zum Empfang brachte. Das Empfangssekretariat kümmerte sich um einen Termin bei Fiona Singleton und dann brachte sie eine aufmunternde Krankenschwester in ein Behandlungszimmer, in dem ihre Wunden versorgt wurden. Caron verließ die Praxis mit einem viel besseren Gefühl. Der Besuch war gut verlaufen, viel besser als erwartet und eine Therapeutin aufsuchen zu können half ihr auch. Das konnte sicher nur zu ihrem Vorteil sein, oder?
Caron beschloss, zu Fuß nach Hause zu gehen. Es war ein schöner Morgen Ende März und die ersten Sonnenstrahlen vertrieben die kühle, klare Luft. Sie würde es genießen, durch den Park zu spazieren und die Narzissen zu sehen, die eine neue, bessere Zeit ankündigten. Vor allem konnte sie mit ihren Gedanken allein sein. Während sie sich zügig auf den Weg machte, dachte sie über Fiona Singleton nach. Würde sie auch so freundlich und mitfühlend sein wie Dr. Choudhry? Sie musste noch eine Woche abwarten, um das selbst herausfinden zu können.
***
Als sie wieder in dem schönen Haus war, das sie sehr liebte, sah sie das den Anrufbeantworter aufblinken, eine Nachricht ankündigend. Ein Schauer der Panik ergriff sie. Auf Knopfdruck erfüllte Bills tiefe Stimme den Raum. „Caron, wo bist du? Ich erwarte, dass du mich sofort anrufst, wenn du das hier hörst.“
Ihr Mann rief normalerweise jeden Morgen an, wenn auch nicht ganz so früh. Caron fragte sich, ob etwas nicht stimmte. Da es nur einen Weg gab, das herauszufinden, wählte sie seine Büronummer.
„Wo warst du?“ Bill war nie ein Freund von Smalltalk gewesen. „Ich war nur ein paar Karotten für das Abendessen einkaufen.“ Sie biss sich auf die Unterlippe, in der Hoffnung, dass er ihr die Lüge glaubte, denn sie traute sich nicht, ihm die Wahrheit zu sagen.
„Okay, hör jetzt zu; meiner Mutter geht es nicht gut. Sie hat den Arzt gerufen und möchte, dass ich bei seinem Besuch dabei bin, also werde ich später nach Hause kommen. Ich bin etwas besorgt, und wenn sich herausstellt, dass es etwas Ernstes ist, könnte es an der Zeit sein, dass du dich ins Zeug legst und dich um sie kümmerst. Ich weiß, ihr beiden habt euch nicht immer so gut verstanden, aber sie ist meine Mutter. Du bleibst für den Rest des Tages besser in der Nähe des Telefons, bis du von mir hörst.“
„Glaubst du, es ist etwas Ernstes?“
„Woher soll ich das wissen? Ich bin kein Arzt. Am Telefon klang sie beunruhigt, und du weißt, wie sehr sie sich um ihre Gesundheit sorgt. Deswegen gehe ich nach dem Mittagessen zu ihr, für dann hat der Arzt sich angekündigt. Wenn ich bei ihr bleiben muss, lasse ich es dich wissen. Alles klar?“
Das Gespräch war beendet.
Wahrscheinlich war es nicht so schlimm – Bills Mutter war in Carons Augen eine Hypochonderin und hatte ihren Sohn genau da, wo sie ihn haben wollte. Madeleine Rivers würde bei ihm immer an erster Stelle kommen.
Caron seufzte und schaltete die Kaffeemaschine ein, um sich ihren Lieblingskaffee zu machen. Dann drehte sie die Heizung auf, griff zu ihrem Notizbuch und begann zu schreiben.
12.März
Heute Morgen war ich wieder beim Arzt. Seltsamerweise genieße ich diese Praxisbesuche. Alle, alle sind so freundlich und geben mir nicht das Gefühl, als wäre ich lästig. Er bot mir eine Therapie an und ich stimmte zu. Es könnte genau das sein, was ich brauche, also habe ich nächste Woche einen Termin bei einer Dame namens Fiona Singleton.
Eine Krankenschwester hat meine Wunde am Kopf versorgt und verbunden. Aber ich muss den Verband abnehmen, bevor Bill nach Hause kommt. Sonst weiß er, wo ich gewesen bin.
Mein Kopf pocht immer noch vom Sturz beim Frühstück – Bill war, wie so oft in letzter Zeit, schlecht gelaunt. Das scheint immer öfter vorzukommen. Ich weiß nicht, warum er es an mir auslässt – warum es ihm anscheinend Spaß, Schmerzen zu verursachen. Es zermürbt mich. mehr und mehr. Und jetzt ist seine Mutter krank, Gott weiß, was das bedeutet, sollte es etwas Schlimmes sein. Auf jeden Fall mehr Arbeit für mich, und wie üblich wird Bill nach ihrer Pfeife tanzen. Wie kann es sein, dass er so gut zu ihr ist und mich gleichzeitig so schlecht behandeln? Es ist doch nicht so, als hätte ich etwas Falsches getan. Dieses schreckliche Gefühl der Verzweiflung scheint mich in den letzten Tagen nicht mehr verlassen zu wollen, ist mein ständiger Begleiter und mein Körper tut mir überall weh. Ich weiß nicht, wie viele Schläge ich noch ertragen kann. Vielleicht kann die Therapeutin mir helfen. Es scheint, als hätte ich sonst niemanden, an den ich mich wenden kann.
3
Fiona Singleton ließ ihre neue Klientin nicht warten, sie bat Caron um Punkt neun Uhr in ihr Büro. Die Therapeutin war Mitte Vierzig, schlank und attraktiv mit einem runden Gesicht, das von kurzen blonden Haaren eingerahmt wurde. Ihre Augen waren eisblau, ihr Blick sehr eindringlich. Sie hatte ein warmes Lächeln sowie eine angenehme, beruhigende Stimme. Fiona führte Caron in den kleinen, gemütlichen Raum und bat sie, sich zu setzen.
Sie erläuterte die Vertraulichkeitsklausel bezüglich ihrer Sitzungen und die Ausnahmen davon, die galten, wenn sie annahm, Caron könnte sich selbst oder jemand anderen verletzen, oder wenn ein Kind in Gefahr sei. Die „dreifache Schadensklausel“,“ wie Fiona es nannte.
„Also alles, was ich Ihnen sage, bleibt in diesem Raum?“, fragte Caron.
„Ja, so ist es. Bis auf die Ausnahmen, die ich Ihnen genannt habe. Verstehen Sie?“
„Natürlich, vielen Dank.“ Es herrschte eine kurze Stille, bevor Caron den Mund öffnete, um zu sprechen. Doch stattdessen brach sie in heftiges Schluchzen aus. Fiona schob ihr eine Packung Taschentücher zu und wartete ab, bis die junge Frau sich wieder beruhigt hatte. Es war nicht ungewöhnlich, dass eine Klientin ihren Emotionen freien Lauf ließ. Ihr Zimmer war ein Zufluchtsort, weg von den äußeren Einflüssen und dem Druck, der auf ihnen lastete. So wurde es oft zu einem sicheren Ort, an dem eine Klientin sie selbst sein konnte, ohne Angst vor Schaden oder Verurteilung. Nach ein paar Minuten putzte Caron sich die Nase und hob den Kopf, um Fiona in die Augen zu sehen. „Es tut mir so leid!“
„Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Tränen können befreiend sein. Möchten Sie mir sagen, wie es ihnen heute geht?“
„Gerade fühle ich mich ziemlich albern.“ Caron lächelte schwach, als sie fortfuhr. „Ich nehme an, Dr. Choudhry hat ihnen erzählt, dass mein Mann mich ab und an schlägt?“
„Nein, das hat er nicht. Wenn Sie allerdings darüber reden möchten, könnte es eventuell helfen.“ Fiona erklärte kurz: „Ich versuche, jede Beziehung mit einer neuen Klientin so zu beginnen, dass ich nichts weiß, außer dem, was sie oder er mir sagen möchte.“ Sie lächelte; die Therapie war für Fiona etwas Alltägliches, aber sie vergaß nicht, dass es für die ihr gegenübersitzende Person etwas Neues war.
Fiona fuhr fort: „So kann ich Sie nach dem kennenlernen, was Sie mir erzählen, nicht anhand dessen, welche Meinung andere von Ihnen haben. Manchmal stelle ich Rückfragen, damit ich besser verstehen kann, wie Sie sich fühlen. Ich spiegele Ihnen auch ihre eigenen Worte wider, damit Sie die Dinge aus einer anderen Perspektive betrachten können. Dies ist allein ihre Zeit, Caron, Sie können sie nutzen, wie Sie möchten. So, nachdem wir das geklärt haben, möchten Sie über die Beziehung zu Ihrem Mann sprechen oder über etwas ganz anderes vielleicht?“
„Naja, Sie wissen jetzt, dass Bill mich schlägt, aber er ist kein schlechter Ehemann.“
„Wie meinen Sie das, er ist kein schlechter Ehemann?“
„Er sorgt gut für uns und wir haben ein schönes Haus.“ Caron vermied den Blickkontakt mit Fiona, riss kleine Stücke von dem zerknüllten Taschentuch in ihrer Hand und blinzelte einzelne Tränen weg.
„Und ist Ihnen das wichtig?“, fragte die Therapeutin.
„Ja, das ist es wohl. Ich muss nicht arbeiten, darauf besteht Bill sogar. Er möchte, dass ich das Haus in Ordnung halte und ihm nach der Arbeit ein leckeres Essen koche.“ Caron knüllte das Taschentuch zu einem kleinen Ball zusammen und sah Fiona erwartungsvoll an, als fürchte sie eine Reaktion, aber sie bekam nur ein kurzes Nicken, als Ermutigung, weiterzumachen.
„Bill ist sechzehn Jahre älter als ich und hat etwas altmodische Ansichten. Er hat hohe Ansprüche, gewisse Erwartungen.“
„Und teilen Sie diese Ansichten, Caron?“
„Meistens ja, das würde ich sagen, obwohl es manchmal schön wäre, Freunde zum Kaffee oder Mittagessen zu treffen. Ich vermisse diese kleinen Freuden des Alltags. Bill ist nicht damit einverstanden, dass ich ohne ihn ausgehe. Er gibt mir auch nicht genug Geld für solche Dinge.“
„Sie haben also kein eigenes Geld, außer das, was Bill ihnen gibt?“ Fiona wollte sichergehen, dass sie richtig gehört hatte.
„Ja, obwohl er meistens großzügig ist, zum Beispiel beim Essen. Ich kann hochwertige Lebensmittel kaufen und kochen, solange ich die Rechnungen aufbewahre und sie ihm zeige. Also essen wir immer gut.“
„Und sind Sie mit dieser Vereinbarung einverstanden?“
„Ich glaube, im Großen und Ganzen ja, ich habe nie viel darüber nachgedacht. Wir gehen zusammen einkaufen, um Dinge für unser Zuhause zu besorgen, und Bill sucht gern meine Kleidung für mich aus; er ist meistens sehr großzügig.“
„Bill sucht Ihre Kleidung aus?“, wiederholte Fiona fragend, ob sie sich verhört hatte. Caron war eine attraktive junge Frau, kleidete sich jedoch konservativ in gedeckten Farben, was ihr ein eher altmodisches Aussehen verlieh und ihr sattes kastanienbraunes Haar sowie ihre schlanke Figur nicht gerade hervorhob. Mit ein wenig Mühe könnte sie eine echte Schönheit sein.
„Ja, es ist immer sehr hochwertige Kleidung. Es stört ihn nicht, Geld für mich auszugeben.“
„Gleichwohl gibt er Ihnen kein Geld, das Sie für sich selbst ausgeben können?“
„Das brauche ich ja auch nicht, oder? Ich kümmere mich um den Haushalt und das Essen, er kümmert sich um die Rechnungen und andere Dinge.“
„Haben Sie außer Bill noch andere Verwandte oder enge Freunde?“ Fiona wollte sich ein umfassenderes Bild von Carons Leben machen, um herauszufinden, ob sie Unterstützung von ihren Eltern oder Geschwistern bekommen könnte. Die junge Frau schüttelte den Kopf.
„Mein Vater starb, als ich sechzehn war, und meine Mutter lebt bei meiner Schwester, ganz in der Nähe.“ Carons Stimme wurde fast zu einem Flüstern. „Bill kommt nicht mit ihnen klar und möchte nicht, dass ich sie treffe. Ich habe seit unserer Hochzeit den Kontakt zu den meisten meiner Freunde verloren.“
„Und das ist okay für Sie?“
„Oh ja, es ist immer besser, Bills Wünschen nachzukommen. Das macht das Leben so viel einfacher.“ Carons Blick wanderte durch den Raum, bevor sie wieder sprach. „Er ruft mich jeden Morgen von der Arbeit aus an, um zu hören, was ich mache. Deshalb ist ein früher Termin hier am besten, damit ich zu Hause bin, wenn er sich meldet.“
Den Rest der Stunde hörte Fiona ihrer neuen Klientin aufmerksam zu, zeigte dabei kaum oder gar keine Regung und bat nur gelegentlich um Klärung bestimmter Punkte. Die körperliche Misshandlung war deutlich zu erkennen. Aus Carons Beschreibungen ging auch hervor, dass sie psychische Misshandlungen erlitt. Geldknappheit, Isolation von Freunden und Familie und die Tatsache, dass sie alle Entscheidungen abgab, waren klassische Anzeichen dafür. Obwohl Caron sich dessen durchaus bewusst war, war sie aus irgendeinem Grund nicht in der Lage, aus der Ehe und dem Teufelskreis der Misshandlung auszubrechen. Fiona kam zu dem Schluss, dass Caron zwar genau verstand, was vor sich ging, es aber nicht stoppen konnte oder wollte. Was sie erzählte, war zusammenhanglos, es waren Bruchstücke, die sich nur schwer zusammenfügen ließen.
Als Caron ging, hatte sie einen detaillierten Bericht über ihr Privatleben abgegeben, der bei Fiona keinen Zweifel daran ließ, dass die Ehe der Rivers alles andere als in Ordnung war. Sie fragte sich, was diese junge Frau von ihren Sitzungen oder sogar vom Leben selbst erwartete.
4
Fiona Singletons Gedanken wanderten in den folgenden Tagen häufig zu Caron Rivers. Die Therapeutin fand es hilfreich, ihre Ansichten über einen Klienten zu besprechen, um sie zu sortieren. Als Dr. Choudhry sich erkundigte, wie es ihr ging, nutzte sie die Gelegenheit, ihm ihre ersten Eindrücke zu erörtern. Da er Carons Hausarzt war, wurde die Vertraulichkeit bei der Besprechung nicht verletzt, und da es der Morgen vor Carons zweitem Termin war, war sie über eine zweite Meinung dankbar.
„Caron scheint die Dinge fast objektiv zu betrachten. Es klingt, als würde sie die Geschichte von jemand anderem erzählen“, erklärte Fiona. „Sie entschuldigt ihren Mann andauernd und besteht darauf, dass er sie liebt. Das scheint in ihren Augen die Gewalttätigkeit zu rechtfertigen. Allerdings müssen die schlimmen Prellungen und der Schnitt an der Stirn sehr schmerzhaft gewesen sein. Sie ist eine intelligente junge Frau mit einem guten Verständnis dafür, was mit ihr passiert, besteht jedoch darauf, sich selbst die Schuld für den Missbrauch zu geben. Caron scheint entweder nicht in der Lage oder nicht willens zu sein, etwas zu ändern.“ Enda Choudhry hörte aufmerksam zu und nickte.
„Vielleicht will sie dich einfach erst sicher auf ihrer Seite wissen, bevor sie sich wohl genug fühlt, etwas zu ändern. Ich kenne Patienten, die ihre Probleme gut verstanden und nur eine Therapiesitzung gebraucht haben, um ihre Gefühle zu bestätigen oder sich einfach wieder normal zu fühlen.“ Enda lehnte sich in seinem Stuhl zurück, unterdessen klopfte er mit dem Stift auf seine Handfläche. Fiona wusste, dass nun eine Geschichte kommen würde, respektierte aber die Ansichten des Arztes zu sehr, um ihn zu unterbrechen.
„Ich erinnere mich an eine junge Frau, vor Jahren, die regelmäßig von ihrem Partner geschlagen wurde und ihn sogar dazu provozierte, ihr wehzutun. Sie gab schließlich zu, dass diese Schläge ihr bewiesen, dass er sie liebte. Sie wurde ängstlich, als er ihr nicht regelmäßig weh tat, und interpretierte es als Gleichgültigkeit gegenüber ihrer Beziehung. Für das arme Mädchen war die Gewalt ihres Partners ein Zeichen dafür, dass sie ihm die Mühe wert war, ein Beweis seiner Liebe. Typischerweise war das Mädchen in einem Zuhause mit einem gewalttätigen Vater aufgewachsen und hatte diese destruktiven Werte übernommen, ohne eine bessere Lebensweise zu kennen. Leider müssen viele der Frauen eher vor sich selbst als vor ihrem Partner gerettet werden. Sie vernachlässigen ihre eigene Sicherheit und oft auch die ihrer Kinder und setzen damit den Teufelskreis fort. Doch es ist eine Entscheidung, die nur sie selbst treffen können. Selbst wenn man ihnen alle Hilfe der Welt anbietet, lassen sich manche Frauen nicht davon überzeugen, eine missbräuchliche Beziehung zu verlassen. Zumindest sind in Carons Fall keine Kinder im Spiel.“ Enda seufzte; sie hatten beide schon viel zu viele Fälle häuslicher Gewalt gesehen.
„Nun, ich schätze, mit Caron ist es noch zu früh und ich werde sie mit der Zeit bestimmt besser kennenlernen. Zumindest scheint sie die Therapie fortsetzen zu wollen, was sehr gut ist.“ Fiona dankte Enda für seine Zeit und ging zurück in ihr Büro, um sich auf ihre nächste Klientin Sitzung, mit Caron Rivers, vorzubereiten.
Caron war pünktlich. Fiona bat sie herein und erinnerte sie zunächst kurz an die Vertraulichkeitsklausel, über die sie bei ihrem ersten Besuch bereits gesprochen hatten. Nach diesem gewöhnlichen Start betrachtete Fiona ihre Klientin, die noch betrübter wirkte als bei ihrem letzten Treffen. Eine Aura der Verzweiflung schien sie zu umgeben, als sie zögerlich versuchte, mit Fiona zu reden.
Nach zwanzig Minuten befürchtete sie, die Sitzung sei noch weniger sinnvoll als die erste, da Caron alles wiederholte, was sie bereits erzählt hatte. Sie griff einige der vergangenen Gewaltvorfälle erneut auf, und brachte die gleichen Entschuldigungen für Bill hervor.
Fiona kam es so vor, als wären drei Personen im Raum. Es war fast so, als stünde Bill neben ihr um zwänge Caron dazu, auf ihre Worte zu achten. Das Gespenst von Bill als Musterbeispiel an Tugend, das durch die Fehler seiner Frau zur Gewalt getrieben wurde, war zweifellos beunruhigend, doch es war es eine Situation, die Caron offenbar als normal ansah. Leider hatte Fiona ein solches Szenario schon öfter erlebt., als sie sich erinnern wollte. Wenn man einer misshandelten Person immer wieder sagt, dass der Missbrauch ihre Schuld ist, glaubt sie es irgendwann. Das ist eine Art schleichende Gehirnwäsche – und schlichtweg eine Lüge. Die Verantwortung in jeder missbräuchlichen Beziehung liegt eindeutig und allein beim Täter, und Fiona konnte nur hoffen, dass Caron dies irgendwann selbst erkennen würde.
Gegen Ende der Sitzung erwähnte Caron ihren Vater zum ersten Mal ausführlicher. Fiona nickte, um sie zu ermutigen, weiter über die Familiendynamik zu sprechen.
„Mein Vater hatte keine Skrupel, Mama wieder und wieder zu ohrfeigen. Das Leben zu Hause war wie ein ständiger Eiertanz und ich schwor mir, nie einen Mann wie ihn zu heiraten. Jetzt bin ich in derselben Situation. Das passiert oft, nicht wahr, Fiona, Frauen heiraten Männer, die wie ihre Väter sind?“
„Das kann passieren, aber es muss nicht sein. Der Teufelskreis kann durchbrochen werden. Wie war Ihre Beziehung zu Ihrem Vater, Caron? War er Ihnen und Ihrer Mutter gegenüber gewalttätig?“
Caron runzelte die Stirn und schaute weg, als suche sie an den Wänden nach Worten, während sie überlegte, wie viel sie preisgeben wollte.
„Ja, das war er.“ Sie sprach mit Nachdruck, ihre Entscheidung zu reden war offenbar gefallen. „Als ich ein kleines Mädchen war, dachte ich, ich müsse sehr nervig sein, weil er mich oft schlug und viel schrie. Ich hielt mir die Ohren zu, sang in Gedanken dieses albernen kleinen ‚Nah nah nah‘-Lied, während ich so tat, als wäre ich woanders und als würde nichts passieren. Dann, als Teenager, hatten wir die üblichen Vater-Tochter-Streitigkeiten, die normalerweise damit endeten, dass er nach mir schlug. Wenn er zu wütend wurde – ich lernte bald, seine Launen vorauszusehen – rannte ich nach oben und verbarrikadierte meine Zimmertür, damit er nicht hereinkommen konnte. Ich nehme an, er ließ es dann an Mama oder Liz aus. Sie schienen es bereitwilliger zu akzeptieren. Und er beruhigte sich dann entweder schnell wieder oder ging in die Kneipe, um aus dem Haus zu kommen.“
Caron versuchte nicht, die Handlungen ihres Vaters zu rechtfertigen, so wie sie es bei ihrem Mann tat. Eine Tatsache, die Fiona interessant fand.
Es folgte ein nachdenkliches Schweigen. Anscheinend hatte Caron alles gesagt, was sie über ihren Vater preisgeben wollte. Fiona hoffte, dass sie vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt in der Lage wäre, ausführlicher über ihn und die Probleme zu Hause zu sprechen. Irgendwo gab es einen Schlüssel zu dem, was die junge Frau bedrückte. Fiona hatte das nagende Gefühl, dass viel mehr dahintersteckte als die Gewalttätigkeit ihres Mannes. Obwohl alle Anzeichen da waren, war dies kein einfacher Missbrauchsfall. Vielleicht gab es noch mehr, was Caron nicht preisgab. Es war nicht ungewöhnlich, dass ein Klient eine Art von Missbrauch (oft die körperliche) verbalisierte, während das eigentliche Problem psychischer oder sogar sexueller Missbrauch sein konnte. Ein solcher Missbrauch ist oft bewusst darauf ausgelegt, das Opfer zu beschämen oder zu erniedrigen, was es viel schwieriger macht, darüber zu sprechen.
Als die Sitzung zu Ende ging, schien Caron es kaum erwarten zu können, einen weiteren Termin zu vereinbaren, während Fiona frustriert war, weil sie es bisher nicht geschafft hatte, eine richtige Verbindung zu dieser jungen Frau in Not aufzubauen.
5
Am folgenden Wochenende ging Fiona Singleton zum Einkaufen in die Innenstadt und sah Caron Rivers im Eingang eines Kaufhauses stehen, wo sie mit einem Mann sprach, den sie für ihren Ehemann hielt. Er war älter als Caron, hatte einen fliehenden Haaransatz und hatte zu viel Gewicht für seine Größe. Sein rundes, gerötetes Gesicht wirkte lebhaft, als er seiner Frau zuhörte. Caron trug Make-up und sah viel eleganter aus als in der Praxis. Ihr braunes Haar war offen, glänzend und legte sich geschmeidig um ihre Schultern. Fiona blieb einen Moment stehen, um ihnen zuzusehen. Zunächst war sie sich nicht sicher, ob es ihre Klientin war, und neugierig, den Ehemann zu sehen, von dem sie schon so viel gehört hatte. Bill Rivers war überhaupt nicht so, wie sie ihn sich vorgestellt hatte, aber er musste es sein – das Alter war ungefähr richtig. Wenn er so herrschsüchtig war, wie Caron behauptete, konnte es niemand anderes sein. Während Fiona zusah, legte Bill seiner Frau die Hand auf den Rücken und führte sie zum Fenster, um ihr etwas zu zeigen. Ihr Umgang miteinander schien recht angenehm, aber Caron hatte auch erzählt, dass es ihm Freude machte, Geld für sie auszugeben.
Nach ein paar Augenblicken ermahnte Fiona sich selbst wegen ihrer Neugier und machte sich wieder auf den Weg, um die Schuhe zu kaufen, die sie für eine bevorstehende Hochzeit brauchen würde. Vielleicht würde Caron ihr in der nächsten Woche, wenn sie sich wiedersahen, von diesem Besuch in der Innenstadt erzählen; es könnte ein gutes Zeichen sein, wenn Caron und ihr Mann zusammen ausgingen.
***
Am Donnerstag war Caron Fionas einzige Klientin am Vormittag. Sie Die Therapeutin hatte das Gefühl, dass sie noch keine richtige Verbindung aufgebaut hatten. und war darüber besorgt. Auch wenn es erst ihr drittes Treffen war; vielleicht brauchten sie mehr Zeit, bis die Beziehung gefestigt wäre.
Caron betrat den Therapieraum mit dem Anflug eines Lächelns auf den Lippen, ihr Gesicht war wieder ungeschminkt und sie hatte dunkle Ringe unter den Augen. Fionas Augen weiteten sich – dies hätte eine ganz andere Frau sein können als die, die sie am Wochenende gesehen hatte. Nachdem sie sich gesetzt hatten, erinnerte Fiona Caron an die Vertraulichkeitsklausel und fragte sie dann, wie sie sich fühlte.
„Okay.“ Caron entspannte sich sichtlich in ihrem Stuhl. Fiona hoffte, dass diese Sitzung den Durchbruch bringen würde, auf den sie wartete. Doch Carons nächste Worte erschreckten sie.
„Es ist gut, endlich aus dem Haus zu kommen. Ich bin, seit ich letzte Woche hier gewesen war, nicht mehr rausgekommen. Bill hat beschlossen, dass es Zeit für den Frühjahrsputz ist, also war ich jeden Tag zu Hause und habe überall geschrubbt.“
Das klang nicht glaubwürdig; die Frau, die Fiona am Wochenende in der Stadt gesehen hatte, war doch ganz sicher Caron. Wenn dem wirklich so gewesen ist, war das eine Lüge oder nur ein Versehen ihrer Klientin? Aber warum sollte sie bei etwas so Unwichtigem schwindeln? Fiona versuchte, es aus ihrem Kopf zu verbannen. Eine unnötige Lüge konnte das Vertrauen zwischen Therapeutin und Klientin zerstören, also beschloss sie, ihr im Zweifel zu vertrauen und anzunehmen, dass ihre Klientin einfach vergessen hatte, dass sie in der Stadt gewesen war.
Caron fuhr fort: „Bill möchte, dass das Haus sauber und ordentlich ist. Am Sonntag kommt seine Mutter zum Mittagessen, also muss ich bis dahin mit allem fertig sein. Es ist schön, ein so großes Haus zu haben, aber es ist auch viel Arbeit, es in Schuss zu halten.“
„Verstehen Sie sich gut mit Ihrer Schwiegermutter?“, fragte Fiona. Caron hatte Bills Mutter bisher nicht erwähnt, das könnte ein konstruktiver Richtungswechsel sein.
„Nicht wirklich. Sie kommt selten zu uns. Bill besucht sie einige Male pro Woche und geht jeden Samstag mit ihr einkaufen. Madelaine ging es in letzter Zeit nicht so gut und Bill sagte, ich sollte mich mehr um sie bemühen, aber zum Glück scheint es ihr jetzt besser zu gehen. Sie dachte immer, ich sei nicht gut genug für ihren Sohn und mag mich offensichtlich nicht, also ist es wohl für uns beide gut, dass sie nicht so oft vorbeikommt. Ich finde sie schwierig; sie ist sehr kritisch gegenüber der Art, wie ich den Haushalt führe und was ich koche. Ich frage mich oft, was Bill wohl zu ihr über mich sagt. Aber ich sage mir immer wieder, dass sie genauso mit jeder anderen Frau, die Bill geheiratete hätte, umgegangen wäre. Auch wenn ich davon nicht immer überzeugt bin.“
Caron hörte auf zu reden und seufzte. Sie biss sich auf die Unterlippe und suchte den Raum mit ihren Augen ab. Fiona ließ das Schweigen zu, da sie annahm, dass Caron über etwas nachdachte und innerlich darüber mit sich rang, ob sie es ihr erzählen sollte oder nicht. Etwas anderes über ihre Schwiegermutter vielleicht. Nach einigen Augenblicken des Schweigens, zog Caron den Ärmel ihres Mantels hoch und zeigte Fiona ihren linken Arm.
An der Innenseite ihres Unterarms waren deutlich drei kleine, runde Brandblasen zu sehen, die nur von Zigaretten stammen konnten. Wund und nässend, sie sahen äußerst schmerzhaft aus.
Tränen stiegen in Carons Augen - Fiona– Fionas Herz litt mit dieser gequälten jungen Frau, sowohl wegen ihrer Verletzungen als auch wegen ihrer seelischen Qualen, unter denen sie offensichtlich litt. Caron wollte sie offensichtlich von dieser jüngsten Verletzung wissen lassen und die Therapeutin konnte ihre Unfähigkeit, in Worte zu fassen, was in ihrem Leben geschah, nachvollziehen. Die Wunden schienen frisch zugefügt, sowie auch unbehandelt zu sein.
„Willst du mir erzählen, was passiert ist?“, fragte Fiona mit ruhiger, gleichmäßiger Stimme. Es herrschte eine kurze Stille, während Caron ihren Ärmel wieder herunterzog und sie ansah.
„Ich weiß nicht, was ich getan habe, Fiona, das ist das Erschreckende. Normalerweise weiß ich, was ich getan habe, um ihn zu ärgern, aber gestern Abend kam er wirklich schlecht gelaunt nach Hause. Ich dachte, vielleicht ist im Büro etwas Schlimmes passiert, wissen Sie weißt du? Aber er spricht nie mit mir über die Arbeit. Dann hat er sich eine Zigarette angezündet, mich plötzlich am Handgelenk gepackt und das hier getan – ich weiß nicht, warum. Ich habe vor Schmerz geschrien, aber er hat nur gelacht. Ich hatte solche Angst!“
„Caron, Sie müssen nicht bei Bill bleiben. Es gibt Orte, an die Sie gehen können; wir können Hilfe und Unterstützung organisieren.“ Fiona war ernsthaft besorgt um ihre Klientin. Wenn ihr Mann ihr absichtlich solche grausamen Verletzungen zufügen konnte, wozu war er dann sonst noch in der Lage?
„Ich weiß, Dr. Choudhry hat es mir auch gesagt, aber Bill würde mich überall finden, egal wohin ich auch ginge.“ Caron strömten jetzt Tränen über ihre Wangen; sie sah verzweifelt aus, eine kleine, einsame Gestalt. Fiona wünschte sich, dass ihre Klientin die Kraft finden würde, ihrem Leben voller Missbrauch zu entfliehen, doch die Entscheidung musste sie selbst treffen.
„Wenn Sie zur Polizei gehen, kann die eine einstweilige Verfügung erwirken, um Bill von Ihnen fernzuhalten. Die kann man leicht durchsetzen, und wenn er die Verfügung missachtet, wird er verhaftet.“ Fiona runzelte die Stirn, als ihre Klientin den Kopf schüttelte.
„Es würde keinen Unterschied machen; er würde mich finden und mein Leben noch viel schwieriger machen, als es ohnehin schon ist.“ Caron schien sich ihrem Schicksal ergeben zu haben, und Fiona wusste, dass sie nicht in der Position war, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Nachdem sie die Möglichkeiten aufgezeigt hatte, konnte nur Caron entscheiden, was zu tun war. Und es sah so aus, als ob sie vorhatte, überhaupt nichts zu tun.
Den Rest der Sitzung redete Caron wieder über banalere Dinge, über den Frühjahrsputz und das Essen, das sie für ihre Schwiegermutter zubereiten würde. Ihre Worte waren manchmal unklar und zusammenhanglos. Die Gedanken der jungen Frau schienen von einer verstaubten Ecke ihres Gehirns in eine andere zu springen, als sie wahllose Fakten äußerte, die nicht durch einen roten Faden miteinander verbunden gewesen sein konnten. Fiona hörte den Rest der Stunde einfach nur zu, und versuchte, dem ausschweifenden Monolog zu folgen und den Schmerz der Frau zu spüren.
Als sie sich dem Ende ihrer gemeinsamen Zeit näherten, fragte Fiona, ob Caron einer der Krankenschwestern erlauben würde, die Verbrennungen an ihrem Arm zu verbinden. Sie nickte zustimmend und Fiona meldete sie an, bevor sie sie in die Behandlungsräume führte.
***
Als Caron schließlich die Praxis verließ, klopfte Fiona mit ihrer Erlaubnis an Dr. Choudhrys Tür, um mit ihm über diesen jüngsten körperlichen Angriff auf seine Patientin zu sprechen, der viel schlimmer schien als das übliche Schlagen oder Boxen. Fiona befürchtete, dass der Missbrauch eine kalkulierte, geplante Form angenommen haben könnte, und teilte dem Arzt ihre Sorgen mit.
„Sie ist wirklich eine sture junge Frau.“ Enda Choudhry seufzte. „Ich weiß nicht, warum sie zu ihm hält. Wenn sie uns von einigen der Dinge erzählt, die er tut, frage ich mich, was es gibt, was sie uns nicht erzählt.“
Fiona stimmte zu, doch sie konnten nur tun, was Caron zuließ, eine für sie frustrierende Situation. In Fionas Hinterkopf saß die Angst, die Dinge im Haushalt der Rivers könnten noch mehr eskalieren. Carons Suche nach Hilfe durch eine Therapie könnte ein Zeichen dafür sein, dass sie die in sie übergegangene passive Akzeptanz ihrer häuslichen Situation auflösen wollte und dass sie vielleicht irgendwann sogar den Wunsch haben könnte, ihre Zukunft aktiv anzugehen. Leider konnten ihr Arzt und ihre Therapeutin im Moment nur im als Unterstützung Hintergrund bleiben. Jederzeit, wenn Caron sie brauchte.
6
03. April
Ich mag Fiona Singleton. Als wir uns das erste Mal trafen, hatte ich eine ältere Dame mit einem Tweedrock und grauem Haar erwartet, das zu einem Knoten gebunden war, ein bisschen altbacken und vielleicht mürrisch. Aber Fiona ist überhaupt nicht so. Sie verurteilt mich nicht und gibt mir keine Ratschläge, was mir das Gefühl gibt, mit ihr reden zu können. Ich habe auch erwartet, dass sie Kommentare zu meinem Gesicht abgeben würde – die Blutergüsse waren bei diesem ersten Besuch schrecklich. Es gab, alle möglichen schwarzen und blauen Flecken mit einer hässlichen Schnittwunde an meiner Stirn. Aber sie tat so, als hätte sie es nicht gesehen. Ich merke, dass ich mich ihr gegenüber immer mehr öffne, und ich glaube, sie freut sich, dass ich all diese persönlichen Dinge mit ihr teile. Ich zeigte ihr sogar die Verbrennungen an meinem Arm, und sie bot an, eine Krankenschwester zu bitten, die Wunden für mich zu verbinden.
Ich bin sicher, dass Bill ahnt, dass ich unterwegs war. Als er nach Hause kam, fragte er mich viel nach meinem Tag. Er sagte, er habe versucht, mich anzurufen, aber niemand ging ran. Also fragte er mich, wo ich gewesen sei. Ich sagte, ich sei auf der Toilette gewesen und hätte das Telefon nicht gehört. Zum Glück ließ er es auf sich beruhen. Wenn Bill herausfindet, dass ich zu einer Therapeutin gehe, wird er wütend sein. Ich muss Fiona wiedersehen und deshalb vorsichtiger sein.
Ein paar Tage später klingelte das Telefon, als Caron den Schlüssel in die Haustür steckte. Sie ging hinein und nahm den Hörer im Flur ab, weil sie instinktiv wusste, dass es Bill war. Sie war auf dem Rückweg von einem Termin bei Dr. Choudhry, der sich verspätet hatte, sonst wäre sie rechtzeitig zu Hause gewesen.
„Caron? Du hast dir Zeit gelassen, ranzugehen. Warst du draußen?“
„Ich war im Garten, um ein paar Blumen zu pflanzen und nach dem Regen von gestern Abend aufzuräumen.“ Caron wusste, dass sie außer Atem war, und hoffte, dass ihr Mann es nicht bemerken würde. Er rief früher an als sonst und sie fragte sich, warum.
„Wir haben ein Problem mit dem Server und das ganze Computersystem ist überlastet. Das bedeutet, dass ich erst spät nach Hause komme, werde mich beeilen. Später habe ich noch eine Besprechung. Hast du daran gedacht?“ Bill hielt inne und wartete auf eine Antwort. Caron dachte nach - hatte er ihr von dem Treffen erzählt?
„Caron, bist du da? Diese Sitzung ist wichtig. Das darf ich nicht verpassen?“
„Ja, ja, ich erinnere mich. Um was hast du mich nochmal gebeten?“ In Gedanken war sie nicht bei Bills Meeting. Stattdessen ging sie noch einmal ihren morgendlichen Besuch in der Praxis durch. Bill seufzte. Sie konnte ihn vor sich sehen, wie er sich genervt am Kinn kratzte.
„Ich brauche meinen grauen Anzug und achte darauf, dass mein Hemd gebügelt ist. Das neue Seidenhemd, das ich gestern Abend herausgelegt habe. Das Abendessen muss um Punkt sechs Uhr fertig sein, denn ich habe es eilig. Also kümmere dich darum, dass alles rechtzeitig vorbereit ist.“
„Ja, okay. Ich werde daran denken.“
„Gut, ich muss los, hier herrscht Chaos. Vergiss den Anzug nicht!“
Mit diesem Satz beendete Bill das Gespräch und Caron atmete erleichtert aus. Warum musste er immer anrufen? Jeden Tag um halb 11 – sie konnte sich vorstellen, wie er seinen Kaffee trank und ihre Nummer wählte, um sich zu vergewissern, dass sie zu Hause war. Sie erschauderte bei dem Gedanken, dass er herausfinden würde, wo sie gewesen war. Caron sah sich in ihrem schönen Haus um, das so ganz anders war als jenes, in dem sie aufgewachsen war. In der Küche holte sie das Fleisch aus dem Gefrierschank und vergewisserte sich, dass sie genug frisches Gemüse hatte. Danach setzte sie sich mit einem Kaffee ins Wohnzimmer und schrieb einen weiteren Eintrag in ihr Tagebuch.
08. April
Heute Morgen hatte ich einen Termin bei Dr. Choudhry - nur ein kurzer Austausch. Er wollte wissen, wie die Gespräche laufen und ob sie helfen. Seine Sorge ist rührend. E, s tut gut, wenn sich jemand um mich kümmert, und ich konnte ihm erzählen, wie es mit Fiona läuft. Es fällt mir immer leichter, mit ihr zu reden - sie sagt nicht, was sie denkt, sondern hört mir einfach zu, das gibt mir das Gefühl, dass ich jemandem etwas bedeute. Die ...
Carons Gedanken wurden durch das Geräusch eines Autos in der Einfahrt unterbrochen. Schnell stopfte sie ihr Tagebuch unter ein Sofakissen, wohl wissend, wie gefährlich es wäre, wenn er es zu lesen bekam. Warum war er schon zu Hause? Irgendetwas stimmte nicht. Bill mochte seine Routine und sie hatten gerade erst telefoniert. Caron begrüßte ihn an der Tür.
„Das ist eine Überraschung, Bill. Stimmt etwas nicht?“
Sie machte ihm Platz, damit er eintreten konnte, und er marschierte mit finsterem Blick in die Küche.
„Alles! Das verdammte Internet ist komplett ausgefallen und Gerry scheitert daran, wieder eine Verbindung herzustellen. Wir werden mit Anrufen von verärgerten Kunden überschwemmt, die unsere App nicht nutzen können und wissen wollen, was los ist. Es ist wie verhext!“ Bill rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Stirn, als ob er Kopfschmerzen hätte; Caron kannte die Zeichen.
„Mach mir einen Kaffee, ja?“, knurrte er.
Froh, etwas zu tun zu haben, begann sie, frischen Kaffee zu kochen.
„Also, warum kommst du nach Hause? Brauchen sie dich nicht im Büro?“, wagte sie zu fragen. Sie fürchtete, er würde den restlichen Tag zu Hause bleiben.
„Ich brauche etwas aus meinem Büro und habe Zeit für einen Kaffee. Du klangst am Telefon etwas abgelenkt, also dachte ich, ich komme vorbei und schaue, ob alles in Ordnung ist. Zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen und so.“ Bill schaute ihr direkt in die Augen, ein suchender Blick, von dem sie sich abwandte, unfähig, seine Stimmung zu deuten.
„Hier ist dein Kaffee.“ Sie gab ihm die dampfende Tasse und folgte ihm ins Wohnzimmer, wo sie sich mit einem raschen Blick vergewisserte, dass nichts fehl am Platz war.
Alles war so, wie es sein sollte, und die beiden tranken schweigend ihren Kaffee. Bis Bill aufblickte und fragte: „Du hast also im Garten gearbeitet?“
Caron hoffte, dass er ihre Arbeit nicht inspizieren wollte.
„Ja, nur etwas Umtopfen, nichts zu Schweres.“ Sie spürte, wie sie bei dieser Lüge rot wurde. Aber Bill schien es nicht zu bemerken, er leerte seinen Kaffeebecher.
„Hm, okay, ich hole schnell meine Papiere, dann bin ich wieder weg. Du vergisst doch nicht, meinen Anzug zu bügeln, richtig?“
„Nein, das mache ich jetzt, damit er fertig ist, wenn du ihn nach Hause kommst.“
Sie war erleichtert, als Bill endlich gegangen war. Caron ließ sich auf das Sofa fallen, tastete unter dem Sitzkissen und holte ihr Tagebuch hervor. Sie legte die Füße hoch und kaute ein paar Minuten auf dem Ende ihres Stifts herum, bevor sie wieder zu schreiben begann.
08. April
Meine Güte, das war knapp! Bill kam unerwartet nach Hause. Ich bin gerade noch einmal glimpflich davongekommen. Das macht er sonst nie – ich hoffe, das passiert nicht noch einmal, er könnte nach Hause kommen, während ich bei der Therapeutin bin. Seine Kontrollanrufe bin ich gewöhnt – er will immer wissen, wo ich war, ob ich ausgegangen bin, aber das ist anders, nervtötend sogar. Warum kann er nicht mehr so sein wie vor unserer Hochzeit? Damals habe ich seine Spontanität geliebt, die kleinen Überraschungen, Leckereien und Ausflüge, die nach der Hochzeit leider alle aufgehört haben. Das scheint der wahre Bill zu sein - gefangen in seiner Routine und ich bin gezwungen, ihm zu folgen. Die Uhr bestimmt unser Leben und wenn ich das Essen nicht rechtzeitig zu spät kommt ist die Hölle los! Ich muss seine Kleidung für heute Abend vorbereiten und das Abendessen pünktlich zum Tisch bringen. Ich will gar nicht daran denken, was er tun wird, wenn ich mich verspäte – das letzte Mal, als seine Mahlzeit nicht rechtzeitig fertig war, hat er mir eine kräftige Ohrfeige verpasst, die einen Zahn gelockert hat. Die Erinnerung daran lässt mich immer noch erschaudern.
7
Erster Tag
Caron saß schweigend in dem kleinen Raum auf dem Polizeirevier. Sie zitterte vor Angst und Erwartung vor dem, was als Nächstes passieren würde. Die Ereignisse dieses Morgens gingen ihr wieder und wieder durch den Kopf – das Bild ihres Mannes, wie er tot zu Boden fällt. Das Blut, das Messer. Hatte sie ihn wirklich umgebracht? Caron schüttelte den Kopf, als versuchte sie, die Erinnerung auszulöschen. Sie wagte es nicht, weiter zu denken als bis zu den nächsten Minuten. Sie musste einen Schritt nach dem anderen machen, sonst würde sie diese Tortur nicht überstehen. Bisher war die Polizei freundlich zu ihr gewesen – würde das so bleiben? Konnte sie ihnen begreiflich machen, was geschehen war?
Das Zimmer war warm, Caron fühlte sich schwach und kränklich. Ihr Magen knurrte und erinnerte sie daran, dass sie heute noch nichts gegessen hatte. Aber ihr würde sicher schlecht werden, wenn sie etwas aß. Sie zitterte – ob vor Schock oder aus Angst, war unmöglich zu sagen. Eine Beamtin stand neben der Tür und passte auf. Als ob sie noch genug Energie hätte, um wegzulaufen.
Ein Mann, den sie noch nie gesehen hatte, betrat den Raum. Zumindest glaubte sie, ihn noch nie gesehen zu haben. Die Ereignisse und Gesichter verschwammen immer mehr, und mit ihnen die Zeit und die Realität.
„Nun denn, sie sind Caron, richtig? Ich bin Dr. Yarrow und würde mir gerne anschauen, wie es ihnen geht.“ Die Gesichtszüge des Arztes waren ernst und geschäftsmäßig, seine Stimme war sanft. Die Haut an seinen Wangen und unter seinen Augen hing in Falten herab; er sah aus, als wäre er eigentlich zu alt, um noch zu praktizieren. Sein Verhalten wirkte väterlich, aber da Caron nie einen liebenden Vater gehabt hatte, konnte sie es nicht genau beurteilen. Sie dachte, er sei zielorientiert und versuchte, sich auf seine Worte zu konzentrieren.
Als der Arzt sie nach ihren jüngsten Verletzungen fragte, zeigte sie ihm ihren linken Unterarm mit den Verbrennungen, die wahrscheinlich Narben hinterlassen würden. Caron sagte, dass ihre ganze rechte Seite aufgrund der Prellungen schmerzte, und der Arzt sah sich auch diese an. Er wies auf eine kleine Narbe auf ihrer Stirn, die von einer anderen, kürzlich erlittenen Verletzung stammte. Der Arzt nickte der Polizistin zu und bat Caron um ihre Erlaubnis, Fotos von ihren Verletzungen zu machen.
Als diese Untersuchung erledigt war, zog sie sich schnell wieder an, als schämte sie sich für ihren lädierten Körper. Nachdem der Arzt weitere Fragen gestellt hatte, von denen Caron annahm, dass sie Klarheit über ihren Gemütszustand verschaffen sollten, schien er überzeugt zu sein, dass sie der Befragung durch den Detective Inspector gewachsen sei, und erklärte ihm behutsam seine Entscheidung.
Dr. Yarrow zog aus einer Akte ein Diagramm mit einem menschlichen Körper und markierte darauf mit einem roten Stift, wo ihre Verletzungen waren. Schließlich fragte er sie, ob sie Einwände gegen eine Blutprobe und einen Mundabstrich hätte. Caron fragte sich innerlich, ob sie eine Wahl hätte, als sie kleinlaut nickte. Die Proben wurden einzeln verpackt und für die Forensiker zu dem Stapel mit ihrer Kleidung gelegt. Caron hatte das trügerische Gefühl, sich auf einem Fließband zu befinden, das, ohne ein Recht zur Mitsprache für sie, abgearbeitet wurde, doch sie hatte nichts anderes erwartet. Als sie an diesem Morgen ihren Mann erstochen hatte, wusste sie, dass ihre gesamte Zukunft auf dem Spiel stand. In diesem einen, brachialen Moment hatte sie das Recht verwirkt, egal welche künftigen Entscheidungen selbst zu treffen.
***
Eine Stunde später seufzte DI Jack Priestly auf. An seinem ersten Arbeitstag nach dem Urlaub hätte er gut und gerne auch ohne einen Mord auskommen können.
Es gibt nichts Besseres, als ins kalte Wasser geworfen zu werden.
Wenn Jack darauf gehofft hatte, nach seiner Rückkehr Zeit für die Durchsicht alter und neuer Fälle zu haben, wurde er enttäuscht. Stattdessen erreichte ihn noch vor seiner ersten Tasse Kaffee der Anruf über die Messerstecherei in der Appleton Close-Straße und er war direkt zum Tatort geeilt. Dort hatte er alles in sich aufgenommen, einschließlich der ersten Eindrücke von Caron Rivers, ihrer Hauptverdächtigen. Die Ermittlungen waren in vollem Gang und schon am frühen Nachmittag hatte Jack das Gefühl, sein Urlaub in Venedig war Vergangenheit, ein Traum, der nun im Äther verschwand. Da er nun zurück auf der Polizeistation und der Arzt bei Caron war, konzentrierte sich Jack darauf, Anweisungen zu verteilen und richtete eine Zentralstelle ein, in der alle Ermittlungsergebnisse über William Rivers Tod zusammenlaufen sollten.
„Großartiger erster Tag, zurück, oder?“ DS Dave Bennet grinste seinen Chef an. „Ich glaube, sie haben ihre Verdächtige in einen Befragungsraum gebracht.“ „Danke. So viel zu einem entspannten Start“, antwortete Jack. Als sein Kollege den Raum verlassen wollte, rief Jack ihn zurück. „Hey Dave, bleib hier, ich will dich bei diesem Fall dabeihaben!“
DS Bennet drehte sich um. „Das ist doch ein wasserdichter Fall, Sir. Die Ehefrau hat gestanden, also sperren wir sie weg, oder nicht?“
„Das weißt du doch besser, Dave. In allen Fällen ist Sorgfalt geboten. Es könnte auch genauso gut jemand anderes gewesen sein, und die Ehefrau könnte das decken. Wir sollten also nichts ausschließen, bevor wir überhaupt angefangen haben.“
Dave zuckte die Schultern und kehrte an die Seite des Di zurück. Jack grinste. Er hatte länger mit Bennet zusammengearbeitet, als ihm lieb war und gemeinsam verschiedene, oft bizarre Fälle untersucht. Jack vertraute ihm bedingungslos. Dave war vier Jahre jünger als Jack und hatte seinem Chef anvertraut, dass er genau da war, wo er hinwollte. Jack wusste, dass sein Kollege genug Scharfsinn besaß, um weiter aufzusteigen, aber er verstand und respektierte seine Entscheidung.
Ein Schutzpolizist kam zu Jacks Schreibtisch und reichte ihm eine Akte. „Der Arzt sagt, es geht ihr so weit gut, aber sie sollten sich zuerst seine Ergebnisse ansehen.“
Jack nahm die Akte und öffnete sie. Die Worte ‚Anzeichen für Missbrauch‘ sprangen ihm direkt ins Auge. Nachdem er die erste Seite überflogen hatte, reichte er sie an DS Bennet weiter, der die wichtigsten Punkte las und einen leisen Pfiff ausstieß.
„Es scheint, als ob das Blatt sich gewendet hätte. Wie kann jemand so grausam sein, dieser Bastard! Okay, Jack, bereit, wenn du es bist.“