Leseprobe Nur ein Earl kann helfen

Kapitel 1

Die dunklen Fenster der uralten Ruine stellten eine stumme Warnung dar vor der Stimmung des Herrn des Hauses.

Kapitel eins, Die Ruine von Mrs. Amelia York

Der Irre Monk von Monkcrest grübelte vor dem Feuer.

Es war ein Gefühl, als stünde er am Rande eines Brunnens und starrte hinunter in die dunklen Wasser der Melancholie. Er war noch nicht in die Tiefe gestürzt, aber in letzter Zeit spürte er gelegentlich, dass sein Gleichgewicht beunruhigend aus dem Lot geriet.

Viele Jahre lang hatte er der Versuchung, in die Schatten zu schauen, widerstanden. Seine wissenschaftlichen Studien, gepaart mit der Aufgabe, zwei temperamentvolle, mutterlose Söhne aufzuziehen, hatten dafür gesorgt, dass seine Aufmerksamkeit auf wichtigere Angelegenheiten fixiert blieb.

Aber vor eineinhalb Monaten waren sein Erbe, Carlton, und sein jüngerer Sohn in Gesellschaft ihres alten Erziehers zum Kontinent aufgebrochen. Sie machten die Grand Tour. Der Irre Monk war überrascht, wie leer die alten Räume von Monkcrest neuerdings waren. Er war jetzt allein, bis auf sein getreues Personal und seinen großen Jagdhund Elf. Er wusste, wenn Carlton und William zurückkehrten, würde es nie mehr so sein wie früher. Seine Söhne, siebzehn und neunzehn, standen an der Schwelle zum Mannstum. Sie waren stark, intelligent und unabhängig, junge Adler, bereit, sich allein in die Lüfte zu schwingen.

Er wusste, dass er die Neigung, in die Schatten zu schauen, im Blut trug, vererbt von seinen Ahnen, dieser langen Reihe von Männern, die vor ihm den Titel des Earl of Monkcrest trugen. Und einige von ihnen waren verantwortlich für den unglückseligen Beinamen, der die anderen verfolgte: die Irren Monks. Der große Jagdhund streckte sich vor dem Feuer, regte sich, als spüre er die Unruhe seines Herrn. Das Tier hob seinen massigen Schädel und fixierte Leo Drake mit beunruhigend direktem Blick.

»Das ist das Gewitter, Elf. Diese ganze Energie lädt die Atmosphäre mit Elektrizität auf. So was muss auf einen Mann von meinem Temperament eine ungesunde Auswirkung haben.« Die Erklärung befriedigte Elf scheinbar nicht, aber er senkte dennoch den Kopf wieder auf seine riesigen Pfoten. Die Metallnieten auf dem breiten Lederband um seinen dicken Hals blitzten matt im flackernden Feuerschein. Leo musterte die silbernen Flecken in den Haaren um Elfs Schnauze. Vor Kurzem hatte er beim Rasieren ähnliche Eissplitter in seinen eigenen dunklen Haaren entdeckt. »Hältst du es für möglich, dass wir alt werden, Elf?« Elf schniefte leicht angewidert. Es war ihm zu mühsam, die Augen zu öffnen.

»Dem Himmel sei Dank. Du nimmst mir eine Last von der Seele.« Leo ergriff sein fast leeres Glas Brandy vom Tisch neben sich und trank einen Schluck. »Einen Augenblick lang war ich ein bisschen besorgt.«

Draußen heulte der Wind. In der vergangenen Stunde hatte ein Gewitter seine üble Laune an den Mauern der uralten Abtei, in der die Irren Monks seit Generationen lebten, ausgelassen. In der Ferne zuckten immer noch gelegentlich Blitze, tauchten die Bibliothek in unheimliches Licht, aber das Schlimmste war vorbei. Der Zorn der Elemente ließ nach. Leo stellte sich der Tatsache, dass in letzter Zeit seine Studien der esoterischen Legenden antiker Zivilisationen ihn immer weniger von den unerfreulichen Wassern des Brunnens ablenken konnten.

»Vielleicht liegt das Problem darin, dass ich zu viele Studien betreibe, Elf. Vielleicht ist es an der Zeit, dass wir wieder jagen.«

Elfs Schwanz klopfte auf den Boden, in vollkommenem Einverständnis mit diesem Vorschlag.

»Unglücklicherweise hatten wir seit Monaten keine interessante Beute mehr in dieser Gegend.« Leo trank noch einen Schluck Brandy. »Nichtsdestotrotz muss ich etwas finden, das mich amüsiert, sonst ende ich wie einer dieser Charaktere in diesen Gruselromanen, die in den Leihbibliotheken so beliebt sind.«

Elf zuckte mit einem Ohr. Leo vermutete, dass sein Jagdhund wahrscheinlich noch weniger Interesse an den Geschichten von Romantik, Grauen und dunklen Geheimnissen hatte als er selbst.

»Ich seh mich schon, wie ich die Nächte damit verbringe, von einem leeren, verfallenen, von Spinnweben verhangenen Raum in den nächsten zu wandern, auf der Suche nach Gespenstern und seltsamen Erscheinungen in den Schatten. Und währenddessen warte ich darauf, dass die schöne, hilflose Heldin in meine Finger gerät.«

Die Vorstellung einer schönen, hilflosen Heldin in seinen Fingern machte seine Laune auch nicht besser. Um ehrlich zu sein, er hatte seit sehr langer Zeit keine Frau, ob hilflos oder nicht, in seinen Fingern gehabt.

Vielleicht war es dieser unglückliche Umstand, der ihn heute Abend so ruhelos machte.

Er warf einen Blick auf seine schwer beladenen Bücherregale. Nichts davon interessierte ihn. Die Langeweile war scheinbar bis in seine Knochen eingedrungen. Er überlegte, ob er sich noch einen Brandy eingießen sollte. Elf regte sich und hob den Kopf. Diesmal sah er Leo nicht an. Seine Aufmerksamkeit richtete sich auf das Bibliotheksfenster.

»Hast du Angst vor dem Gewitter? Du hast schon schlimmere erlebt.«

Elf ignorierte ihn. Der Hund erhob sich gemächlich und blieb ein paar Sekunden reglos stehen. Dann tappte er zum Fenster. Seine großen Pfoten machten kein Geräusch auf dem Orientteppich.

Leo runzelte die Stirn. Der Hund spürte, dass sich jemand Monkcrest Abbey näherte. Mitten in der Nacht während eines der schlimmsten Frühjahrsgewitter. »Unmöglich«, sagte Leo. »Niemand würde es wagen, ohne eine Einladung von mir hierherzukommen. Und ich habe keine mehr ausgesprochen, seit ich den Fehler gemacht habe, diesen Idioten Gilmartin letzten Monat zu empfangen.« Er verzog das Gesicht bei dem Gedanken an diesen kurzen Besuch. Charles Gilmartin hatte behauptet, ein Gelehrter zu sein, aber wie sich herausstellte, war er nicht nur ein Scharlatan, sondern auch ein Narr. Und mit beiden hatte Leo nicht die geringste Geduld. Ihm kam der Gedanke, dass er wirklich nach intelligenter Gesellschaft ausgehungert sein musste, weil er seine Zeit mit diesem Mann verschwendet hatte. Ein weiterer, entfernter Blitz erhellte den Nachthimmel, und er wurde begleitet  nicht von einem Donnerschlag  sondern vom gedämpften Geklapper von Kutschenrädern auf dem Pflaster des Vorhofs.

Jemand hatte tatsächlich die Unverfrorenheit, unangemeldet in der Abbey zu erscheinen.

»Verflucht.« Leo packte den zerbrechlichen Hals der Kristallkaraffe und goss sich Brandy ins Glas. »Wer immer er ist, er wird ohne Zweifel erwarten, dass ich ihm für die Nacht Zuflucht gewähre, Elf.« Elf starrte stumm aus dem Fenster. »Finch wird ihn schon loswerden.«

Finch hatte begonnen in Monkcrest Abbey zu arbeiten, als Leo noch ein Junge war. Er hatte sehr viel Übung darin, ungewollte Besucher abzuweisen. Die Legende von Monkcrest besagte, die Irren Monks wären notorisch unhöflich. In den Geschichten über ihre schlechten Manieren lag mehr als nur ein Körnchen Wahrheit. Die Herren von Monkcrest Abbey pflegten eine lange Tradition, denjenigen aus dem Weg zu gehen, die drohten, sie zu langweilen. Diese Einstellung war nicht gerade förderlich für ein aktives gesellschaftliches Leben.

Elf knurrte leise. Nicht sein übliches warnendes Knurren, wie Leo bemerkte. Es klang mehr nach hündischer Neugier. Draußen hielt die Kutsche an. Hufe tänzelten über die Steine. Ein Kutscher schrie, verlangte Hilfe mit den Pferden. »Beweg deinen Hintern, Mann. Ich hab eine angesehene Dame und ihre Zofe in dieser Kutsche. Beeil dich. Der verfluchte Blitz macht die Pferde nervös.«

Leo erstarrte. »Eine Lady? Was zum Teufel meint er damit?«

Ohren wurden gespitzt. Elf starrte immer noch eindringlich das Fenster an.

Leo setzte widerwillig sein Brandyglas ab, erhob sich und schritt zum Fenster. Er stellte sich neben Elf und legte seine Hand auf den breiten Kopf des Tiers. Ein Stockwerk tiefer herrschte ungewöhnliche Geschäftigkeit im Hof der Abtei. Die Kutschenlampen enthüllten die Silhouette eines kleinen, schlammbespritzten Gefährts. Zwei Knechte mit Laternen kamen aus den Stallungen, um das Gespann zu übernehmen. Der Kutscher, in ein voluminöses Cape gehüllt, stieg von seinem Bock und öffnete den Schlag.

»Wer immer das sein mag, man hat ihnen eine schlechte Wegbeschreibung gegeben«, sagte Leo zu Elf. »Finch wird das bald regeln und sie wieder wegschicken.« Unten erschien Finch auf der Vordertreppe der Abbey. Der ältliche Butler hatte es sich offensichtlich in der Küche bequem gemacht und hielt die Reste eines Käsestücks in der einen Hand. Mit der anderen Hand knöpfte er sich hastig die Jacke über seinem stattlichen Bauch zu.

Finch schob sich das letzte Stück Käse in den Mund und begann mit den Armen zu wedeln. Seine Worte waren etwas undeutlich wegen seines vollen Mundes und dem geschlossenen Fenster, aber Leo konnte sie verstehen. »He, was soll das?« Finch stieg die Treppe hinunter. »Für wen haltet Ihr Euch denn, dass Ihr zu so unchristlicher Stunde hier ankommt?«

Getrieben von wachsender Neugier, öffnete Leo das Fenster, um besser hören zu können. Es hatte fast aufgehört zu regnen, aber der tobende Wind trug immer noch so viel Nässe mit sich, dass sein Haar feucht wurde. Elf steckte die Nase aus dem Fenster, um die Nachtluft zu kosten. »Ihr habt Besucher, Mann.« Der Kutscher streckte den Arm aus, um dem Passagier aus der Kutsche zu helfen. »Das ist der Wohnsitz des Earl of Monkcrest«, verkündete Finch. »Ihr habt Euch in der Adresse geirrt.« Bevor der Kutscher antworten konnte, stieg eine Frau, deren Gesicht durch die Kapuze ihres Umhangs verdeckt war, aus der Kutsche. Finchs unfreundliche Begrüßung schien sie nicht im Geringsten einzuschüchtern.

»Im Gegenteil«, erklärte sie mit kühler, klarer Stimme, die keinen Widerspruch duldete. »Monkcrest Abbey ist unser Ziel. Habt die Güte, Seiner Lordschaft mitzuteilen, dass er Gäste hat. Ich bin Mrs. Beatrice Poole. Ich habe meine Zofe dabei. Wir werden die Nacht hier verbringen.« Finch richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Er überragte Beatrice Poole, die, wie Leo bemerkte, nicht sonderlich groß war. Doch was ihr an Größe fehlte, machte sie mit befehlsgewohntem Gehabe wett, das Wellington alle Ehre gemacht hätte.

»Seine Lordschaft empfängt keine unangemeldeten Gäste«, krächzte Finch.

»Unsinn. Er wird mich empfangen.«

»Madam —«

»Ich versichere Euch, ich werde nicht abreisen, ehe ich nicht mit ihm gesprochen habe.« Beatrice warf einen Blick in die Kutsche. »Komm, Sally. Wir haben dieses Gewitter lange genug ertragen. Solches Wetter mag sich ja als Hintergrund für einen Roman eignen, aber im wahren Leben ist es doch sehr lästig.«

»Das ist eine Tatsache, Madam.« Eine mollige, stämmige Frau ließ sich aus der Kutsche helfen. »Ist kein gut Nacht für Mensch oder Tier, n'est-cepal.«

Leo zog die Augenbrauen hoch. Der französische Akzent war grauenhaft schlecht. Er würde jede Wette eingehen, dass Sally, wer immer sie war, nicht eine Stunde ihres Lebens in Frankreich verbracht hatte.

»Bald werden wir in Wärme und Trockenheit sein«, sagte Beatrice.

»Halt.« Finch breitete die Arme aus, um den Zugang zur Haustreppe zu versperren. »Ihr könnt euch nicht einfach selbst nach Monkcrest Abbey einladen.«

»Ich bin ganz bestimmt nicht diesen weiten Weg gekommen, um mich abweisen zu lassen«, informierte ihn Beatrice. »Ich habe Geschäftliches mit seiner Lordschaft zu besprechen. Wenn Ihr uns nicht auf angemessene Weise ins Haus begleiten wollt, dann habt die Güte, beiseite zu treten.«

»Seine Lordschaft gibt hier die Befehle«, sagte Finch in seinem abweisendsten Ton.

»Ich bin überzeugt, wenn er wüsste, was hier draußen passiert, würde er Euch sofort befehlen, uns in sein Heim zu bitten.«

»Was nur beweist, wie wenig Ihr über seine Lordschaft wisst«, erwiderte Finch.

»Ich habe gehört, dass der Earl of Monkcrest ein bekannter Exzentriker ist«, sagte Beatrice. »Aber ich weigere mich, zu glauben, dass er zwei unschuldige erschöpfte Frauen dem klaffenden Rachen dieses grässlichen Gewitters ausliefern würde.«

»Die Lady hat einen Hang zu dramatischen Redewendungen, nicht wahr?« Leo kraulte gedankenverloren Elfs Ohren. »Etwas sagt mir, dass unsere Mrs. Poole weder hilflos noch unschuldig ist. Und sonderlich erschöpft scheint sie auch nicht zu sein.« Elf stellte ein Ohr auf.

»Jede Lady, die es wagt, in einer solchen Nacht uneingeladen nach Monkcrest zu kommen, und nur von ihrer Zofe begleitet wird, ist keine zarte Blume.« Elf bewegte sich näher zum offenen Fenster. Finch ging mit ausgebreiteten Armen rückwärts die Treppe hoch. »Madam, ich muss darauf bestehen, dass Ihr wieder in Eure Kutsche steigt.«

»Macht Euch nicht lächerlich.« Beatrice stapfte mit der Entschlossenheit eines Feldmarschalls auf ihn zu. Leo lächelte. »Der arme Finch hat keine Chance, Elf.«

»Hören Sie.« Verzweiflung machte sich in Finchs Stimme bemerkbar. »Da gibt es ein Gasthaus am Rand des Dorfes. Dort könnt Ihr die Nacht verbringen. Ich werde Seine Lordschaft informieren, dass Ihr ihn morgen früh sprechen wollt. Wenn er einverstanden ist, schick ich Euch eine Nachricht.«

»Ich werde die Nacht unter diesem Dach verbringen und auch diejenigen, die mich begleiten.« Sie wedelte mit der Hand in Richtung Kutscher. »Bringt John in ein sauberes, trockenes Quartier. Außerdem braucht er einen Krug Bier und eine warme Mahlzeit. Ich fürchte, der tapfere Mann hat während dieser ekelhaften Fahrt das schlimmste abgekriegt. Ich möchte nicht, dass er sich erkältet. Meine Zofe wird natürlich bei mir bleiben.«

Der Kutscher bedachte Finch mit einem triumphierenden Grinsen.

»Ich brauch nichts Feines. Ein paar Scheiben Schinken, ein Stückchen Aalpastete, wenn was da ist, und das Bier reichen. Obwohl ich gern was Süßes mag.«

»Sorgt dafür, dass er einen Pudding bekommt und alles andere, was er braucht«, sagte Beatrice. »Das hat er sich nach dem unglücklichen Vorfall mit dem Straßenräuber verdient.«

»Straßenräuber?« Finch starrte sie ungläubig an. »Es war ein furchtbares Erlebnis.« Sally legte eine Hand an den Hals und erschauderte sichtlich. »Solch Schurken, sie schrecken nicht davor zurück, unschuldige Frauen zu schänden wie Madam und moi, wissen Sie. Verdammter Dusel, dass wir nicht ...«

»Das reicht, Sally.« Beatrice unterbrach sie kühl. »Wir müssen die Geschichte nicht noch melodramatischer machen. Wir haben es beide unbeschadet überstanden.«

»Was ist das für eine Geschichte von einem Straßenräuber?«, fragte Finch. »Auf Monkcrest-Land gibt es keine Straßenräuber. Keiner würde es wagen, hierherzukommen.«

»Ja, wie war das mit dem Straßenräuber?«, wiederholte Leo leise. Er lehnte sich weiter aus dem Fenster. »Der Dieb hat sich auf der anderen Seite des Flusses betätigt«, erklärte Beatrice. »Gleich hinter der Brücke. Ein bösartiger Kerl. Glücklicherweise hatte ich meine Pistole bei mir, und John war auch bewaffnet. Gemeinsam gelang es uns, ihn zu entmutigen.«

Der Kutscher grinste Finch an. »Der Schurke hat mich kaum beachtet, müsst Ihr wissen. Es war Mrs. Poole, die ihn das Fürchten gelehrt hat. Ich glaub, der hat es noch nie mit einer Lady mit einer Pistole zu tun gehabt. Jetzt wird er sich's vielleicht überlegen, bevor er noch mal eine Kutsche ausraubt.« Finch interessierten diese Details nicht. »Wenn Ihr ihm auf der anderen Seite des Flusses begegnet seid, dann war er nicht auf Monkcrest-Land.«

»Ich versteh nicht, was das für einen Unterschied machen soll«, sagte Beatrice. »Straßenräuber bleibt Straßenräuber.«

»Solange er sich von Monkcrest-Land fernhält, ist es nicht notwendig, dass Seine Lordschaft sich mit dem Problem befasst«, sagte Finch.

»Wie praktisch für Seine Lordschaft«, erwiderte Beatrice. »Madam, wie mir scheint, begreift Ihr die Situation nicht«, sagte Finch bissig. »Seine Lordschaft ist in gewissen Dingen sehr eigen.«

»Genau wie ich. Nachdem Ihr John versorgt habt, seid bitte so gut und schickt Sally und mir ein Tablett mit heißem Tee und etwas Sättigendem. Wenn wir uns erfrischt haben, werden wir Seine Lordschaft sprechen.«

»Sei so gut und stell eine Flasche Gin auf das Tablett, s'ilvousplait«, sagte Sally. »Für medizinische Zwecke.« Beatrice raffte ihre Röcke und schickte sich an Finch zu umrunden. »Würdet Ihr die Güte haben, aus dem Weg zu gehen?«

»Monkcrest Abbey ist kein verdammtes Gasthaus, Mrs. Poole«, brüllte Finch.

»Wenn dem so ist, sollten die Bedienung und das Essen wesentlich besser sein als das, was wir unterwegs ertragen mussten. Habt die Güte, Seine Lordschaft davon in Kenntnis zu setzen, dass ich in einer halben Stunde bereit sein werde, ihn zu sehen.«

In diesem Moment fing sich der Wind in Beatrice' Kapuze und zog sie ihr vom Gesicht. Zum ersten Mal sah Leo ihr Antlitz im Licht, das sich aus der offenen Tür ergoss. Er konnte ein klares Profil erkennen, mit hoher, intelligenter Stirn, einer energischen Nase und einem elegant geschwungenen Kinn, bevor sich Beatrice die Kapuze wieder über den Kopf zog. Er kam zu dem Schluss, dass sie Ende Zwanzig, gefährlich nahe an dreißig war, und sehr geschickt im Einsatz ihres angeborenen Talents der Autorität. In jedem Fall eine Frau von Welt. Die Sorte, die immer ihren Kopf durchsetzte.

»Seiner Lordschaft sagen, dass Ihr ihn in einer halben Stunde sehen werdet?« Finch senkte den Kopf und zog die Schultern hoch wie ein Stier, der zum Angriff ansetzt. »Seine Lordschaft lässt sich nicht wie ein verfluchter Lakai herumkommandieren, Madam.«

»Gütiger Himmel, es würde mir nicht im Traum einfallen, dem Earl of Monkcrest Befehle zu erteilen«, sagte Beatrice gelassen. »Aber ich hätte gedacht, Seine Lordschaft wäre daran interessiert, was unter seinem Dach vorgeht.«

»Ich kann Euch versichern, Madam, dass Seine Lordschaft Methoden hat, alles zu erfahren, was in seinem eigenen Haus und den Ländereien von Monkcrest vor sich geht«, sagte Finch in bedrohlichem Ton. »Methoden, die außerhalb des Begriffsvermögens gewöhnlicher Leute liegen, wenn Ihr wisst, was ich meine.«

»Ich darf annehmen, dass Ihr damit auf die interessanten Gerüchte anspielen wollt, dass Seine Lordschaft sich mit übernatürlichen Dingen befasst. Ich persönlich glaube kein Wort davon.«

»Das solltet Ihr aber, Madame. Um Euer selbst willen.« Beatrice kicherte. »Versucht nicht, mir Angst einzujagen, mein Guter. Das ist Zeitverschwendung. Ich bezweifle nicht, dass die hiesigen Dorfbewohner solche Geschichten genießen. Aber ich betrachte mich als Autorität für solche Dinge und schenke dem Unsinn, den ich gehört habe, keinen Glauben.« Leo runzelte die Stirn. »Eine Autorität? Was zum Teufel meint sie denn damit?« Elf schnüffelte.

Unten im Vorhof war Beatrice offensichtlich mit ihrer Geduld am Ende. »Sally, wir werden keinen Augenblick länger hier herumstehen. Lass uns hineingehen.« Sie bewegte sich so flink, dass Finch völlig überrumpelt war. Leo beobachtete mit widerwilliger Bewunderung, wie sie geschickt den Butler umrundete, die Steintreppe hinaufrauschte und durch die Tür in die Eingangshalle verschwand. Sally folgte ihr dicht auf den Fersen. Finch starrte den beiden mit offenem Mund nach. Der Kutscher schlug ihm mitfühlend auf die Schulter. »Mach dir keine Vorwürfe, Mann. In der kurzen Zeit, in der ich in ihren Diensten stehe, habe ich entdeckt, dass Mrs. Poole eine Naturgewalt ist. Wenn sie einmal einen Kurs eingeschlagen hat, geht man ihr am besten aus dem Weg.«

»Wie lange bist du schon bei ihr?«, fragte Finch ratlos. »Sie hat mich erst gestern Morgen angeheuert, damit ich sie nach Monkcrest bringe. Aber das ist lang genug, um einiges über die Dame zu erfahren. Eines muss ich ihr lassen, im Gegensatz zu den meisten feinen Leuten sorgt sie für ihr Personal. Wir haben unterwegs gut gegessen. Und sie schreit und flucht nicht wie einige, die ich nennen könnte.«

Finch starrte auf die leeren Stufen. »Ich muss etwas unternehmen. Seine Lordschaft wird außer sich vor Wut sein.«

»An deiner Stelle würde ich mir keine Sorgen wegen deinem Herrn machen«, sagte der Kutscher fröhlich. »Mrs. Poole wird schon mit ihm fertig, auch wenn er ein bisschen seltsam ist, wie einige behaupten.«

»Du kennst Seine Lordschaft nicht.«

»Nein, aber, wie ich schon sagte, ich weiß ein bisschen was über Mrs. Poole. Dein Irrer Monk hat seinen Meister gefunden.«

Leo trat zurück und schloss das Fenster. »Der Kutscher könnte recht haben, Elf. Ein umsichtiger Mann sollte im Umgang mit der formidablen Mrs. Poole äußerste Vorsichtwalten lassen.«

Elf quittierte das mit der hündischen Version eines Achselzuckens und tapste zurück zum Kamin. »Ich frage mich, was sie hierherführt.« Leo strich sich mit der Hand durch sein feuchtes Haar. »Und wie mir scheint, gibt es nur eine Möglichkeit, das herauszufinden.« Elf gab, wie gewöhnlich, keine Antwort. Er machte es sich vor dem Feuer gemütlich und schloss die Augen. Leo seufzte und griff nach dem Klingelzug, um Finch zu rufen. »Ich werde das zweifellos bereuen. Aber das Gute daran ist, dass der Abend wesentlicher interessanter zu werden verspricht, als es noch vor einer Stunde schien.«

Beatrice trank einen kräftigen Schluck des kochend heißen Tees. »Wunderbar, das ist genau das, was ich gebraucht habe.«

Sally musterte das Tablett, das die Magd aus der Küche gebracht hatte. »Kein verfluchter Gin dabei.« Sie fixierte das unglückselige Mädchen. »He du, wo ist mein Gin?« Die Magd zuckte zusammen. »Die Köchin hat was von ihrem eigenen geschickt. In der Karaffe da.«

»In dieser feinen kleinen Flasche da, was?« Sally beäugte misstrauisch die kleine Kristallkaraffe. »Wird schon passen.«

Sie goss sich eine kräftige Portion ein und kippte sie mit einem Schluck hinunter. »Mais oui.«

Die Magd beugte sich erleichtert über das Tablett und arrangierte die Toasts und die Scheiben kalter Fischpastete. »Teufel noch mal.« Sally trank noch einen Schluck und ließ sich in einen Sessel vor dem Kamin fallen. »Ich hab gedacht, wir kommen nie hier an, Madam. Mit diesem Straßenräuber und dem Gewitter. Man könnte meinen, diabolisch übernatürliche Kräfte hätten versucht, uns von hier fernzuhalten, n'est-cepal.«

»Sei nicht albern, Sally.«

Das Geschirr auf dem Teetablett klirrte laut. Beatrice hörte ein zartes erschrockenes Keuchen. »Oh«, flüsterte die Magd. »Verzeihung, Madam.« Beatrice sah sich das Mädchen an und bemerkte, wie jung sie war. Höchstens sechzehn. »Etwas nicht in Ordnung?«

»Nein, Ma'am.« Die Magd rückte hastig die Teller zurecht und den Topf Marmelade. »Alles in Ordnung.« Beatrice runzelte die Stirn. »Wie heißt du denn?«

»Alice, Ma'am.«

»Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen, Alice. Bist du krank?«

»Nein. Ehrlich Ma'am.« Alice wischte sich nervös die Hände an der Schürze ab. »Ich bin gesund wie ein Pferd, wie meine Ma sagen würde. Ganz ehrlich.«

»Ich bin entzückt, das zu hören.«

Sally musterte das Mädchen. »Also, wenn ihr mich fragt, sieht sie total verängstigt aus.«

Alice richtete sich stolz auf. »Ich hab vor gar nichts Angst.«

»Au contrary«, sagte Sally.

»Au contraire«, murmelte Beatrice.

»Ah contraire«, wiederholte Sally pflichtschuldigst.

Alice sah Sally neugierig an. »Die Köchin sagt, Sie sind eine feine französische Zofe. Ist das wahr?«

»Absolument.« Sally strahlte vor Stolz. »Daheim in London stellen die feinen Damen lieber französische Zofen ein, genauso wie sie lieber zu französischen Schneiderinnen und Hutmacherinnen und so weiter gehen.«

»Oh.« Alice war angemessen beeindruckt. Beatrice runzelte die Stirn. »Alice, du hast doch wohl nicht Angst vor der Reaktion deines Herrn auf meinen unerwarteten Besuch heute Abend? Trotz allem, was der Butler gesagt hat, kann ich nicht glauben, dass Seine Lordschaft seinem Personal die Schuld an meiner Gegenwart unter seinem Dach geben wird.«

»Nein, Ma'am«, sagte Alice hastig. »Das ist es nicht. Ich arbeite erst ein paar Wochen hier, aber ich weiß, dass seine Lordschaft mir nie die Schuld für etwas geben würde, was nicht meine Schuld ist. Alle wissen, dass er recht eigen ist ...« Sie verstummte, offensichtlich von ihren eigenen Worten entsetzt.

»Eigen ist er? Que c'est?«

Alice lief puterrot an. »Na ja, er ist einer von den Irren Monks. Meine Ma sagt, sein Vater und sein Großvater waren auch komisch, aber ich wollte nie «

Beatrice hatte Mitleid mit ihr. »Beruhig dich, Alice. Ich verspreche, dass ich seiner Lordschaft nicht sage, dass du gesagt hast, er wäre eigen.«

Alice bemühte sich tapfer, den Schaden wiedergutzumachen. »Was ich sagen wollte, ist, dass auf dem Monkcrest-Besitz jeder weiß, dass die Irren Monks sich um ihre Leute kümmern. Sie sind gute Landeigner, Ma'am.«

»Dann brauchst du auch keine Angst vor seinem Jähzorn zu haben.« Beatrice lächelte. »Aber nur für den Fall, dass irgendjemand in diesem Haushalt deshalb besorgt ist, sei versichert, dass ich fest entschlossen bin, deinem Herrn alles zu erklären. Wenn ich mit ihm geredet habe, wird er alles genau verstehen.«

Alice' Augen wurden ganz groß. »Aber Ma'am, das tut er bereits. Alles genau verstehen, meine ich.« Sally starrte sie wütend an. »Was verdammt noch mal meint Ihr damit?«

Alice hatte ihren Lapsus scheinbar nicht bemerkt, denn aufgeregt und voller Ehrfurcht fuhr sie fort: »Ich hab gehört, wie Finch der Köchin erzählt hat, dass, als er seine Lordschaft von Eurer Ankunft informieren wollte, der Earl bereits gewusst hat, dass Ihr da seid.«

»Quel erstaunlich«, flüsterte Sally. Beatrice war amüsiert. »Beeindruckend.«

»Ja, Ma'am, wirklich erstaunlich. Finch hat gesagt, Seine Lordschaft hat alles über Euren Besuch gewusst. Hat gesagt, Ihr wärt den ganzen weiten Weg von London gekommen und ihr hättet eine französische Zofe und dass Euch ein Räuber auf der anderen Seite des Flusses aufgehalten hat. Er hat sogar gewusst, dass Ihr Euch in einer halben Stunde mit ihm treffen wollt.«

»Mit dem Straßenräuber«, sagte Beatrice kühl. »Ich würde eine weitere Begegnung mit ihm lieber vermeiden, falls möglich.«

»Nein, Ma'am«, erklärte Alice ungeduldig, »mit Seiner Lordschaft.«

Der Graf hatte wirklich ganze Arbeit geleistet und sein Personal mit diesem Bild von Allwissenheit beeindruckt, dachte Beatrice. »Was du nicht sagst.«

Alice nickte und flüsterte mit Verschwörermiene: »Keiner versteht, wie Seine Lordschaft solche Sachen wissen kann, aber die Köchin sagt, es ist typisch, und Finch sagt, der Herr hat da so seine Methoden.«

»Ah, ja, die Methoden Seiner Lordschaft.« Beatrice trank noch einen Schluck Tee. »Alice, ich nehm dir nur ungern deine Illusionen, aber dein Herr hat diese erstaunlichen Erkenntnisse nicht durch metaphysische Intuition gewonnen. Ich halte es für wesentlich wahrscheinlicher, dass er einfach ein Fenster geöffnet und seinen Kopf rausgesteckt hat, damit er mein Gespräch mit seinem Butler belauschen konnte.« Alice erstarrte, offensichtlich empört über die Andeutung, der Earl könnte so etwas Gewöhnliches tun wie lauschen. »Oh, nein, Ma'am, ich bin mir ganz sicher, dass er so was nicht gemacht hat. Warum sollte er denn seinen Kopf in den Regen hinausstecken?«

»Eigenartiges Verhalten, in der Tat«, murmelte Beatrice. »Vielleicht können wir es wagen, zu raten, warum er als der Irre Monk bekannt ist, hm?«

Alice war scheinbar zutiefst enttäuscht, weil Beatrice sich weigerte, vom mysteriösen Verhalten des Earls beeindruckt zu sein. Sie wich zur Tür zurück. »Verzeiht, Ma'am. Braucht Ihr sonst noch irgendetwas?«

»Das wäre im Augenblick alles«, sagte Beatrice. »Danke, Alice.«

»Ja, Ma'am.« Das Mädchen huschte davon. Beatrice wartete, bis sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, dann nahm sie ein Stück Toast und biss ab. »Ich komme wirklich um vor Hunger, Sally.«

»Moi auch.« Sally schnappte sich das größte Stück Fischpastete und eine Gabel. »Ma'am, Ihr könnt Euch ja über die Geschichte mit dem Straßenräuber lustig machen, wenn Ihr wollt, Ma'am. Aber ich schwör's, wir haben Glück, dass wir noch am Leben sind. Ich hab den Blick in seinen Augen gesehen. Garstiger Kerl.«

»Wir hatten Glück, einen so erfahrenen Kutscher zu haben. Ein Segen, dass John nicht so leicht in Panik gerät.«

»Ha.« Sally schob sich ein großes Stück Fischpastete in den Mund. »Kutscher sind alle gleich. Rücksichtslos. Und meistens sturzbesoffen. Nein, es war Eure kleine Pistole, die den Kerl verschreckt hat, nicht John.«

»Ich weiß, dass es eine schwierige Reise war, Sally. Danke, dass du dich so spontan bereit erklärt hast, mitzufahren. Ich konnte meine Tante und meine Cousine zu diesem Zeitpunkt nicht einfach aus der Stadt zerren. Sie hatten Einladungen zu einer äußerst wichtigen Soiree. Und meine arme Haushälterin wollte ich nicht mitnehmen. Mrs. Cheslyn tut sich schwer mit Reisen. «

Sally zuckte die Schultern. »Jetzt grämt Euch nicht. Ich bin froh, wenn ich mein Französisch üben kann. Ich mach bald meinen Abschluss von der Akademie und mach mich fertig für eine Bewerbung in einem großen 'aus'halt. Da muss ich doch den richtigen Akzent ham, n'est-cepal.«

»Dein Akzent wird täglich besser. Hast du dir schon einen neuen Namen ausgesucht?«

»Ich bin immer noch hin- und hergerissen zwischen einem einfachen wie Marie und einem mit mehr Pfiff. Wie gefällt Euch Jacqueline?«

»Sehr nett.«

»Mais oui.« Sally hob ihr Glas Gin hoch. »Jacqueline wird es sein.«

Beatrice lächelte. Zum Glück für Sally und ihren grässlichen Akzent war es Mode, eine französische Zofe zu beschäftigen. Bei ihren Bemühungen, eine zu ergattern, waren die meisten Damen des Ton bereit, einen zweifelhaften Akzent zu überhören. Die schlichte Wahrheit war, es gab einfach nicht genug französische Zofen, Schneiderinnen oder Hutmacherinnen, um den Bedarf zu decken. Man konnte nicht zu wählerisch sein.

Wenn natürlich einer von Sallys potenziellen Arbeitgebern entdeckte, dass nicht nur ihr Akzent sondern auch ihre Vergangenheit dubios war, würde die Sache schon etwas komplizierter werden.

Sally und alle anderen Frauen, die die Akademie absolvierten, hatten eines gemeinsam: Sie hatten früher ihr armseliges Dasein als Prostituierte in den schlimmsten Slums Londons gefristet.

Beatrice und ihre Freundin Lucy Harby  ihre Kundinnen kannten sie als die exklusive französische Modistin Madame d'Arbois  hatten es nicht darauf angelegt, armen Frauen eine Möglichkeit, von der Straße wegzukommen, zu bieten. Mit der Aussicht, in vornehmer Armut zu leben, waren sie beide damit zu beschäftigt gewesen, sich selbst vor einer Karriere als Gouvernante zu bewahren, um sich den Kopf darüber zu zerbrechen, wie man andere retten könnte. Aber sobald sie sicher in ihren neuen Berufen etabliert waren, hatten das Schicksal und Beatrice' Erziehung als Pfarrerstochter interveniert.

Das erste Mädchen, blutend wegen einer Fehlgeburt, erschien einen Monat nach der Eröffnung an der Hintertür von Lucys neuem Kleiderladen. Beatrice und Lucy hatten sie nach oben in die enge Wohnung, die sie sich teilten, getragen. Als sicher war, dass das Mädchen überleben würde, hatten sie einen Plan ausgeheckt, wie man ihr eine neue Beschäftigung beschaffen könnte.

Die Fahrkarte in ein besseres Leben war ein falscher, französischer Akzent.

Der Plan, die junge Prostituierte in eine französische Zofe zu verwandeln, hatte so gut funktioniert, dass >Die Akademie< geboren wurde.

Seit jener schicksalhaften Nacht waren fünf Jahre vergangen. Lucy, die finanziell Erfolgreichere der beiden, mit ihren unverschämt teuren Gewändern, hatte einen reichen Stoffhändler geheiratet, der ihre geschäftlichen Talente schätzte. Sie war in ein schönes neues Haus in einer teuren Gegend gezogen, führte aber weiterhin den Schneidersalon als Madame d'Arbois.

Beatrice und Lucy hatten ihre alte Wohnung über dem Kleiderladen in ein Schulzimmer verwandelt und einen Lehrer engagiert, der verzweifelten jungen Frauen die Grundkenntnisse in Französisch lehrte.

Gelegentlich verloren sie eine ihrer Studentinnen wieder an die Straße. Beatrice war immer sehr niedergeschlagen nach solchen Vorfällen. Lucy, die in solchen Dingen wesentlich praktischer dachte, sah das Ganze philosophischer: Du kannst nicht jede retten.

Beatrice wusste, dass ihre Freundin recht hatte, trotzdem war sie im Grunde ihres Herzens eine Pfarrerstochter. Es fiel ihr schwer, Fehlschläge zu akzeptieren. Sally musterte die düsteren Steinwände des Raums. »Glaubt Ihr, hier spukt es wirklich, wie die Frau des Gastwirts behauptet hat?«

»Nein, glaube ich nicht«, erwiderte Beatrice entschlossen. »Aber ich habe den Eindruck, dass das Personal den bizarren Ruf Seiner Lordschaft ziemlich genießt.« Beatrice verzog das Gesicht. »Sag mir ja nicht, dass du tatsächlich die Geschichten, die uns die Wirtin gestern Nacht erzählt hat, glaubst?«

»Da kriegt man doch Albträume, so schlimm war'n die. Dieses ganze Gerede von Wölfen und Hexerei und schauerlichen Dingen, die nachts passieren.«

»Das war doch alles Mumpitz.«

»Warum habt Ihr sie dann bis Mitternacht weiterreden lassen?«, konterte Sally.

»Ich dachte, es wäre eine amüsante Möglichkeit, die Zeit totzuschlagen.«

Sally wusste nichts über den wahren Grund für die überstürzte Reise in die Wildnis Devons. Was sie anging, war Beatrice hier, um den Earl von Monkcrest in obskuren Familienangelegenheiten zu konsultieren. Was ja auch die Wahrheit war, dachte Beatrice.

»So, wie der sich anhört, könnte er aus einem von Mrs. Yorks Romanen entsprungen sein.« Ein weiterer Schauder ließ Sallys vollen Busen erbeben. »Quel mysteriös, n'est-ce pas? Der kommt mir vor wie einer von diesen Adligen, die in modrigen Ruinen leben, in Grüften schlafen und nie ans Tageslicht kommen.«

Beatrice war überrascht. »Willst du damit sagen, dass du Mrs. Yorks Romane liest?«

»Na ja, so gut kann ich nicht lesen«, gab Sally zu. »Aber es ist immer jemand da, der sie uns anderen laut vorlesen kann. Ich mag die Geschichten mit Gespenstern und den blutigen Fingern, die einen in dunkle Gänge winken, am liebsten.«

»Ich verstehe.«

»Wir freuen uns schon alle auf Mrs. Yorks neuen Roman ,Das Schloss der Schatten‘. Rose sagt, ihre Herrin hat es gekauft. Sobald die Lady mit Lesen fertig ist, wird Rose das Buch leihen und uns vorlesen.«

»Ich hatte keine Ahnung, dass du an Schauerromanen interessiert bist.« Ein kleiner, vertrauter Wonneschauer durchfuhr sie. »Es wird mir eine Freude sein, dir meine Ausgabe von Das Schloss der Schatten zu leihen.« Sallys Augen strahlten vor Freude. »Das ist sehr nett von Euch, Mrs. Poole. Wir sind Ihnen alle sehr dankbar.« Nicht so dankbar wie ich, dachte Beatrice. Es war immer erregend, zu erfahren, dass jemand die Romane genoss, die sie unter dem Pseudonym Mrs. Amelia York schrieb. Dennoch verriet sie Sally nichts von ihrer geheimen Identität als Autorin. Nur Lucy und die Mitglieder ihrer Familie wussten, dass sie ihren Lebensunterhalt mit Schreiben verdiente.

Sie folgte Sallys Blick durchs Zimmer. Vielleicht sollte sie sich vor ihrer Abreise ein paar Notizen machen. Monkcrest Abbey war weiß Gott pittoresk. Dicke Steinmauern, gotische Türbogen und scheinbar endlose Meilen düsterer Gänge, all das vereint zu einem Haus, das sehr gut in einen ihrer Romane passen würde.

Auf dem Weg zu ihren Zimmern waren Sally und sie durch eine lange Galerie geführt worden, die voller Kunstgegenstände und Antiquitäten war. Griechische, römische und zamarische Statuen mit ausdruckslosen Steingesichtern starrten aus einer Anzahl von Nischen. Vitrinen voller Tonscherben und antikem Glas standen in seltsamen Ecken der Gänge.

Monkcrest war offensichtlich nicht nur Gelehrter, sondern auch ein Sammler von Antiquitäten.

Sie schloss die Augen und ließ die Atmosphäre der uralten Steinmauern auf sich wirken.

Für einen Augenblick spürte sie das Gewicht der Jahre. Es war ein vages, schemenhaftes, unbeschreibliches Gefühl, eines, das sie oft in Gegenwart sehr alter Gebäude oder Kunstgegenstände hatte.

Da war natürlich Melancholie. Sie spürte sie oft in Gebäuden, die so alt waren wie dieses. Aber da war auch ein Gefühl von Zukunft. Das Haus hatte in der Vergangenheit glückliche Zeiten gesehen und würde wieder solche erleben. Die schweren Schichten der Geschichte drückten auf sie. Aber hier war nichts, das ihr Albträume machen oder sie heute Nacht wach halten würde.

Als sie die Augen wieder aufschlug, wurde ihr klar, dass der dominierende Eindruck von Monkcrest Abbey ein Gefühl von Einsamkeit war.

»Wie kann man nur in so einer Ruine leben«, sagte Sally. »Vielleicht ist Seine Lordschaft wirklich ein Irrer.«

»Monkcrest Abbey ist nicht direkt eine Ruine. Es ist ziemlich alt, aber es scheint in ausgezeichnetem Zustand. Das ist nicht das Haus eines Irren.«

Beatrice versuchte nicht, Sally zu erklären, wie sensibel sie auf Atmosphären reagierte. Es war ein Teil von ihr, den sie noch nie hatte in Worte fassen können. Aber sie war sich ganz sicher, dass sie die Wahrheit sagte. Der Earl mochte ein Einsiedler, exzentrisch und gastfeindlich sein, aber er war nicht verrückt.

Sally nahm noch ein Stück Pastete. »Wie könnt Ihr Euch sicher sein, dass der Irre Monk uns nicht in den Keller sperrt und seltsame, okkulte Rituale mit uns veranstaltet?«

»Nach dem bisschen, das ich von solchen Sachen weiß, hatte ich den Eindruck, man braucht Jungfrauen für die Durchführung der meisten okkulten Rituale.« Beatrice grinste. »Und dafür ist keine von uns beiden qualifiziert.«

»Mais oui.« Sally war sichtlich erleichtert. »Na, das ist aber eine Beruhigung, nicht wahr? Ich glaube, ich nehm noch ein Schlückchen Gin.«

Beatrice war sich Monkcrests Verachtung für die okkulten Wissenschaften genauso sicher wie seiner geistigen Gesundheit. Er war eine geachtete Kapazität für Antiquitäten und antike Legenden. Er hatte zu diesem Thema einiges geschrieben, und das immer von einem objektiven, gelehrten Standpunkt aus. Im Gegensatz zu ihr, dachte sie reumütig, versuchte er nicht, die übernatürlichen oder romantischen Aspekte seiner Arbeit zu suchen. Während der vergangenen beiden Tage hatte sie mehrere der langen, langweiligen Artikel gelesen, die er für die Society of Antiquarians geschrieben hatte. Es war schmerzlich klar, dass Monkcrest den erregenderen Elementen, die ihr Handwerkszeug waren, nur totale Verachtung entgegenbrachte.

Sollte er erfahren, dass sie sich ihren Lebensunterhalt mit Schauerromanen verdiente, würde er sie sofort hinauswerfen. Aber dies war äußerst unwahrscheinlich, ermahnte sie sich. Ihre Identität als Mrs. York war ein streng gehütetes Geheimnis.

Und trotz der gegenteiligen Meinung seines Personals war sie überzeugt, dass der Irre Monk kein Hexer war. Er hatte sicher nicht die Fähigkeit, in einen Orakelspiegel zu sehen und ihre wahre Identität zu erkennen.

Sally nippte an ihrem Gin. »Nach dem, was der Butler gesagt hat, ist Seine Lordschaft nicht gerade wild auf Gesellschaft. Ich frage mich, wieso sich Monkcrest ohne Widerspruch einverstanden erklärt hat, Euch zu sehen?« Beatrice dachte an die Leere, die sie unter der Oberfläche von Monkcrest Abbey gespürt hatte. »Vielleicht langweilt er sich.«

Kapitel 2

Etwas glitt durch die Schatten, ein Phantom, durch ihre Gegenwart aufgeschreckt und jetzt unfähig, in seinen tiefen Schlummer zurückzukehren.

Kapitel zwei, Die Ruine von Mrs. Amelia York

»Ihr seid den ganzen weiten Weg hierhergekommen, habt Straßenräuber, schlechte Gasthäuser und einen Sturm auf Euch genommen, nur um mich nach den Verbotenen Ringen der Aphrodite zu fragen?« Leo packte den Sims des reich verzierten Marmorkamins fester. »Madame, es gibt nur wenig, was mich erstaunen kann, aber Ihr habt es geschafft.« Die verdammten Ringe. Unmöglich.

Er hatte natürlich die lächerlichen Gerüchte gehört, und er pflegte Klatsch zu Angelegenheiten, die das Thema Antike berührten, so, wie ein Bauer seine Feldfrüchte pflegt. Vor Kurzem hatte er gehört, dass die Verbotenen Ringe nach zweihundert Jahren wieder aufgetaucht wären, hatte die Geschichten aber nicht geglaubt.

Seine Quelle, ein Antiquitätenhändler, behauptete, die Ringe hätten sich ausgerechnet bei einem Pfandleiher in London materialisiert und wären dann genauso schnell wieder verschwunden, vermutlich an einen leichtgläubigen Sammler verkauft.

Leo hatte nicht an die Echtheit der angeblichen Antiquitäten geglaubt, und auch nicht den Berichten, die er gehört hatte, da es keine Beweise gab, die sie bestätigten. Die Welt der Antiquitäten brodelte vor fantastischen Behauptungen und geflüsterten Geschichten über seltsame Ereignisse und rare Objekte. Es war sein Lebenswerk, die Wahrheit vom Gerücht oder Betrug zu trennen. Er hatte vor langer Zeit gelernt, niemals den bloßen Schein zu akzeptieren. Diese Regel galt für ihn nicht nur bei seinen professionellen Untersuchungen, sondern auch für sein Privatleben. Unter den Legenden zählte die von den Verbotenen Ringen der Aphrodite zu den obskureren. Soweit Leo wusste, kannten nur einige wenige Gelehrte wie er und eine Handvoll Sammler die Geschichte. Solche geheimwissenschaftlichen Legenden waren kein Gegenstand für seichte Salongespräche. Seiner Erfahrung nach gelang es ihnen nur selten, das Interesse der modischen Welt zu wecken.

Aber heute Abend war er mit einer Frau konfrontiert, die nicht nur die Legende kannte, sondern auch entschlossen war, alles Mögliche darüber zu erfahren. Von allen möglichen Erklärungen für den nächtlichen Besuch einer Dame, die ihm nie zuvor begegnet war, war das wohl die am weitesten hergeholte.

Aber an dieser Begegnung war nichts berechenbar, wie er erbost feststellen musste. Erstens ärgerte es ihn, dass er den Blick nicht von Beatrice wenden konnte, und damit es nicht aussah, als würde er sie anstarren, hatte er sich darauf verlegt, sie aus dem Augenwinkel zu beobachten. Es war lächerlich. Es gab keine logische Erklärung für diese widerwillige Faszination, die er empfand. Es schien, als würde sie insgeheim eine Art von Mesmerisierung auf ihn ausüben. Beatrice saß in einem der beiden Stühle, die vor dem Feuer standen. Kaum zu glauben, dass sie gerade eine lange, ermüdende Reise hinter sich gebracht hatte. Sie war von einer Aura femininer Vitalität umgeben, die ihn anzog wie Nektar die Bienen.

Monkcrest war kein Modekenner, aber ihre stilvolle Eleganz war unübersehbar. Ihr goldbraunes Haar war zu einem seidigen Knoten geschlungen, der die erfreuliche Form ihres Kopfes und den graziösen Schwung ihres Nackens betonte. Die kleinen Korkenzieherlocken, die um ihre Schläfen tanzten, wirkten kunstvoll zerzaust, als wären sie zufällig aus den Haarnadeln gerutscht.

Die Corsage ihres Kleides enthüllte die sanften Kurven kleiner, fester Brüste und eine schlanke, geschmeidige Figur. Die gerüschten Röcke ihres langärmeligen, kupferfarbenen Kleides fielen in anmutigen Falten über ihre schlanken, bestrumpften Fesseln. Der weiche Wollstoff war von feinster Qualität. Das hochtaillierte Kleid passte perfekt, es musste von einer erstklassigen Modistin stammen. Einer sehr teuren Modistin.

Das Kleid war ein Stück des Puzzles, das nicht ins Gesamtbild passte, denn es gab keinen Hinweis auf großen Reichtum. Beatrice war nicht mit einer Privatkutsche mit livrierten Dienern und einer Vielzahl von Begleitern angereist. Ihr Kutscher war tatsächlich erst am vorigen Tag angeheuert worden. Sie trug keinen Schmuck, und ihre Zofe hörte sich an, als hätte sie sie erst vor Kurzem auf der Straße aufgelesen.

Die einzige Frage, die ihn aus irgendeinem Grund am meisten bewegt hatte, war beantwortet worden. Es war ihr gelungen, ihm ganz unauffällig zu vermitteln, dass sie Witwe war. Wenn er hätte raten müssen, würde er sagen, dass ihr Mann ihr eine kleinere Summe hinterlassen hatte, aber sicherlich kein Vermögen. Aber wie war dieses Kleid zu erklären?

Beatrice war  er hielt inne und suchte nach dem richtigen Wort. Sein strapazierter Verstand produzierte schließlich interessant. Es passte, aber es ging nicht weit genug, gab er widerwillig zu. Sie war weit mehr als nur interessant. Um ehrlich zu sein, sie war völlig anders als alle Frauen, die ihm bisher begegnet waren. Ihr feines, schön modelliertes Gesicht strahlte vor Intelligenz und der schieren Kraft ihrer Persönlichkeit, nicht vor großer Schönheit. Seine erste Einschätzung erwies sich als richtig. Sie musste Anfang Dreißig sein, nicht dem Aussehen nach, sondern nach ihrem Selbstvertrauen zu schließen. Sie war wahrscheinlich in ihren jüngeren Jahren keine gefeierte Schönheit gewesen, dachte Leo. Aber er würde immer spüren, wenn sie irgendwo in der Nähe war. Man konnte sie unmöglich übersehen.

Sie erweckte eine seltsame Rastlosigkeit in ihm. All seine Sinne waren durch ihre Gegenwart leicht beunruhigt, als wären sie mit einer unsichtbaren elektrischen Strömung in Berührung geraten.

Er hatte das ungute Gefühl, dass Beatrice die kühle, rätselhafte Fassade durchschaute, die er der Welt bewusst präsentierte. Das war Einbildung, sagte er sich, aber trotzdem beunruhigend. Das Gefühl gefiel ihm nicht.

Ein Teil des Problems waren wohl ihre Augen. Ihre Farbe war eine ungewöhnliche Mischung von Grün und Gold, aber daran lag es nicht. Es war das klare beunruhigende Bewusstsein dieses Blicks, das ihn faszinierte und vorsichtig machte. Er spürte, dass sie ihn genauso eindringlich musterte  und genauso heimlich  wie er sie. Diese Erkenntnis hatte eine seltsame Wirkung. Er unterdrückte den plötzlichen Impuls, seinen Platz vor dem Feuer aufzugeben. Er würde diesem unerklärlichen Drang, im Zimmer auf und ab zu laufen wie Elf, wenn er jagen wollte, nicht nachgeben. »Ich glaube, dass Ihr möglicherweise der einzige Mensch in ganz England seid, der mir helfen kann«, sagte Beatrice. »Ihre umfassenden Studien alter Legenden sind beispiellos. Wenn es irgendjemanden gibt, der mich mit den Fakten in Bezug auf die Verbotenen Ringe vertraut machen kann, dann seid Ihr es.«

»Ihr habt also diese weite Reise gemacht, nur um mich zu befragen.« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, ob ich mich geschmeichelt fühlen oder entsetzt sein soll. Aber Ihr hättet ganz bestimmt nicht die Strapazen einer so schwierigen Reise auf Euch nehmen sollen, Madame. Ihr hättet mir schreiben können.«

»Die Angelegenheit ist äußerst dringend, Mylord. Und um ganz ehrlich zu sein, habt Ihr einen solchen Ruf, dass ich fürchtete, Ihr würdet einen Brief nicht in  wollen wir sagen  angemessener Zeit beantworten.« Er gönnte sich ein kleines Lächeln. »Mit anderen Worten, Ihr habt gehört, dass ich dazu neige, Nachfragen, die mich nicht sonderlich interessieren, zu ignorieren.«

»Oder die Ihr für unwissenschaftlich oder auf bloßer Neugier basierend betrachtet.«

Er zuckte die Schultern. »Das streite ich nicht ab. Ich erhalte regelmäßig Briefe von Leuten, die offensichtlich sehr viel Zeit damit verschwenden, Romane zu lesen.«

»Ihr habt etwas gegen Romane, Mylord?« Beatrice' Stimme klang seltsam neutral.

»Ich habe nichts gegen Romane, nur gegen die Schauerromane. Ihr wisst schon, was ich meine. Solche, in denen übernatürliches Grauen und seltsame Geheimnisse mitspielen.«

»Oh ja, die Schauerromane.«

»All dieser Unsinn mit Gespenstern und schimmernden Lichtern in der Ferne ist schon schlimm genug. Aber wie die Autoren dann auch noch Romanzen in diese Erzählungen einbauen können, ist mir ein Rätsel.«

»Dann seid Ihr also mit dieser Art von Romanen vertraut, Sir?«

»Ich habe einen gelesen«, gab er zu. »Ich bilde mir nie eine Meinung ohne Recherchen in irgendeiner Form.«

»Welchen Schauerroman habt ihr gelesen?«

»Einen von Mrs. York, glaube ich. Mir wurde gesagt, sie wäre eine der beliebtesten Autoren.« Er schnitt eine Grimasse. »Vielleicht sollte ich sagen, Autorinnen, nachdem scheinbar die meisten Schauerromane von Frauen geschrieben werden.«

»In der Tat.« Beatrice schenkte ihm ein geheimnisvolles Lächeln. »Viele sind der Meinung, weibliche Schriftsteller sind geschickter in der Darstellung imaginärer Landschaften und Szenen, die die dunkleren Leidenschaften regieren.«

»Das würde ich ganz bestimmt nicht abstreiten.«

»Habt Ihr etwas gegen Frauen, die schreiben, Mylord?«

»Überhaupt nicht.« Die Frage überraschte ihn. »Ich habe viele Bücher gelesen, die Frauen geschrieben haben. Es sind nur die Schauerromane, die mir nicht gefallen.«

»Und insbesondere Mrs. Yorks Schauerromane.«

»Ganz richtig. Was für eine überstrapazierte Fantasie diese Frau doch besitzt. Durch verfallene Schlösser irren, über Geister und Skelette stolpern und Ähnliches ...« Er schüttelte den Kopf. »Ich konnte es nicht fassen, dass sie ihre Heldin tatsächlich den geheimnisvollen Herrn des Spukschlosses heiraten lässt.«

»Diese Art von Held ist, glaube ich, so etwas wie ein Markenzeichen von Mrs. York«, sagte Beatrice. »Es ist eines der Dinge, die die Geschichten so einmalig macht.«

»Wie bitte?«

»In den meisten Schauerromanen ist der geheimnisvolle Herr des von Geistern heimgesuchten Abbey oder Schlosses der Schurke«, erklärte Beatrice geduldig. »Aber in Mrs. Yorks Romanen erweist er sich meist als der Held.« Leo sah sie fassungslos an. »Um Gottes willen, in dem Roman, den ich gelesen habe, lebte der Held in einer unterirdischen Krypta.«

»Der Fluch.«

»Wie bitte?«

Beatrice räusperte sich diskret. »Ich glaube, der Titel dieses speziellen Schauerromans ist Der Fluch. Am Ende der Geschichte zieht der Held nach oben in die sonnendurchfluteten Räume des großen Hauses. Der Fluch war gebannt, müsst Ihr wissen.«

»Ihr habt den Roman gelesen?«

»Natürlich.« Beatrice lächelte frostig. »Viele Leute in der Stadt lesen Mrs. Yorks Bücher. Wissen Sie, ich hätte gedacht, ein Mann, der die Erforschung wahrer Legenden zu seinem Beruf gemacht hat, könnte nichts dagegen haben, einen Roman zu lesen, der eine uralte Legende zum Thema hat.«

»Zur Hölle. Mrs. York hat die Legende, die sie in diesem Roman erzählt, erfunden.«

»Na ja, Sir, es war ein Roman, kein gelehrter Artikel für die Society of Antiquarians.«

»Dass ich geheimwissenschaftliche Legenden studiere, Mrs. Poole, heißt noch lange nicht, dass mir an den Haaren herbeigezogene Geschichten über übernatürliche Phänomene gefallen.«

Beatrice warf einen Blick auf Elf, der vor dem Feuer lag. »Vielleicht beruht Ihre Intoleranz für Schauerromane auf der Tatsache, dass Ihr selbst Gegenstand einiger recht unglückseliger Legenden seid, Mylord.«

Er folgte ihrem Blick auf Elf. »Da könnte was Wahres dran sein, Mrs. Poole. Wenn man selbst Gegenstand von Geschichten über übernatürliche Geheimnisse ist, neigt man dazu, sie von der negativen Seite zu sehen.« Beatrice wandte sich wieder ihm zu und beugte sich mit eindringlicher Miene vor. »Sir, ich möchte Euch versichern, dass mein Interesse an den Verbotenen Ringen der Aphrodite nicht im Geringsten frivol ist.«

»In der Tat.« Es faszinierte ihn, wie der Feuerschein ihr Haar in dunkles Gold verwandelte. Mit einem Mal sah er vor seinem inneren Auge, wie es aussehen würde, wenn es offen um ihre Schultern hing. Er löste sich mit einiger Mühe von diesem Bild. »Darf ich fragen, wie Ihr von den Ringen erfahren habt und warum Ihr so entschlossen seid, sie zu entdecken?«

»Ich bin im Begriff, Nachforschungen in einer privaten Angelegenheit anzustellen, die scheinbar eine Verbindung zu der Legende hat.«

»Das ist ein bisschen vage, Mrs. Poole.«

»Ich bezweifle, dass Ihr alle Einzelheiten hören wollt.«

»Ihr irrt Euch. Ich muss darauf bestehen, alle Einzelheiten zu hören, bevor ich mich entschließe, wie viel Zeit ich auf dieses Thema verschwende.«

»Verzeiht, Mylord, aber man könnte diese Aussage fälschlich als verschleierten Erpressungsversuch betrachten.«

Er gab vor, darüber nachzudenken. »Ich nehme an, man könnte meine Forderung, die ganze Geschichte zu hören, so betrachten.«

»Wollt Ihr damit sagen, dass Ihr mir nicht helfen wollt, wenn ich Euch gewisse Dinge, die sehr persönlicher Natur sind und nur meine Familie betreffen, nicht anvertraue?« Beatrice zog die Augenbrauen hoch. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ihr so taktlos seid, Sir.«

»Glaubt es nur. Ich denke ganz bestimmt nicht daran, das, was möglicherweise nur bloße Neugier ist, zu befriedigen.« Beatrice erhob sich und ging zum nächsten Fenster. Sie verschränkte die Hände am Rücken und schien gedankenverloren in die Nacht zu sehen. Aber Leo wusste, dass sie sein Spiegelbild im Glas beobachtete. Fast konnte er spüren, wie sie überlegte, welchen Kurs sie einschlagen sollte. Er wartete interessiert darauf, was sie als Nächstes tun würde. »Man hat mich gewarnt, dass Ihr Schwierigkeiten machen könntet.« Sie klang ironisch resigniert. »Die Warnung hat Eure Begeisterung für eine Reise in die Wildnis von Devon offensichtlich nicht gedämpft.«

»Nein, das hat sie nicht.« Sie musterte ihn in der dunklen Glasscheibe. »Ich lasse mich nicht so leicht entmutigen, Mylord.«

»Und ich lasse mich nicht so leicht um den Finger wickeln.«

»Na schön, wenn Ihr darauf besteht, werde ich ganz offen sein. Ich glaube, mein Onkel wurde möglicherweise wegen der Verbotenen Ringe ermordet.«

Was immer er zu hören erwartet hatte, das war es sicher nicht gewesen. Ein kalter Hauch strich über seinen Nacken. Er unterdrückte ihn mit Logik. »Wenn Ihr Euch da eine Mordgeschichte zusammengetrickst habt, um mich dazu zu überreden, Euch zu helfen, die Ringe zu finden, Mrs. Poole, dann muss ich Euch warnen: Ich gehe nicht sehr höflich mit Menschen um, die mich hinters Licht führen wollen.«

»Ihr habt die Wahrheit verlangt, Sir. Ich versuche, sie Euch zu geben.«

Er ließ sie nicht aus den Augen. »Es wäre wohl das Beste, wenn Ihr mir den Rest der Geschichte erzählt.« Beatrice wandte sich vom Fenster ab und begann auf- und abzulaufen. »Vor drei Wochen brach Onkel Reggie zusammen und starb unter ziemlich peinlichen Umständen.«

»Tod ist immer peinlich.« Leo neigte den Kopf. »Mein Beileid, Mrs. Poole.«

»Danke.«

»Wer war Onkel Reggie?«

»Lord Glassonby.« Sie hielt mit wehmütiger Stimme inne. »Er war ein entfernter Verwandter meines Vaters. Die übrige Familie hielt ihn für ziemlich exzentrisch, aber ich habe ihn sehr gerne gemocht. Er war gütig, voller Begeisterung und, nachdem er letztes Jahr unerwartet etwas erbte, sehr großzügig.«

»Ich verstehe. Warum sagt Ihr, die Umstände seines Todes wären peinlich gewesen?«

Sie fing wieder an, auf- und abzulaufen und die Hände am Rücken zu verschränken. »Onkel Reggie starb nicht zu Hause.«

Das wurde immer interessanter. »Wo war er denn?« Beatrice räusperte sich. »In einem Etablissement, das, soweit ich informiert bin, von Gentlemen mit ziemlich ungewöhnlichen Vorlieben frequentiert wird.«

»Nennt das Kind doch beim Namen, Mrs. Poole. Ich werde mich bestimmt nicht mit dieser spärlichen Erklärung abspeisen lassen.«

Sie seufzte. »Onkel Reggie starb in einem Bordell.« Leo amüsierte es, wie sie errötete. Vielleicht war sie doch keine so welterfahrene Frau, wie sie vorgab. »In einem Bordell.«

»Ja.«

»In welchem?«

Sie blieb stehen und warf ihm einen erbosten Blick zu. »Wie bitte?«

»In welchem Bordell. In London gibt es eine ganze Reihe davon.«

Sie konzentrierte sich auf das Muster des Perserteppichs unter ihren Füßen. »Ich glaube, das Etablissement ist bekannt als das «, sie hüstelte. »Das Haus der Peitsche.«

»Ich hab davon gehört.«

Beatrice riss den Kopf hoch und warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Ich würde mich an Eurer Stelle nicht damit brüsten, Sir. Es gereicht Euch nicht zur Ehre.«

»Ich versichere Euch, ich war nie Kunde im Haus der Peitsche. Mein Geschmack in solchen Dingen tendiert nicht in diese Richtung.«

»Ich verstehe«, murmelte Beatrice.

»Es ist, glaube ich, ein Bordell, das die Ansprüche von Männern befriedigt, deren sinnliche Gelüste von verschiedenen Formen von Disziplin stimuliert werden.«

»Mylord, bitte.« Beatrice klang, als würde sie gleich ersticken. »Ich versichere Euch, es ist nicht nötig, weiter ins Detail zu gehen.«

Leo verkniff sich ein Lächeln. »Fahrt mit Eurer Geschichte fort, Mrs. Poole.«

»In Ordnung.« Sie drehte sich um und schritt zum hinteren Ende der Bibliothek. »Nach Onkel Reggies Tod entdeckten wir zu unserem Entsetzen, dass er in den letzten Tagen seines Lebens eine große Summe Geld ausgegeben hatte. Er stand sogar am Rande des Bankrotts.«

»Hattet Ihr damit gerechnet, ein Vermögen zu erben?«, fragte Leo.

»Nein, die Sache ist weit komplizierter.«

»Ich bin ganz Ohr.«

»Ich habe Euch gesagt, dass Onkel Reggie sehr großzügig sein konnte.« Beatrice drehte sich um und ging in entgegengesetzter Richtung zurück. »Ein paar Monate vor seinem Tod verkündete er seine Absicht, meiner Cousine Arabella eine Ballsaison zu finanzieren. Ihre Familie hat sehr wenig Geld.« Sie hielt inne. »Ehrlich gesagt hat keiner in meiner Familie sonderlich viel Geld.«

»Außer Onkel Reggie?«

»Er war die Ausnahme, und das Vermögen, das er letztes Jahr geerbt hatte, konnte man bestenfalls als bescheiden bezeichnen. Trotzdem war es wesentlich mehr, als irgendein anderer meiner Verwandten sein eigen nannte.«

»Ich verstehe.«

»Wie dem auch sei. Arabella ist sehr hübsch und ausnehmend charmant.«

»Und ihre Eltern hoffen darauf, sie an einen wohlhabenden jungen Gentleman aus der feinen Gesellschaft verheiraten zu können.«

»Nun, ehrlich gesagt, ja.« Sie fixierte ihn mit finsterer Miene. »Diese Art von Hoffnung ist nichts Ungewöhnliches, Mylord. Es ist der sehnlichste Wunsch vieler Familien, die knapp bei Kasse sind.«

»In der Tat.«

»Onkel Reggie hat sich netterweise bereit erklärt, die Kosten für Arabellas Debüt zu übernehmen und ihr eine kleine, respektable Mitgift zu geben. Ihre Familie hat arrangiert, dass sie und Tante Winifred «

»Tante Winifred?«

»Lady Ruston«, erklärte Beatrice. »Tante Winifred ist schon seit mehreren Jahren verwitwet, aber früher hat sie sich in den unteren Kreisen der Gesellschaft bewegt. Sie ist die einzige in der Familie, die überhaupt irgendwelche gesellschaftlichen Verbindungen hat.«

»Arabellas Eltern haben also Lady Ruston gebeten, Eure Cousine in dieser Ballsaison in die Gesellschaft einzuführen.«

»Genau.« Beatrice warf ihm einen anerkennenden Blick zu. »Meine Tante und meine Cousine wohnen bei mir. Ich habe ein kleines Stadthaus in London. Ehrlich gesagt lief alles ziemlich gut. Arabella gelang es, die Aufmerksamkeit von Lord Hazelthorpes Erben zu wecken, und Tante Winifred erwartete einen Heiratsantrag.«

»Bis Onkel Reggie in einem Bordell zusammenbrach und Ihr entdecktet, dass kein Geld mehr da war, um den Rest der Saison und Arabellas Mitgift zu finanzieren.«

»Eine recht ordentliche Zusammenfassung. Bis jetzt ist es uns noch gelungen, die Wahrheit über Onkel Reggies Besitzverhältnisse vor den Klatschmäulern geheimzuhalten.«

»Ich glaube, allmählich begreife ich den Umfang des Problems«, sagte Leo ruhig.

»Es liegt auf der Hand, dass wir die Situation nicht ewig verheimlichen können. Irgendwann werden die Gläubiger meines Onkels an unsere Tür klopfen. Wenn das geschieht, werden alle erfahren, dass Arabella kein Erbe mehr hat.«

»Und Ihr könnt Euch von Hazelthorpes Erben verabschieden«, schloss Leo.

Beatrice schnitt eine Grimasse. »Tante Winifred ist außer sich vor Sorge. Bis jetzt ist es uns noch gelungen, den Schein zu wahren, aber unsere Zeit läuft ab.«

»Das Desaster dräut«, murmelte Leo mit düsterer Stimme. Beatrice blieb stehen. »Es ist nicht amüsant. Meine Tante mag die Verbindung unter finanziellen Aspekten betrachten, aber ich fürchte, Arabella hat ihr Herz an den jungen Mann verloren. Sie wird am Boden zerstört sein, wenn seine Eltern ihn zwingen, sie nicht mehr zu sehen.«

Leo atmete langsam aus. »Verzeiht mir, wenn mich das Herzeleid Eurer Cousine nicht sonderlich rührt, Mrs. Poole. Meiner Erfahrung nach sind die Leidenschaften der Jungen nicht unbedingt starke Fundamente für eine Ehe.« Zu seiner Überraschung neigte sie den Kopf. »Ihr habt ganz recht, ich stimme Euch völlig zu. Als reife Erwachsene, die schon seit einigen Jahren in der Welt unterwegs sind, haben wir natürlich eine etwas klarere Perspektive, was romantische Gefühle angeht, als eine junge Lady von neunzehn Jahren.«

Was die Sache anging, waren sie sich vollkommen einig, aber aus irgendeinem Grund irritierte Leo Beatrice' Bereitschaft, die Macht der Leidenschaft so einfach abzutun. »Natürlich«, murmelte er.

»Trotzdem, vom praktischen Standpunkt aus gesehen, kann man nicht abstreiten, dass eine Verbindung zwischen Arabella und Hazelthorpes Erben ausgezeichnet wäre. Und er ist wirklich ein sehr netter junger Mann.«

»Da muss ich mich auf Euer Wort verlassen«, sagte Leo. »Hat Euer Onkel sein Geld an den Spieltischen verloren?«

»Nein, Onkel Reggie galt zwar als Exzentriker, aber er war definitiv kein Spieler.« Beatrice stellte sich hinter einen Stuhl. Sie packte die Lehne mit beiden Händen und sah zu Leo am anderen Ende des Raums. »Kurz bevor er starb, hat Onkel Reggie einen sehr teuren Kauf getätigt. Es gibt in seinen persönlichen Papieren eine Aufzeichnung darüber.« Leo beobachtete sie eindringlich. »Und dieser Kauf ruinierte ihn?«

»Soweit ich das beurteilen kann, ja.«

»Wenn Ihr mir etwa sagen wollt, dass Euer Onkel die Verbotenen Ringe der Aphrodite gekauft hat  erspart Euch das. Ich würde Euch nicht glauben.«

»Genau das will ich Euch sagen, Sir.«

Sie meinte es todernst. Leo registrierte jede Nuance ihrer Miene. Ihr klarer, direkter Blick geriet nicht ins Wanken. Er dachte an die Gerüchte, die er gehört hatte. »Wie seid Ihr zu der Überzeugung gekommen, dass Euer Onkel die Ringe gekauft hat?«

»Durch einige Notizen, die er hinterlassen hat. Ich habe sie, weil Onkel Reggie einen sehr detaillierten Terminkalender geführt hat. Außerdem führte er auch ein Tagebuch, aber es ist verschwunden.«

»Verschwunden?«

»In der Nacht, in der er starb, brachen Diebe in sein Haus ein. Ich glaube, dass das Journal von ihnen gestohlen wurde.« Leo runzelte die Stirn. »Warum sollten gewöhnliche Einbrecher das Tagebuch eines Gentlemans stehlen? So etwas lässt sich doch nicht verkaufen.«

»Vielleicht waren diese Einbrecher nicht so gewöhnlich.«

»Wurde sonst noch etwas von Wert gestohlen?«, fragte Leo mit scharfer Stimme.

»Ein bisschen Silber.« Beatrice zuckte die Schultern. »Aber ich glaube, das wurde gemacht, um den Eindruck zu erwecken, dass der Einbruch die Arbeit gewöhnlicher Diebe wäre.« Er sah sie nachdenklich an. »Aber Ihr glaubt das nicht.«

»Keine Sekunde lang.«

»Unmöglich.« Leo trommelte mit den Fingern gegen den Kaminsims. »Das ist kaum zu glauben.« Aber die Geschichten, die ihm über die Ringe zu Ohren gekommen waren, wollten ihm nicht aus dem Kopf gehen. »War Euer Onkel am Sammeln von Antiquitäten interessiert?«

»Er war immer interessiert gewesen, aber er konnte es sich nicht leisten, sie zu sammeln, bis er diese Erbschaft machte. Aber danach hat er auch nicht viel gekauft. Er behauptete, die meisten Gegenstände, die angeboten würden, wären Fälschungen und Betrug.«

Leo war wider Willen beeindruckt. »Er hatte recht. Wie es scheint, hatte Euer Onkel einen guten Instinkt für Kunstgegenstände.«

»Einen gewissen Sinn für solche Dinge haben die meisten in unserer Familie«, erwiderte sie vage. »Auf jeden Fall glaubte Onkel Reggie anscheinend, dass die Verbotenen Ringe der Schlüssel zu einem sagenhaften Schatz wären. Das hat ihn dazu getrieben, ihnen nachzujagen.«

»Ah ja, die Verlockung sagenhafter Schätze. Das hat mehr als nur einen Mann in den Untergang getrieben.« Leo runzelte die Stirn. »Ist er oft in das Haus der Peitsche gegangen?« Beatrice errötete. »Scheinbar war er ein regelmäßiger Kunde der Besitzerin, Madame Tugend.«

»Woher wisst Ihr das?«

Beatrice studierte ihre Finger. »Onkel Reggie hat die Besuche in seinen Terminkalender eingetragen. Er hat sie, äh, gehandhabt, als wären es Besuche bei einem Arzt. Ich glaube, er litt an einer gewissen Art von, äh, maskulinem Leiden.«

»Ein maskulines Leiden?« Sie räusperte sich erneut. »Eine Art Schwäche in einer bestimmten Extremität, die nur Gentlemen ihr eigen nennen.«

»Er war impotent.«

»Ja, also, neben seinen Terminen im Haus der Peitsche war er, wie es scheint, ein regelmäßiger Kunde eines gewissen Dr. Cox, der ihm ein Gebräu mit dem Namen Elixier der Manneskraft verkaufte.«

»Ich verstehe.« Leo ließ den Sims los und ging zu seinem Schreibtisch.

Zum ersten Mal zog er ernsthaft in Betracht, dass an den Gerüchten, die er gehört hatte, ein Körnchen Wahrheit sein könnte. Die Vorstellung war natürlich absurd. Die Geschichten widersprachen jedweder Logik und Glaubwürdigkeit. Aber was, wenn man die Verbotenen Ringe tatsächlich gefunden hatte?

Beatrice beobachtete ihn eindringlich. »Ich habe Euch die Einzelheiten meiner Lage geschildert, Sir. Jetzt ist es an der Zeit, dass Ihr Euren Teil der Abmachung einhaltet.«

»Na schön.« Leo rief sich in Erinnerung, was er in dem alten Folianten gelesen hatte, in dem er, nachdem ein Antikenhändler ihn kontaktiert hatte, nachgeschlagen hatte. »Der Legende zufolge schuf ein gewisser Alchimist vor etwa zweihundert Jahren eine Statue der Aphrodite. Er stellte sie aus einem einmaligen Material her, das er in seiner Werkstatt geschaffen hatte. Das Zeug soll angeblich unglaublich hart sein. Hammer und Meißel können ihm, wie behauptet wird, nichts anhaben.«

Beatrice runzelte konzentriert die Stirn. »Ich verstehe.«

»Außerdem wird behauptet, der Alchimist hätte einen sagenhaften Schatz im Inneren der Statue der Aphrodite versteckt und ihn mit einem Schlüssel, der aus zwei Ringen gefertigt ist, verschlossen. Die Statue und die Ringe verschwanden kurz darauf.« Leo breitete die Hände aus. »Im Lauf der Jahre haben immer wieder Schatzsucher danach geforscht, aber weder die Ringe noch die Statuen wurden je gefunden.«

»Und das ist alles, was über die Geschichte bekannt ist?«

»Das ist im Wesentlichen das, was bekannt ist, ja. Im Lauf der Jahre wurde eine Reihe von Fälschungen produziert. Es ist leicht vorstellbar, dass Euer Onkel, trotz seines Instinkts, was Antiquitäten betrifft, Opfer eines Plans war, durch den man ihm glauben machen wollte, dass er tatsächlich die echten Verbotenen Ringe gekauft hat.«

»Ja, ich weiß, dass die Möglichkeit besteht, dass er gefälschte Gegenstände gekauft hat. Aber ich habe keine Wahl. Ich muss der Angelegenheit nachgehen.«

»Angenommen, es ist ihm irgendwie gelungen, ein Paar Ringe zu erstehen, echt oder falsch, wie kommt Ihr dann darauf, dass er wegen ihnen ermordet wurde?« Beatrice ließ die Stuhllehne los und stellte sich wieder ans Fenster. »Zusätzlich zu der Tatsache, dass genau in der Nacht, in der er starb, sein Haus durchwühlt wurde, hat Onkel Reggie ein paar Notizen in seinem Terminbuch hinterlassen, die vermuten lassen, dass ihm irgendetwas ziemliche Sorgen machte. Er schrieb, dass er glaube, jemand würde ihm durch London folgen.«

»Ihr sagtet doch, er wäre ein bekannter Exzentriker gewesen.«

»Ja, aber er war kein furchtsamer oder überängstlicher Mensch. Ich finde es auch ziemlich verdächtig, dass er, kurz nachdem er die Verbotenen Ringe gekauft hatte, starb.« Die Haare an Leos Arm stellten sich auf. Beherrsch dich, Mann. Du studierst Legenden, du glaubst sie nicht. »Mrs. Poole, rein theoretisch gesprochen, wenn Ihr die Ringe finden würdet, was würdet Ihr dann damit machen?«

»Sie verkaufen, natürlich.« Die Frage schien sie zu überraschen. »Es ist die einzige Möglichkeit, wie wir wenigstens ein bisschen vom Geld meines Onkels retten können.«

»Ich verstehe.«

Sie wandte sich vom Fenster ab. »Mylord, gibt es noch irgendetwas, das Ihr mir über diese Sache erzählen könnt?« Er zögerte. »Nur, dass es gefährlich sein kann, sich in eine Sache hineinziehen zu lassen, die Schatzjäger anlockt. Sie sind ein recht unberechenbarer Haufen. Die Aussicht, einen großen Schatz zu finden, besonders einen uralten, legendären, hat auf manche Menschen unvorhersehbare Wirkung.«

»Ja, ja, das kann ich gut verstehen.« Sie wischte seine Warnung mit einer graziösen Bewegung ihrer Hand beiseite. »Aber könnt Ihr mir noch etwas über die Ringe erzählen?«

»Ich habe ein unbestätigtes Gerücht gehört, wonach sie vor einiger Zeit in einem ziemlich armseligen Antiquitätenladen aufgetaucht waren, der einem Mann namens Ashwater gehört«, sagte er langsam.

»Verzeiht, Mylord, aber so viel weiß ich bereits über diese Sache. Ich habe Mr. Ashwater aufgesucht. Sein Etablissement ist geschlossen, und seine Nachbarn informierten mich, dass er eine ausgedehnte Italienreise machen würde.« Ihm kam der Gedanke, dass sie allmählich die Geduld verlor. Er konnte sich nicht entscheiden, ob ihn das ärgerte oder amüsierte. Sie war hier der ungeladene Gast. Das war sein Haus. Sie war diejenige, die einfach hier eingedrungen war und Antworten auf ihre Fragen verlangte. »Ihr habt bereits Nachforschungen angestellt?«, fragte er. »Natürlich. Wie glaubt Ihr, habe ich von Eurer Fachkenntnis über legendäre Antiquitäten erfahren, Mylord? Eure Artikel werden schließlich nur in etwas obskuren Zeitschriften veröffentlicht. Ich hatte noch nicht einmal Euren Namen gehört, bevor ich mit meinen Untersuchungen begann.« Er fragte sich, ob er beleidigt sein sollte. »Ihr habt ganz recht, ich bin nicht der Autor populärer Romane wie die von Mrs. York.«

Ihr Lächeln war geradezu herablassend. »Macht Euch nichts daraus. Wir können nicht alle gut genug schreiben, um uns damit den Lebensunterhalt zu verdienen, Sir.«

»Ich schreibe«, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen, »für ein anderes Publikum als Mrs. York.«

»Glücklicherweise ist es in Eurem Fall nicht nötig, die Leute davon zu überzeugen, Eure Arbeit zu kaufen, nicht wahr? Das Monkcrest-Vermögen ist legendär, laut meiner Tante. Ihr könnt es Euch leisten, für Zeitschriften zu schreiben, die für Eure Artikel nicht bezahlen.«

»Mir scheint, wir kommen vom Thema ab, Mrs. Poole.«

»Das tun wir in der Tat.« Ihr Lächeln war sehr kühl, und ihre Augen blitzten gefährlich. »Mylord, ich bin ungeheuer dankbar für die Information, so dürftig sie auch ist, und ich werde Eure Gastfreundschaft nicht länger als notwendig beanspruchen. Meine Zofe und ich werden gleich morgen früh abreisen.«

Leo ignorierte das. »Einen Moment mal, Mrs. Poole. Was genau wollt Ihr jetzt unternehmen, das die Nachforschungen nach den Ringen betrifft?«

»Mein nächster Schritt wird sein, die Person zu befragen, die bei meinem Onkel war, als er starb.«

»Wer ist das?«

»Eine Frau, die sich Madame Tugend nennt.« Der Schock ließ ihn für ein paar Sekunden erstarren. Leo holte tief Luft. »Ihr habt vor, mit der Besitzerin des Hauses der Peitsche zu sprechen? Unmöglich. Absolut unmöglich.« Beatrice neigte den Kopf zur Seite und runzelte die Stirn. »Warum in aller Welt sagt Ihr das, Mylord?«

»Um Gottes willen, sie ist Bordellbesitzerin. Ihr wäret ruiniert, wenn sich herumspricht, dass Ihr mit ihr verkehrt habt.«

Beatrice' Augen funkelten amüsiert. »Einer der Vorteile, wenn man eine Witwe in einem gewissen Alter ist, ist, wie Ihr sicher wisst, Mylord, dass ich wesentlich mehr Freiheit habe, als ich als jüngere Frau hatte.«

»Keine junge Lady besitzt das Maß an Freiheit, das vonnöten ist, um sich mit Bordellbesitzern einzulassen.«

»Ich werde mit äußerster Diskretion vorgehen«, sagte sie energisch, offensichtlich, um ihn zu beruhigen. »Gute Nacht, Mylord.«

»Verflucht, Mrs. Poole.«

Sie war bereits an der Tür. »Ihr habt mir ein bisschen geholfen. Habt Dank für Eure Gastfreundschaft.«

»Und mich nennen sie verrückt«, flüsterte Leo.