Kapitel 1
… Heute …
Jonah
Da war ich wieder. Back in der Walachei, in good old Mount Silver. Nun ja, ob es gut war, die Frage stellte sich mir noch.
Jahrelang hatte ich mir den Arsch aufgerissen, hatte nach einer Saison die Silver Crows verlassen, um mein Glück an der Ostküste zu finden. Ich hatte große Pläne gehabt, nein, nicht große, überambitionierte würde es wohl eher treffen, und ich hatte tatsächlich geglaubt, meine Ziele erreichen zu können. Die NHL war mein Traum gewesen, für den ich einen großen Teil meiner Jugend, so manche Freundschaft und ein normales Leben geopfert hatte.
Im Alter von zarten zwanzig Jahren hatte ich Mount Silver den Rücken gekehrt und war nach Providence gegangen, um in einem Farmteam ausgebildet zu werden und Spielerfahrung zu sammeln. Bei den Bruins hatte ich auf meine große Chance gewartet, entdeckt zu werden, aber das war nicht passiert. Weder bei den Providence Bruins noch bei den Hershey Bears, geschweige denn bei den Colorado Eagles.
Über die American Hockey League war ich nicht hinausgekommen. Die National Hockey League war ein Traum geblieben, die wie eine zu groß geratene Seifenblase zerplatzt war, obwohl ich natürlich überzeugt gewesen war, ihn realisieren zu können.
Ganz vielleicht hatte ich mich damals, jung und dumm, wie ich gewesen war, dazu hinreißen lassen, der Presse zu erzählen, dass ich für Höheres als die ECHL, die East Coast Hockey League – zwar eine professionelle, aber dennoch drittklassige Liga – bestimmt war. Und möglicherweise war ich dementsprechend auch den Fans nicht in allzu guter Erinnerung geblieben, als ich die Ü-18 der Silver Crows nach nur einer Saison verlassen hatte.
Ich war gut gewesen – das war ich immer noch –, doch möglicherweise war mein Verhalten auch mindestens genauso arrogant gewesen. Während meine Kollegen Trikots signiert und Autogramme gegeben hatten, war ich mit Sonnenbrille an ihnen vorbeistolziert und hatte im besten Falle mal ein Foto mit einer wohlproportionierten Blondine gemacht, obwohl die eigentlich so null mein Fall waren, doch der junge, naive Jonah hatte geglaubt, so mit den ganz Großen mitspielen zu können.
Doch diese Starallüren hatten mir leider keinen Zutritt zur NHL verschafft. Ich war es leid gewesen, diverse Ausbildungsteams in der AHL zu durchlaufen, in denen ich nur einer von vielen war. Ich wollte wieder regelmäßig spielen, feiern und gefeiert werden. Und das war der Grund gewesen, warum ich zugesagt hatte, als ich hörte, dass Julien Decoup, der Mann, der mich schon in der Jugend trainierte, nun das Trainerteam des heimischen A-Kaders anführte.
Schnell waren wir uns einig geworden und ich hatte mein Ticket zurück nach Mount Silver gebucht. Und da war ich nun. Bereit für die kommende Saison mit den Silver Crows.
Das Vorbereitungstraining hatte ich zum größten Teil verpasst, worüber ich jedoch nicht allzu unglücklich war. Meinen neuen Mannschaftskollegen würde ich noch früh genug über den Weg laufen. Ausgenommen Mikkel Ingemarsson, ein Schwede, mit dem ich kurze Zeit in Providence gespielt hatte, kannte ich keinen meiner zukünftigen Mitspieler persönlich – vielleicht erinnerte ich mich auch einfach nicht an sie.
Doch immerhin hatten Mikkel und ich damals beinahe so etwas wie Freundschaft geschlossen und er war ein lustiger Zeitgenosse, der mir keine Probleme bereiten würde. Also konnte ich nur hoffen, dass die Einwohner und Einwohnerinnen Mount Silvers mein Verhalten von damals vergessen hatten und meine neuen Kollegen mir eine Chance geben würden. Das Wichtigste war schließlich nicht mein Charakter, sondern mein Talent, den Puck ins Tor zu befördern.
Heute aber würde ich den letzten freien Tag genießen. Um den Rest konnte ich mir morgen Gedanken machen, wenn es so weit war. Ich schaute hoch in die Sonnenstrahlen, blickte dann zu den Ausläufern der Rocky Mountains, bevor ich auf die Fußgängerzone zusteuerte, um mir ein leckeres Frühstück auswärts zu genehmigen.
Obwohl meine Wohnung unweit der Silvarena war, die sich am Rande meines Heimatstädtchens befand, also etwa zwanzig Minuten Fußweg in die Innenstadt, hatte ich die wenigen Meter mit meinem Jeep zurückgelegt, um nicht schon auf dem Weg auf alte Bekannte zu treffen. Zwar waren nach der Highschool die meisten meiner ehemaligen Mitschüler erstmal zum Studieren weggezogen, weil Mount Silver ja »soooo ein verschlafenes Kuhkaff« war, doch ich glaubte, einige von ihnen waren inzwischen zu ihren Familien zurückgekehrt.
Irgendwie war man halt doch mit seiner Heimat verwurzelt. Selbst ich musste mir eingestehen, dass es sich seltsam vertraut anfühlte, wieder an dem Ort zu sein, an dem ich aufgewachsen war. Dabei hatten selbst meine Eltern die Flucht ergriffen und waren nach Florida gezogen, sobald ich die Exams in der Tasche gehabt hatte …
***
Getarnt mit Sonnenbrille und Basecap schlenderte ich durch die gemütliche Innenstadt, in der sich nicht wirklich etwas verändert hatte. Beim Verlassen des Parkplatzes hatte ich bereits das Diner der guten alten Molly passiert. Bis heute schämte ich mich, ihr in die Augen zu sehen. Deshalb hatte ich einen neuen stylishen Coffeeshop im Internet ausfindig gemacht.
Das Cosy Coffee bot alle möglichen Leckereien von Rühreiern bis hin zu Pancakes an. Die Bildergalerie auf der Homepage versprach ein gemütliches Ambiente im Industrialstyle mit viel Holz und Metall, das durch zahlreiche Pflanzen verschönert wurde und genau nach meinem Geschmack war. Schließlich fand ich den etwas versteckten Eingang direkt neben der Dorfkirche. Interessante Wahl.
Auch wenn draußen auf dem Kirchplatz eine Reihe verschnörkelter Tischchen mit furchtbar unbequem wirkenden Klappstühlen standen, beschloss ich trotz der milden Herbsttemperaturen im Inneren Platz zu nehmen. Schließlich wollte ich ungestört sein. Ich drückte die rustikale Holztür auf und steuerte auf direktem Wege einen leicht abgenutzten braunen Ledersessel an, auf dem ich es mir bequem machte.
Nachdem ich einen Iced Coffee mit Pistazientopping sowie eine doppelte Portion Pancakes bestellt hatte, blätterte ich in den Zeitungen, die verstreut auf dem Tisch lagen. Die neuste Vogue, eine People und die aktuelle Mount Daily.
Mit Mode hatte ich nicht wirklich etwas am Hut und auf Promitratsch konnte ich ebenfalls gut verzichten. Deshalb entschied ich mich kurzerhand für die Lokalzeitung und blätterte lustlos durch die Seiten, als die Kellnerin einen unfassbar lecker aussehenden Kaffee vor mir abstellte.
Ich bedankte mich und wandte mich wieder der Zeitung zu, nahm genießerisch einen Schluck des eisgekühlten Getränks, als mich plötzlich ein Bild meiner Wenigkeit wütend anstarrte.
Genau in diesem Moment kam die Kellnerin zurück, um meine doppelte Portion Pfannkuchen zu bringen. Schnell schlug ich die Zeitung zu, bevor sie das Bild, das mich im Trikot der Eagles mit wütendem Blick auf der Bank zeigte, entdecken konnte. Ihr skeptischer Blick entging mir jedoch nicht.
»Alles in Ordnung bei dir?«
Ich nickte, wollte antworten, hatte jedoch vor lauter Aufregung noch immer einen großen Schluck Eiskaffee im Mund. Hastig würgte ich ihn herunter, bevor ich der armen Bedienung die Brühe auf den Tisch spuckte, wobei ich mich natürlich verschluckte und einen filmreifen Erstickungsanfall hinlegte.
Besorgt klopfte die junge Frau, bestimmt eine Studentin des Community Colleges, auf meinen Rücken, während ich wie ein Sterbender vor mich hin röchelte. Oh Mann, ich war noch keine zwei Tage hier und gab jetzt schon mein Bestes, erneut in der Zeitung zu landen.
Nachdem die Kellnerin sich versichert hatte, dass ich noch lebte, suchte sie das Weite. Unauffällig drehte ich mich um und checkte, dass mich niemand beobachtete, bevor ich die Zeitung erneut öffnete.
Wieder zuckte ich bei meinem Anblick zusammen, bevor ich die Überschrift las.
Fluch und Segen – Jonah Bennett ist zurück.
Auch wenn die Überschrift schon nicht besonders schmeichelhaft war, so war sie auch kein völliges Desaster. Was man von dem Artikel allerdings nicht behaupten konnte. Während ich las, schob ich mir einen meiner Buttermilch-Pancakes quer in den Mund, bevor mir noch der Appetit vollständig vergehen würde.
Die Silver Crows präsentieren ein neues Gesicht für die Saison 24/25. Jonah Bennett, der bereits in seiner Jugend von den Crows aufgebaut wurde, ist zurück in der Stadt und hat sich dazu bereit erklärt, das Team mit seinem Talent zu verstärken, da es für die NHL nicht gereicht hat.
Nachdem er vor rund fünf Jahren sein Heimatteam nicht schnell genug verlassen konnte, ist er jetzt wieder da. Ein ehemaliger Teamkollege verrät, dass Bennett sich mehr von seinem Ausflug in die AHL erhofft hatte, da er »für Größeres als die ECHL bestimmt« sei. Da dies anscheinend nicht der Fall ist, begrüßen wir den inzwischen Fünfundzwanzigjährigen zurück in Mount Silver.
Das Team der Crows klagte zuletzt über fehlenden Nachwuchs, den auch die Kooperation mit dem Community College nicht bringen konnte. Julien Decoup ließ verlauten, dass er sich mit Bennett nicht nur einen starken Angreifer gesichert habe, sondern auf diese Weise auch für Zuwachs aus den eigenen Reihen sorgen möchte. Wir jedenfalls wünschen ihm viel Glück dabei.
Auf eine erfolgreiche Saison bei den Silver Crows!
Ich stopfte einen weiteren Pancake in meinen Mund und kaute so wütend, dass die Gebissschiene, die ich während des Spiels trug, wahrscheinlich auch jetzt von Vorteil gewesen wäre. Was dachte sich dieses Schmierenblättchen bloß dabei, mich dermaßen durch den Dreck zu ziehen?
Wollten sie die Fans der Crows schon aus der Arena vertreiben, noch bevor die Saison überhaupt begonnen hatte? Mount Silver war eh nicht unbedingt bekannt für sein Eishockeyteam und wie ich nun gelesen hatte, war es auch ganz offensichtlich schwierig, den Betrieb am Laufen zu halten und neue Spieler zu gewinnen.
Mit Werbung dieser Art würde man bestimmt weder Fans, die das nötige Kleingeld brachten, noch neue Spieler anlocken. Die Silver Crows könnten ihre Tore dicht machen, bevor die Saison überhaupt angefangen hätte, und ich stünde wieder mal auf der Straße. Und das alles nur wegen einer Aussage, die ich als hirnloser Jungspund gemacht hatte.
Ich musste mir schnellstens etwas überlegen, damit ich nicht in Ungnade bei meinen neuen Kollegen fiel. Vielleicht war es nicht sonderlich förderlich gewesen, sämtliche Teambuildingmaßnahmen zu verpassen und das Sommeraufbautraining in Colorado zu absolvieren, bevor ich beschlossen hatte, zu den Silver Crows zurückzukehren.
Ich schob mir ein weiteres Stück des fluffig-fettigen Gebäcks in den Mund, doch der Appetit war mir gründlich vergangen.
Nachdem ich mich prüfend vergewissert hatte, dass mich niemand beobachtete, stopfte ich die Mount Daily in meinen Rucksack. So gab es zumindest schonmal ein Exemplar weniger. Ich spülte den Pfannkuchen, der in meinem Mund immer mehr zu werden schien, mit einem Schluck Kaffee hinunter und beschloss, das Weite zu suchen.
Vielleicht würde es mich aufmuntern, ein bisschen Deko für meine zwar möblierte, aber dennoch karge und langweilige Wohnung zu besorgen. Für Einrichtung hatte ich schon immer ein Händchen, auch wenn die wenigsten von meiner Leidenschaft für Interior Design wussten. Cleane, leere Männerwohnungen waren nämlich so gar nicht mein Fall, ich mochte es gemütlich, wenn nicht sogar ein bisschen plüschig, aber das war mein ganz persönliches kleines Geheimnis.
Abrupt sprang ich auf und bezahlte an der Theke, wobei ich mir dreimal so viele Gedanken über das Trinkgeld machte wie normalerweise, da dieses leider nicht wie üblich in der Rechnung enthalten war. Falls die Bedienung mich erkannt hatte, wollte ich weder knickerig noch großkotzig erscheinen.
Nachdem ich mich viel schneller als geplant verabschiedet hatte, schob ich mir meine braungoldene Sonnenbrille auf die Nase und holte meine Basecap aus dem Rucksack, unter der meine inzwischen lang gewordenen Haare kringelig hervorlugten. Mit meinem Hoodie und meiner Baggyhose sah ich aus wie jeder zweite Student hier. Die Tarnung saß.
***
Als Erstes steuerte ich einen Laden an, den es zwar früher schon gegeben hatte, der heute jedoch in neuem Glanz erstrahlte. Allein das Schaufenster versprach allen möglichen hyggeligen Krimskrams. Auch wenn ich in den USA lebte, gefiel mir das skandinavische Flair und ich hatte nichts dagegen, etwas dänische Gemütlichkeit in meine Wohnung zu bringen.
Neben einem Sisalteppich, den ich mir kurzerhand unter den Arm klemmte, erstand ich noch zwei farbenfrohe Bilder in rustikalen Holzrahmen und eine Ladung Kerzen mit Düften von Vanille bis Meersalz. Außerdem landeten zwei Kaffeebecher ohne Henkel, die wie handgetöpfert aussahen, in meinem Korb sowie eine hängende Kunstpflanze, die meinen nicht vorhandenen grünen Daumen hoffentlich überleben würde.
Zufrieden mit meiner Ausbeute machte ich mich auf den Heimweg, um nun meine Wohnung ein bisschen aufzuhübschen und ein wenig zu zocken, bevor morgen der Ernst des Lebens anfangen würde. Vielleicht sollte ich später schonmal Mikkel eine Nachricht bei Insta schicken – seine Handynummer hatte ich leider nicht –, um mir den ersten Verbündeten für das morgige Training zu sichern. Morgen würden wir das erste Mal zusammen als Team in neuer Konstellation aufs Eis gehen. Das durfte ich nicht versauen, doch jetzt würde ich den restlichen Tag genießen.
Wenigstens konnten der Strafzettel, der hinter der Scheibe meines Jeeps klebte, und die Taube, die just in diesem Moment mitten auf die Frontscheibe kackte, mir nicht mehr die Laune verderben. Das hatte der gottverdammte Zeitungsartikel bereits ganz alleine geschafft. Mit röhrendem Motor und quietschenden Reifen schoss ich aus der Parklücke und brauste in Richtung Stadtrand davon.
Die Gegend, in der ich wohnte, wurde von schicken Neubauten dominiert und passte so gar nicht zu dem lauschigen Ortskern von Mount Silver. Da jedoch auch hier trotz der geringen Einwohnerzahlen chronischer Wohnraummangel herrschte, war der neu entstandene Lebensraum insbesondere bei den wenigen, oft besser situierten Zugezogenen beliebt.
Fast fühlte ich mich ein bisschen schlecht, dass ich nun mir-nichts-dir-nichts eine Wohnung in einem teuren Neubau beziehen konnte, doch dafür hatte ich auch einige Opfer gebracht.
Ich ließ die Fenster hinunter, um mir den lauen Bergwind um die Nase wehen zu lassen, in der Hoffnung, dass er meine nagenden Gedanken und Ängste hinfort pusten würde.
Kapitel 2
Penny
»Pénélopéeeeeeeeee!« Ich rollte mit den Augen, als Madame Hiver mal wieder mit dramatischer Stimme nach mir rief. Nicht nur, dass sie mich immer bei einem Namen rief, der nicht meiner war, verschönert mit diversen Accent aigus, sie behandelte mich außerdem wie ihre Leibeigene. Nun gut, im Grunde genommen war ich das ja – zumindest so etwas in der Art.
Nach meiner Ausbildung zur Maßschneiderin, die ich nach der Highschool gemacht hatte, hatte ich einen der wenigen Jobs ergattert, die man mit diesem Beruf erlangen konnte, wenn man nicht ein eigenes Atelier eröffnen wollte.
Wollen tat ich das schon, aber es war gar nicht so einfach, dies zu tun, wenn man sein Tagesgeschäft nicht größtenteils mit dem Kürzen von Hosen und Brautkleidern fristen wollte. Es brauchte nicht nur eine Menge Kapital, um überhaupt ein solches Geschäft zu eröffnen, es brauchte viel mehr die entsprechenden Kunden, die bereit wären, ein kleines Vermögen für ein selbstgenähtes Kleidungsstück auszugeben, anstatt dieses einfach bei Target oder TJ Maxx zu erstehen. Ich selbst musste schließlich mit vierundzwanzig Jahren noch bei meinen Eltern wohnen, da mein Gehalt kaum ausreichte, um eine Miete zu finanzieren.
Umso glücklicher war ich damals gewesen, als ich die Stellenanzeige bei Silverstuff, der Abendmodeboutique schlechthin, entdeckt hatte. Silverstuff war ein traditionelles heimisches Unternehmen, das es schon gegeben hatte, als ich noch zur Schule ging. Damals war es von einem älteren Herren geführt worden, der sein Geschäft jedoch verkauft hatte, als es Zeit für die Rente wurde.
Heute waren Marguerite Hiver und ihr Sohn William Kopf des Unternehmens. Madame Hiver selbst war Designerin, während William sich um den Einkauf von Stoffen und die anfallenden betriebswirtschaftlichen Tätigkeiten kümmerte.
Man munkelte, dass Marguerite Hiver schon als junges Mädchen in Mount Silver gelebt hatte, damals jedoch noch Maggy Winter hieß. Sie selbst stritt dies jedoch vehement ab und behauptete steif und fest, in Paris aufgewachsen zu sein, bevor ihr Weg sie ganz rein zufällig nach Mount Silver geführt hatte. Wer es glaubte …
Die Näherei, in der Marguerites Träume aus Tüll und Seide gefertigt wurden, lag ein wenig außerhalb von Mount Silver und beschäftigte eine Handvoll Modenäherinnen.
Meine Aufgabe hingegen war es, im Atelier Musterstücke anzufertigen oder auch Änderungen für unsere Kunden und Kundinnen an Anzügen und Kleidern vorzunehmen. Hatte ich bei Antritt der Stelle geglaubt, selbst Ideen – und waren es noch so minimale – beim Design beisteuern zu dürfen, so hatte ich mich getäuscht. Ich durfte nicht mal die Farbe einer Schleife ändern, geschweige denn einen originellen Vorschlag bezüglich des Schnittes machen.
Madame Hivers Vorstellungen eines Abendkleides waren nämlich traditionell. Sehr traditionell. Und auch wenn ihre Designs wunderschön waren, so waren sie ein wenig langweilig und nur für Menschen mit Standardmaßen gemacht – zu denen ich schonmal nicht gehörte. Dabei gab es kaum ein Kleidungsstück, das Vorzüge auch bei einer etwas kurvigeren Figur besser zur Geltung brachte als ein rauschendes Abendkleid.
Marguerite Hivers Stimme wurde schriller. »Pénélopéeeeeeeee, wir brauchen hier deine Hilfe!«
Schnell legte ich die Bundfaltenhose, an der ich arbeitete, zur Seite und lief in Richtung Verkaufsraum, wo meine Chefin gerade eine Kundin beriet. Mrs Hobbs. Oh no. Die hatte mir gerade noch gefehlt. Trotzdem kleisterte ich mir ein professionelles Lächeln ins Gesicht, als ich auf die beiden zumarschierte. Ariana Hobbs, die nur wenige Häuser von uns entfernt wohnte, musterte mich von oben bis unten, als wollte sie sagen: Was will denn dieses impertinente Frauenzimmer hier? Dabei trug ich ein neues Kleid im Chanel-Stil, das bis zum Knie reichte, und eine schwarze Strumpfhose, sodass ihre gelifteten Augen nicht von meinen Oberschenkeln gequält werden konnten, die wahrscheinlich doppelt so dick waren wie ihre. Vielleicht lag es auch an meinen klobigen Mary-Janes, die zwar absolut im Trend waren, ihr jedoch nicht zusagten.
Das hellblaue Satinkleid schien auch nicht sonderlich begeistert von Mrs Hobbs, denn es hing undefinierbar an ihrem Körper herab. Meine Chefin hingegen wirkte völlig verliebt ob des grausigen Anblicks.
»Pénélopéeeeeeeee, da bist du ja, würdest du bitte das Kleid an der Taille abstecken, es ist einfach viel zu weit für Madame Hobbs traumhafte Figur.« Ich war kurz davor, mich mitten in den Showroom zu übergeben. »Außerdem soll es an der Seite geschlitzt werden, damit Arianas langen Beine besser zur Geltung kommen.«
An ihre Bekannte gewandt ergänzte sie: »Man wird dich auf dem Winterball kaum von den Schülern unterscheiden können. Nicht, dass du deiner Fille noch die Show stielst!«
Madame Hiver kicherte affektiert, während Mrs Hobbs sich gespielt überrascht an den aufgespritzten und trotzdem verkniffenen Mund fasste. »Ach, Marguerite, du Goldschatz, alles harte Arbeit.«
Ist klar … Ich unterdrückte ein genervtes Stöhnen, während ich mich mit meinem Nadelkissen an dem eigentlich schönen Traum aus Satin zu schaffen machte. Kurz war ich versucht, Mrs Hobbs eine der Stecknadeln versehentlich in die Seite zu rammen, aber da mir mein Job wichtig war, ließ ich dies lieber bleiben.
Nachdem ich das Kleid fertig abgesteckt hatte, fragte ich mich ernsthaft, ob noch etwas davon übrig bleiben würde. Ariana Hobbs verschwand in die Kabine, die durch schwere bordeauxrote Samtvorhänge verschlossen wurde, während meine Chefin wie ein aufgeregtes Kaninchen davor auf und ab hoppelte.
Schließlich kam ihre liebste Kundin in einem Etuikleid, zu dem sie Ugg-Boots mit einem riesigen Pelzumschlag trug, wieder hervorgestakst und drückte mir das Kleid in die Hand mit einem Blick, der mir sagte, dass ich mich lieber früher als später ans Werk machen sollte.
»Es soll ja rechtzeitig zum Winterball fertig sein!« Bis dahin waren es noch fast zwei Monate. Vielleicht konnte die arme Edison Hobbs, ein unauffälliges schüchternes Mädchen, ihre Mutter noch überzeugen, den Posten als Aufsichtskraft abzugeben. Sonst würde der Ball mit Sicherheit keine Freude für die Sechzehnjährige werden.
Bevor weitere Bilder, wie Mrs Hobbs ungeniert mit den Mitschülern ihrer Tochter flirtete, meinen Kopf fluteten, suchte ich das Weite.
Auch wenn das Anpassen von Kleidern nicht zu meinen liebsten Tätigkeiten gehörte, ging mir die Arbeit leicht von der Hand und um Punkt siebzehn Uhr ließ ich Nadel und Faden sinken, um in meinen wohlverdienten Feierabend zu starten.
Ich schlüpfte in meine Jeansjacke und schnappte mir das Kleid, um mich von meiner Chefin und William zu verabschieden. Marguerite Hiver prüfte mit Argusaugen jede Naht, die ich gesetzt hatte, doch schließlich nickte sie zufrieden. »Du hast wie immer gute Arbeit geleistet, Pénélopéeeee.«
Sie lächelte mich mit ihren schmalen rot bemalten Lippen an. Das musste man ihr lassen. Sie war zwar manchmal etwas seltsam und engstirnig, jedoch eine faire Chefin, die mich bei gutgetaner Arbeit lobte. Das war der Grund, warum ich immer noch für sie arbeitete, obwohl ich mir anfangs unter der Stelle eine etwas andere Tätigkeit vorgestellt hatte. Aber ich war nun mal Schneiderin und keine Designerin und man konnte es definitiv schlechter treffen.
Höflich winkte ich zum Abschied, ehe ich hinaus trat und die letzten Strahlen der Sonne an diesem Tag auf mich wirken ließ. Ich zog meine dünne Jeansjacke enger um mich und machte mich auf den Weg Richtung Diner, wo ich mit Kim verabredet war.
Das Atelier lag mitten in der Fußgängerzone und ich beschloss, noch einen kleinen Schaufensterbummel zu machen, um mir die Zeit zu vertreiben. Im Cosy Coffee gönnte ich mir einen Salty- Hazlenut-Latte für unterwegs. An meinem Kaffee nippend passierte ich die kleinen Geschäftchen, von denen es die meisten schon ewig gab. Doch auch wenn Mount Silver keine Metropole war, so ging man trotzdem mit der Zeit und auch hier entdeckte ich die neusten Trends in den Schaufenstern.
In Barb’s Corner fand ich ein paar coole knallpinke Wildledersneaker, in die ich mich auf der Stelle verliebte. Da Barb in ihrem Vintageshop nur gebrauchte Kleidung verkaufte, konnte sogar ich mir hier ab und an ein neues Teil leisten, um meinen Kleiderschrank aufzupeppen. Früher hatte ich viele meiner Klamotten selbstgenäht, doch dafür fehlte mir inzwischen oft die Zeit und Muße, seit ich selbst im Berufsleben stand.
Außerdem versuchte ich, meine Eltern so gut es ging daheim zu unterstützen, da auch sie dem Zahn der Zeit nicht entgehen konnten. Mamá war oft völlig ausgelaugt, wenn sie aus der Nursery School nach Hause kam, und auch wenn sie ihren Job mochte, so merkte ich doch, dass es sie mit den Jahren immer mehr anstrengte.
Ursprünglich hatte meine aus Europa stammende Mutter Spanisch und Kunst studiert, doch da ihr Studium in den Staaten nicht anerkannt worden war, hatte sie nicht wie geplant an der Highschool arbeiten können, sondern war in einer Kindertagesstätte gelandet.
Dad schob eine Überstunde nach der nächsten, um seinen Posten in der Bank zu halten, da immer mehr Filialen geschlossen und Mitarbeiter entlassen wurden. Doch auch wenn wir nie reich gewesen und die Zeiten nicht einfach waren, so waren wir glücklich, weil wir uns hatten. Das hätte ich für kein Geld dieser Welt eingetauscht.
Außerdem hatte ich Kim, die beste Freundin, die man sich vorstellen konnte, und die ich bereits seit der Schulzeit kannte. Obwohl wir nach dem Abschluss der Highschool völlig unterschiedliche Wege eingeschlagen hatten, konnte unsere Freundschaft nichts entzweien.
***
Eine gute halbe Stunde später stand ich vorm Marshmolly und wartete auf Kims Ankunft. Wie meist kam sie fünf Minuten zu spät mit wehendem Haar angehetzt. Während ich mich seit der Seniorzeit nicht wirklich verändert hatte, außer dass ich ein paar Jährchen älter geworden war, war aus Kim eine erwachsene Businessfrau geworden.
Nachdem sie ihr Jurastudium in Rekordzeit beendet hatte, hatte sie begonnen, in der Kanzlei ihrer Mutter zu arbeiten. Auch heute schrie ihr ganzes Auftreten förmlich Juristin. Sie trug einen todschicken royalblauen Anzug mit engen Slacks und einem oversized geschnittenen Blazer. Ihr mittellanges rötlichbraunes Haar glänzte kerngesund und ihre mandelförmigen Augen wurden von zartem grauen Lidschatten umrahmt. Sie winkte stürmisch, als sie mich entdeckte, und schnitt eine Grimasse, die so viel hieß wie: Sorry, ich wurde aufgehalten.
Ihre schneeweißen Sneaker blitzten bei jedem Schritt unter der Hose hervor und rundeten das edle Outfit perfekt ab. Wäre da nicht die rote Socke gewesen, die unauffällig aus dem einen Schuh herauslugte, während die auf der anderen Seite eindeutig schwarz war.
Und deswegen war sie meine beste Freundin. Sie war vielleicht eine erfolgreiche Anwältin, aber tief im Inneren war sie immer noch Kim, die leicht verpeilte Siebzehnjährige, die ihre Nase den ganzen Tag in Büchern vergrub und diesen mehr abgewinnen konnte als den meisten Menschen.
Stürmisch umarmte sie mich und stieß einen anerkennenden Pfiff aus. »Hola Chica!«
Ich grinste bei ihrem Versuch, mit spanischem Akzent zu sprechen, und drückte ihr einen fetten Schmatzer auf die Wange.
Einig betraten wir das klassische American Diner, winkten Molly zu, die gerade ihren Kopf aus der Küche reckte, und ließen uns in einer gemütlichen Sitznische am Fenster nieder. Kim bestellte sich ein Light Beer, wohingegen ich mich für einen Eistee entschied, bevor wir uns in die Speisekarten vertieften.
Kim rutschte unablässig auf dem abgenutzten Leder hin und her und schließlich hielt ich es nicht mehr aus. Ich kannte meine Freundin und sie benahm sich wirklich etwas seltsam.
»Kimmi«, ich schaute sie fragend an, »irgendwas ist doch, also los, rück schon raus damit.«
Sie nahm einen langen, genüsslichen Schluck ihres Hopfengetränks und versuchte eindeutig, Zeit zu schinden. Mein tadelnder Blick war ausreichend, sodass sie schließlich resignierend die Hände hob und begann, in ihrer Tasche zu wühlen.
»Na schön, du hast es nicht anders gewollt.« Sie fischte ein Exemplar der Mount Daily hervor und legte es zwischen uns auf den Tisch.
»Jaaa? Das ist eine Mount Daily. Und was soll ich damit?« Oh Mann, sie sprach in Rätseln.
»Seite siebzehn«, nuschelte sie, während sie erneut an ihrem Bier nippte.
Nervös blätterte ich durch die Seiten, bis ich schließlich entdeckte, worauf sie hinauswollte. Erschrocken riss ich die Augen auf, als ER mir entgegenschaute. Der Junge, von dem ich damals gedacht hatte, dass er anders als die anderen wäre, und der sich als noch schlimmer entpuppt hatte.
Schnell klappte ich das Blättchen zu, atmete tief durch und schaute dann mit festem Blick zu Kim. »Und, was ist mit ihm? Hat er das Tor nicht getroffen und heult jetzt? Hat eines seiner kleinen, treuen Anhängsel ihn verlassen?«
Kim schüttelte den Kopf und starrte auf den Tisch. Dann richtete sie sich auf und fixierte mich, ehe sie mit dramatischer Stimme flüsterte: »Er ist zurück. Jonah spielt ab dieser Saison wieder für die Crows.«
Halleluja, ich hatte mit vielem gerechnet, aber nicht damit. Und überhaupt, warum begann mein verräterisches Herz schon bei der Erwähnung seines Namens schneller zu schlagen?
Ich hatte ihn das letzte Mal kurz nach der Highschool gesehen, auf dem Eis, als ich bei einem Spiel der Silver Crows gewesen war. Normalerweise vertraute ich Kim alles an, doch dass ich dort gewesen war, hatte ich ihr bis heute nicht erzählt, nachdem er mich damals so schmählich hatte stehen lassen. Wüsste Kim, dass ich ihm trotz allem noch hinterhergelaufen war, hätte sie mich wahrscheinlich auf direktem Wege entmündigen lassen …
Auf einem der billigen Plätze hatte ich ihn von Weitem bewundert. War bei dem Tor, das er erzielt hatte, jubelnd aufgesprungen und hatte meinen schwarzen, mit kleinen Krähen bestickten Schal geschwungen. Und dann war er fortgegangen und meine Selbstachtung war zurückgekehrt. Ich hatte ihn beinahe vergessen. Fast. Und jetzt war er wieder da und mein Herz machte diesen seltsamen aufgeregten Hüpfer angesichts Kims Worte.
Ich nahm einen Schluck meines Pfirsicheistees und vertiefte mich erneut in die Speisekarte, die ich eigentlich in- und auswendig kannte.
»Na und, dann ist er halt wieder da.« Ich war so eine verdammt schlechte Lügnerin.
***
Wie die gute Freundin, die Kim war, hatte sie das Thema auf sich beruhen lassen, doch als ich abends im Bett meines Kinderzimmers lag, wollte ich partout nicht in den Schlaf finden. Ich rollte mich von links nach rechts und wieder zurück, bis ich schließlich aufstand.
Im diesigen Licht meiner Nachttischlampe tapste ich zu meinem Kleiderschrank, dem Inbegriff von kreativem Chaos. Ich wühlte mich auf dem Schrankboden zwischen Stapeln an Schuhkartons und Bergen an Handtaschen hindurch, bemüht, möglichst kein Geräusch zu machen, um meine Eltern, die im Raum darunter schliefen, nicht zu wecken.
Und dann sah ich ihn. Verborgen unter einem hinuntergefallenen Mantel, ganz hinten im Schatten der Dunkelheit lugte er hervor. Der Crows-Schal. Ich zog ihn aus dem Schrank, dachte an das Gefühl von Freudentaumel und Zusammenhalt, das er in mir hervorrief. Und die Erinnerung an Jonah.
Irgendwie konnte ich bis jetzt nicht glauben, dass er der arrogante, selbstverliebte Kerl war, der er vorgegeben hatte zu sein und für den die Leute ihn hielten, denn ich hatte ihn von einer anderen Seite erlebt. Doch ich würde es wohl nie herausfinden …