Kapitel 1
Das Geräusch des Napfes, der sich nur mit wenigen Brocken füllte, während ich ihn durch die sonst gut gefüllte Futtertonne zog, bereitete mir eine Gänsehaut. So ausgedünnt waren unsere Futterreserven noch nie gewesen. Ich presste die Augen zusammen, bevor ich in das Loch spähte. Verflucht! Mit einer Hand kippte ich den Behälter, damit der Futternapf zumindest halb voll wurde. Das war eine Katastrophe! Mit dem Gedanken an unseren Kontostand und die leere Speisekammer im Haus stellte ich den Napf auf den Boden. Auch die nächste Futtertonne war leer. Und die nächste. Bis auf ein paar letzte Krümel war alles weg. Es war gekommen, wie ich es erwartet hatte. Und trotzdem raubte es mir in diesem Augenblick die Luft. Ich konnte meine Hunde nicht mehr ernähren. Die Tage waren gezählt. Ich sah mich im Futterschuppen um, ganz so, als würde sich die Lösung all meiner Probleme auf magische Art und Weise zu erkennen geben. In der Form, die ich am meisten verabscheute, tat sie das auch. Mein Blick blieb an dem Gewehr hängen. Wie hypnotisiert ging ich zu der gegenüberliegenden Wand. Die Fakten waren klar: Huskys ließen sich nicht als normale Haushunde vermitteln. Nicht meine Schlittenhunde, die als Teil der wilden Natur lebten. Meine Hände zitterten auf dem kühlen Metall der Waffe, als würde sich mein Körper wehren. Als würde mir jede Faser meines Seins signalisieren, dass er gegen das hier war. Gegen die Entscheidung, die bitter auf meiner Zunge schmeckte. Es gab Gerüchte. Ich hatte in der Vergangenheit gehört, dass Farmbesitzer bei Auflösungen von Huskyfarmen oder anderen massiven Problemen ihre Hunde erschossen hatten.
Nein.
Nein, nein, das war vollkommen ausgeschlossen!
Als hätte ich ein giftiges Tier berührt, zog ich meine Hände zurück und schüttelte den Kopf. Mein Herz pochte in meinem Körper, ich konnte meinen Puls in den Fingerspitzen fühlen. Mit den zwei letzten Näpfen, halb gefüllt mit Trockenfutter, trat ich aus dem Schuppen. Kälte schlug mir erbarmungslos entgegen. Ich zog die Nase hoch, denn nicht nur meine Augen waren feucht. Mir lief das Wasser nur so das Gesicht herunter und gefror bei den eisigen Temperaturen auf meiner Haut.
Ich atmete ein und aus und beobachtete die kleine Wolke, die sich durch meinen Atem bildete.
Inari lief im Zwinger hin und her. Ihr schmaler Körper wirkte angespannt, ihre gelb-braunen Augen sahen zu mir. Ihr Blick fraß sich in mein Hirn, als würde sie mich fragen: „Tarja, was hast du gerade, wenn auch nur für eine Millisekunde, in Erwägung gezogen?“
Regungslos blieb ich stehen und sah die Hündin meiner Mutter an.
Inari kam an den Zaun. Sie drückte sich gegen das Metall, sodass ihr dichtes Fell durch die Streben ragte. Mit ihrem unverwechselbaren Bellen brach sie ein Loch in meine Gedanken, die aus Selbstzweifeln und Zorn auf mich selbst bestanden. Ich ging zum Zaun, auf die Knie und streichelte ihr weiches Fell.
„Es tut mir leid“, flüsterte ich, während ich ihr einen Brocken Trockenfutter zwischen die Lefzen schob. Wofür ich genau um Entschuldigung bat, wusste ich selbst nicht.
Inari sah mich an. Sie verstand es. Diese Hündin war mir unheimlich, denn es kam mir vor, als hätte sie ein Stück der Seele meiner Mutter in sich aufgenommen. Es waren die Augen von Mama, die mir Zuspruch und Trost gaben.
Zu ihren Lebzeiten war die Bindung der beiden so stark gewesen, dass sie niemals getrennt voneinander geschlafen hatten. Bis heute schlief Inari, wenn sich ihr die Gelegenheit bot, im Bett meiner Mutter. Sie waren ein Team gewesen.
Der Kloß in meinem Hals drohte, mir die Luft abzuschnüren.
Die Verzweiflung war wie aufgewirbelter Schnee zwischen den Tannen. Sie nahm mir die Sicht und wuchs zu einem beklemmenden Gefühl heran. Mit den Gedanken noch bei meiner Mutter öffnete ich die Tür des Zwingers.
Inari rief nach mir. Ihr Schwanz peitschte nach rechts und links. Von ihr angestachelt meldeten sich auch die anderen Hunde. Und ganz typisch für Huskys schaukelten sie sich gegenseitig hoch, sodass am Ende ein intensives Gejaule über die Farm schallte.
Ich nahm die Hündin am Halsband und ging mit ihr ins Haus, denn den Lärm konnte ich in diesem Moment nicht ertragen. Die Hunde waren zu aufgeregt, voller Energie und hungrig, weil bald Fressenszeit war. Doch zuerst musste ich genug für sie alle zusammenkratzen.
Der Geruch von Holz und Gewürzen schlug mir bereits im Flur entgegen. Inari lief direkt weiter in das Wohnzimmer, angelockt von der Wärme des Ofens, vor den sie sich immer so nah legte, dass sie sich irgendwann noch die Nase verbrennen würde. Egal, wie oft ich ihr verbot, sich dort zu platzieren, denn ich wollte sie vor Schmerzen bewahren, sie blieb stur. Wie meine Mutter machte ihre Leithündin, was sie wollte.
Mein Herz hämmerte noch immer gegen meinen Brustkorb, als ich an das Gewehr dachte. Absoluter Tiefpunkt. Hatte ich wirklich in Erwägung gezogen, einen Hund zu erschießen? Inari war zwar zu alt, um Schlitten zu ziehen, aber kerngesund. Unter normalen Umständen ließ ich nur schwerkranke Tiere vom Tierarzt einschläfern, doch seit ein paar Wochen stand die Welt auf dem Kopf.
Als ich voller Scham das Wohnzimmer betrat, stand Inari auf, lief zu mir und leckte an meiner Hand. Der intensive Blick aus ihren wunderschönen Augen schien zu sagen, es ist ok für mich, du hast es ja nicht getan. Das fühlte sich gut an, doch wann würde es für mich selbst wirklich ok sein?
„Hey, wie läuft’s?“ Airin erschien im Durchgang zu der Küche. Sie hatte sich ein Geschirrtuch über die Schulter geworfen und lächelte mich an.
„Ich-“ Was sollte ich ihr sagen? Dass ich soeben mit der Waffe im Futterschuppen gekuschelt hatte?
„Du siehst nicht gut aus, Tarja.“
Wie auch.
„Wie wäre es mit einem Mittagessen?“
Mein Nicken ließ sie sofort wieder in der Küche verschwinden. Essen war momentan zwar kein erfreuliches Thema in diesem Haus, aber ein notwendiges Übel. Solange wir noch was zu essen hatten …
„Wo ist Lemmy?“ Ich folgte Airin, Inari dicht an meinen Fersen.
Als meine Freundin sah, dass die Hündin die Küche betreten wollte, fuchtelte sie abwehrend mit den Händen.
„Das kannst du knicken!“
Inari verließ mit eingezogener Rute und gesenktem Kopf den Raum.
Airin war bereits wieder in ihrem Element. Sie wendete schwungvoll die Eier in der Pfanne.
„Wo sind die anderen Hunde?“ Das Haus war ungewöhnlich leer. Normalerweise konnte ich nicht die Tür öffnen, ohne von mindestens drei Hunden begrüßt zu werden.
„Lemmy ist mit ihnen draußen. Er wollte zwei der Hundehütten reparieren und hat die Oldies mitgenommen.“
Die Oldies – unser Kosename für das Rentnergrüppchen.
„Hoffentlich macht er bald eine Pause“, sagte Airin über das Brutzeln der Pfanne hinweg.
„Er ist seit sieben Uhr auf den Beinen, es wird also Zeit.“ Auch ich hatte um diese Uhrzeit angefangen, schließlich mussten wir zurzeit die Arbeit von sechs Personen erledigen. Mein bester Freund und ich wurden sonst von Saisonhelfern unterstützt. Das konnten wir gerade vergessen.
Wir hatten 82 Hunde zu bewegen. Jeden einzelnen Tag. Acht bis zehn Hunde pro Ausfahrt bedeuteten acht bis zehn Ausfahrten pro Tag. Zusätzlich mussten wir ab morgen die Streckenlängen wieder deutlich erhöhen, damit die Hunde leistungsfähig blieben. Huskys brauchten das, damit sie nicht psychisch labil wurden. Schlittenhunde waren Arbeitstiere, die nicht nur laufen wollten, sondern laufen mussten, andernfalls würden sie immens darunter leiden. Doch mit den täglichen Ausfahrten war unsere Arbeit nicht getan. Es standen noch Füttern, allgemeine Pflege, Instandhaltung der Farm und diverse Reparaturen auf unserem Zettel.
„Haben wir Post von … also wegen der Situation?“ Ich traute mich nicht, die Worte auszusprechen, die katastrophale Realität zu benennen, zu groß war meine Angst vor der nächsten Hiobsbotschaft.
Airin schüttelte nur den Kopf. Sie beförderte die Eier auf einen Teller und drückte ihn mir in die Hand.
Wie sollte ich essen, wenn ich nicht wusste, wie lange ich meine Hunde noch ernähren konnte?
„Ich habe doch keinen Hunger.“
Airin verhinderte, dass ich den Teller auf den Küchentresen abstellte.
„Du musst essen, sonst sind die Tiere ganz verloren. Wenn du schlapp machst, war’s das. Gib nicht auf! So hat dich deine Mutter nicht erzogen!“
Ich biss die Zähne aufeinander und schluckte. Sie hatte recht. Aufgeben war keine Option. Ich würde sicherlich nicht einfach so das Lebenswerk meiner Mutter gegen die Wand fahren.
„Na gut.“ Ich drückte Airin kurz, gab ihr einen Kuss auf die Wange und ging mit meinem Teller und der Tube Soße, die sie mir noch unter den Arm schob, ins Wohnzimmer. Sofort scharwenzelte Inari um meine Beine und brachte mich fast zu Fall.
„Herrgott!“ Ich vertrieb die Hündin. Ihre Augen sagten mir, dass sie äußerst unzufrieden war. Dass ich aß, während sie leer ausging, war wohl eine Frechheit. Unter ihrem vorwurfsvollen Blick setzte ich mich an den Schreibtisch.
Widerwillig begann ich, die Eier in mich hineinzuschaufeln und hoffte auf die dringend benötigte Kraft, um den Rest des Tages durchzustehen. Das Hundefutter zusammenzustellen stand ganz oben auf meiner Prioritätenliste.
Nebenbei startete ich den Computer und stellte mich darauf ein, dass ich meine Mahlzeit schon vertilgt haben würde, bis sich die Verbindung ins Internet aufgebaut hatte.
Als die grottenschlechte Leitung endlich ihren Job machte, meldete ich mich in unserem E-Mail-Programm an.
Sieben neue Nachrichten. Alles Antworten auf meine Absagen, die ich unter Tränen in den letzten Tagen versendet hatte. Ich öffnete eine nach der anderen. Mit jedem „Es tut mir leid“ und „Wir kommen bestimmt nächstes Jahr“ wurde mir übler. Eine einzige E-Mail war sogar richtig bösartig und mir wurden üble Vorwürfe gemacht, dass ich den Winterurlaub einer ganzen Familie zerstört hatte. Ich legte die Stirn auf das kühle Holz des Schreibtischs und konzentrierte mich darauf zu atmen. Ein und aus. Nicht durchdrehen. Einfach atmen und gelassen bleiben.
„Tarja?“
„Ja?“ Ich hob meinen Kopf nicht, blieb so hängen und atmete.
„Hast du diese sonderbare Methode von deiner Therapeutin?“
Jetzt hob ich doch meinen Kopf und funkelte Lemmy böse an. Mir war klar, dass er sich nicht wirklich über meine Psychotherapie, die ich seit einem Jahr als Onlinebehandlung erhielt, lustig machte. Aber es nervte mich, dass er es immer wieder aufgriff. Ich wollte nicht darüber reden.
„Wow, du kannst ein richtiger Herpes sein!“, stöhnte ich. Er grinste, seine grünen Augen strahlten.
„Ich liebe es, wenn du mich beleidigst. Das ist so süß!“ Er kniff mir tatsächlich in die Nase.
Schnell schlug ich seine Hand weg und richtete mich auf.
„Im Ernst, was treibst du da? Es stinkt nach dieser komischen Soße und dein Mund ist ganz verschmiert.“ Lemmy schüttelte den Kopf, hörte aber noch immer nicht auf zu grinsen.
Ich strich mit Daumen und Zeigefinger über meine Mundpartie, doch Lemmy schüttelte weiterhin den Kopf.
Stöhnend stand ich auf und ging an ihm vorbei Richtung Badezimmer. Im Spiegel sah ich, dass er recht hatte. Ich war vollkommen verschmiert. Doch was mir mehr Sorgen bereitete, waren die dunkelblauen Augenringe und die blasse Haut. Sie war immer sehr hell, doch normalerweise hatte ich rote Wangen und ein bisschen Farbe von der Wintersonne. Im Moment sah ich jedoch gespenstisch aus, ausgelaugt, beinahe krank.
„Geht es dir gut? Jetzt mal Klartext!“
Warum fragten mich das alle ständig?
Lemmy erschien hinter mir. Seine Miene war nicht mehr amüsiert. Er wirkte besorgt. Auf seiner Stirn, zwischen den buschigen Augenbrauen, bildete sich eine Furche.
Allein der Anblick meines besorgten, ebenfalls ausgelaugt wirkenden Kumpels machte mich traurig. So wollte ich ihn nicht sehen! Er sollte strahlen, dumme Sprüche klopfen und mit den Hunden durch den Schnee rennen.
„Gestern habe ich die letzten Absagen für dieses Jahr verschickt“, verkündete ich atemlos.
Er nickte, deshalb sprach ich weiter.
„Nun überlege ich, ob ich die Januarplanung ebenfalls über Bord werfen soll. Das würde bedeuten, wir haben in den nächsten drei Monaten keine einzige Tour. Hundert Prozent Umsatzausfall. Ich weiß nicht, wie ich das schaffen soll. Wie soll ich die Hunde versorgen, die Rechnungen bezahlen? Was ist, wenn es bei einem Tier einen Notfall gibt? Ich …“ Meine Stimme versagte. Ich hasste es, wenn sie so dünn wurde, dass ich mich wie ein kleines Mädchen anhörte.
„Du?“ Er legte den Kopf schräg und strich sich über den Vollbart.
„Ich habe vorhin an den Typen gedacht, der vermutlich einige seiner Tiere erschossen hat“, flüsterte ich. Mein Hals zog sich schmerzhaft zusammen.
„Bist du noch ganz bei Sinnen?“ Lemmy trat ganz nah an mich heran. Sein Blick verband sich mit meinem. Zuerst wollte ich mich ihm nicht stellen, denn er war voller Zorn. Natürlich war er wütend. Er liebte die Hunde genau so sehr wie ich. Doch dann wurde sein Ausdruck weicher. Meine Lippe zitterte und ich zog die Nase hoch. Während er mich in die Arme schloss, schüttelte ich den Kopf.
„Umarm’ mich besser nicht. Ich stinke vom Reinigen der Zwinger und außerdem muss ich dann heulen.“
Das war ihm völlig egal. Er roch wie ich selbst nach Stroh, Hundefutter und Schweiß.
„So weit kommt es nicht, kapiert?“ Er drückte mich noch fester an sich.
Für einen Moment genoss ich seinen Trost, dann löste ich mich von ihm und wischte mit dem Handrücken die Tränen aus meinem Gesicht.
„Woher willst du das wissen?“ Eine Mischung aus Verzweiflung und Wut ließ mich im Badezimmer auf- und abgehen.
„Wir verhindern das! Wir sind ein Team und niemand bleibt zurück – weder Mensch noch Tier!“ Wieder nahm er mich in den Arm und ich vergrub mein Gesicht in seinem dicken Wollpullover. Ich hatte Angst. Selten hatte ich so nah am Abgrund gestanden. Zuletzt nach dem Tod meiner Mutter.
„Ich habe keinen Plan“, wisperte ich in die Wolle.
„Doch, den haben wir: Wir kümmern uns und warten auf die Antwort des Ministeriums! Es ist bald so weit! Dann erhalten wir die Tätigkeitserlaubnis zurück und können wieder Gäste in Empfang nehmen.“
Woher nahm er diesen Optimismus? Wie konnte es sein, dass mich seine Worte zu gleichen Teilen zermürbten und beruhigten? Lemmy war unglaublich.
„Ok.“
Er hielt mich mit beiden Händen vor sich und sah mir in die Augen. „Und du denkst über so grausame Methoden nicht mehr nach, ja?“
Ich nickte und lehnte mich gegen ihn. Kraftlos. Meine Energie war aufgebraucht und wir standen gerade mal am Anfang der Saison. Wochenlang hatten wir die Hunde trainiert mit dem Wissen, dass hier bald Dutzende Gäste auftauchen würden und Schlitten fahren wollten. Und dann war die Katastrophe über uns hereingebrochen.
„Wie sieht unser weiterer Tagesplan aus? Es wird bald dunkel. Also dunkler“, versuchte Lemmy wieder zur Normalität, was auch immer das hieß, zurückzukehren.
Wir gingen gemeinsam zurück in die Küche, wo Airin am Tisch eine Zeitschrift las und eine dampfende Tasse Tee trank.
„Wie weit bist du mit der Instandhaltung der Hundehütten?“, wollte ich wissen. Ein Schritt nach dem anderen würde mir helfen, nicht verrückt zu werden.
„Ich komme gut voran, vielleicht müssen wir noch Holz schlagen.“ Lemmy setzte sich auf einen der Stühle und streckte die langen Beine aus.
Inari schlich sich in die Küche, zur Sicherheit stets ein Auge auf Airin. Doch diese bemerkte die Hündin nicht, strich sich immer wieder dieselbe graue Strähne zurück, die sich aus ihrem geflochtenen Zopf gelöst hatte und blickte zum Topf, der auf dem Herd blubberte. Langsam tappte Inari zu mir und strich um meine Beine. Kurz zögerte ich. Wie sollte ich nicht an meinem moralischen Kompass zweifeln? Und als hätte sie meine Gedanken gehört, sah Inari mich an. Wieder dieser mütterliche Blick. Der Ausdruck, der mir zeigte, dass meine Mutter nicht weit weg war.
Sanft legte ich meine Hand auf ihr Fell. Das Kraulen brachte sie dazu, sich auf den Boden sinken zu lassen. Ich musste mich tief hinabbeugen, um sie weiter streicheln zu können.
„Was meinst du?“ Lemmy zog die Augenbrauen zum Haaransatz.
„Hm?“ Ich hatte mich so sehr auf Inari konzentriert, dass ich nicht mitbekommen hatte, dass er mit mir gesprochen hatte.
„Sollen wir heute noch Holz holen oder morgen?“
„Heute! Morgen müssen wir das Training ausweiten. Das wird der erste Tag mit Langstreckentouren. Wir müssen heute Abend einen Plan erstellen, wann wir welche Hunde bewegen. Wenn wir nicht clever vorgehen, nehmen die uns die Hütten komplett auseinander. Dann haben wir ein Holzproblem der anderen Sorte.“ Ich kicherte während der letzten Worte, denn Inari begann, meine Hand zu lecken und ihre raue Zunge kitzelte mein Handgelenk.
Airin sah unter den Tisch, öffnete den Mund, doch ich stoppte ihre Worte.
„Lass sie bitte!“
Wir wechselten einen Blick und Airin verstand.
Inari wusste, dass sie Narrenfreiheit hatte und sprang auf meinen Schoß.
„Also wirklich!“ Meine Stimme war ernst, trotzdem musste ich schmunzeln. Ich verpasste der dreisten Hündin einen Kuss auf die Stirn.
Airin stand kopfschüttelnd auf und widmete sich ihrem Eintopf.
„Gut, dann bereite ich alles vor!“ Lemmy erhob sich und klopfte die Hose ab. Vergebens, denn wir würden alle immer mit Hundehaaren bedeckt sein. Das war unser Look. Doch er gab nicht auf, klopfte und wischte immer wieder an sich herum. Ich hatte schon vor Jahren aufgegeben, die Stichelhaare loswerden zu wollen. Ich stand dazu, schließlich leitete ich eine Huskyfarm.
„Ich bin eh gerade dabei, Keitto vorzubereiten. Den könnt ihr morgen gut gebrauchen, oder?“ Airin hob eine der Augenbrauen und warf Inari, die bei der Erwähnung der speziellen Fleischsuppe die Ohren spitzte, einen bösen Blick zu.
„Auf jeden Fall, danke! Vermutlich sogar noch heute.“ Ich nahm Airins Hand in meine und lächelte. Ohne sie und Lemmy wäre ich durchgedreht. Vielleicht wäre ich sogar tot. Die Hunde, die beste Freundin meiner Mutter und Lemmy waren der Grund, weshalb ich hier weitermachte. Und Lappland. Ich liebte dieses Stückchen Welt sehr.
„Ich brauche mehr Zutaten. Mal schauen, was unsere Vorratskammer noch hergibt …“ Airin verließ die Küche und Lemmy folgte ihr.
Inari und ich blieben. Ich starrte aus dem Fenster auf die Gitteranlagen und den Nebel, der zwischen den Tannen in der Ferne hervorgekrochen kam. Der Himmel verfärbte sich schon. Das war es mit der Helligkeit für diesen Tag. Von Sonnenlicht konnten wir hier nicht sprechen, denn die Sonne ging zu dieser Jahreszeit überhaupt nicht auf. Trotzdem wurde es für zwei, maximal drei Stunden am Tag etwas heller und Lappland lieferte uns damit den Beweis, dass wir nicht nur in der Nacht lebten.
Die Hündin rollte sich auf meinem Schoß zusammen. Egal, wie sehr sie versuchte, sich klein zu machen, sie war ein großes Tier. Ich musste ihren Hintern mit meinem Oberschenkel stützen, damit sie nicht herunterrutschte. Doch ihre Nähe war heilsam.
„Es tut mir leid“, flüsterte ich. Zu Inari und auch zu meiner Mutter. Dann küsste ich ein weiteres Mal ihre Stirn. Sie gähnte und legte ihren Kopf auf mein angewinkeltes Knie.
Mein Blick glitt von ihrem grau-schwarzen Fell zu der Zeitschrift, die Airin auf dem Küchentisch liegen gelassen hatte. Dort war über zwei Seiten ein Artikel mit der Überschrift „Bjarne Wallin – deutscher Stern am Himmel von SuoTV“ aufgeschlagen. Links war ein riesiges Bild eines jungen Mannes abgebildet. Ich zog die Zeitschrift zu mir und betrachtete ihn. Das Erste, was mir auffiel, war sein Mund. Die Lippen waren schmal und zu einem schiefen Lächeln verzogen. Es hatte etwas Jungenhaftes wie er dastand, die Hände lässig in die Gürtelschlaufen seiner schwarzen Jeans gesteckt. Die Ärmel des grauen Sweatshirts waren hochgekrempelt, sodass ich die muskulösen Unterarme sehen konnte. Doch sein Gesicht war das, was mich anzog und wirklich faszinierte. Die Augen so dunkel, als würden sie ein Geheimnis verbergen. Sie passten nicht zu seinem freundlichen Lächeln, zu den nach hinten gestylten, dunklen Locken und dem Dreitagebart. Bjarne Wallin war ein schöner Mann. Der starke Hals und das kantige Kinn machten ihn attraktiv.
Schluss damit. In diese eisige Einöde verirrte sich selten ein Mann. Noch seltener war es, dass ich einen näher an mich heranließ. Ich hielt sie mir vom Leib, denn ich konnte ihnen nicht trauen.
Kapitel 2
Das Geheul war nicht von dieser Welt. Sie stachelten sich gegenseitig an, bis es kein Bellen, kein Jammern, sondern ein Geschrei war.
„Ist gut, Leute!“ Meine Stimme durchbrach kaum den Lärm. Ich war schwer bepackt mit Geschirren, halb gefrorener Wurst und einem Notfallset für Verletzungen. Wichtige Grundausrüstung, die wir zu jeder Tour mitnahmen und täglich benötigten.
Die Dunkelheit in Kombination mit dem rutschigen Untergrund beanspruchte meine volle Konzentration. Ein falscher Schritt und ich hätte ein noch größeres Problem als ohnehin schon. Was wäre dann mit den Hunden? Ich musste Aufgabe für Aufgabe schaffen, deshalb durfte mir kein Fehler unterlaufen. Verletzungen, Verzögerungen oder andere Verfehlungen waren völlig ausgeschlossen.
„Es ist viel zu früh“, hörte ich leise von rechts. Lemmy war dick in Mütze, Skibrille, Parka und Handschuhen eingepackt. Trotzdem konnte ich an seinem Gesichtsausdruck erkennen, dass er nicht erfreut war.
Ich konnte es ihm nicht verübeln, immerhin war es Samstagmorgen, sieben Uhr früh. Wir waren noch zeitiger aufgestanden, mit der Entschlossenheit, unser Tagessoll zu schaffen. Zu zweit. Ohne Hilfe. Hauptsaison. Das war eine Premiere.
„Ich weiß. Und es ist viel zu dunkel!“ Ich nickte, während er mit verschiedenen Geschirren bewaffnet den ersten Zwinger auf der rechten Seite betrat. Die fünf Hunde, Akira, Django, Finja, Hook und Koda, drehten komplett durch. Sie sprangen an Lemmy hoch und zwei der Rüden begannen sogar, sich anzuknurren. Jeder wollte der Erste vor dem Schlitten sein.
„Schluss jetzt!“ Lemmy brachte sein Knie zwischen die Streithähne und sie gehorchten. Er schnappte sich Django, der als Wheeldog zusammen mit Akira, einer sehr großen und kräftigen Hündin, direkt vor dem Schlitten laufen sollte. Unsere Planungen für die Gespanne und Trainingseinheiten waren gestern bis spät in den Abend gegangen. Nun hielten wir uns akribisch an die Pläne, denn wir durften nicht den Überblick verlieren. Django ließ sich das Geschirr anlegen und an die Zugleine spannen.
Mit knirschenden Schritten stapfte ich weiter durch den Schnee, denn auch ich hatte ein Gespann vorzubereiten. Ich startete mit dem kleinsten Rudel und ging zu dem Zwinger von Pepsi, Pringles, Smee, Ragnar und Oleg. Die Schwestern Pepsi und Pringles waren so aufgeregt, dass sie auf ihren kleinen Hütten standen und in den dunklen Himmel jaulten. Der Einzige, der ruhig und entspannt war, war Oleg. Das entsprach seinem coolen Charakter. Ganz selten nur ließ er sich zu einem Freudenschrei hinreißen.
„Na, ihr Süßen?“ Ich schob den Metallriegel nach oben und quetschte mich durch die Gittertür. Die Hunde waren sofort bei mir, sprangen an mir hoch, bis ich ihnen das Kommando gab, das zu lassen. Ich scheuchte sie vom Ausgang weg und schnappte mir Oleg. Mit einem Lächeln auf den Lippen konnte ich mich daran erinnern, wie ich meine Mutter das erste Mal beim Anlegen der Geschirre beobachtet hatte. Es sah grausam aus, weil man die Hunde so hochzog, dass nur noch die Hinterbeine den Boden berührten. Doch es war notwendig, andernfalls hatten die kleinen Biester zu viel Kraft und tanzten einem auf der Nase herum.
Es folgte die Erinnerung an den Tag, an dem ich das erste Mal meiner Mutter beim Anlegen und Einspannen geholfen hatte. Zwei Hunde waren aus den Zwingern ausgebrochen, einer davon gut 200 Meter vom Gelände weggelaufen. Ich war in den Schnee gefallen und hatte mir den Kopf an einem Stein gestoßen. Meine Mutter hatte über die ganze Farm geflucht. Nachdem das Chaos wieder unter Kontrolle gewesen war, hatte ich das erste Mal allein einen Schlitten steuern dürfen. Trotz der ganzen Komplikationen, trotz meiner Fehler, hatte meine Mutter an mich geglaubt. Das hatte sie immer. Gemeinsam waren wir stark gewesen.
„Bist du so weit?“ Lemmys Gesicht erschien zwischen den Gitterstäben.
„Sorry, ich bin heute langsam.“ Ich gab ihm Oleg durch das Tor, während ich mir Pepsi griff und den Rest der Meute vertrieb. So legte ich einem Hund nach dem anderen das Geschirr an. Lemmy befestigte sie an meinem Schlitten. Wir verluden den Proviant für die Hunde und statteten uns mit Notfallmedikamenten wie Desinfektionsspray, entzündungshemmenden Mitteln und Schmerztabletten aus. Auf so einer Tour konnte alles passieren. Und da wir diese Saison keine Rettungsperson hatten, die uns in schwierigen Situationen unter Einsatz unseres Schneemobils unterstützen konnte, mussten wir allein klarkommen. Niemand außer Airin war auf der Farm. Sie hütete das Haus und kümmerte sich im Notfall um die zurückgebliebenen Tiere. Hinzu kam, dass das Schneemobil kaputt war und für die benötigten Ersatzteile das Geld nicht reichte. Entweder Futter für die Hunde oder die Absicherung durch das Schneemobil – es war keine einfache, aber eine schnelle Entscheidung gewesen.
Als es losging, drehten noch mal alle Hunde auf. Die vor den Schlitten konnten ihr Glück nicht fassen, die in den Zwingern und Hütten jaulten beleidigt und waren neidisch auf das Abenteuer. Zweifel und ein schlechtes Gewissen trübten mir den Moment der ersten Ausfahrt des Tages, denn ich wusste, dass wir heute nicht alle Hunde bewegen konnten. Ein paar Tiere waren erst morgen an der Reihe. Das war ok, sie würden nicht zu sehr darunter leiden – doch die glänzenden, enttäuschten Augen tauchten bereits jetzt in meinen Gedanken auf.
„Mush, mush, mush!“ Meine Rufe hallten über die eisige Landschaft und durch die schneebedeckten Tannen.
Auch Lemmy heizte sein Gespann ordentlich an, sodass wir mit ein wenig Sicherheitsabstand hintereinanderfahren konnten. Sobald wir der Farm den Rücken gekehrt hatten, lockerte sich der Druck auf meiner Brust. Je mehr Bäume, Sträucher und Schnee ich sah, desto leichter wurde alles. Das Eis glitzerte auf den Wipfeln und reflektierte das Licht der morgendlichen Sterne. Die Besucher waren immer wieder geschockt, wie hell es hier war, obwohl die Sonne nicht schien. Doch das viele Weiß reflektierte auch das kleinste Funkeln.
Der eisige Wind biss in mein Gesicht. Es war wie ein Rausch. Die Hunde gaben Gas, die Tannen flogen an mir vorbei und ich sog die eiskalte, klare Luft in mich ein. Mit jedem Atemzug kam ich mir freier vor. Hier fühlte ich mich vollkommen und wie ich selbst. Verbunden mit der Natur, meinen Hunden und ganz nah bei meiner geliebten Mutter. Ihr Geist lebte in diesen Wäldern und im See, auf den wir zufuhren, weiter – da war ich mir sicher.
Bei Lemmys Kreischen zuckte ich kurz zusammen, musste dann jedoch lachen. Er teilte meine Liebe zum Mushen, dem Hundeschlittenfahren. Immer, wenn er Vollgas gab, schrie er aus tiefster Seele.
Das Rudel war gut in Form. Unser Training im Sommer und Herbst hatte sich ausgezahlt, was gleichzeitig wunderbar bestätigend, aber auch enttäuschend war. Es stand noch immer in den Sternen, ob in diesem Winter Touristen zu uns kommen konnten. Mit der restlichen Hoffnung, die in mir geblieben war, stellte ich mir vor, wie ich später ins Haus gehen, einen Brief finden und ein Wunder sehen würde. Dann hätten wir wieder volle Terminkalender, deren Vereinbarungen ich offiziell einhalten durfte, könnten die Gästehäuser vorbereiten und innerhalb von ein paar Tagen wäre wieder Leben auf der Farm. Ich vermisste das morgendliche Treiben, die Gespräche mit Menschen aus fremden Ländern, die ich selbst nie bereist hatte, und den Anblick der Gäste, wenn sie das erste Mal diese Natur spürten. Sie nicht nur sahen, sondern mit jeder Faser ihres Körpers die Macht der Kälte dieses speziellen Landes fühlten.
Ich trat vom Schlitten und presste meine Stiefel in den Schnee. Mit voller Kraft schob ich mit an, sodass wir mit vereinten Kräften den kleinen Berg, an dessen Fuß wir angekommen waren, erklimmen konnten. Die Hunde zogen, ich lehnte mich gegen den Schlitten und gab alles. Mein Atem formte kleine Wölkchen, die Kälte zog in meine Lungen.
Lemmy feuerte seine Tiere verbal an, doch ich blieb still. Ich wollte nicht, dass sie sich überlasteten. Es war meine Aufgabe, sie zu unterstützen, und ich wollte beweisen, dass ich es konnte, ohne Druck auf sie auszuüben. Ich konnte das hier alles. Mushen, selbstständig sein, eine Farm führen. Klarkommen.
Der Ausblick vor mir war das Beste, was ich seit Langem gesehen hatte. Der See war nun komplett zugefroren und lag als eine riesige, mit Schnee bedeckte Fläche vor uns. Der Horizont verschwand beinahe in dem kontrastlosen Weiß. So kalt es hier draußen auch war, umso wärmer wurde es in meiner Brust. In solchen Momenten fühlte ich meine Mutter ganz nah bei mir.
Lemmy schloss zu uns auf und gönnte sich ebenfalls einen Moment. Er lächelte mich breit an und schob die Skibrille hoch auf die Stirn.
„Na, ein Wettrennen gefällig?“ Er wackelte derart affig mit den Augenbrauen, dass ich kichern musste.
„Meinst du, unsere Truppen kriegen das direkt am ersten Tag hin?“
„Nur den Berg hinunter!“ Das Funkeln in seinen Augen verriet, dass er Schabernack treiben wollte.
Ich antwortete ihm nicht, sondern schrie: „Mush!“
Die Hunde hämmerten ihre Pfoten in den Schnee, sodass dieser durch die Luft flog. Wir heizten los und ließen Lemmy hinter uns. Das würde er nicht auf sich sitzen lassen. Er war kein guter Verlierer.
Auch wenn ich gewinnen und Vollgas geben wollte, die Hunde hatten natürlich ein Limit. Als dieses erreicht war, bremste ich immer wieder mit dem Schlitten, denn ich wollte Verletzungen verhindern. Unter keinen Umständen durften meine Wheeldogs Smee und Oleg die Kufen des Schlittens in die Fersen gerammt bekommen. Sie konnten die Tiere ernsthaft verletzen. Weitere Katastrophen waren nicht erwünscht, also war ich vernünftig und ließ den Wettkampf zur Nebensache werden.
Auch Lemmy blieb weiter zurück. Ich drehte mich immer wieder um und sah, dass er ebenfalls bremste. Für ihn standen die Hunde, genau wie für mich, an oberster Stelle. Darin waren wir ganz gleich.
Die Abfahrt war wundervoll. Die Hunde hatten Spaß, das merkte ich. Die Geschwindigkeit ließ die Winterlandschaft ganz anders aussehen. Kurzzeitig war alles weiß und ich erlaubte mir, die Augen zu schließen. Nur für ein oder zwei Atemzüge genoss ich das Gefühl der Freiheit, dann lag mein Fokus wieder auf dem Gespann.
Nach der Abfahrt fuhren wir über den See. Die Weite dieser Landschaft war unbegreiflich. Hinter unserer Farm lag das kleine Dorf Lumijärvi und der Name war Programm. Der Schneesee war das Einzige, was man hier sehen konnte. Das Wasser war zu einer dicken Schicht Eis geworden, von Schnee bedeckt und durch das reflektierende Sternenlicht war es, als wäre der Boden erleuchtet. Keine Menschenseele, nur Lemmy, die Hunde und ich. Die Landschaft gehörte uns.
In der Mitte des Sees machten wir Rast und gaben den Hunden von der vorbereiteten Fleischsuppe, Keitto. Der Kalorien- und Wasserverbrauch von Schlittenhunden war enorm, deshalb brauchten unsere Vierbeiner regelmäßige Snacks. Heute gab es für jeden sogar ein kleines Stück Wurst, die in der Suppe antaute. Zu viel durften wir ihnen nicht geben, sonst konnte es zu schmerzhaften und lebensgefährlichen Magendrehungen kommen. Auch Lemmy und ich brauchten eine Pause, deshalb teilten wir uns heiße Brühe aus einer separaten Thermoskanne.
„Meinst du, wir schaffen unser Pensum? Wir liegen bisher gut in der Zeit.“ Ich sah zu meinem Freund hinüber.
Lemmy nickte und schaute dabei in den dunklen Himmel. Noch immer war kein Zeichen des Sonnenaufgangs zu erkennen.
„Du darfst nicht so negativ sein. Versuch, deine Sorgen ein bisschen loszulassen. Seit Tagen wirkst du so verkrampft, dass es mir Angst macht. Irgendwann explodiert noch dein Kopf!“
Ich seufzte. „Du kennst die Lage … Wie soll ich da loslassen?“
Er konnte meine Verzweiflung nicht wirklich nachempfinden, denn er hatte Optionen. Genau betrachtet war er ein Arbeitnehmer, der jederzeit gehen konnte. Mein Leben hingegen war mit der Farm verwachsen.
„Ich weiß, dass es schwer ist. Aber Tarja, du kannst es nicht ändern! Egal, wir könnten uns auf den Kopf stellen, davon wird unser Anliegen auch nicht schneller bearbeitet.“
„Schon klar. Ich bin nur so unfassbar wütend.“
Tatsächlich begleitete mich meine Wut auf die Menschen, die mit einem Schlag mein Leben komplett verändert hatten, vom Aufstehen bis zum Zubettgehen. In diesem Moment versuchte ich, sie ein wenig loszulassen. Ich saugte die Natur, diesen wunderschönen Moment in mich auf und freute mich aufrichtig darüber, dass meine Arbeit und mein Alltag so aussahen. Zumindest heute noch. Egal, was die Zukunft bringen würde, den heutigen Tag konnten sie mir nicht nehmen.
„Was sagt dein Herz? Dass alles gut wird oder dass alles verloren ist?“ Lemmy lächelte milde und kraulte Akira hinter dem Ohr.
Die Hündin war so entspannt, dass sie kurz die Augen schloss. Die anderen Hunde wirkten aufgeregt, wollten weiter, doch sie genoss den Moment.
„Mein Herz?“
„Ja, dieser kalte Brocken in deiner Brust, weißt du?“
Mir war klar, dass es nur ein Scherz sein sollte, doch seine Frage schmerzte. Es war lange her, dass ich auf mein Herz gehört hatte. Dass es überhaupt gesprochen hatte. Meine Herzentscheidungen waren bisher fatal gewesen. Nun fühlte es sich oft kalt an. Außer hier draußen, wo ich hingehörte. Da schlug es voller Wärme.
„Lass uns weiter!“
Lemmy zuckte über die ihm schuldig gebliebene Antwort die Schultern. Zum Glück ließ er mich mit meinen Gedanken allein.
Über mein Herz zu reden – da gab es keinen Bedarf.
Kapitel 3
Müde war kein Ausdruck für das Gefühl, welches durch meinen Körper kroch. Wie erschlagen von dem anstrengenden Tag, lag ich auf dem Sofa und starrte den Fernseher an, ohne etwas mitzubekommen. Keine Ahnung, wovon die blonde Nachrichtensprecherin da berichtete. Es war mir egal geworden, was in der Welt passierte, wenn mein eigener Kosmos auf den Kopf gestellt worden war. Und von irgendwelchen Ölbohrungen hatte ich die Schnauze voll.
Inari lag auf meinen Beinen und wärmte mir die Waden, während Ursula, eine weitere Rentnerin, auf dem Boden neben dem Sofa über mich wachte.
Ich wusste die Nähe der Hunde zu schätzen, denn sie erdete mich. Genau wie das harte Training. Gleichzeitig bereute ich es, denn ich hatte heute wirklich alles gegeben und nicht lockergelassen, bis alle Hunde bewegt worden waren. Ich war so verbissen gewesen, dass Lemmy mich irgendwann allein gelassen hatte. Seiner Meinung nach war ich verrückt, dass ich mit den letzten zehn Hunden eine winzige Runde um die Farm gedreht hatte. Doch ich hatte ihre Blicke, die Gewissensbisse einfach nicht ertragen. So fühlte ich mich jetzt zwar ausgelaugt und mein ganzer Körper schmerzte, doch wenigstens war ich kein völliger Loser.
Eine tiefe, rauchige Stimme lenkte meinen Fokus zurück zum Fernseher. Die blonde Dame mit dem knallroten Blazer war verschwunden und stattdessen war ein großer, breitschultriger Mann zu sehen. Das Banner, welches links unten in der Ecke erschien, verriet mir, dass es Bjarne Wallin war. Und da erkannte ich ihn! Es war der deutsche Stern oder wie sie ihn in dem Magazin genannt hatten.
Kritisch beäugte ich ihn. Nach ein paar Augenblicken verschränkte ich die Arme und drehte mich auf die Seite, sodass ich beim Hinsehen meinen Nacken entlastete. Inari fand das nicht witzig und sprang vom Sofa zu Ursula, die ihr über die Augen leckte.
Das bekam ich nur so halb mit, denn ich war fasziniert. Er sprach von einem Zusammenschluss zweier Ölkonzernriesen und wirkte sehr ernst. Das Thema war heikel, doch dieser Journalist ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Mit viel Expertise und Beispielen sprach er sich ganz klar gegen dieses Joint Venture aus und bewies in dieser umstrittenen Diskussion Mut. Ich hing an seinen Lippen. Nicht nur, weil sie so geschwungen waren, sondern weil sie zu einem Mund gehörten, dessen Worte mich beeindruckten.
Ein Piepsen riss mich aus meinen Gedanken und signalisierte mir, dass ich eine E-Mail erhalten hatte. Sofort verdrehte ich die Augen, stand aber trotzdem auf.
Träge schleppte ich mich zum Schreibtisch, der neben der Couch stand und ließ mich auf den Holzstuhl plumpsen. Mir war kalt, deshalb nahm ich die selbst gestrickte Decke von Airin und wickelte mich wie einen Burrito ein. Mein Gefühl sagte mir, dass es sicherlich keine guten Nachrichten waren, die auf mich warteten. Der Mauszeiger schwebte über dem Symbol des Posteingangs meines E-Mail-Programms. Kurz schloss ich die Augen. Bitte eine gute Nachricht, nicht noch eine traurig verfasste, niederschmetternde Geschichte, wie sich der kleine Lukas die Augen ausweinte, weil er nicht zu den Huskys durfte!
Wie ein Pflaster, das man abreißt, klickte ich das Symbol an und rutschte auf dem Stuhl umher. Es waren drei E-Mails und anhand der Betreffzeilen wusste ich, dass es keine positiven waren. Dafür hatte ich heute keine Kraft mehr. Ohne eine von ihnen anzuklicken, schloss ich das Programm und öffnete den Internetbrowser. Mit ein paar Klicks war ich auf dem Onlinemarktplatz und checkte meine Benachrichtigungen. Hier war es besser: Ich hatte tatsächlich drei der alten Schallplatten meiner Mutter verkaufen können. Wie immer bei solchen Verkäufen freute ich mich. Doch dann kam ein ungutes Gefühl dazu. Es war wie eine Mischung aus Bedauern und Wut. Es machte mich traurig, Stück für Stück Erinnerungen an meine Mutter und unsere gemeinsame Zeit zu verkaufen. Und ich war auch wütend auf mich, dass ich es tun musste, um die Farm über Wasser zu halten. Wütend auf die Welt, diese verfluchten Anzugträger und die Ausweglosigkeit, die ich jede Minute des Tages spürte.
Natürlich verkaufte ich auch Dinge von mir, doch ich besaß einfach wenig. Ich war nie der Mensch gewesen, der Sachen gesammelt hatte – genau wie meine Mutter. Meistens waren wir minimalistisch, außer bei Schallplatten und CDs. Als ich mich an unsere gemeinsamen Abende mit Musik und Sima, meinem liebsten Gebräu aus Wasser, braunem Zucker, Hefe und Zitronen, erinnerte, musste ich lächeln. Die guten Zeiten waren tief in mir abgespeichert, damit ich mich für immer erinnern konnte.
Auf ein Post-It notierte ich mir die drei Alben und zog die Decke von mir. Fröstelnd schlurfte ich zur Treppe und stieg die Stufen hinauf. Bereits hier im Flur konnte ich das Schnarchen von Lemmy hören. Kurz blieb ich vor seiner Tür stehen und lauschte auf das Ein- und Ausatmen. Es beruhigte mich. Egal, ob bei Hund oder Mensch – der stete Rhythmus des Atems brachte mich zur Ruhe.
Ich ging weiter den Flur entlang, vorbei an meinem eigenen Zimmer, passierte das Zimmer der Oldies und hielt vor der roten Holztür am Ende des Ganges an. Das Zimmer meiner Mutter. Ich hatte nichts verändert. Ein wenig aufgeräumt, ein Paar Dinge verkauft, um das Futtergeld für die Hunde aufzustocken, denn ich war mir sicher, dass es meine Mutter so gewollt hätte, aber ich hatte nichts grundlegend geändert. Obwohl es fast ein Jahr her war, verströmte der Raum noch immer das Gefühl, sie würde gleich am Türrahmen erscheinen. Einfach so zum Bett spazieren, sich darauf schmeißen und etwas sagen wie: „Tarja, mein Schatz, der Schneesturm heute war wunderschön!“
Meine Brust zog sich zusammen, als ich die Schublade des großen, dunklen Schrankes öffnete. All die Schallplatten waren ungenutzt, denn ich wagte es nicht, allein Musik aufzulegen. Das letzte Mal war ich völlig zusammengebrochen, das wollte ich nicht ein weiteres Mal erleben. Schnell zog ich die gewünschten Platten aus der Schublade und schloss sie wieder. Es roch hier nach meiner Mutter. Ein Hauch von Lavendel und Kiefernnadeln lag in der Luft und ich nahm die Gerüche tief in mir auf. Ich bekam nicht genug davon. Mit wackligen Beinen erhob ich mich, nur um mich auf die Bettkante zu setzen. Der Stoff an meiner Handfläche war kalt und weich. Ich vermisste sie so sehr.
„Hey“, ertönte es von der Tür. Airin stand im grün karierten Pyjama im Türrahmen und lächelte mich an.
„Hey.“ Ich versuchte es auch mit einem Lächeln. Sie war nicht meine Mutter, aber sie kam einer Mutterfigur gleich.
Es brauchte keine Worte. Ihre Augenbrauen bildeten eine Linie und ihre Stirn legte sich in Falten.
„Ich vermisse sie.“ Ein kurzer Moment der Verletzlichkeit. Bei Airin war das möglich, denn sie verstand mich.
„Ich auch“, flüsterte sie und kam zu mir. Sie setzte sich neben mich auf das Bett und nahm die Hand, die keine Schallplatten umklammerte, in ihre.
„Verkaufst du wieder Platten?“
Ich nickte nur, wich ihrem Blick aus.
„Du machst das gut, Tarja.“
Ein Kloß bildete sich in meinem Hals. „Was meinst du?“
„Na ja, du versorgst die Hunde erstklassig, du versuchst, mit aller Macht, die Farm zu erhalten, hast diese Anzugheinis von deinem Grundstück vertrieben, verkaufst dir wichtige Dinge und Andenken, nur damit alle hier Essen und ein Dach über dem Kopf haben.“ Sanft strich sie mit ihrem Daumen über meine Fingerknöchel.
„Ich habe eher das Gefühl, dass ich an allen Fronten versage: Innerhalb von nicht mal zwölf Monaten ist die Farm heruntergewirtschaftet. Ich kann euch bald nicht mehr bezahlen, habe kaum Geld, um die Hunde zu ernähren. Die Schallplattenverkäufe bringen fast nichts. Die Portokosten sind so hoch, dass nur ein Bruchteil übrig bleibt. Damit kann ich gerade mal ein Dutzend Hunde einen Tag lang ernähren. Es ist ein Witz.“
„Hör auf!“
„Ich bin ein Witz“, schob ich hinterher.
Airin ließ meine Hand los und schüttelte den Kopf.
„Deine Mutter wäre enttäuscht von dir!“ Ihre Augen funkelten in dem spärlichen Licht des Zimmers.
„Ich weiß.“ Salziger Geschmack stieg in meinem Hals hoch, schnürte mir fast die Kehle zu.
„Nein, du weißt nicht. Du hast vergessen! Deine Mutter wäre nicht davon enttäuscht, dass du alles gibst. Sie wäre enttäuscht davon, dass du so respektlos zu dir selbst bist! Sie hat dir beigebracht, dass Respekt eines der wichtigsten Dinge ist. Respekt vor anderen und auch Respekt vor dir selbst. Du hast das vergessen! Ich dachte, deine Situation vor zwei Jahren hat es dich endlich gelehrt und du hättest die Liebe zu dir selbst verinnerlicht.“
Ihr Blick war so intensiv, dass mein Herz begann, fest zu schlagen. Airin und Mama waren sich so ähnlich. Das machte auch Sinn, denn sie waren vierzig Jahre lang beste Freundinnen gewesen. Beide in ihren Zwanzigern in der Einöde Lapplands gefangen, hatten sie sich schnell, nachdem Airin hierher gezogen war, angefreundet. Ab da waren sie unzertrennlich gewesen. Manchmal war es, als wären sie eine Person gewesen.
„Ich habe es nicht vergessen. Aber in solchen Zeiten ist es schwierig, sich an die richtigen Dinge zu erinnern.“
Sie nahm wieder meine Hand und zog mich zu sich.
„Bitte glaub mir: Du bist stark! Mit allem, was dir widerfahren ist, bist du stärker geworden. Gemeinsam sind wir nicht kleinzukriegen! Zusammen mit Lemmy, den Hunden und mir wirst du das alles schaffen. Die werden nur über unsere Leichen dieses Land bekommen! Nur bitte hör auf, dich so fertigzumachen. Es tut mir in der Seele weh, dich so zu sehen. Zu hören, wie du über dich selbst sprichst!“
„Jeden Tag wünsche ich mir, dass sie wieder da ist. Ich möchte mit ihr reden. Eigentlich brauche ich sie noch …“
Airin nickte und sah sich im Zimmer um. Ihr Blick glitt über den großen Spiegel, das kleine Bücherregal, die Kommode, den Schrank und das Hundebettchen in der Ecke. Dort hatte Inari immer geschlafen und auch jetzt nutzte sie noch jede Gelegenheit, in dieses Zimmer zu kommen und sich dort einzurollen. Vor Monaten schon hatte ich ausprobiert, das Hundebett unten ins Wohnzimmer zu legen, doch da hatten es alle Hunde, besonders Inari, ignoriert. Als wüssten sie, dass es hierhergehörte. Nur hier legte Inari sich hinein und rollte sich zusammen.
„Ich glaube auch, dass du jemanden brauchst. Aber nicht deine Mutter.“
Ich hasste es, wenn sie so wage und nicht Klartext redete. Das war auch der häufigste Streitpunkt zwischen ihr und meiner Mutter gewesen.
„Wen soll ich denn brauchen?“ Meine Stimme schnellte nach oben, so wie sie es immer tat, wenn ich genervt war.
„Jemanden, der dir wirklich hilft. Dich gut behandelt. Jemanden, der für dich da ist. Der dir auch mal die Last von den Schultern nimmt. Zumindest für kleine Augenblicke.“ Sie sah mich nicht an, denn ihr Blick galt dem Fenster.
Draußen war es finster, doch der Boden reflektierte das Licht des Hauses und der Sterne.
„Ich komme gut allein zurecht.“ Mit diesen Worten stand ich auf, klemmte mir die Schallplatten unter den Arm und steuerte die Tür an.
„Das habe ich auch nicht bezweifelt. Aber manchmal wird durch eine weitere Person im Leben das Glück noch größer.“ Sie blickte mich an und lächelte so breit, dass ich ihre großen Schneidezähne sehen konnte.
„Oder das Glück stirbt und Wunden bleiben. Außerdem, damit mein Glück größer wird, bräuchte ich zumindest ein kleines bisschen davon. Hier kann nichts wachsen.“
Ich verließ den Raum und durchquerte den Flur. Mit schnellen Schritten trabte ich die Treppe hinunter und legte die Platten auf dem Esstisch in der Küche ab. Noch immer lag dort die Zeitschrift. Noch immer war sein Bild aufgeschlagen. Ich brauchte niemanden. Bis vor zwei Jahren hatte ich einen Mann an meiner Seite gehabt und es war die schlimmste Zeit meines Lebens gewesen. Ich allein war genug. Niemals wieder würde ich mich öffnen und noch mal zulassen, dass mir das Herz herausgerissen wurde. Wütend klappte ich das Magazin zu, krallte es mit den Fingern und warf es in den Müll. Egal, wie gut sie aussahen, rochen, sich anfühlten, sprechen konnten, einen um den Finger wickeln konnten – Männer waren die Schmerzen nicht wert.
Während ich in den Mülleimer starrte und sich mein schlechtes Gewissen ausbreitete, weil ich Airins Zeitschrift einfach zerknüllt hatte, streifte etwas meine Wade entlang. Hellblaue, beinahe graue Augen starrten mich an.
„Hey, Mäuschen“, säuselte ich und ging in die Knie, um mein Kinn auf ihren weißen Kopf zu legen. Layla, meine Seelenverwandte, leckte meine Hand ab und schnupperte an meinem Strickpullover. Wahrscheinlich witterte sie Krümel vom Abendbrot.
Behutsam legte ich eine Hand auf ihren dicken Bauch und wartete. Das Auf und Ab von Laylas Atem unter meiner Hand wurde schnell unterbrochen durch eine kleine Pfote, die gegen die Bauchdecke trat.
„Wow!“ Ich streichelte die Stelle und schloss die Augen, doch Layla war eigensinnig und tapste davon. Der Kontakt war unterbrochen.
Natürlich durfte sie als trächtige Hündin auch im Haus schlafen. Diesen Luxus genossen alle Rentner, werdenden Mütter und verletzten Tiere. Manchmal wählte ich auch spontan einen Hund aus. Nähe zu meinen Tieren war mit sehr wichtig. Für mich waren sie nie nur Arbeitsgegenstände gewesen. Und für meine Mutter auch nicht. So lief das hier bei uns nicht, auch wenn viele Leute aus der Branche uns nicht verstanden.
Layla kehrte zu mir zurück, setzte sich schwerfällig auf den Holzboden und lehnte ihre Schnauze gegen meine Schulter.
„Ihr seid alles, was ich brauche“, flüsterte ich mit den Lippen in ihrem weichen Fell.