Leseprobe Nur einen Song von dir entfernt

Kapitel 1

Ich hatte Mühe, mit Kahil Schritt zu halten. Er kannte jeden Winkel der Medina, in der ich mich ohne ihn wie in einem Labyrinth heillos verlaufen hätte. Während unseres kurzen Kennenlern-Plauschs bei Minztee und Msemen hatte ich ihm mitgeteilt, dass hauptsächlich die Gewürzstände für mich von Interesse wären. Doch diese Information war offenbar untergegangen, denn Kahil ließ es sich nicht nehmen, mich durch unzählige der 9400 Gassen von Fès' Medina zu lotsen.

Ich blickte über die Schulter zurück. Gleißendes Licht fiel durch den maurischen Torbogen aus kleinsten dunkelblauen und weißen Mosaiken. Ich kniff die Augen zusammen und beschirmte sie mit einer Hand. Es war erst Anfang April, doch das hinderte die marokkanische Sonne nicht daran, von einem blitzblauen Himmel zu brennen. Ich genoss es in vollen Zügen, lediglich Shorts und T-Shirt zu tragen, denn der Frühling in Berlin hatte bisher nichts weiter als schlechte Laune gebracht. Ein schwer bepackter Esel zog einen alten Karren über das holprige Pflaster des kleinen Vorplatzes, irgendwo aus der Ferne erklang der Ruf des Muezzin, der die Gläubigen an ihre Gebetspflicht erinnerte.

Als ich wieder in Laufrichtung blickte, war Kahil nicht mehr zu sehen, eine Horde verschleierter Frauen versperrte mir die Sicht. Schnell bahnte ich mir einen Weg an der schwatzenden Meute vorbei.

„Ist es noch weit?“, fragte ich beiläufig, erleichtert, ihn wieder neben mir zu wissen.

„Geduld, Madame. Nur noch ein Katzensprung, dann sind wir da“, ließ er mich in fast akzentfreiem Deutsch wissen und strich sich dabei den von grauen Haaren durchzogenen Schnäuzer glatt. Irgendwie hatte ich das vage Gefühl, dass das nicht ganz der Wahrheit entsprach. In seinen Augen blitzte der Schalk, aber trotz seiner Schlitzohrigkeit mochte ich ihn gerne. Er hatte etwas Väterliches an sich und vermittelte mir das Gefühl, mich als Frau ernst zu nehmen. Er hatte mir erzählt, dass er kurz vor seiner Pensionierung stand, was man ihm keineswegs anmerkte, so agil, wie er sich gab. Seit über fünfzig Jahren arbeitete er als Fremdenführer, es war nicht zu übersehen, dass er in seiner Arbeit aufging. Eine Sache, die uns verband. Außerdem fühlte ich mich in seiner Gegenwart sicher und beschützt, das war auf einem arabischen Souk schon mal viel wert. Abgesehen davon würde er dank meiner dunklen Haare beim Kameltausch sowieso keinen großen Reibach mit mir machen.

Einige Touristen waren unterwegs, aber hauptsächlich Einheimische strömten durch das bunte Treiben. Arabische Wortfetzen flogen durch die Luft und mischten sich mit ein paar Brocken Englisch und dem Hämmern von Meißelwerkzeug.

Wir verloren uns in einem Meer von üppig ausgestatteten Marktständen, die Okraschoten, riesige Wassermelonen und schwarz-lila glänzende Auberginen feilboten. Gewaltige Petersiliensträuße, leuchtend rote Chilischoten, getrocknete Feigen und Datteln fielen mir ebenso ins Auge. An jeder Ecke gab es traditionelle Handwerkskunst, wie buntes Keramikgeschirr, silberne Teeservices und Kupferkessel. Händler woben in atemberaubender Geschwindigkeit Teppiche, die die unverputzten, schäbigen Mauern der Häuser ringsherum schmückten. Doch bisher hatte ich noch nichts Außergewöhnliches entdeckt, das für mich von Interesse war.

Kahil grüßte ein paar Händler im Vorbeigehen, während er mich über kleine Plätze und durch dunkle, enge Häuserschluchten führte.

Ein Lächeln umspielte meine Lippen. Der Geruch von Freiheit und Abenteuer verursachte mir jedes Mal aufs Neue ein flaues Gefühl im Magen. Ich folgte Kahil durch eine schmale, höhlenartige Gasse. Die Luft war stickig und roch nach Leder, das hier in Form von Taschen, Portemonnaies und Rucksäcken verkauft wurde. Ein alter Mann mit weißer Djellaba und einem Fes auf dem Kopf kam uns entgegen, er trug einen Sack voll Gewürzen auf dem Rücken. Ein strenger Geruch kroch mir in die Nase, eine Mischung aus altem Schweiß und Currypulver. Wir machten ihm Platz und ich hielt den Atem an, als ich ihn passieren ließ.

Es war nicht das erste Mal, dass Tim mich als kulinarische Schatzjägerin nach Marokko schickte, aber in Fès war ich noch nie gewesen und die vielen Eindrücke überforderten mich regelrecht. Ein Lampenladen mit marokkanischen Leuchten säumte die schmale Gasse und ließ mich einen Augenblick innehalten. Durch die ausgeschlagenen Ornamente im Metall der unzähligen orientalischen Laternen und geschwungenen Leuchten warf das Licht wunderschöne Schattenspiele an die Wände und hüllte den dunklen Raum in goldenen Schein. Einen Moment lang ließen sie mich vergessen, welche Mission mich hierhergeführt hatte.

Tim war immer auf der Suche nach kulinarischen Raritäten, die ihn für neue Gerichte inspirieren sollten und durch die er sich einen Michelin-Stern mehr zu erkochen erhoffte. Finde eine Zutat, die der europäische Gaumen noch nicht kennt und die geschmacklich alles andere in den Schatten stellt, war seine Ansage gewesen. Ein bescheidener Wunsch, wie ich fand, etwa mit der Bitte gleichzusetzen: Besorge mir Aladdins Wunderlampe und sorge dafür, dass sie mindestens fünf Wünsche für mich bereithält.

Dennoch, ich liebte meinen Job und ich liebte es, dabei jedes Mal neue Leute zu treffen. Ich war glücklich und stolz, unabhängig und frei im Leben zu stehen. Tim scheute keine Kosten, um mich für eine besondere Algenart nach Japan zu schicken oder für eine seltene Wurzel nach Indien. Dank ihm war ich viel herumgekommen und hatte schon unzählige Flugmeilen gesammelt.

Die verwinkelte Gasse mündete in einen kleinen Platz, bei dessen Anblick ich leise aufatmete. Endlich! Jetzt waren wir dort angekommen, wo ich hinwollte. Ich strich mir das schulterlange Haar zurück und lächelte Kahil wortlos zu.

Pyramidenartig aufgetürmte Gewürzberge leuchteten mir in bunten Farben entgegen. Ich zog mein Handy aus der Tasche und machte ein paar Bilder. Seit einiger Zeit hatte ich einen Foodblog, auf dem ich von meinen Reisen berichtete. Bessere Fotos, die die Atmosphäre so einfingen wie hier, würde ich nicht bekommen.

Wir schlenderten an den Marktständen entlang, während sich die verschiedensten Gerüche durch meine Nase schlängelten. Sie lösten Empfindungen in mir aus, versuchten mir zu schmeicheln. Manche penetrant wie ein aufdringlicher Liebhaber, andere schlichen sich mit Raffinesse erst nach einer Weile in mein Bewusstsein, dafür aber umso nachdrücklicher. Ich nahm sie alle in mich auf, saugte sie ein, während vor meinem inneren Auge Bilder entstanden. Exotische, würzige Aromen wie Kurkuma, Muskatnuss, Safran gaukelten mir eine Welt von Tausend und eine Nacht vor. Der süßliche Duft von Kardamom, Anis und Zimt weckte Kindheitserinnerungen in mir und ließ den Geschmack vom Milchreis meiner Großmutter auf der Zunge aufleben. Auch strenge, unangenehme Aromen buhlten um Aufmerksamkeit. Mein Geruchssinn war ausgeprägter als der anderer, deshalb war ich auch so prädestiniert für diesen Job. Meiner Nase entging nichts. Tim nannte mich den Jean-Baptiste Grenouille des Essens. Womit er wohl recht hatte, was aber nicht immer von Vorteil war – leider erspürte meine Nase nicht nur die angenehmen Gerüche.

Mich zog es weiter an einen Stand, an dem die Gewürze in kleinen Säckchen verpackt waren. Ich entschied mich für getrocknete Rosenblüten, Kardamomkapseln und Paradieskörner, mit denen Tim sich sein geliebtes Ras el-Hanout selbst zusammenstellen konnte. Das war zwar noch nichts Außergewöhnliches, so wie er es sich erhofft hatte, aber immerhin schon mal ein Anfang. Mit Hilfe von Kahil handelte ich einen guten Preis aus.

Am nächsten Stand fielen mir Gläschen mit gelbem, undefinierbarem Inhalt ins Auge.

„Was ist das verschrumpelte Etwas dort?“ Ich zeigte auf eines der Gläser.

„Das ist Zitronenconfit, hervorragend zum Würzen“, sagte Kahil. „Meine Frau macht das selbst. Ein toller Begleiter zu gegrilltem Gemüse, Fisch, Fleischbraten oder Geflügel.“

„Das könnte Tim gefallen. Wissen Sie, wie das hergestellt wird?“

Kahil zog nachdenklich die Mundwinkel nach unten. „Soviel ich weiß, wird eine Zitrone geviertelt und dann für drei Monate in Meersalz eingelegt.“

„Klingt einfach, … aber genial!“ Vielleicht noch Korianderkörner und Sternanis dazu … Aber das wird Tim schon selber wissen. „Ich nehme zwei davon“, sagte ich auf Französisch zum Händler, der mir ein gewinnendes, wenngleich fast zahnloses Lächeln schenkte. „Und noch zwei Liter Arganöl und 20 Gramm Safranfäden. Wieviel macht das?“ Ich bemühte mich, mein Pokerface aufzusetzen.

„2500 Dirham, Madame.“

„Schukran“, bedankte ich mich auf Arabisch, wandte mich ab und gab vor, kein Interesse mehr zu haben.

„Good price, Madame.“

Das bezweifelte ich. Mit hochgezogenen Augenbrauen drehte ich mich wieder zu ihm. „Für 1500 Dirham nehme ich es.“

Der Verkäufer schnalzte mit der Zunge, um sich danach ausgiebig am Kopf zu kratzen. Offenbar half ihm das beim Rechnen, wieviel für ihn noch übrigblieb. „2000, last price, my friend.“

„Na gut, überredet“, gab ich augenzwinkernd zurück, dabei war mir klar, dass ich eben einen super Preis rausgeschlagen hatte. Ich kramte ein paar Scheine aus dem Portemonnaie und Kahil raunte mir zu: „Jetzt wissen Sie, wie es geht.“

Schmunzelnd zuckte ich mit den Schultern. „Ich hatte einen hervorragenden Lehrer.“

Mein Begleiter erwies sich nicht nur als guter Guide, sondern auch als Berater und führte mich zu einem Metzger, bei dem seine Frau gerne Fleisch einkaufte. So füllte sich nach und nach meine Tasche und ich verlor langsam den Überblick.

Auf dem Rückweg durch den Souk überholte uns ein Einheimischer, der eine Platte mit marokkanischen Krapfen auf dem Kopf trug. Ich bekam augenblicklich Appetit auf etwas Süßes und spendierte uns beiden je einen in Fett ausgebratenen Kringel. Ich liebte Süßes. Eigentlich alles, was mit Essen zu tun hatte und war deshalb weit von einer elfenhaften Erscheinung entfernt. Erfreulicherweise setzten die zusätzlichen Pfunde bei mir immer zuerst an genau den richtigen Stellen an, dennoch wusste ich, dass ich mich dringend wieder sportlich betätigen musste, ehe alles um mich herum zu schwabbeln begann.

„Was gefällt Ihnen am besten an Ihrem Job als Foodscout?“, riss Kahil mich aus meinen Gedanken.

Ein Lächeln zog an meinem Mundwinkel, als ich seinen mit Puderzucker bestäubten Schnäuzer bemerkte. „So nette Einheimische wie Sie zu treffen.“

Verschmitzt grinste er zurück, ehe er noch einmal kräftig in seinen Kringel biss.

„Es reizt mich, in die verschiedenen Kulturen einzutauchen und landestypische Gerichte zu verkosten“, fuhr ich nach einer kurzen Pause kauend fort. „Ich liebe gutes Essen und jedes Mal etwas Neues aufzuspüren. Essen ist nicht mehr nur da, um satt zu werden, sondern ein Lifestyle, fast schon eine neue Religion. Man ist, was man isst. Viele versuchen sich heutzutage durch das Essen in der Gesellschaft zu positionieren.“

Er nickte. „Den Eindruck habe ich auch. Auf gesundes Essen wird heute viel mehr Wert gelegt als früher. Das, was Sie machen, klingt nach einer wichtigen Aufgabe. Und es vereint die unterschiedlichsten Kulturen. Wenn ein deutscher Koch durch Sie etwas zubereitet, wie es in unserer Kultur üblich ist, gibt er unsere Tradition weiter und trägt dazu bei, offener für unser Land zu werden.“

„So habe ich das noch nie gesehen.“ Ich machte mir eine gedankliche Notiz, dass ich das auf jeden Fall mit in meinen neuen Blogbeitrag aufnehmen wollte.

Kahil lächelte leise. „Ist aber so. Hätte ich es mir aussuchen können, wäre ich auch als junger Mann gereist und hätte die Welt entdeckt wie Sie. Aber wir waren arm, ich musste meine Familie unterstützen und schnell Arbeit finden. Ich habe noch acht jüngere Geschwister.“

„Donnerwetter, da waren ihre Eltern aber fleißig“, sagte ich augenzwinkernd. „Ich habe nur noch einen älteren Bruder.“

„Wissen Sie, ich bin noch nie aus Marokko rausgekommen. Ich beneide Sie darum, schon so viel von der Welt gesehen zu haben. Jetzt, wo ich nicht mehr arbeiten muss, möchte ich auch noch ein paar Reisen mit meiner Frau unternehmen.“

„Ja, das sollten Sie. Die Welt ist einfach zu groß und vielfältig, um nur an einem Ort zu sein. Eine Reise wird Ihnen atemberaubende Glücksmomente und einen Koffer voller Erinnerungen bescheren.“

Kahil schmunzelte. „Das haben Sie schön gesagt. Und ihr Mann? Wie kommt er damit zurecht, dass Sie so viel unterwegs sind?“

Ich suchte nach einem zweideutigen Lächeln in seinem Gesicht, konnte aber nichts entdecken. Er sah mich abwartend und voller Interesse an. Auch wenn ich es mir nicht immer eingestand, sehnte ich mich manchmal nach Nähe und diesem Gefühl der Gemeinsamkeit, zu jemandem zu gehören. Andererseits wollte ich nicht um jeden Preis mit einem Mann zusammen sein, wollte keine Kompromisse eingehen und auf meine Freiheit verzichten, nur weil ich manchmal gerne jemanden an meiner Seite gehabt hätte. Die Männer meiner Vergangenheit ließen sich an den Fingern einer Hand abzählen, denn ich konnte mich nur auf jemanden einlassen, der einen Funken in mir entzündete. Und das geschah selten. Oft träumte ich davon, auf meinen Reisen den Richtigen zu treffen. Bevor ich fremden Menschen zum ersten Mal begegnete, malte ich mir manchmal aus, wie sich unser erstes Treffen abspielen könnte. Meist wie in einem romantischen Hollywoodfilm.

Ich warf einen verstohlenen Blick auf meinen Begleiter und grinste in mich hinein. Kahil war dafür nun wirklich nicht die passende Besetzung.

„Ich habe keinen Mann. In Ihrer Kultur muss das unbegreiflich sein, im Alter von 34 Jahren weder Mann noch Kinder zu haben, aber für ein Privatleben bleibt bei mir wenig Zeit und der Richtige hat sich mir noch nicht vorgestellt.“ Ich schnaubte belustigt, dabei war mir gar nicht danach zumute. „Die Liebe versteckt sich vor mir. Ich weiß auch nicht, woran das liegt.“ Als mir bewusst wurde, dass ich diesen Satz gerade laut ausgesprochen hatte, versuchte ich mich peinlich berührt an einem Lächeln, aber es verrutschte irgendwie. Was mich geritten hatte, einem Fremden so etwas Persönliches anzuvertrauen, war mir schleierhaft. Vielleicht gerade deshalb, weil er mir fremd war und ich ihn nie wiedersehen würde.

„Als Frau gilt man in Marokko schon lange nicht mehr als gescheiterte Existenz, wenn man nicht verheiratet ist. Vor allem nicht, wenn man Karriere macht wie Sie. Heutzutage gibt es viele emanzipierte Frauen, die studieren und erst danach eine Familie gründen. Zu meiner Zeit war das noch anders, die Frau war auf einen Versorger angewiesen.“

Von Karriere konnte bei mir wirklich nicht die Rede sein. Ich tingelte für ein Restaurant und ein paar Feinkost-Läden durch die Weltgeschichte und verdiente mir noch mit redaktionellen Beiträgen für Gourmet-Magazine ein paar Euros nebenbei. Na wenigstens hatte er sich Plattitüden wie: Eine schöne Frau wie Sie … gespart und war auf meinen freudlosen Spruch über die Liebe nicht eingegangen. Dennoch hinterließ dieses Thema immer eine gewisse Melancholie in mir und ich spürte, wie sich mein Brustkorb verengte. Meine letzte Beziehung war zwei Jahre her. Marc hätte ich geheiratet, hätte er mich gefragt. Doch darauf musste ich vergeblich warten. Und als ich begann als Foodscout durch die Welt zu reisen, verliebte er sich in eine andere. Eine wunderbare Vorlage für ihn, mir die Schuld an der gescheiterten Beziehung zu geben.

„Ich muss Sie jetzt leider verlassen, Madame“, durchkreuzte Kahil meinen Gedankenstrom. „Es hat mir viel Vergnügen bereitet, Sie durch die Medina zu führen. Und wissen Sie was: Das war das letzte Mal, dass ich dafür Geld bekommen habe.“

Erfreut hob ich die Augenbrauen. „Wirklich? Ich war Ihre letzte Kundin? Ich hoffe, ich bleibe Ihnen in guter Erinnerung!“

Er lachte auf. „In bester!“

„Mir hat es auch viel Spaß gemacht. Sie waren eine sehr angenehme Begleitung und ein guter Guide, vielen Dank.“ Ich reichte ihm die Hand und drückte sie fest. „Ich wünsche Ihnen einen wundervollen neuen Lebensabschnitt. Tun Sie, was Sie schon immer machen wollten, reisen Sie und sehen sich mit Ihrer Frau die Welt an!“

„Das werden wir.“ Ein bescheidenes Lächeln zuckte um seine Mundwinkel, ehe er hinzufügte: „Und wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf: Die Liebe versteckt sich vor Ihnen, weil sie Größeres mit Ihnen im Sinn hat.“ Kahil drückte meine Hand und beugte sich vertraulich zu mir vor. „Und das braucht Zeit.“ Die Wärme in seinen Augen und die Zuversicht seiner Worte ließen mich schlucken. Das klang zu schön, um wahr zu sein.

Nachdem Kahil und ich uns verabschiedet hatten, sah ich ihm noch nach, wie er im Gewusel der Altstadt verschwand. Am liebsten hätte ich noch einen Minztee mit ihm getrunken und seinen Weisheiten über das Leben gelauscht.

Ich atmete tief durch, ehe ich mich ganz ohne Ziel weiter durch die Gassen treiben ließ. Bis mein Magen irgendwann nach etwas Herzhaftem verlangte. Ich entschied, nach einer Kleinigkeit Ausschau zu halten, so konnte ich mir das Essen am Hotel-Buffet heute Abend sparen.

An einem der Streetfood-Stände kaufte ich mir ein für das Land typisches Sandwich mit fettigen Pommes drin. Die sahen schwabbelig aus, aber schmeckten trotzdem lecker. In diesem Fall beschloss ich, das Auge einfach nicht mitessen zu lassen.

Langsam taten mir die Füße weh. Der Flug vom Morgen sowie der anstrengende Tag im Souk steckten mir in den Knochen und alles in mir sehnte sich nach meinem großen Kingsize Bett im Hotel. Doch der Tag war noch lange nicht vorbei. Mir stand noch ein wichtiger Termin bevor.

Kapitel 2

Ich winkte mir ein Taxi von der Straße heran und ließ mich in mein Hotel, das feudalste der ganzen Stadt, fahren.

Der Küchenchef höchstpersönlich hatte mich eingeladen. Ich hatte Informationen über ihn eingeholt und dabei rausgefunden, dass er sogar schon für Mohammed VI., den König von Marokko, gekocht hatte.

Mittlerweile hatte ich Informanten in aller Welt, die mir Kontakte auch zu hochrangingen Köchen vermittelten. Es hatte sich in der Gourmet-Branche rumgesprochen, dass ich jedem von ihnen ein kulinarisches Gastgeschenk mitbrachte und ihr Name in einer gastronomischen Fachzeitschrift erwähnt würde – so empfing man mich stets mit offenen Armen. Und ich profitierte von dem jeweiligen Wissen ihrer einheimischen Küche. Sozusagen eine Win-Win-Situation. Es war mir jedes Mal ein Vergnügen, den Einheimischen in den Topf zu gucken. Oftmals konnte ich dadurch tolle Gerichte und Rezepte an Tim weitergeben, der sie dann in seinem Gourmet-Restaurant ausprobierte.

Als ich durch die Drehtür trat, raubte mir das prunkvolle Foyer erneut den Atem. Alles erinnerte an einen orientalischen Palast. Es war angenehm kühl und der Geruch von Jasmin und Sandelholz lag in der Luft. Ein Page führte mich durch eine Tür mit der Aufschrift Staff only, die nur für Mitarbeiter zugängig war. Ein wenig fühlte ich mich wie eine Celebrity, die von einem Bodyguard abgeschottet wurde, als er mich durch die vielen, dunklen Gänge schleuste. Dann stiegen wir in einen Fahrstuhl, der bis in die zweite Etage glitt und uns direkt vor der Küche ausspuckte.

Suchend wanderte mein Blick durch den Raum, aber nirgendwo konnte ich den schwarzen Koch mit Schnauzbart erkennen, von dem ich ein Foto im Internet gefunden hatte.

„Es tut mir leid, aber Sie müssen mit mir Vorlieb nehmen“, sprach mich ein junger Mann auf Englisch an und hielt mir lächelnd die Hand entgegen. „Der Küchenchef ist kurzfristig verhindert. Ich bin Daniel, der Souschef.“

Für einen Moment wallte Enttäuschung in mir auf, die aber dank des charmanten Lächelns des Mannes vor mir schlagartig verpuffte. Ich schüttelte seine Hand, die in einem schwarzen Gummihandschuh steckte, und erwiderte sein Lächeln. „Mimi Berger. Kein Problem, Sie sind sicherlich genauso kompetent wie er.“

Ich folgte ihm in die Großraumküche, in der die Küchenmannschaft schon die ersten Vorbereitungen fürs Abendessen traf. In einer Stunde, ab 19 Uhr, kamen die ersten Gäste. Weiß gekleidete Personen wuselten umher, schwenkten Pfannen, hantierten mit Schöpfkellen und brüllten sich gegenseitig Anweisungen entgegen.

„Woher stammen Sie?“, wollte ich wissen, als wir an einem relativ ruhigen Posten angekommen waren, der offenbar uns vorbehalten war.

„Aus London. Ich bin jetzt ein Jahr hier und ich liebe dieses Land. Die Küche ist sehr vielfältig und gibt zahlreiche Möglichkeiten zum Experimentieren her.“ Er wandte sich zu mir und hob erwartungsfroh die Augenbrauen. „Was haben Sie mir denn Schönes mitgebracht?“

„Also ehrlich gesagt keine Rarität, sondern etwas typisch Nordafrikanisches.“ Ich lächelte schief. „Bin gespannt, was Sie daraus zaubern werden.“

„Dann lassen Sie mal sehen.“

Ich griff in meine Umhängetasche und zog das mit Papier umwickelte Mitbringsel hervor.

Ein Schmunzeln spielte um seine Lippen, als er den Inhalt sah. „Merguez. Ich hätte mit allem gerechnet, allerdings nicht damit. Aber Sie haben Glück, ich bin Fan der scharf gewürzten Bratwürste. Und ich weiß auch schon, was wir damit machen.“

„Ich bin immer für eine Überraschung gut.“ Innerlich atmete ich auf. Ich hatte nämlich schon befürchtet, dass man mich auslachen würde, als ich auf Kahils Anraten die Würste beim Metzger gekauft hatte.

„Sie gefallen mir“, sagte er augenzwinkernd, ehe er für einen Moment in einem der Kühlräume verschwand und mit einem Paar Merguez in der Hand zurückkam. „Die sind aus unserer eigenen Produktion. Wir werden jetzt beide verkosten und die Unterschiede herausschmecken. Was halten Sie davon?“

„Einverstanden.“

Nachdem er die Würste kurz in der Pfanne angebraten hatte, probierten wir zuerst von der mitgebrachten.

„Hier ist scharfes Paprikapulver und Cumin drin.“ Das schmeckte ich heraus, wusste es aber auch vom Händler, dem ich die Würste abgekauft hatte.

Daniel nickte anerkennend. „Sie haben gute Geschmacksknospen. Da ist so viel Knoblauch enthalten, dass die anderen Gewürze kaum eine Chance haben, sich zu entfalten.“ Er hielt mir ein Stück aus seiner eigenen Herstellung an den Mund.

Irritiert sah ich ihn an und lachte verlegen.

„Nun nehmen Sie schon“, drängte er mich und ich zog das Stück Wurst mit den Zähnen aus seinen Fingern. Es war noch so heiß, dass ich mir fast die Zunge verbrannte, versuchte mir jedoch nichts anmerken zu lassen.

Irgendwie gefiel mir Daniel. Seine lockere, direkte Art, offenbar hatte er keine Berührungsängste mit fremden Menschen. Äußerlich erinnerte er mich ein wenig an Jude Law, besonders die grünen Augen, in denen man sich schnell verlieren konnte.

„Hervorragend“, sagte ich und schluckte den letzten Bissen hinunter. „Zimt und Harissa kann ich herausschmecken. Verraten Sie mir, was sonst noch alles drin ist?“

„Nur, wenn Sie heute Abend mit mir etwas trinken gehen.“

Die Erwiderung kam so prompt, dass ich lachen musste. Er jedoch blieb ernst, seine Augen blitzten erwartungsvoll.

„Ach, so einer sind Sie. Dann sollte ich mich wohl vor Ihnen in Acht nehmen“, sagte ich halb im Scherz. Doch er ging nicht weiter darauf ein, sondern tat so, als hätte sein kurzer Flirtversuch nie stattgefunden.

„Auf was achten Sie, wenn Sie nach neuen Produkten Ausschau halten?“, wollte Daniel wissen, während er die Pfanne vom Herd nahm und zur Seite stellte.

„Sie müssen haltbar sein und nicht zu empfindlich. Außerdem sollten sie in ausreichender Menge verfügbar sein.“

„Und bei Männern?“

Wieder überraschte er mich mit dem abrupten Themenwechsel. Das Ganze schien spannend zu werden.

„Er muss gut riechen.“

„Und, rieche ich gut?“

Ich unterdrückte ein Lächeln. „Kann ich nicht beurteilen.“

„Vielleicht kommen Sie mal näher ran.“ Er reckte mir seinen Hals entgegen.

Als ich mich nicht rührte, trat er einen Schritt auf mich zu. „Ist das da ein Leberfleck unter Ihrem rechten Auge?“

Plötzlich war er mir ganz nahe und Hitze stieg in mir hoch. „Ähm, … ja.“

„Hat was. Sehr anziehend.“

Jetzt musste ich doch schmunzeln. „Sie flirten doch nicht etwa mit mir?“

„Wie kommen Sie darauf? Was für ein absurder Gedanke. Wer würde schon mit Ihnen flirten wollen?“ Das freche Grinsen, das er mir daraufhin schenkte, ging mir durch und durch.

Mein Lächeln verblasste. Der Macht seiner grünen Augen konnte ich mich nur schwer entziehen. Rasch senkte ich den Blick. Ich war schon lange aus der Übung, was das Flirten betraf und irgendwie hinkte ich bei Daniels Tempo hinterher. Bleib professionell und mach deine Arbeit, mahnte ich mich. Ein Räuspern half mir, wieder einen klaren Kopf zu bekommen. „Also, was kochen wir jetzt mit der Merguez?“

„Was halten Sie von einem Quinoa Taboulé? Eignet sich hervorragend als Vorspeise.“

Ich nickte zustimmend. „Klingt gut.“

Während die Quinoa in der Gemüsebrühe vor sich hin köchelte, schälte Daniel eine Gurke, entkernte sie und schnitt sie in kleine Würfel. Aufmerksam verfolgte ich jeden seiner Handgriffe, während ich nebenbei tief in meinen Träumereien versank.

Wir stehen auf einem Balkon über den Dächern der Stadt. Um meinen Hals flattert ein kirschrotes Seidentuch im Wind, weht mir ins Gesicht und verdeckt Nase und Mund. Daniel tritt an mich heran, hebt die Hand und streicht es mir in einer sanften Geste zur Seite. Mein Blick wandert hinab zu seinen Lippen, die mir wunderschöne Worte zuflüstern. „Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich zum letzten Mal die Gesellschaft einer Frau so sehr genossen habe. Weißt du, wie lange ich schon darauf warte, auf eine wie dich zu treffen …?“ Mit einem Mal tritt seine Stimme in den Hintergrund und verschmilzt mit dem immer lauter werdenden Pochen meines Herzens. Ich spüre seinen Atem, die Hitze seines Körpers und die statische Spannung zwischen uns, die kaum noch zu bändigen ist. Mein Wunsch, die Distanz zwischen uns zu überwinden und ihn zu küssen, wird übermächtig. Das Verlangen pulsiert kribbelnd durch meine Adern, bis ich plötzlich seine weichen Lippen auf meinen spüre. Sein Kuss verschlägt mir den Atem und versetzt alles in mir in Aufruhr.

„Mimi …“, drang eine Stimme durch den dichten Nebelwald meiner Gedanken.

Kurz zuckte ich zusammen. Eine Gabel schwebte vor meinem Gesicht. Ich lächelte meine Verlegenheit fort und versuchte mir selbst einen geistigen Eiskübel zu verpassen.

Während mein Bewusstsein irgendwo in meinem Tagtraum verloren gegangen war, hatte Daniel ganze Arbeit geleistet. Das Gemüse vermengt, gewürzt und alles zu einem appetitlichen Salat angerichtet, den er mir nun geduldig entgegenhielt. Rein äußerlich und auch von seiner unbefangenen Art her hatte er tatsächlich das Potential, sich in mein Herz zu schleichen.

„Bevor ich probiere, muss ich das erstmal fotografieren“, gab ich geschäftsmäßig von mir. „Stellen Sie sich bitte mit dem Teller in Position.“

Daniel präsentierte die Vorspeise in seiner Hand mit seinem schönsten Lächeln. Fotogen war er also auch noch. Ich unterdrückte ein Seufzen, brachte mein Handy auf Position und machte ein paar Bilder. Dann steckte ich es zurück in meine Tasche, nahm die Gabel von der Anrichte und versenkte sie in der Quinoa. Ich nahm einen großen Happs. „Mmh. Leicht, angenehm würzig und mit einem Hauch Schärfe. Wirklich lecker.“

Daniels Lächeln wurde breiter. „Na, wenn Sie das sagen. Beim Stiftung-Berger-Test für gut befunden.“

„Für sehr gut befunden“, erwiderte ich lachend und wunderte mich, dass er meinen Namen richtig aussprach und nicht wie Burger.

„Und wie geht’s jetzt weiter?“, fragte mich Daniel und sah mir dabei tief in die Augen.

„Sie geben mir die Mengenangaben für die Wurst …“

„… und im Gegenzug erweisen Sie mir heute Abend die Ehre Ihrer Gesellschaft. So ist der Plan. Oder nicht?“ Unverhohlen grinste er mich an, während er sich die Gummihandschuhe von den Händen zog.

Perplex starrte ich auf seinen Ringfinger, an dem ein goldener Ring schimmerte, zeitgleich erklang ein seltsames Geräusch – die Seifenblase meines Tagtraums war soeben zerplatzt. Ein Knäuel aus verletztem Stolz, Ärger und Scham verfing sich in meinem Hals und ließ mich schlucken.

„Sie sind … verheiratet?“, hörte ich mit dünnem Stimmchen den Volltrottel in mir fragen.

„Stört Sie das?“

Ein verblüffter Laut entkam mir, halb lachend, halb schnaubend. „Und ob mich das stört, schließlich haben Sie die ganze Zeit mit mir geflirtet.“ Jetzt bloß nicht überreagieren, mahnte ich mich. Es war nichts weiter als verletzter Stolz, weil ich dem Falschen Einlass in meine Tagträume gewährt hatte.

Belustigt zuckte er mit den Schultern. „Meine Frau stört das nicht. Sie weiß, dass sie die Einzige für mich ist.“

Einen kurzen Moment lang verschlug es mir die Sprache. Ich wusste, es war dumm, aber es ärgerte mich trotzdem, dass sein Interesse für mich nicht über eine schnelle Nummer hinausging. Rasch schluckte ich die Kränkung herunter. „Auch wenn es für Ihre Frau in Ordnung ist, für mich ist es das nicht.“

„Ganz wie Sie wollen.“ Er wandte sich ab und wusch sich die Hände.

Seinem abgebrühten Verhalten nach zu urteilen, hatte er noch andere Frauen in der Hinterhand. Vermutlich konnte ich mich glücklich schätzen, rechtzeitig herausgefunden zu haben, was für ein Arsch er war.

Ich seufzte leise. Waren meine Ansichten, was Beziehungen und Ehen betraf, wirklich so altmodisch? Aber egal, wie ich es drehte und wendete, Liebe und sexuelle Treue ließen sich für mich einfach nicht trennen.

„Die meisten Frauen, die ich kenne, haben nichts gegen eine Liaison mit einem verheirateten Mann.“ Mit einem entschuldigenden Lächeln trocknete Daniel sich die Hände an einem Küchentuch. „Das Rezept bekommen Sie natürlich trotzdem, ich schreibe es Ihnen eben auf.“

 

In meinem Zimmer angekommen, bestellte ich mir eine Flasche Chardonnay. Ich hätte es nicht ertragen, jetzt allein an der Bar zu sitzen. Es machte mich traurig, dass mir entweder nur verheiratete Männer gefielen oder welche, die beziehungsunfähig waren.

Nachdem ich den gekühlten Weißwein vom Zimmerservice entgegengenommen hatte, öffnete ich die Balkontür.

Für einen Moment stockte mir der Atem. Der Abend träufelte gerade flüssiges Kupfer vom Himmel in das nachtschwarze Meer. Ich versuchte mich an diesem Anblick sattzusehen. Es war einfach wunderschön. In solchen Momenten wünschte ich mir, einen Mann an meiner Seite zu haben, mit dem ich das teilen konnte.

Ich trank einen großen Schluck Chardonnay, der angenehm kühl meine Kehle hinabfloss. Unglaublich. Ich war tatsächlich auf so einen Aufreißer-Typen reingefallen. Das hatte er sicherlich nicht zum ersten Mal gemacht. Er war sich seiner Wirkung auf mich bewusst gewesen, glaubte, mich mit ein paar Sprüchen herumzukriegen. Was ihm sicher auch noch gelungen wäre. Soweit war es also schon mit mir gekommen. Ich musste unbedingt aufhören, mich wie ein kleines Mädchen der Illusion hinzugeben, dass der Richtige irgendwo da draußen auf mich wartete. Eins hatte ich jedoch daraus gelernt: Gehe nie auf die Flirtversuche eines Mannes ein, ohne vorher seinen Ringfinger gesehen zu haben. Ich stieß einen tiefen Seufzer aus und stützte die Unterarme auf das Balkongeländer. Wer weiß, wozu es gut ist, fiel mir der Lieblingsspruch meiner Mutter ein, den sie bei jeder Gelegenheit von sich gab. Auf eine Fernbeziehung zwischen Berlin und Fès konnte ich gut verzichten.

Manchmal fragte ich mich, was passiert wäre, wenn ich damals nicht Tims Angebot angenommen hätte, für ihn durch die Weltgeschichte zu reisen. Wären Marc und ich zusammengeblieben? Hätten wir jetzt Kinder, wie die meisten in meinem Alter? Schnell schob ich den Gedanken beiseite und nahm noch einen großen Schluck des leckeren Weißweins. Die Liebe versteckt sich vor Ihnen, weil sie Größeres mit Ihnen im Sinn hat, gingen mir Kahils Worte durch den Kopf. Nur zu gerne wollte ich daran glauben, aber langsam war es ratsamer, der Realität ins Auge zu blicken: Den Richtigen gab es für mich nicht.

Kapitel 3

Das Taxi hielt schlingernd auf der nassen Straße, direkt vor meiner Haustür. Nachdem ich mit meiner EC-Karte bezahlt hatte, drückte ich dem Fahrer zusätzlich ein angemessenes Trinkgeld in die Hand, stieg aus und schulterte meine Tasche. Augenblicklich kroch die feuchte Kälte unter meine Jacke und verursachte mir eine Gänsehaut.

Mittlerweile hatte der Abend sein dunkles Tuch über den Himmel ausgebreitet, Nieselregen fiel in dünnen Bindfäden herab. Schimmernde Pfützen hatten sich auf der Straße gebildet, in denen sich jetzt das Licht der Straßenlaternen spiegelte. Ich sehnte mich nach einer heißen Badewanne mit einem Meer aus Kerzen um mich herum. Das hatte ich mir verdient. Das marokkanische Wetter hätte ich gerne in meine Reisetasche gepackt, in Fès war ich um diese Zeit nur mit einer leichten Strickjacke ausgekommen.

Ich begann den Aufstieg bis ins vierte Stockwerk und merkte erst jetzt, wie ausgelaugt ich war. Schon bei der zweiten Etage kam ich ins Schnaufen. Die Stufen des Altbaus waren einfach zu hoch. Doch wenigstens hielten sie mich fit, wenn ich sonst schon kaum mehr zu einer sportlichen Betätigung kam. Meine Laufschuhe hatten meine Füße schon wochenlang nicht mehr zu Gesicht bekommen.

Ich freute mich auf Zsa Zsa, meine dicke Perserkatze, um die sich mein Nachbar Herr Sommerfeld in meiner Abwesenheit kümmerte.

Das Licht ging aus und ich tastete mich im Dunkeln zum nächsten Schalter. So ein Mist, das passierte mir ständig. Als es wieder ansprang, hörte ich Schritte von oben kommen und sah kurz darauf die dazu passenden Beine, die in dunklen Jeans steckten. Sie gehörten zu einem jungen Mann, den ich vorher noch nie gesehen hatte. Vielleicht ein neuer Mieter?

Keuchend blieb ich stehen. „Abend“, grüßte ich ihn freundlich.

Er musterte mich und nickte kurz. „Hi“, sagte er kaum hörbar. Dann fiel sein Blick auf mein Gepäck und er lief mir forschen Schrittes entgegen.

Verblüfft sah ich ihm dabei zu, wie er mir die Tasche aus der Hand nahm. Gerade war ich im Begriff, Einspruch zu erheben, da wandte er mir schon den Rücken zu und sprang behände die Stufen hinauf.

Aber … woher wusste er, wo ich wohnte? Eilig stapfte ich hinter ihm her, doch er war so schnell, dass es mir nicht gelang, zu ihm aufzuschließen.

Als ich die letzten Stufen zu meiner Wohnung nahm, stand er auf dem Absatz und sah abwartend zu mir herab.

„Ähm …“, stammelte ich. „Woher weißt du, wo ich wohne?“ Wie kam ich dazu, ihn einfach zu duzen? Hatten wir uns schon einmal gesehen?

Er wies mit dem Kopf auf die Wohnung von Herrn Sommerfeld. „Mein Opa.“

„Ach so. Na dann … vielen Dank!“ Seltsam. Der alte Mann hatte mir noch nie von seinem Enkel erzählt.

Ich betrachtete ihn genauer. Ebenmäßige Gesichtszüge, männlicher Kiefer, große dunkle Augen. Leicht gebogene Nase, die ihm Charisma verlieh und verwuschelte Haare, die ich am liebsten mit den Fingern in Ordnung gebracht hätte. Könnte er sich zu einem Lächeln durchringen, wäre er gar nicht mal so übel. Während ich mir noch über sein Äußeres Gedanken machte, nickte er nur kurz, lief dann an mir vorbei die Stufen hinab und verschwand.

Ich stand so lange wie angewurzelt da, bis ich die schwere Eingangstür ins Schloss fallen hörte.

Stirnrunzelnd schüttelte ich den Kopf. Was war das denn gerade gewesen? Smalltalk war wohl nicht sein Ding. Oberflächliches Geplänkel war auch nicht meins, aber ein wenig aufgeschlossener hätte er schon sein können. Was für ein seltsamer Kerl, der die Zähne nicht auseinanderbekam. Eigentlich war das ja eine sehr charmante Geste von ihm, mir meine Tasche hochzutragen, nur sein brummiges Verhalten stand im krassen Widerspruch dazu.

Ich schloss die Wohnungstür auf. Ein vertrauter Geruch empfing mich. Es roch nach einer Mischung aus Sandelholz-Räucherstäbchen, dem getrockneten Lavendel in der Küche, meiner Lieblings-Orangenseife, Zsa Zsas Katzenstreu mit der Duftnote Babypuder und nach Farbe – obwohl es schon zwei Monate her war, dass ich im Wohnzimmer gestrichen hatte.

Ich liebte es, nach Hause zu kommen. In meinen eigenen vier Wänden fühlte ich mich am wohlsten. Da war zwar keiner, der auf mich wartete – nicht mal meine Katze – aber ich hatte gelernt, mir selbst zu genügen.

Ich stellte meine Tasche im Flur ab, drehte die Heizung hoch und betrachtete erfreut meinen Drachenbaum in der Wohnzimmerecke, der gar nicht mehr die Blätter hängen ließ. Kein Wunder, Herr Sommerfeld war die zuverlässigste Person, die ich kannte, er kümmerte sich besser um die Pflanzen als ich selbst.

Ich mochte den alten Mann sehr, er war so etwas wie ein Opa-Ersatz, denn meine Großväter waren schon lange tot. Ich seufzte leise. Meine Gedanken wanderten zu seinem Enkel zurück. Gerne hätte ich mehr über ihn erfahren. Ich nahm mir vor, Herrn Sommerfeld auf ihn anzusprechen. Mittlerweile kannte ich die gesamte Lebensgeschichte des alten Mannes. Seit er Vertrauen zu mir gefasst hatte, war er sehr redselig. Sein Enkel dagegen war so eloquent wie ein verstopfter Gartenschlauch.

Ich klingelte drei Mal kurz – unser Zeichen – und musste nicht lange warten, da hörte ich schon Schritte und seine heisere Stimme hinter der Tür. „Ich komme. Ich komme schon.“

Er begrüßte mich mit einem herzlichen Lächeln. „Schön, Sie zu sehen!“ Wie gewöhnlich trug er zu einem Hemd Hosenträger und darüber eine Strickjacke. An besonderen Tagen, wenn Besuch bevorstand, sogar in Kombination mit einer Fliege.

„Wie geht es Ihnen?“

„Wie es schlechten Menschen eben so geht.“ Sein Standardspruch, der mir aber jedes Mal aufs Neue ein Lächeln entlockte.

„Und, wie hat sich Zsa Zsa benommen?“

„Vortrefflich, wie immer.“

„Das wundert mich nicht, Sie behandeln sie ja auch wie eine Königin.“

„Sie ist eine Königin.“ Lachend trat er zur Seite und bat mich mit einer Handbewegung in seine warme Wohnung.

Vor Behaglichkeit und Wärme schüttelte es mich kurz und ein wohliger Schauer lief mir über den Rücken. In der Luft hing noch der Geruch von Bratkartoffeln mit Leberkäse vom Mittag, Herrn Sommerfelds Lieblingsessen. Mir lief das Wasser im Mund zusammen, obwohl ich meinen Magen schon mit einem labbrigen Sandwich im Flieger besänftigt hatte.

Ich folgte ihm durch den schummrigen Flur. Mein Blick strich beim Vorübergehen über die gerahmten Fotos auf der Kommode, auf denen er und seine Helene dem Betrachter glücklich entgegenlächelten.

Herr Sommerfeld lief im Dunkeln zum Beistelltisch der ausgesessenen braunen Ledercouch und knipste die Stehlampe an, die das Wohnzimmer in gelblich warmen Schein tauchte. „Ich glaube, mittlerweile schätzt Ihre Katze meine Gesellschaft – ich darf sie sogar bürsten – und ich schätze ihre. Ich habe ein Katzenklo für sie angeschafft, dann müssen wir das andere nicht immer hin- und herschleppen.“

Es rührte mich, wie er sich um Zsa Zsa bemühte. Die Katzendame war alles andere als einfach. Doch Herrn Sommerfeld hatte sie schnell ins Herz geschlossen. Er bekam fast nie Besuch, deshalb konnte er ein bisschen Gesellschaft gut gebrauchen. Er hatte mir anvertraut, dass er sich oft sehr einsam fühlte, seitdem vor sieben Jahren seine Frau nach einem kurzen, jedoch heftigen Krebsleiden verstorben war. Die wenigen Bekannten, die noch lebten, erzählten meist nur von ihren Krankheiten, da blieb Herr Sommerfeld lieber für sich. Er sagte, Zsa Zsa und ich hätten frischen Wind in sein Leben gebracht und auch für mich war unsere Bekanntschaft eine große Bereicherung. Mit seiner liebenswerten, versonnenen Art schaffte er es immer, mich aufzuheitern, wenn ich mal einen Durchhänger hatte, und ließ mich viele Dinge von einer anderen Seite betrachten.

„Mittlerweile ist sie mehr bei Ihnen zu Hause als bei mir.“ Ich reichte ihm eine Tüte mit Mitbringseln. „Nur eine Kleinigkeit als Dankeschön.“

„Ihre Kleinigkeiten kenne ich. Wo soll ich denn das alles hinessen?“ Er zeigte auf seinen Bauchansatz und sein kerniges Lachen erfüllte den behaglichen Raum.

„Die Pistazienpralinen mochten Sie doch so, das habe ich mir gemerkt. Und der Minzlikör wird Ihnen auch schmecken. Ich hätte Ihnen noch eine Gewürzmischung mitgebracht, aber Sie kochen ja nicht so gerne orientalisch. Dafür lade ich Sie dann mal zum Essen zu mir nach Hause ein.“

Er winkte ab. „Ach, das ist doch nicht nötig. Sie haben doch genug um die Ohren. Darf ich Ihnen etwas zum Trinken anbieten? Einen Tee vielleicht?“

„Das ist lieb, aber ich bin ziemlich ausgelaugt und sehne mich nach einem heißen Bad.“

„Wie Sie meinen. Aber ein kleiner Absacker muss sein, sonst bin ich beleidigt.“ Augenzwinkernd zog er die Flasche Minzlikör aus der Papiertüte, die er auf dem ovalen Couchtisch aus Holz ablegte.

Zumindest das war ich ihm schuldig. Ich rang mich zu einem Lächeln durch. „Einverstanden.“ Mein Blick huschte über das weiße Spitzendeckchen, das den Tisch zierte und auf dem eine filigrane Porzellanschale mit Pralinen stand, daneben ein Igel und ein Delfin aus Glas. Mit Sicherheit hatte er seit dem Tod seiner Frau kaum etwas verändert. Irgendwie rührend.

„Wie war es denn in Marokko? Haben Sie etwas Feines gefunden?“

„Naja, nicht wirklich. Mein Chef wird diesmal wenig erfreut sein. Aus Fès habe ich nur etwas zum Verfeinern der Speisen und ein paar Würste mitgebracht. Die müssen Sie unbedingt probieren, etwas pikant aber lecker. Ich hole Ihnen nachher noch ein Paar von drüben.“

„Lassen Sie mal, das hat Zeit. Können Sie auch morgen noch machen.“ Er holte zwei Schnapsgläser aus der Vitrine der antiken Schrankwand, die fast die ganze Seite des Raumes einnahm, und schenkte uns großzügig ein. „Zum Wohl, Frau Berger.“

„Zum Wohl.“ Ich prostete ihm zu, setzte das Glas an und kippte die Flüssigkeit meine Kehle hinunter. „Brr. So süß habe ich ihn gar nicht in Erinnerung!“ Ich verzog das Gesicht und schüttelte mich kurz, während der Likör sich warm in meinem Magen ausbreitete.

„Och, ich könnte mich daran gewöhnen.“ Sein verzückter Gesichtsausdruck sprach Bände.

„So, wo ist denn jetzt die Chefin?“ Ich blickte mich um, doch nirgendwo konnte ich Zsa Zsa entdecken.

„Ich glaube, sie versteckt sich.“ Mit konspirativem Gesichtsausdruck zeigte mein Nachbar hinter sich auf die Kommode aus Mahagoni, als würde er das Versteck eines Kindes auffliegen lassen.

Großartig. Meine Katze zeigte mir die kalte Schulter. Seufzend kniete ich mich auf die dunkle Auslegware und sah unter die Kommode.

Die Beine angewinkelt kauerte Zsa Zsa in der Ecke, sah mich kurz an und dann an mir vorbei, ihr Schwanz fegte dabei von rechts nach links über den Boden. Das war eindeutig.

„Na, du untreue Tomate, hast du einen anderen Dosenöffner gefunden?“

„Ach iwo, Sie kennen sie doch“, meldete sich mein Nachbar beschwichtigend zu Wort. „Sie spielt wieder die beleidigte Leberwurst und nach ein paar Tagen ist sie anhänglich wie eh und je.“

„Ihre Zuversicht in allen Ehren.“ Lachend erhob ich mich. „Also, wenn Sie nichts dagegen haben, lasse ich sie noch bis morgen bei Ihnen. Auf dieses Spielchen lasse ich mich nicht ein, da ziehe ich eh den Kürzeren.“ Ich schob meinen Ärmel hoch und zeigte Herrn Sommerfeld die roten Striemen, die Zsa Zsas Krallen letzte Woche hinterlassen hatten.

Die Arme auf die Oberschenkel gestützt beugte er sich hinab. „Sowas machst du?“, sagte er mit vorwurfsvoller Miene meiner Katze die Meinung. „Du kratzt die Hand, die dir zu Fressen gibt? Das hätte ich nicht gedacht!“

„Zu ihrer Verteidigung muss ich sagen, dass ich sie wohl an einer empfindlichen Stelle am Bauch erwischt habe, als ich sie unter dem Bett hervorziehen wollte. Aber ich weiß genau, warum sie das neuerdings macht.“

Herr Sommerfeld tauchte mit gerunzelter Stirn aus der Versenkung auf. „Und warum?“ Er nahm den Minzlikör zur Hand, schenkte noch mal großzügig nach, reichte mir mein Glas und sah mich erwartungsvoll an.

Rasch brachte ich es hinter mich und kippte das grüne Gift auf Ex hinunter. „Damit ich sie mit Leckerlis hervorlocke“, erklärte ich, diesmal ohne das Gesicht zu verziehen. Langsam kam ich in Übung. „Und das einige Male am Tag. Aber bevor mich jemand wegen Überfütterung meines Haustiers anzeigt, lasse ich sie lieber schmoren.“

Herr Sommerfeld lachte schallend auf. „Gut, sie ist vielleicht ein wenig übergewichtig …“

„Sie ist nicht übergewichtig, sondern fett, bringen wir es mal auf den Punkt“, fiel ich ihm schmunzelnd ins Wort. „Zsa Zsas Hängebauch schleift beinah auf dem Boden.“

„Es könnte sein, dass ich ein klitzekleines bisschen daran schuld bin.“ Eine Pause entstand, in der Herr Sommerfeld sich über das schüttere Haar strich und mich reumütig anblickte. „Ich habe herausgefunden, dass sie ganz verrückt nach Schabefleisch ist.“

„Herr Sommerfeld!“, rief ich gespielt empört aus. „Das ist also einer der Gründe, warum sie so einen Narren an Ihnen gefressen hat. Bitte verwöhnen Sie meine Katze nicht zu sehr. Sie gehört dringend auf Diät gesetzt!“

Mein Nachbar kicherte vor sich hin. Seine Augen hatten einen glasigen Ausdruck angenommen. „Das ist wie mit den Enkelkindern, die darf man nach Herzenslust verwöhnen, Erziehung ist Frauchen-Sache.“ Mit einem Augenzwinkern versuchte er mich milde zu stimmen.

Mir entkam ein ostentatives Seufzen. „Hätte ich mir ja gleich denken können.“ Kopfschüttelnd zog ich eine Augenbraue in die Höhe. „Apropos Enkelkinder … Ich habe Ihres im Treppenhaus getroffen. Sie haben nie ein Wort über ihren Enkel verloren. Schon gar nicht, dass er in Berlin wohnt.“

„Tat er auch bis vor kurzem nicht. Ich hatte kaum Kontakt zu ihm. Das wollen wir aber jetzt ändern. Lian hat nämlich einen Job hier gefunden.“

„Hat er sich denn vorher nie bei Ihnen gemeldet?“

„Da das Verhältnis zwischen mir und meinem Sohn - seinem Vater - nicht das beste ist, hatten wir seit seiner Teenagerzeit kaum Kontakt.“ Ein trauriger Schimmer trat in seine Augen. „Das ist sehr schade, denn er ist wirklich ein netter Junge.“

Nickend stimmte ich ihm zu, obwohl ich mir da nicht ganz sicher war. Dennoch freute ich mich, dass sich endlich jemand von Herrn Sommerfelds Familie bei ihm blicken ließ. „Er war sehr hilfsbereit und hat mir mein Gepäck hochgetragen. Aber eine Plaudertasche ist er nicht gerade“, fügte ich nach einer kurzen Pause hinzu. Die Bemerkung konnte ich mir einfach nicht verkneifen und vielleicht lockerte sie Herrn Sommerfelds Zunge in Bezug auf seinen Enkel.

Ein kleines Lächeln grub sich um seine Mundwinkel, für einen Moment schien er mit den Gedanken weit weg. „Nein, reden ist nicht so seins.“

Ich nickte. Offenbar war das Thema damit beendet. Und für mich wurde es Zeit, zu gehen. „Dann werde ich mich mal auf den Weg machen. Richten Sie Zsa Zsa von mir aus, dass ab morgen andere Saiten aufgezogen werden.“ Mit einem strengen Blick sah ich ein letztes Mal unter die Kommode, wo Zsa Zsa erneut desinteressiert an mir vorbeischaute.

Als ich zurück in meine Wohnung kam, trat ich mir die Sneakers von den Füßen, schälte mich aus meiner engen Jeans und schlüpfte in meine kuschlige Schlafanzughose. Anstatt mir sofort ein heißes Bad zu genehmigen, entschied ich mich dafür, erstmal einen neuen Blog-Beitrag hochzuladen. Doch das ging nicht ohne einen Darjeeling-Tee, den ich mir aus West-Bengalen mitgebracht hatte.

Nachdem ich ihn drei Minuten hatte ziehen lassen, fügte ich etwas Milch und Honig hinzu und lief in meinen flauschigen Hüttensocken durch den langen Flur ins Wohnzimmer.

Die Dielen begrüßten mich knarzend und ich machte es mir auf meiner Couch neben dem Fenster gemütlich. In meine Fleecedecke gekuschelt, wanderte mein Blick zu der selbstgestrichenen Wand gegenüber und ich lächelte zufrieden. Das Türkis in Verbindung mit den goldenen Tupfen, die ich mit der Schwammtechnik aufgetragen hatte, verlieh dem Raum etwas Glamouröses.

Mit beiden Händen umfasste ich die Tasse und pustete auf die Oberfläche. Das Teegemisch verströmte einen herrlichen Geruch und erinnerte mich an meine Reise nach Indien im letzten Jahr. Lächelnd schloss ich die Augen und sog das Aroma in mich auf. Vorsichtig nippte ich an dem noch dampfenden Heißgetränk und genoss die samtige Süße auf der Zunge. Es ging doch nichts darüber, an einem feuchtkalten Tag eingewickelt in eine kuschlige Decke Tee zu trinken.

Aber irgendetwas fehlte. Das Tapsen von Pfötchen auf der Couch. Das Treteln von Vorderpfoten auf der Decke, als würde Zsa Zsa auf meinen Oberschenkeln einen Teig kneten, um es sich dann auf meinem Schoss gemütlich zu machen. Und das leise Schnurren, das durch ihren Körper vibrierte. Ein wehmütiges Seufzen entkam mir. Nichts wollte ich jetzt lieber tun, als meine Finger in ihr dichtes Fell zu graben und sie zu kraulen. Wenn sie nach meinen Reisen doch nur nicht immer die beleidigte Leberwurst spielen würde. Vor gut einem Jahr hatte ich das eigenwillige Wollknäuel zu mir genommen, weil meine Freundin für ihren Job ins Ausland musste. Zsa Zsa war schon eine erwachsene Katze von sechs Jahren gewesen, aber wir freundeten uns schnell an und ich nahm mir vor, noch einen Spielgefährten für sie anzuschaffen. Und dann schaltete sich mein schlechtes Gewissen ein: Ich konnte Herrn Sommerfeld unmöglich noch eine weitere Katze aufhalsen. Hinzukam, dass Zsa Zsa sich mittlerweile zu so einer Diva gemausert hatte, dass ich befürchtete, mit einer Zweitkatze würden die Fetzen fliegen. Aber auch Zsa Zsa gegenüber fühlte ich mich schlecht: Der katzengerechte Balkon reichte bei weitem nicht als Auslauf aus, deshalb schaffte ich einen Kratzbaum und etliche Spiel-Utensilien an. Die jetzt größtenteils unbenutzt und verstaubt in der Ecke lagen. Zum Glück sorgte Herr Sommerfeld regelmäßig für Abwechslung. Vermutlich würde ich an ihrer Stelle auch schmollen und die Gegenwart meines Nachbarn vorziehen.

Statt Zsa Zsa nahm ich meinen Laptop auf den Schoss, um eins der Bilder vom Souk hochzuladen, doch zunächst checkte ich meine Mails. Neben viel Spam war auch eine Nachricht von meiner Jugendliebe Ben dabei. Ich runzelte die Stirn. Seltsam. Warum meldete der sich bei mir? Wir hatten uns eine Ewigkeit nicht mehr gesehen. Wenn ich mich recht erinnerte vor acht Jahren beim letzten Abitreffen, auf dem ich mich hatte blicken lassen.

Rasch überflog ich die Zeilen. Er schrieb, dass er einen Artikel von mir in einem Gourmet-Magazin gelesen hätte und ob ich nicht Lust hätte, mit ihm einen Kaffee zu trinken, um ihn über mein Leben upzudaten, wie er es ausdrückte. Ich musste lächeln. Sicher wollte er wissen, ob ich Mann und Kinder hatte. Da er über sich nichts schrieb, ging ich davon aus, dass er auf diese Art meine Neugierde wecken wollte. Immer wenn ich an Ben dachte, hatte ich den Geruch von Zimtkaugummi und frisch gewaschener Wäsche in der Nase. Ein Bild von uns beiden am Badesee schob sich vor mein geistiges Auge. Wir lagen knutschend auf der Decke und als es anfing zu regnen, störten wir uns nicht daran, sondern tauschten weiter Zärtlichkeiten aus. Damals in der Oberstufe waren wir schwer verliebt ineinander. Bis zu dem Tag, an dem Ben beschlossen hatte, in London zu studieren. In seinen Plänen war ich nicht vorgekommen, was mich traurig gemacht und enttäuscht hatte.

Auf dem Abitreffen gestand er mir damals, dass er es bitter bereut hatte, mich einfach so zurückgelassen zu haben. In London hatte er versucht Kontakt mit mir aufzunehmen, aber ich hatte nicht geantwortet. Mein Stolz und meine Enttäuschung hatten es einfach nicht zugelassen.

Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr wollte ich wissen, was er so trieb. Rasch öffnete ich meine Facebook-Seite und suchte in meinen Kontakten nach seinem Namen. Ben Schuster. Ich erkannte sein Gesicht sofort. Er hatte sich seit dem Abitreffen kaum verändert. Das verschmitzte Grinsen ließ ihn noch immer jungenhaft wirken und dunkle Stoppeln auf den Wangen verliehen ihm einen markanten Touch. Ein paar Lachfältchen hatten sich um seine Augen gebildet, die ihm aber gut zu Gesicht standen. Ich nahm einen Schluck von dem bereits lauwarmen Tee und fasste mir ein Herz.

Lieber Ben,

habe gerade deine Mail gelesen. Hast Du Dich scheiden lassen, oder warum lässt Du nach so langer Zeit von Dir hören? ????

Ich hatte es schon immer geliebt, ihn ein wenig zu provozieren.

Zu meinem großen Erstaunen leuchtete schon nach wenigen Sekunden ein grüner Punkt unter seinem Profil. Er war online! Leise kicherte ich vor mich hin. Der Abend verhieß spannend zu werden.

Die drei Punkte hüpften auf und ab, genau wie mein Herz, das in den Samba-Beat gewechselt hatte. Ich fühlte mich um Jahre zurückversetzt, als ich mit schweißfeuchten Fingern den ersten Liebesbrief auseinandergefaltet hatte. Wie kindisch! Aber wen wunderte es schon, mein eingerostetes Herz war männliche Avancen nicht mehr gewohnt.

Mimi!!

Wie schön, von dir zu lesen. Noch immer so direkt wie eh und je. So falsch liegst du allerdings nicht. Ich habe mich vor einem Monat von meiner Freundin getrennt. Oder sie sich von mir. Wie man es nimmt. Ich hatte es als Zeichen gewertet, als ich auf deinen Artikel gestoßen war: Eine höhere Macht will, dass wir uns treffen.

Bens ausgekochtes Grinsen schwebte vor meinem inneren Auge und ich musste schmunzeln. Wie hätte ich da ein Treffen mit ihm ablehnen können?