Leseprobe Nordseemädchen

Prolog

Auf der glatten Oberfläche spiegelten sich weder Mond noch Sterne. Wie bei einem schwarzen Loch wurde jegliches Licht verschluckt. Das Wasser war genauso dunkel wie die nassen Haare, die sich wie ein Fächer um ihren Kopf gelegt hatten. Wie ein Ölfilm blieb das Blut noch einen winzigen Moment an den Strähnen kleben, bevor es langsam in die Tiefe sickerte. Jedes Geräusch, das normalerweise eine warme Sommernacht erfüllt hätte, war verklungen. Der laue Wind hatte den Atem angehalten und die gerade noch sanft raschelnden Schilfhalme standen still wie versteinerte Soldaten. Sogar das ewige Lied der Grillen verstummte und keine Mücke wagte es, die winzigen Flügel zu bewegen.

Zitternd griffen Finger nach der Kette mit dem kleinen Delfin, der keiner war. Vielleicht als Erinnerung, vielleicht aber auch als Beweis, als Mahnmal dafür, dass diese Nacht wirklich stattgefunden hatte. Ein letzter Blick strich über das leblose Gesicht, eine letzte Träne tropfte ins Wasser und verlor sich in der Tiefe. Nasse Schuhe stolperten über die muschelbesetzte Tasche, in der man später den handgeschriebenen Zettel finden würde, auf dem in schnell gekritzelten Buchstaben zu lesen war:

Es tut mir so leid. Ich habe nur an mich gedacht. N.

Dann verscheuchte ein Motorengeräusch die Stille und nicht nur ein bitteres Geheimnis blieb in der Dunkelheit zurück.

Heute

Manou

„Du siehst ja aus wie eine Piratin, Mama!“

Robin schielte über ihre Schulter auf das Foto, das seine Mutter mit rosa Haaren und einem Totenkopftuch um die Stirn zeigte. Manou zuckte zusammen. Das hatte schon einmal jemand zu ihr gesagt. Sie zwang sich, den Gedanken daran schnell zu verscheuchen. Lachend drehte sie sich um und streckte ihrem Sohn das Kinn entgegen.

„Ist das gut oder schlecht?“

Der Junge zuckte nur die Schultern und griff nach der Cornflakes-Packung auf dem Kühlschrank. Groß war er geworden. Manou kam es vor, als wäre es erst Tage her, dass er auf einen Stuhl hatte klettern müssen, um dort hinzukommen. Vielleicht machte sie sich diese Gedanken nur, weil er ab morgen das erste Mal so lange von ihr getrennt sein würde. Zwei Wochen Ferienlager auf Texel.

Jetzt bloß nicht sentimental werden!

Sie strich mit den Fingern noch einmal sanft über das Foto, das sie seit so langer Zeit zusammen mit unzähligen Erinnerungen an jenen Sommer in einer Kiste im Schrank verstaut hatte. In sicherer Entfernung. Es war Robin gewesen, der sie dazu gebracht hatte, sie wieder hervorzuholen.

„Kenne ich die Freundin eigentlich, bei der du dann bist?“, hatte er gefragt. Der Unterton in seiner Stimme hatte erahnen lassen, dass auch er sich Gedanken darüber machte, was sie in der Zeit ohne ihn tun würde.

„Nein, mein Schatz. Ich hab sie ewig nicht mehr gesehen“, hatte Manou geantwortet und den Arm um den Jungen gelegt.

„Sie wohnt direkt an der Küste. Quasi auf dem Festland gegenüber von euch. Das heißt, wenn irgendwas ist, kann ich im Notfall in unter einer Stunde zu dir auf die Insel kommen!“

„Mama!“ Er hatte die Augen verdreht und ihren Arm beiseitegeschoben. „Ich komm schon klar!“

„Weiß ich doch!“ Sie drückte ihm einen Kuss auf die Haare. „Ich fahr ja nicht zu Anna, um in deiner Nähe zu sein, sondern um Zeit mit den Mädels zu verbringen.“

„Und warum habt ihr das dann nicht schon öfter gemacht?“, fragte Robin mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Ach, manchmal bekommt man es halt einfach nicht hin“, sagte sie, wohlwissend, dass das nur die halbe Wahrheit war.

Anfangs hatten sie noch hin und wieder miteinander telefoniert und Pläne gemacht, wo und wann sie sich wiedersehen würden. Doch dazu gekommen war es nie. Und mit der Zeit hatte sich jede von ihnen mehr und mehr in ihr eigenes Leben zurückgezogen. Umso überraschender war Annas Einladung zu der bevorstehenden Strandparty gewesen. Ihre einstige Lieblingsbar hatte jahrelang leer gestanden und wäre beinahe abgerissen worden. Doch laut Anna hatte sich ein neuer Besitzer gefunden und das ehemalige Surfer’s nannte sich nun Coconut. Die Lokalzeitung hatte schon vor Monaten von der geplanten Eröffnungsfeier berichtet und Anna war die Idee gekommen, dass dies ein gelungener Anlass wäre, ihre alten Freundinnen endlich einmal wiederzusehen.

„Erwachsene sind echt komisch!“ Robin hatte mit den Augen gerollt und sich dann dem Kühlschrank zugewandt.

„Hey, so erwachsen waren wir damals noch gar nicht!“ Manou hatte ihrem Sohn einen spielerischen Schlag in die Seite verpasst und dann die alten Fotos rausgeholt.

Nur dieses eine war gerahmt und nicht wie die anderen achtlos in den Schuhkarton geworfen worden: Vier junge Mädchen strahlten Arm in Arm vor einem perfekten Sonnenuntergang in die Kamera. Die eine schon ein wenig beschwipst vom Wein, die andere mit salzverkrusteten und von der Sonne fast weißen Haaren und eine mit zusammengekniffenen Augen und rausgestreckter Zunge. Und sie selbst. Mit ihren rosa Haaren, die sie mit einem schwarzen Tuch zurückgebunden hatte. Wirklich ein bisschen wie eine Piratenbraut.

Fast kam es Manou vor, als wäre dieses Mädchen auf dem Foto eine Fremde. Jemand, der weit entfernt von ihr ein Leben führte, das sie schon fast vergessen hatte. Es würde ihr guttun, mal wieder etwas nur für sich zu machen, auch wenn ihr immer noch mulmig bei dem Gedanken war, Robin für ganze vierzehn Tage nicht um sich zu haben. Was hatte sie dieses kleine speckige Baby mit seinen großen blauen Augen vom Tag seiner Geburt an vergöttert. Nie hätte sie sich ausmalen können, welche Gefühle so ein winziges Wesen in einem Menschen hervorrufen konnte. Sie hatte sich früher nie wirklich Gedanken darüber gemacht, ob sie jemals Kinder haben wollte. Zu viel von ihrem eigenen Weg war für sie noch unklar gewesen. Doch dann war es einfach so passiert. Zunächst hatte sie das Kind nicht gewollt. Hatte mit dem Gedanken gespielt, es nicht zu bekommen. Doch dann waren ihr die Walmütter eingefallen. Schweinswalweibchen, die ihre Kinder ganz allein bekamen und von da an eine Einheit mit ihnen bildeten. Die kleinen Wale traten nicht wie viele ihrer Artgenossen in großen Gruppen auf. Meist nur zu zweit. Mutter und Kalb. Sie und ihr Kind. Sie und Robin. Es hatte immer nur sie beide gegeben. Und rückblickend war er das Beste, was ihr hatte passieren können. Plötzlich hatte alles einen Sinn gehabt und er war das Wichtigste in ihrem Leben geworden. Und was war sie stolz auf ihren gar nicht mehr so kleinen Jungen. Auch wenn das hieß, dass sie sich allein durchschlagen und für ihren Lebensunterhalt aufkommen musste. Wie oft hatte Robin früher in irgendeinem Personalraum im Reisebett geschlafen, während Manou sich eine weitere Nachtschicht um die Ohren geschlagen hatte. Doch jeder noch so harte, unterbezahlte Job als Kellnerin, Spülkraft oder Putzfrau war es wert gewesen, solange es ihrem Baby dadurch gut ging. Er war ihr ein und alles und sie würde noch immer alles tun, was sie konnte, um ihn zu beschützen. Sie war eine Piratin!

Abermals betrachtete Manou das alte Foto.

Im Hintergrund erkannte man das Meer und einen breiten Sandstrand. Sie wusste genau, wann das Bild aufgenommen worden war. Und wer auf diesem Foto nicht zu sehen war, weil sie hinter der Kamera standen.

„Sieht eigentlich ganz cool aus mit den Haaren“, unterbrach Robin nun cornflakeskauend ihre Gedanken.

Lächelnd schluckte sie ihre Tränen runter.

„Meinst du wirklich?“ Das Zittern in ihrer Stimme war kaum zu überhören.

Robin nickte einfach nur. War vermutlich überrascht, seine Mutter so sentimental zu erleben. Er konnte ja nicht wissen, dass hinter ihren Tränen mehr steckte als die Erinnerung an längst vergangene Zeiten.

Es war das letzte Foto, das sie vier zusammen gemacht hatten. Das letzte Foto, bevor eine von ihnen hatte sterben müssen.

10 Jahre zuvor

Fleur

„Was zur Hölle machen die denn da?“ Manou schob ihre Sonnenbrille von der Nase und zog die Augenbrauen hoch.

„Oh Gott, ich ahne es“, antwortete Fleur, hob den Kopf von ihrem Handtuch und kicherte mit Blick auf die sich an den Muschelbänken brechenden Wellen.

Nadia und Anna bewegten sich im Wasser gefährlich nah darauf zu, ließen sich treiben, obwohl sie locker noch hätten stehen können. Fleur spielte mit den Fingern an ihrer goldenen Kette mit dem kleinen Schweinswalanhänger und schielte hinüber zu dem auf hohen Pfählen stehenden Gebäude der Rettungswacht. Die sonnengebleichte Holzverkleidung und das schneeweiße Dach erweckten den Eindruck, man wäre irgendwo in Miami Beach und durchtrainierte Baywatch-Nixen würden jeden Moment mit ihren roten Badeanzügen daraus hervorstürmen. Von dort oben hatte man die beste Sicht über den breiten Sandstrand und im Sommer war die Station rund um die Uhr besetzt. Immer wieder unterschätzten Badegäste die Unterströmungen, die einen hier an der holländischen Nordsee weit hinaus ziehen konnten, oder schwammen zu nah an die bei Flut unsichtbaren Muschelbänke, an deren scharfen Kanten man sich tiefe Schnitte zuziehen konnte.

Doch Anna und Nadia waren weder ahnungslos noch leichtsinnig, das wusste Fleur. Sie kannten die Lage jeder Muschelbank und wussten mehr als genug über die Strömung. Das aber konnte der junge Mann der Rettungswacht nicht wissen, der gerade am Strand patrouillierte und tatsächlich eine rote Badehose trug. Mit einem schrillen Ton aus seiner Trillerpfeife und wedelnden Armen versuchte er, auf sich aufmerksam zu machen. Sein hautenges, neongelbes UV-Shirt mit der Aufschrift Reddingsbrigade verlieh ihm die nötige Ernsthaftigkeit, als er die zwei zu sich winkte. Nadia war die Erste, die mit gekonnter Unschuldsmiene aus dem Wasser stieg. Natürlich nicht, ohne ihre karamellbraunen Locken gekonnt auszuwringen und nach hinten über die Schulter zu werfen. Die Szene erinnerte Fleur ein wenig an Halle Berrys ersten Auftritt in James Bond und wie Manou schob sie sich die Sonnenbrille zurück auf die Nase, um unbemerkt zu beobachten, was nun passierte. Während Nadia die Ahnungslose spielte und den jungen Mann längst in ein Gespräch verwickelt hatte, kam auch Anna langsam aus dem Wasser und konnte sich ein Grinsen kaum verkneifen. Sie entschuldigte sich kurz und deutete dann Richtung Handtuch. Nadia zupfte ihren korallroten Bikini auf der sonnengebräunten Haut zurecht und zeigte noch ein bisschen mehr Einsatz: Wäre Flirten ein Schulfach gewesen, hätte sie wohl Bestnoten gehabt. So wunderte es niemanden, dass sie dem jungen Mann kurz darauf die Treppen zur Rettungsstation hoch folgte.

Anna ließ sich kichernd auf Manous Handtuch fallen und griff nach ihrem eigenen, um sich die blonden Haare trocken zu rubbeln.

„Ist es das, wonach es aussieht?“ Manou setzte sich auf und strich sich ihre langen rosa gefärbten Haare aus dem Gesicht.

„Sieht aus, als würdest du deine Wette verlieren“, sagte Fleur und rollte sich auf die Seite, wobei eine ganze Ladung Sand an ihrem nackten Bauch kleben blieb.

Manou griff nach einer weißgrauen Muschel, die aus dem feinen Sand hervorlugte, und schleuderte sie gegen Fleurs Ellenbogen. „Noch nicht!“

Anna hingegen warf ihre schulterlange Mähne zurück, steckte eine Sonnenbrille hinein und schob sich einen von den mitgebrachten Biscoff-Keksen in den Mund. „Also, gerade lässt sie sich jedenfalls in aller Ausführlichkeit erklären, wie man auch bei Flut erkennen kann, wo sich die Muschelbänke befinden.“ Sie schob einen weiteren zerkrümelten Keks hinterher.

„Das glaub ich ja wohl nicht!“ Prustend schüttelte Fleur den Kopf. Ihre Freundin war manchmal wirklich unglaublich. Die Position der Muschelbänke war sowohl an den aufgestellten Pfählen im Sand wie auch am Verlauf der Wellen für ein geübtes Auge gut zu erkennen.

Die drei Freundinnen beobachteten Nadia, wie sie an der Brüstung lehnte, aufmerksam den Worten des jungen Mannes lauschte und seinen Handbewegungen folgte, mit denen er ihr zeigte, wo sich die Wellen brachen. Immer wieder setzte sie ihr breites Lächeln auf, berührte ihn ganz ungeniert mit der Hand am Oberarm und zeigte sich offen begeistert über das, was sie längst wusste. Schließlich gehörten die Lektionen über Strömungen, Muschelbänke und Fahrrinnen zu den ersten Dingen, die sie alle bei Friso gelernt hatten. Sicherheit war für ihn ein wichtiges Thema. Schon allein deshalb, weil er die Verantwortung für seine Crew trug.

Fleur, Nadia, Anna und Manou waren für diesen Sommer alle als freiwillige Helfer bei Blue Waves tätig. Das Projekt hatte sich dem Schutz der heimischen Meeressäuger, insbesondere dem der Schweinswale verschrieben. Friso de Jong, ein engagierter Meeresbiologe und leidenschaftlicher Kitesurfer hatte die kleine Organisation vor ein paar Jahren erst aufgebaut und arbeitete mit einem küstenweiten Netzwerk aus Forschungszentren, einer lokalen Auffangstation und Privatpersonen zusammen. Ursprünglich kam Friso aus der Nähe von Zandvoort und war in seiner Jugend in Surferkreisen eine lokale Berühmtheit gewesen. Doch nachdem er wegen einer Knieverletzung den Traum von einer Profikarriere hatte begraben müssen, hatte er sich Hals über Kopf in sein Studium gestürzt und seitdem steckte er alle Kraft in den Schutz seiner geliebten Küste.

Immer wieder engagierten sich auch Anwohner zeitweilig für Blue Waves oder es gab Kooperationen mit anderen Projekten. Da sich das Unternehmen überwiegend über Spendengelder und unregelmäßige kommunale Zuschüsse finanzierte, suchte man aber regelmäßig nach freiwilligen Helfern, die zumindest in den Sommermonaten unentgeltlich dort arbeiten wollten. Jede helfende Hand wurde gebraucht, denn es galt, Daten zu erheben und einzupflegen, die Ausrüstung zu warten, Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben und noch vieles mehr. So oder so zu viele Aufgaben für nur eine Person. Doch das Projekt war mittlerweile eine bekannte Institution für den heimischen Küstenschutz und weckte immer öfter das Interesse von Tourismusverbänden, Einheimischen und anderen Organisationen. Um weitere Mitglieder zu locken, Aufmerksamkeit zu generieren und das Netzwerk auszuweiten, beteiligte sich Blue Waves oft an Aktionen, bei denen es darum ging, Müll zu sammeln, Vögel und das Wattenmeer zu schützen und Feuchtwiesen zu erhalten. Feste Mitarbeiter gab es außer Friso selbst bisher noch keine, doch in diesem Jahr hatte er mit den vier jungen Frauen so viele Helfer wie noch nie aufnehmen können.

Sie hatten sich alle erst vor ein paar Wochen dort kennengelernt und wohnten seitdem zusammen in einem kleinen renovierten Fischerhaus, das Friso als Unterkunft angemietet hatte. Dass er dafür seine eigene Wohnung gekündigt hatte, war eine weitere Sparmaßnahme, um jeden Cent in das Projekt zu stecken.

Heute war für die Mädchen der erste wirklich freie Tag seit Wochen und das Wetter hätte nicht besser sein können. Strahlend blauer Himmel, wenig Wind und eine Sonne, die einen herrlichen Sommertag versprach.

„Ich würde sagen, die erste Runde Sangria heute Abend geht auf dich, Manou.“ Als Nadia mit einem triumphierenden Grinsen zu ihnen zurückkehrte, wedelte sie mit einem kleinen Zettel in ihrer Hand.

Fleur setzte sich auf und warf zwinkernd die weißgraue Muschel zurück zu Manou.

„Hab doch gesagt, ich schaffe es, mir heute noch vorm Mittagessen die Handynummer von nem süßen Typen zu besorgen.“ Nadia legte sich seufzend zurück auf ihr Handtuch und räkelte sich, als wäre sie Teil einer Unterwäschewerbung.

Manou schüttelte lachend den Kopf und streckte ihr die Zunge raus. „Na gut, du hast gewonnen!“

„Und wirst du ihm schreiben?“, wollte Anna wissen, während sie Nadia die Keksdose reichte.

Die zuckte nur die Schultern und nahm sich direkt drei Kekse. „Vielleicht.“ Mit vollem Mund grinste sie. „Vielleicht aber auch nicht. Ich finde, du solltest ihm schreiben, Anna. Schließlich hat er uns beide gerettet!“ Nadia legte theatralisch die Hand an die Stirn und warf ihre Locken zurück. Fleur beobachtete, wie Anna lediglich abwinkte.

Sie war so ein Mensch, den man einfach auf Anhieb mochte. Ihre blauen Augen strahlten so hell wie ein wolkenloser Himmel und mit jedem Tag an der frischen sonnigen Seeluft bekam ihr Gesicht mehr Sommersprossen. Ihre blonden Haare hatten die gleiche Farbe wie der Sand am Strand und wogten im leichten Wind stets wie sanfte Wellen. Sie war jemand, der nur selten Make-up nutzte und doch jeden Morgen frisch aussah. Sie liebte es, schon früh morgens schwimmen zu gehen, wenn die seltene freie Zeit es zuließ. Meist kam sie dann mit tropfnassen Haaren, Shorts und nur einem dünnen Strickpulli über die nackte fröstelnde Haut geworfen zurück und hatte längst Brötchen besorgt, bevor die anderen überhaupt aufgestanden waren. In der Hand hatte sie dann neben Backwaren ihren Bikini und ein Paar Flip-Flops.

„Ne, lass mal. Ich hab erst mal genug von sowas …“ Anna bot auch den anderen beiden die Keksdose an.

„Nur weil du dich gerade erst von diesem Langweiler getrennt hast, heißt das ja nicht, dass du keinen Spaß haben darfst!“, erklärte Nadia und klimperte mit den langen Wimpern, die ihre kastanienbraunen Augen einrahmten und die mit das Erste gewesen waren, was Fleur an ihr aufgefallen war.

So war Nadia: Immer gerade heraus mit ihrer Meinung. Und wenn sie ihr breites Grinsen aufsetzte, fiel es schwer, ihr etwas krummzunehmen. Vielleicht waren das genau die beiden Eigenschaften, die sie für ihren späteren Job brauchen würde. Nadia studierte Journalismus in Den Haag und war für ihre Bachelorarbeit hergekommen, um über den aktuellen Zustand und die Bedrohungen für das Wattenmeer zu schreiben. Deshalb hatte sie sich auch für diesen Sommer Blue Waves angeschlossen. Um Feldforschung zu betreiben, wie sie es nannte. Die Nordsee war nicht unbedingt ihr Lieblingsreiseziel, hatte sie ihnen erzählt, doch das begehrte Stipendium für Neuseeland hatte sie nicht ergattern können und sich darum etwas gesucht, das zumindest irgendwie mit Whale Watching, Strand und Sonne zu tun hatte.

„Hat noch wer Hunger?“, fragte Fleur mit Blick auf den Imbisswagen mit den wehenden gelb-roten Fähnchen.

„Auf jeden Fall! Aber erst muss ich mich abkühlen, bevor ich hier noch schmelze!“ Manou trank einen großen Schluck aus ihrer inzwischen sicherlich warm gewordenen Wasserflasche.

„Bin dabei!“ Fleur erhob sich und klopfte den Sand von ihrer Haut. Das kalte Wasser lockte auch sie.

„Gute Idee!“ Auch Anna legte ihre Sonnenbrille ab und sah Nadia fragend an.

„Ich lass mich erst mal ein bisschen von der Sonne trocknen“, lehnte diese ab.

„Besser ist es! Nicht dass du uns alle wieder auf die Muschelbänke treibst!“ Manou boxte sie neckend in die Seite und erntete einen Stinkefinger samt Luftkuss als Reaktion. Dann zog sie ihren blau-weiß gestreiften Bikini zurecht und folgte den anderen. Im Laufen band sie sich die langen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen, was für Fleur den Blick auf ihr Tattoo freigab: ein Vogelschwarm, der sich von der rechten Hüfte bis über den Rücken zur linken Schulter hochzog. Küstenseeschwalben, die Vögel, die die weiteste Flugroute im Tierreich zurücklegten. Einmal vom Nordpol zum Südpol und wieder zurück. Immer ein klares Ziel vor Augen, egal wie weit sie von Wind und Wetter abgetrieben wurden. Manchmal wünschte Fleur sich, dass sie das auch könnte.

Heute

Nadia

Noch bevor Manou die Beifahrertür des schwarzen Mini Coopers wirklich geöffnet hatte, entfuhr Nadia ein Kreischen und sie zog Manou mit einem überschwänglichen Ruck an der Hand endgültig in das Innere des Wagens.

„Ich freu mich so, dich zu sehen!“ Sie drückte ihre alte Freundin fest an sich und warf danach sofort einen Blick in den Rückspiegel, um die Sonnenbrille in ihren karamellbraunen Locken zu richten.

„Ich mich auch!“ Manou lächelte, aber dunkle Augenringe verrieten ihre Müdigkeit.

„Ich dachte, du bist mittlerweile blond?“ Nadia strich Manou mit ihren langen Nägeln durch die frisch gefärbten rosa Strähnen.

„Aus deinem Mund klingt das sofort wie was Schlechtes!“, neckte Manou ihre Freundin und die hob sofort protestierend den Finger.

„Das hab ich nicht gesagt!“

„Robin hat die alten Fotos gesehen und meinte, ich sähe aus wie ne Piratenbraut! Das hieß in seiner Sprache wohl, dass seine Mama mal ziemlich cool war.“ Manou betrachtete sich im Außenspiegel.

„Der Junge hat Geschmack“, ließ Nadia sie mit einem Zwinkern verstehen, dass ihr die Entscheidung gefiel. „Gott, wie alt ist der Kleine jetzt?“ Sie startete den Motor und sie verließen den Bahnhof. Für sie war es noch immer kaum zu glauben, dass ihre Freundinnen inzwischen Kinder hatten.

„Wird nächstes Jahr zehn.“ Manou presste die Lippen aufeinander. Sie konnte es wohl selbst kaum glauben.

Nadia schüttelte nur den Kopf und schob die Sonnenbrille von der Nase. „Verdammt, sind wir alt geworden!“, flüsterte sie dann und warf ihrer Beifahrerin einen Blick zu, der um strenge Geheimhaltung dieser Tatsache bat. Dann kicherten beide wie Teenager und Nadia zog etwas aus dem Seitenfach ihrer Tür. „Darauf stoßen wir an!“ Sie warf Manou eine Dose Desperados zu und öffnete sich selbst eine Cola Zero.

„Wie immer bestens vorbereitet, was?“

Nadia pustete ihr einen Luftkuss zu. „Daran hat sich nichts geändert!“

„Auf uns!“, prostete Manou, legte genüsslich den Kopf zurück und schloss die Augen.

Nadia beobachtete sie einen Moment, während am Fenster endlose Felder, Kuhwiesen, blühende Blumenreihen und unzählige Autos an ihnen vorbeiflogen. Niemals hätte sie damals gedacht, wie sehr ihr diese Gegend ans Herz wachsen würde, nachdem sie so enttäuscht gewesen war, Neuseeland gegen Nordholland eintauschen zu müssen. Und genauso wenig hatte sie ahnen können, welche Folgen ihre Zeit hier haben würde.

Die nächsten Kilometer beantwortete Nadia bereitwillig Manous Fragen zu ihrem Job bei einer großen Modezeitung und ihrem Leben in Den Haag. Sie sprachen über das Wetter und den ersten Cocktail, den sie heute Abend trinken würden. Doch je näher sie ihrem Ziel kamen, umso unruhiger rutschte Manou auf ihrem Sitz herum. Und auch Nadias Herz begann, schneller zu klopfen, und ihr Magen zog sich mehr und mehr zusammen. Da half es auch nicht, einfach immer weiter zu plappern, denn Manou antwortete kaum noch. Als Nadia einen Moment zu ihr hinübersah, bemerkte sie die Träne, die Manou gekonnt weg blinzelte.

War es wirklich eine gute Idee gewesen, sich auf diesen Trip einzulassen?

„Schon komisch, nach so langer Zeit wieder zurückzukehren, oder?“

Manou fuhr das Fenster herunter und atmete tief ein. Ein Schatten huschte über ihr Gesicht, während sie nickte.

Nadia drehte die Musik auf und drückte aufs Gas. Je schneller sie ankämen, umso weiter weg war die Versuchung, einfach wieder umzudrehen.

10 Jahre zuvor

Anna

Als Anna in den überfüllten Zug zugestiegen war, war der einzige freie Sitz im Abteil der neben der jungen Frau mit den rosa Haaren gewesen. Erst eine Station, bevor sie aussteigen mussten, hatten die beiden festgestellt, dass sie die nächsten Monate unter einem Dach verbringen sollten. Anna war gerade erst mit dem Abi fertig geworden und wollte ein Jahr lang bei Blue Waves arbeiten, um etwas für ihre geliebte Küste zu tun und herauszufinden, was sie danach machen würde. Vielleicht irgendwas mit Kindern oder Tieren, vielleicht aber auch im Bereich Ökologie und Umweltschutz.

Sie war nicht weit entfernt von dem kleinen Küstenort aufgewachsen. Doch der Biohof ihrer Eltern hatte am Ende nicht mehr genug abgeworfen, sodass die Familie hatte wegziehen müssen. Anna trauerte ihrer Kindheit in den endlosen Dünen und Feuchtwiesen und an den windumtosten Sandstränden hinterher, weshalb dies die passende Gelegenheit gewesen war, zurückzukehren.

Ihre Oma lebte noch immer in der Nähe und wartete mit ihrem feuerroten VW-Käfer am Bahnhof, um ihre Enkelin zu ihrer neuen Bleibe zu begleiten. Auch wenn sie sich seit gerade einmal einer Stunde kannten, stand für Anna außer Frage, dass sie Manou mitnehmen würden.

Ihre Fahrerin stieß nur ein verwundertes „Oh!“ aus, als Anna ihre Begleitung vorstellte, und hievte prompt den zweiten Koffer auf die Rückbank.

„Schön, dass du schon eine Freundin gefunden hast, meine Kleine!“ Die Frau mit der grauen Dauerwelle lächelte sanft. In ihrer spitzenbesetzten weißen Bluse und dem Blumenrock, dessen Muster auch von englischen Polstermöbeln hätte stammen können, wäre sie zweifelsfrei der perfekte Gast für eine Tee-Party gewesen. Nur die ausgetretenen Gartenschlappen passten nicht ganz ins Bild. Genau so kannte Anna ihre Oma.

„So musst du wenigstens nicht mehr so traurig sein wegen diesem Jungen.“ Faltige Finger mit zahlreichen Ringen strichen über Annas Wangen.

„Aber ich bin doch gar nicht traurig!“ Anna breitete die Arme aus und sah mit roten Wangen in Manous Richtung. „Schließlich hab ich mich getrennt!“

Es lag wohl in der Natur von Großeltern, dass sie ein Leben lang mit ihren Enkeln sprachen, als wären sie noch immer die kleinen Kinder, die nur einen Streit mit den Nachbarsjungen gehabt hatten. Anna und Phillip waren seit ihrer Teenagerzeit ein Paar gewesen, doch manchmal entwickelten sich Leben einfach in verschiedene Richtungen. Er hätte am liebsten geheiratet und Kinder bekommen, doch Anna war noch nicht bereit dazu gewesen.

„Dann war es wohl besser so!“ Mit diesen Worten rettete Manou Anna vor weiterem Mitleid und stieg in den Wagen.

„Dein Großvater und ich hatten am Anfang auch nicht nur Friede, Freude, Eierkuchen …“ Anna sah genau, dass ihre Großmutter in Erinnerungen zu schwelgen begann, als sich das Auto tuckernd in Bewegung setzte.

Sie verließen den Trubel der Stadt und fuhren die Küstenstraße entlang, vorbei an hohen Dünen, hinter denen bereits das Meer lag. Möwen kreisten am Himmel, dessen Blau von ein paar Schäfchenwolken durchzogen war. Nach und nach kamen die ersten Häuser in Sicht. Üppig blühende Vorgärten und saftig grüne Wiesen säumten die schmalen Straßen des Ortes. Eine weiße Holzbrücke führte über einen Wasserlauf zu opulenten Villen mit reetgedeckten Dächern. Ein riesiger Golfplatz lag hinter einem Zaun. Ferienhäuser wurden auf Schildern angepriesen und immer wieder entdeckte man kleine Pensionen und Bed & Breakfast-Angebote. Sie passierten den kleinen Dorfkern, der außer ein paar Cafés, einem Supermarkt, zwei Bäckern, drei Imbissbuden und einer Pizzeria nicht viel zu bieten hatte. Dennoch tummelten sich dort etliche Touristen mit Bollerwagen, Einheimische auf Fahrrädern und Marktverkäufer hinter bunten Ständen, die die beginnende Urlaubssaison für sich nutzen wollten. Die Straße, in die sie einbogen, war deutlich ruhiger und wirkte mit ihren alten Fischerhäuschen ein bisschen wie aus der Zeit gefallen. Das Kopfsteinpflaster ließ den Wagen ordentlich holpern und sie mussten für eine dösende Katze bremsen, die nur widerwillig Platz machte.

Nach einer Reihe gut gemeinter Ratschläge und unzähligen Bitten, doch ja immer gut aufzupassen und sich warm anzuziehen, hielten sie vor einem kleinen Haus mit weißen Holzfensterrahmen und Anna verabschiedete ihre Oma mit einem dicken Schmatzer auf die Wange.

„Danke fürs Mitnehmen.“ Manou drückte ihre Hand und die alte Frau winkte ab. Um ihre Augen zeichneten sich zahlreiche Lachfältchen ab, als sie den beiden Mädchen eine schöne Zeit wünschte. Nicht ohne ihnen dabei noch einen in Alufolie gewickelten Teller mit selbstgebackenem Kuchen in die Hand zu drücken.

Anna liebte diese Fürsorglichkeit anderen gegenüber an ihrer Großmutter und hatte sich schon in ihrer Kindheit viel von ihr abgeguckt. Heute war meist sie es, die ihre Freunde und Bekannten mit selbstgemachtem Proviant und Snacks versorgte.

Sie war es auch, die stets für alle sorgte und sich darum kümmerte, dass sie nach Hause kamen. Nur ein einziges Mal war sie unaufmerksam gewesen …