Leseprobe Olivensommertage

1. Ein denkbar schlechter Urlaubsstart

Lisa saß mit den Armen um ihre angewinkelten Knie am Strand und starrte gedankenverloren aufs Meer hinaus. Sie hatte die Hosenbeine hochgekrempelt, die Zehen im noch kühlen Sand vergraben und genoss die morgendlichen Sonnenstrahlen auf ihrer Haut. Um halb acht war sie auf Zakynthos gelandet. Sie hatte sich ihren Koffer geschnappt, den Instruktionen des Autoverleihers gelauscht, Straßenkarte und Schlüssel in Empfang genommen und war keine halbe Stunde später zu ihrem Ferien-Domizil unterwegs gewesen. Noch war das Zimmer nicht bezugsbereit. Deswegen nutzte sie die frühe Stunde und ging gleich an den Strand. Ihre Sneakers standen neben ihr im Sand, wenn es zu heiß werden sollte, könnte sie sich schnell umziehen. Auch Badesachen waren im Rucksack vom Handgepäck untergebracht, welcher neben ihren Schuhen lag.

Langsam stellte sich Urlaubsfeeling ein.

Endlich fühlte sie sich leichter, freier und sorgloser, und das hatte sie verdammt nötig. Ihre Zukunft lag im Ungewissen, das Schicksal hatte sich in jüngster Vergangenheit gegen sie verschworen. Zuerst hatte ihr altes Auto den Geist aufgegeben, dann war eine furchtbar laute Familie in die Wohnung über ihr eingezogen, deren Radau sie daran hinderte, auf ihrer Terrasse nach einem stressigen Arbeitstag Ruhe und Entspannung zu finden. Bald war auch die Feierabend-Entspannung auf der Terrasse nicht mehr nötig gewesen, denn die Geschäftsleitung ihrer Firma – eine Großhandlung für Fliesen und Natursteine – hatte beschlossen, den Einkauf künftig von der Zentrale aus zu steuern und sämtliche Einkaufsabteilungen in den Zweigstellen dichtgemacht. Diese Rationalisierungsmaßnahme hatte auch sie betroffen. Sie war mit einer Abfindung auf die Straße gesetzt worden, Geldsorgen hatte sie erst mal keine, aber das war es dann auch schon. Als sie ihrem Freund Anton, mit dem sie seit etwa einem halben Jahr zusammen gewesen war, von der Kündigung erzählt hatte, hatte dieser sie sofort verlassen, weil eine arbeitslose Freundin unter seiner Würde sei.

Eine Woche später wurde er mit einer anderen Blondine im Arm gesehen, wie sie über gemeinsame Bekannte erfahren hatte. Dem Idioten wollte sie aber keine Träne mehr nachheulen. Sie war, mit etwas Abstand betrachtet, in dieser Beziehung nie ganz glücklich gewesen. Dennoch schmerzte es, wie leicht er sich ihrer entledigt und wie schnell er eine Neue gefunden hatte. Das hatte ihrem Selbstbewusstsein einen gehörigen Knacks versetzt, und sie fühlte sich seither wie der letzte Abschaum. Vielleicht hatte ihre Freundin Carlotta recht gehabt. Diese hatte Anton von Anfang an nicht leiden können und gemeint, er würde sie ausnutzen und nur ihres Aussehens wegen mit ihr zusammen sein. Lisa seufzte. Es war besser, gar nicht mehr daran zu denken. Immerhin war sie auf diese griechische Insel geflogen, um Abstand zu gewinnen und sich zu erholen. Nicht nur die lauten Nachbarn waren schuld, dass ihre Wohnung keine Wohlfühloase mehr war, sondern auch, weil ein Häuserblock nach dem nächsten aus dem Boden gestampft und der einstmals so einzigartige Ausblick auf den in der Nähe liegenden See verbaut worden war. Die ruhige Seitenstraße, die sie einmal gewesen war, als Lisa die Wohnung bezogen hatte, mutierte zur Durchfahrtsstraße zum Neubaugebiet. Durch die Dreißigerzone rumpelten nun täglich schwere Lkws und Baufahrzeuge. Wie sehr die Wege erst verstopft sein würden, wenn die neuen Wohnkomplexe bezugsbereit waren, wollte sie sich gar nicht ausmalen, da kaum Tiefgaragen geplant waren.

Diese zwei Wochen Urlaub auf Zakynthos hatte sie dringend nötig. Lisa holte tief Luft und sog den salzigen Geruch des Meeres in ihre Lungen. Mit geschlossenen Augen lauschte sie dem Rauschen der Wellen, die sachte auf dem Sandstrand ausrollten. Sie genoss diesen Moment, ihre Seele baumeln zu lassen. Geld allein machte nicht glücklich, aber es beruhigte, wenn man sich dank der Abfindung – trotz Joblosigkeit – einen zweiwöchigen Urlaub leisten konnte.

Carlotta – oder Carli, wie ihre beste Freundin gerufen wurde – hatte zweifelnd die Stirn gerunzelt, als sie von ihrem Vorhaben erzählt hatte.

»Ausgerechnet du, allein unterwegs? Wird dir das nicht zu langweilig, ohne Ansprechpartner?«, hatte sie gefragt, doch Lisa hatte nur gelächelt.

»Ob du es glaubst oder nicht, ich freue mich darauf, endlich mal keinen Menschen zu sehen. Ich werde viel herumfahren und die Insel erkunden, und muss niemandem Rechenschaft ablegen. Ich kann machen, was ich will, und wenn mir danach ist, länger zu bleiben, dann bleibt mir die Option, ohne dass jemand meckert.«

»Ich habe dir gleich gesagt, dass Anton nicht zu dir passt. Er ist viel zu versnobt für dich. Und er hat dich wie einen Menschen zweiter Klasse behandelt.«

»Er war nicht immer so.« Dennoch tat es weh. »Jetzt will ich einfach wieder zu mir finden und Zeit für mich haben.«

»Hm«, hatte Carli gemacht. »Ich bin ein bisschen neidisch. Du wirst auf jeden Fall viel zu erzählen haben, wenn du zurück bist. Wer weiß, vielleicht findet sich ein netter Urlaubsflirt. Würde deinem Ego einen kleinen Auftrieb geben.«

»Darauf kannst du Gift nehmen«, hatte sie grinsend geantwortet. Und sei es nur, um Anton zu beweisen, dass auch sie ganz schnell einen gutaussehenden Blonden an ihrer Seite haben konnte. Lisa ballte die Hand zur Faust. Wieso dachte sie schon wieder an ihren Verflossenen? Kerle wie er konnten ihr gestohlen bleiben. Sie brauchte keinen, der ihr in den Rücken fiel. Momentan konnte sie sich nicht mal vorstellen, je wieder eine Beziehung einzugehen.

Sie schüttelte den Kopf, ließ sich nach hinten in den weichen Sand fallen und verschränkte die Arme hinter ihrem Kopf.

***

Felix blickte sich in der Ankunftshalle des griechischen Flughafens um und grinste breit, als er seinen Freund und Gastgeber Yannis Strakidis entdeckte. Dessen Mund verzog sich zu einem nicht minder strahlenden Lächeln, als Felix auf ihn zuging, seinen eigenen und den Koffer seines Zwillingsbruders hinter sich herziehend.

Sie begrüßten sich mit einem kräftigen Schulterklopfer und einer Umarmung. »Schön, dass ihr hier seid! Wo steckt Leon?«

»Der ist noch schnell für kleine Jungs«, antwortete er. »Da kommt er schon.« Obwohl Felix und Leon eineiige Zwillinge waren, konnte man sie leicht unterscheiden. Felix’ Augen waren eine Spur dunkler als die von Leon und erinnerten an Zartbitter- statt Vollmilchschokolade. Seit sie ein Amt im Vorstand der Porzellanmanufaktur ihres Vaters bekleideten, trugen sie unterschiedliche Frisuren. Wo Leon seine dunkelbraunen Haare kurz geschnitten hielt – seitlich kürzer als oben –, trug er seine schulterlang mit Undercut und oft mit Zopf oder als Man Bun, auch wenn sein Vater jedes Mal meinte, dass sich das für einen seriösen Geschäftsmann nicht gehörte. Das hielt ihn einzig und allein davon ab, sich Dreadlocks machen zu lassen. Der gestutzte und gepflegte Vollbart, welchen die Brüder im gleichen Look trugen, ließ beide älter beziehungsweise reifer aussehen, als sie waren.

Leon wurde ebenso herzlich von Yannis begrüßt. »Herzlich willkommen auf Zakynthos! Ich kann kaum fassen, dass ihr hier seid.«

»Na hör mal, das ist doch selbstverständlich, dass wir bei der Eröffnungsfeier dabei sind!«, antwortete Leon und ließ den Blick über seinen Freund schweifen, dessen Haare ein schönes Stück gewachsen waren, seit er ihn das letzte Mal gesehen hatte. »Du siehst inzwischen dem griechischen Tennisspieler Stefanos Tsitsipas ähnlich. Nur hat der keine blauen Augen, soweit ich weiß«, stellte er schmunzelnd fest. »Klasse, dass du uns persönlich abholst.«

»Das wollte ich mir nicht nehmen lassen, nach der langen Zeit, wo wir uns nicht gesehen haben. Ich stecke zwar voll im Stress, aber momentan wissen die Arbeiter, was sie zu tun haben. Also los, raus hier. Ich muss schnell wieder zurück.«

Yannis war ein ehemaliger Schulkamerad, der bei seiner geschiedenen Mutter in Deutschland aufgewachsen war. Nach dem Studium folgte er jedoch dem Angebot seines griechischen Vaters, die Führung des Hotels zu übernehmen. Das Panagiotis war in den letzten Monaten unter seiner Leitung gründlich modernisiert worden und eröffnete am Wochenende unter dem neuen Namen Caretta Palace. Yannis hatte sich für den Namen der geschützten Riesenschildkröten entschieden, da er nicht wollte, dass das Hotel weiterhin so hieß wie das Schiffswrack am Navagio Beach, für welches die Insel berühmt war. Zur Eröffnungsfeier waren nur gewählte Gäste eingeladen worden, und die Zwillinge gehörten dazu. Zum einen, da sie gute Freunde von Yannis waren, und zum anderen, weil sie ihn bei dem Projekt tatkräftig unterstützt hatten: Leon war ihm beratend bei finanziellen Dingen zur Seite gestanden, und er, Felix, hatte ihn beim Marketing unterstützt und das Hotellogo entworfen. Und deswegen waren sie nun für eine Woche seine Gäste.

Nach etwa einer halben Stunde hatten sie das Hotel erreicht. Yannis zeigte ihnen ihre Juniorsuite und verschwand daraufhin, denn er hatte noch viel bis zur Eröffnungsfeier zu tun.

Sein Zwillingsbruder Leon pfiff durch die Zähne und blickte sich um. »Hier lässt es sich aushalten. Der Ausblick ist phänomenal. Ich nehme das angrenzende Zimmer, okay?«

»Mir egal«, antwortete er. »Sind sowieso gleich geschnitten.«

»Gut, dann pack ich jetzt mal aus.« Leon verschwand nach nebenan und schloss die Verbindungstür hinter sich, welche die beiden großen Schlafräume voneinander trennte.

Fünf Minuten später starrte Felix fassungslos auf den geöffneten Koffer auf seinem Bett, der darauf wartete, ausgepackt zu werden. Das Problem war nur, dass sich nicht seine Hosen und Hemden darin befanden, sondern luftige Sommerkleider, zarte Spitzendessous und High Heels. Außerdem verströmte der Inhalt einen dezenten Duft nach Lavendel mit einem Hauch von Rosen, seit er den Deckel geöffnet hatte. Das durfte doch wohl nicht wahr sein!

»Leon!« Felix hämmerte gegen die Verbindungstür. »Schwing deinen Arsch rüber! Ich habe hier ein kleines Problem!«

Der Gerufene öffnete die Tür. »Was gibt’s denn?« Sein Bruder lachte schallend, als er auf den Kofferinhalt blickte. Es dauerte eine Weile, bis er sich beruhigt und die Lachtränen aus den Augen gewischt hatte. »Verschweigst du mir etwas? Seit wann trägst du Frauenkleider?«

Felix hatte auf einem Hocker Platz genommen und trommelte ungeduldig mit den Fingern gegen seinen Oberschenkel. Er fand das ganz und gar nicht lustig. »Lach ruhig. Aber ich fürchte, du musst mir einen Anzug leihen.«

Leon zog die Stirn kraus. »Sieht danach aus, Brüderchen. Du hast Glück, dass ich grundsätzlich mehr einpacke, als ich brauche. Hast du mich nicht noch ausgelacht, weil ich für Übergepäck bezahlen musste?«

»Das mache ich nie wieder, ich schwör’s bei Gott.«

»Wäre besser, sonst lasse ich dich zur Eröffnung eins von diesen Teilchen hier tragen«, sagte er und hielt grinsend ein Kleid hoch, dessen dünne Spaghetti-Träger kaum etwas bedecken würden.

Felix war der Spontanere von ihnen und für jeden Blödsinn zu haben, während Leon für alles einen Plan hatte und immer gut organisiert war. Natürlich würde es diesem nie passieren, mit einem falschen Gepäckstück im Schlepptau auf Zakynthos zu landen, denn er kontrollierte sein Namensschild an der Gepäckausgabe. Felix hatte nicht einmal eines an seinem Koffer befestigt – was ihn nun in eine saubere Bredouille brachte, wie er bekümmert feststellte. Langsam dämmerte ihm, dass er sein Zeug wahrscheinlich nie wiedersehen würde. Felix seufzte. Zum Glück hatten sie die gleiche Statur.

»Du lernst es wirklich nur auf die harte Tour«, kommentierte Leon brüderlich. »Wir rufen sofort bei der Fluggesellschaft an und melden deinen Koffer als vermisst. Vielleicht macht er ja einen Umweg über Afrika und kommt später hier an. Hoffnungen würde ich mir an deiner Stelle aber keine machen.«

Er hasste es, sich wie ein gescholtenes Kind zu fühlen – als würde er nichts auf die Reihe kriegen.

Während sein Bruder die Nummer der Fluggesellschaft heraussuchte, nahm Felix den Kofferinhalt genauer unter die Lupe. Wem dieses Gepäck auch immer gehörte, eines war sicher: Die Dame musste zierlich sein, die Kleidchen hatten Größe 36 und die Schuhe hätten zweimal in seine gepasst. Er kam sich beim Anblick der Unterwäsche schäbig vor, wie ein Voyeur, der in die Privatsphäre eines Menschen eindrang. Schnell verschloss er den Koffer und inspizierte dessen Außenhülle. Vielleicht war die Besitzerin schlauer als er und hatte ein Schild angebracht. Ein leises Lächeln huschte über sein Gesicht, als er es fand.

»Lisa Marie Schneider«, las er laut. Was für ein gewöhnlicher Name. Vor seinem inneren Auge entstand das Bild ihrer grauhaarigen, etwas stämmigen Chefsekretärin, welche für seinen Vater arbeitete, seit er denken konnte. Das passte jedoch ganz und gar nicht zu den zierlichen Outfits, die er im Koffer gefunden hatte.

»Was? Der Name macht neugierig, findest du nicht? Lisa Marie …« Leon ließ den Namen auf der Zunge zergehen und grinste. »Wenn ich nicht gesehen hätte, welch heiße Dessous da drin liegen, hätte ich hinter dem Namen eine alte Rentnerin vermutet. Hat die liebe Lisa denn auch geschrieben, wo der Koffer hinsoll?«

»Das hat sie tatsächlich. Sie hat einen Hotelnamen und eine Handynummer angegeben.«

»Auf was warten wir noch? Mit ein bisschen Glück hat sie deinen Koffer. Also los, sag mir die Nummer, ich rufe sie gleich an.«

Er tippte ihre Nummer ins Smartphone und lauschte. »Hast du da noch Töne«, knurrte Leon kurze Zeit später frustriert. »Sie hat meinen Anruf abgelehnt. Und jetzt ist sie nicht mehr erreichbar.« Er starrte auf sein Smartphone und konnte es kaum glauben. Dann klopfte er seinem Bruder kameradschaftlich auf die Schulter. »Probieren wir es einfach später noch einmal. Der Koffer läuft nicht davon. Und Frau Schneider auch nicht.«

Das beruhigte Felix kein bisschen. Wenn er schon seine Anziehsachen nicht haben konnte, so wäre er wenigstens gerne den fremden Koffer losgeworden.

»Schöne Schande«, lamentierte er. »Da soll man auf eine Einweihungsfeier und hat nicht mal passende Sachen dabei.«

»Den Abend wirst du in einem Anzug von mir schon durchstehen. So wie ich dich kenne, wirst du den Rest der Zeit am Strand und beim Surfen verbringen«, erwiderte Leon gutmütig.

»Stimmt genau. Deshalb brauchst du mir nur deine Badehose leihen, die benötigst du sowieso nicht«, zog Felix seinen Bruder auf. Er knuffte Leon in die Rippen und folgte ihm in sein Zimmer, um sich ein T-Shirt, eine Shorts und eine Badehose zu schnappen. »Danke, Bro. Du findest mich dort unten.« Er deutete aus dem Fenster, welches einen atemberaubenden Ausblick auf ihre Dachterrasse, das Meer und den langen Sandstrand gab, der fast menschenleer war – einer der Vorteile, wenn man in der Vorsaison die Insel besuchte. Er wusste, dass er sich bei der Kofferbeschaffung voll und ganz auf seinen Bruder verlassen konnte. Schließlich war Leon der Ältere, auch wenn es nur ein paar Minuten waren. Außerdem war er der besser Organisierte von ihnen.

***

Der Klingelton ihres Handys riss Lisa aus einem Sekundenschlaf am Strand, das frühe Aufstehen hatte seinen Tribut gefordert. Sie rieb sich die Augen und warf einen Blick auf das Display. Eine unbekannte Nummer mit deutscher Vorwahl – sicher irgendeine Marktanalyse. Diese Umfragen waren einfach nur nervig. Verärgert drückte sie auf Abweisen, im Urlaub wollte sie nicht von solchen Dingen belästigt werden. Schlimm genug, dass sie davon aus ihrem Schlummer gerissen wurde. Aber anscheinend handelte es sich um einen hartnäckigen Mitarbeiter des Callcenters, denn keine zehn Sekunden später klingelte es von derselben Nummer erneut. Lisa stöhnte genervt auf.

»Aufdringliches Gesocks«, murmelte sie und schaltete kurzerhand das Handy komplett aus. Jetzt konnten die Werbefuzzis sich die Finger wundtippen, sie war nicht mehr erreichbar.

Langsam bekam sie Hunger, sie hatte vor ihrer Abreise nur einen Espresso getrunken, und es war Zeit für ein spätes Frühstück. Sie würde sich nach einer Bäckerei oder einem Café umsehen, und sich einen ersten Überblick über ihren Ferienort verschaffen.

Nachdem sie von ihrem Spaziergang und dem Frühstück aus dem kleinen, verschlafenen Ort zurückgekommen und eine schöne Strecke im Meer geschwommen war, brachte sie ihren Koffer nur kurz auf ihr Zimmer, räumte Zahnbürste und Ersatzgewand aus dem Rucksack und begab sich sofort wieder an den Strand, wo sie den Rest des Tages mit Schwimmen und Dösen verbrachte. Nachmittags aß sie einen kleinen Tomatensalat mit frischen Oliven an der nahegelegenen Strandbar. Zurück im Hotel verbrachte sie eine weitere Stunde auf ihrem Balkon, die Beine auf den Tisch gelegt, und las in ihrem historischen Liebesroman, welchen sie sich extra für den Urlaub gekauft hatte.

So ließ es sich aushalten, und sie genoss ihren ersten Tag in Freiheit aus vollen Zügen.

Schließlich legte sie das Buch zur Seite, um endlich ihren Koffer auszuräumen, denn das erledigte sich leider nicht von selbst. Zum Abendessen später wollte sie frische Klamotten anziehen, vorzugsweise ein hübsches Kleid, und das mittlerweile verschwitzte Oberteil nicht noch mal verwenden. Erst da bemerkte sie das Malheur, und es ging ihr somit wie Felix Liebl Stunden zuvor: Sie stand sprachlos vor dem geöffneten Gepäckstück und fragte sich, wo denn ihre Sommergarderobe abgeblieben war. Statt der Blümchenkleider blickte sie auf Herrenshorts und Bermudahemden. Der Größe nach von einem recht muskulösen, aber sportlichen Typen, der ein Deo benutzte, das außerordentlich gut roch. Merkwürdigerweise war auch ein einzelner Anzug dabei, als wäre neben Strandaufenthalt noch ein festliches Event geplant. Lisa schmunzelte, als sie die dazu passenden Schnürschuhe aus Leder sah – der Kerl lebte auf großem Fuß.

Es war kein Namensschild angebracht, lediglich das Klebeband der Fluggesellschaft war noch um den Griff gewickelt. Darauf stand, dass ein Mr. Felix Liebl Besitzer des Koffers war, aber das half ihr nicht weiter. Lisa starrte darauf und fragte sich, was sie jetzt tun sollte. Sie konnte sich nicht an eine Reiseleitung wenden, denn sie hatte keine Pauschalreise gebucht, sondern Hotel und Flug selbst online organisiert. Ob die Fluggesellschaft helfen konnte? Durften die ihr überhaupt Adresse oder Telefonnummer dieses Herrn aushändigen? Die Datenschutzbestimmungen waren ja mittlerweile schärfer als ein gut abgerichteter Wachhund. Wer konnte ihr sonst helfen? Der Hotelmanager? Und wieso zum Henker hatte sie sich nicht noch am Flughafen vergewissert, ob es sich um ihr Gepäck handelte? Sie hätte Carlis grellpinken Koffer nehmen sollen, diesen erkannte man schon aus weiter Entfernung, dachte sie grummelnd. Damals hatte Lisa noch gelacht, aber jetzt verstand sie, wieso ihre Freundin sich eine so unmögliche Farbe zugelegt hatte. Schwarze Koffer dieser Marke gab es wie Sand am Meer, aber bisher hatte sie gedacht, dass sie ihren an der Verarbeitung der Vordertaschen erkennen würde. Anscheinend war jener Felix Liebl von der gleichen Vermutung ausgegangen, nur dass sich dieser gleich so sicher fühlte, dass er nicht einmal ein Namensschild angebracht hatte.

Sie holte tief Luft und ließ sich nachdenklich auf der Bettkante nieder.

Fakt eins: Sie hatte einen fremden Koffer.

Fakt zwei: Sie hatte keine Ahnung, wo ihrer war.

Fakt drei: Sie hatte auch keine Ahnung, was sie nun unternehmen sollte.

Fakt vier: Sie musste mit irgendwem darüber reden, also würde sie Carli anrufen.

Fakt fünf: Gott sei Dank gab es in der Minibar einen kleinen Ouzo. Den konnte sie nach diesem Schock gut brauchen.

Lisa schenkte sich den Anisschnaps ein und schaltete ihr Handy wieder an. Der Mobilfunkanbieter hieß sie herzlich willkommen und klärte sie über teure Gebühren auf, das Hotel-WLAN wollte ein Kennwort. Kaum war das Gerät mit dem Netz verbunden, überschlug sich das Piepsen der versäumten Nachrichten. Es kam ihr komisch vor, dass es das Callcenter so oft versucht hatte, aber zum Glück hatte sie davon nichts mehr mitbekommen. Sie konnte nur hoffen, dass diese Werbeleute das Interesse an ihr verloren.

Carli hatte bereits geschrieben, wollte wissen, wie es ihr ging, wie das Wetter war und dass sie sich melden sollte. Sie rief ihre Freundin an, die sofort abnahm, als hätte sie nur auf ihren Anruf gewartet.

»Na, Urlauberin, wie ist es so?«, erkundigte sich Carli.

»Toll ist es hier. Schade, dass du nicht dabei bist. Aber ich habe ein klitzekleines Problem.« Lisa starrte auf das Gepäckstück, als könne es sich dadurch in Luft auflösen.

»Ha! Gib zu, dir ist fad! Du schaffst das allein nicht!«, mutmaßte Carli.

»Das ist es nicht, im Gegenteil. Ich liebe diese Ruhe, nichts sagen oder tun zu müssen. Aber damit ist es leider vorbei.« Und so berichtete sie von dem Koffer, der auf ihrem Bett lag, und hoffte, dass Carli Rat wusste.

»Ich würde an deiner Stelle die Fluggesellschaft kontaktieren. Vielleicht hat Mister Sportlich sich dort gemeldet. Ihr könnt die Koffer ja nur auf Zakynthos vertauscht haben. Ist es die gleiche Airline? Auf den Aufklebern steht Start und Ziel, also kannst du kontrollieren, ob er auch von Wien weggeflogen ist.«

»Ich weiß es nicht, aber ich glaube, auf dem Gepäckband waren noch Koffer aus einer weiteren Maschine, die kurz zuvor gelandet war. Ich hatte mich schon gewundert, weil die Koffer so schnell aus dem Flugzeug geladen wurden.«

»Na siehst du. Dann halte ich dich auch nicht mehr auf, weiß Gott, wie lange du jemanden bei der Airline erreichen kannst.«

»Bis dann Carli, danke dir für deinen Rat.«

»Gerne doch, Süße. Meld’ dich, wenn du was Neues weißt. Oder auf den mysteriösen, aber gutaussehenden Besitzer getroffen bist.«

»Was du schon wieder denkst! Bussi und Baba!«, sagte sie halb entrüstet und legte auf.

Sie seufzte – gefühlt zum hundertsten Mal an diesem Tag – und blickte auf das Etikett. Carlotta hatte recht: Der Abflughafen war nicht derselbe und statt Austria Airlines war hier eine griechische Fluggesellschaft angegeben. Nun war guter Rat teuer, nicht nur, was das Outfit für den heutigen Abend betraf. Sie hatte nur noch eine leichte Stoffhose und eine lockere Tunika als Ersatz im Rucksack. Mit diesen legeren Teilen brauchte sie nicht in ihrem Hotel zum Abendessen auftauchen, wo eine gewisse Eleganz vorgeschrieben war. Sie konnte nur hoffen, dass sie schnellstens ihren eigenen Koffer zurückbekam.

2. So schnell geht’s

Am nächsten Morgen wurde sie durch grelle Sonnenstrahlen geweckt, die durchs geöffnete Fenster fielen und sie in der Nase kitzelten. Lisa hatte – trotz ihrer Sorgen – besser geschlafen als erwartet. Sie hatte versucht, ihre Überlegungen zur Seite zu schieben und in einer Taverne im Ort lecker zu Abend gegessen. Zu den gegrillten Scampi, bei deren Anblick ihr das Wasser im Mund zusammengelaufen war, hatte sie sich einen halben Liter Hauswein gegönnt, der es ganz schön in sich hatte. Sie war zwar nicht betrunken gewesen, da es in Wien und der näheren Umgebung genug Heurigenlokale gab, wo Carli und sie oftmals bei einigen Gläsern Wein ihre Abende verbrachten, und sie somit durchaus zwei, drei Gläser vertrug, aber genug betäubt, um nach dem Zähneputzen sofort in ihr Bett zu fallen, den blöden Koffer zu vergessen und einzuschlafen.

Sie gähnte verschlafen und streckte sich, bevor sie die Augen aufschlug und langsam ihre Umgebung wahrnahm. Den fehlenden Schlaf von der Nacht zuvor hatte sie locker aufgeholt. Es war etwa zweiundzwanzig Uhr gewesen, als sie zu Bett gegangen war, und ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es jetzt halb neun war. Zeit also, rasch aufzustehen, um noch rechtzeitig im Frühstücksraum zu sein. Zum Glück durfte man den ohne das kleine Schwarze betreten.

Erst nach einem starken, griechischen Kaffee, einem Müsli mit frischen Früchten und zwei Scheiben Brot fühlte sie sich gewappnet, die Suche nach ihrem Koffer zu beginnen. Die Sonne war währenddessen hinter einem Wolkenschleier verschwunden, der Wetterbericht sagte für diesen Tag Gewitter und Windböen an, obwohl es warm genug blieb, um den Tag draußen zu verbringen. Sie rief bei der Fluggesellschaft an und hing gute zehn Minuten in der Warteschleife, bis sie überhaupt einen Menschen am Apparat hatte. Wäre ihr Anliegen nicht so dringlich gewesen, hätte sie wohl entnervt aufgelegt. Der obligatorische Walzer von Austrian Airlines mochte für ein paar Augenblicke nett sein, aber auf Dauer ging er ihr auf den Keks.

»Wenn Sie Auskünfte über den Flugstatus haben wollen, wählen Sie die Eins«, säuselte eine mechanische Stimme, während die Musik leiser wurde. »Bei Fragen rund um Ihre Buchung wählen Sie die Zwei. Für zusätzliche Features wählen Sie die Drei.«

Und so weiter und so fort – es schien, als würden die Aufzählungen kein Ende nehmen. Irgendwann war dann doch die Nummer dabei, wo sie ihr Gepäck als vermisst melden konnte, erst da wurde sie zu einem Mitarbeiter weiterverbunden. Sie informierte den Herrn auch, dass sie im Besitz des Koffers von einem Felix Liebl war, welcher mit der Aegean Airlines geflogen sei. Hier habe sie nur die Möglichkeit, diesen am Flughafen dem Bodenpersonal der Fluglinie zu übergeben. Ansonsten würde man sie kontaktieren, sollte ihr Gepäck auftauchen, ließ der freundliche Mann am anderen Ende der Leitung sie wissen.

Nachdem das sicher nicht sofort passieren würde, beschloss Lisa, anstatt den südlichen Teil der Insel zu erkunden, wie sie eigentlich vorgehabt hatte, zuerst der Hauptstadt einen Besuch abzustatten. Dort würde sie notgedrungen shoppen gehen müssen und sich Kleider und frische T-Shirts zulegen. Sie hoffte, dass man ihr Gepäck bald finden und nachschicken würde, aber bis es soweit war, musste sie die Zeit überbrücken. Wenn sie schon in der Hauptstadt unterwegs war, konnte sie genauso gut das fremde Gepäckstück zum Flughafen bringen.

Also schnappte sie sich die Autoschlüssel des Leihwagens, schlüpfte in Turnschuhe und zwangsweise in das alte T-Shirt, packte sicherheitshalber Handtuch und Bikini in den Rucksack und verließ die Hotelanlage. Sie hatte sich schon zu Hause ausgiebig mit den Sehenswürdigkeiten der Insel beschäftigt und herausgesucht, welche Routen sie abfahren wollte. Den Weg vom Flughafen war sie ja bereits gefahren. Nachdem sie den falschen Koffer verstaut hatte, startete sie den Motor und fuhr los.

***

»Ich frage Yannis, ob er uns das Auto leiht«, schlug Leon seinem Bruder vor, nachdem er es noch einmal telefonisch bei Lisa Marie Schneider versucht und wieder nur ein Besetztzeichen erhalten hatte. »Er kann uns gewiss sagen, wie wir in den Ort kommen. Vielleicht weiß er sogar, wo das Hotel ist. Die Anschrift haben wir ja.«

»Das ist eine gute Idee. Dann bin ich wenigstens das fremde Gepäck los. Ob Frau Schneider meinen Koffer hat, steht trotzdem in den Sternen.«

Felix blickte mit gerunzelter Stirn nach draußen. Dunkelgraue Wolken zogen in rasender Geschwindigkeit vorbei, die Oleanderstauden bogen sich im Wind.

»Egal, versuchen müssen wir es. Heute ist das Wetter ohnehin nicht so prickelnd, dass du an den Strand kannst. Außerdem bist du von gestern schon ganz schön rot. Hast dich wohl nicht eingecremt?«

»Nein, wieso sollte ich? Ich bekomme nie einen Sonnenbrand.«

»Zu Hause vielleicht. Hier scheint die Sonne kräftiger, auch wenn du es durch den Wind nicht spürst.« Leon schüttelte den Kopf. Wie unvernünftig sein Bruder sein konnte, verstand er beim besten Willen nicht. Und wieso sein Vater überlegte, ihn allein zum Erben der Firma zu machen, erst recht nicht. Zahlen waren sein Metier, nicht das seines Zwillings. Er warf Felix eine After-Sun-Lotion mit Aloe Vera-Extrakt zu. »Nimm die, das sollte die Rötung lindern.«

Felix verzog das Gesicht. Er war doch kein Weichling, der sich mit einer Körperlotion einschmierte. Aber das Brennen und leichte Ziehen der Haut an den Schultern veranlasste ihn dann doch, die kühlende Milch zu verwenden. Allerdings hätte er sich lieber die Zunge abgebissen, als seinem Bruder recht zu geben.

»Mit Neopren passiert das nicht«, murmelte er stattdessen.

»Klar. Ich suche dann mal Yannis.«

***

Yannis war schwer beschäftigt und scheuchte die letzten Handwerker wie ein Sklaventreiber durch die Gegend. Hier kam seine deutsche Erziehung durch, denn ein Grieche ließ sich normalerweise nicht stressen. Die Eröffnung des Hotels sollte am Samstag stattfinden. In den Badezimmern wurden derzeit die letzten Accessoires montiert, aber die Maler waren noch nicht fertig. Er konnte von Glück reden, dass die fertigen Räume gereinigt und hergerichtet waren, aber in den nächsten beiden Tagen waren noch tausend Kleinigkeiten zu erledigen. Yannis sehnte den Tag herbei, an dem die Gäste kamen, das Tagesgeschäft begann, und er sich nicht mehr mit solchen Dingen beschäftigen musste. Er gab dem Gärtner soeben letzte Anweisungen zur Bepflanzung der Beete und Blumenkästen, als Leon ihn im Garten aufsuchte.

»Hi, Yannis«, wurde er von seinem deutschen Freund begrüßt. »Kann ich dir irgendwo helfen?«

»Kaliméra«, erwiderte er den Gruß. »Xereis na milas ellinika?«

»Was?«

»Ich habe gefragt, ob du griechisch sprichst«, antwortete Yannis schmunzelnd.

»Leider nein, noch immer nicht.« Interessiert warf Leon einen Blick auf die verschiedenen Pflanzen, die darauf warteten, in die Erde zu kommen. Momentan standen sie nur locker an ihrem zukünftigen Platz.

»Siehst du. Also kannst du mir auch nicht helfen. Die Arbeiter verstehen kein Deutsch und kaum Englisch. Gefällt euch die Suite? Ist alles zu eurer Zufriedenheit?« Yannis lenkte seine Schritte zurück zum Hotel, Leon ging neben ihm her.

»Es ist perfekt«, strahlte Leon. »Der Umbau hat sich gelohnt, du hast ganze Arbeit geleistet. Deine Gäste werden begeistert sein.«

»Hoffen wir es. Und danke für deine Hilfe. Es tut mir leid, ab Sonntag habe ich mehr Zeit für euch.«

»Ist doch kein Thema, Yannis. Wir können uns auch allein beschäftigen. Ich hätte allerdings eine kleine Bitte. Kannst du mir ein Auto borgen?«

Yannis blickte auf die Uhr. »An sich wäre das kein Problem, ich muss aber in zwei Stunden nach Zanthe, die letzten Dinge mit dem Eventmanager besprechen. Ich komme voraussichtlich erst abends zurück. Somit kann ich euch meines nicht geben, und der Koch ist mit dem Minivan des Hotels unterwegs. Wo wollt ihr denn hin? Im Ort gibt es eine Autovermietung, wenn ihr die Insel erkunden wollt. Ich könnte euch irgendwo absetzen, wenn es auf dem Weg liegt.«

Leon erklärte das Problem, vor dem sie standen.

Yannis lachte. »Wenn es weiter nichts ist! Gib mir den Koffer dieser Lisa mit. Es ist zwar noch ein Stück bis zu dem Hotel, wo sie untergebracht ist, aber wenn ich schon in der Hauptstadt bin, ist die größte Distanz bereits geschafft.« Er schmunzelte: »Waren wenigstens ein paar ordentliche Dessous dabei?«

»Genug, dass ich selbst neugierig auf diese Frau bin«, zwinkerte Leon.

»Wenn diese Lisa so sexy ist, wie du glaubst, bringe ich den Koffer gerne nach meiner Besprechung hin und erkundige mich, ob Felix’ Zeug bei ihr aufgetaucht ist. Wenn ihr trotzdem ein eigenes Auto braucht, geht einfach die Hauptstraße runter, da stoßt ihr automatisch auf den Verleih. Die Straßen sind gut ausgebaut, es gibt nur wenige, auf denen man einen Allrad-Antrieb braucht.«

»Das werden wir uns auf jeden Fall überlegen. Nur am Strand zu liegen ist auf Dauer langweilig – mir zumindest. Felix kann dort den ganzen Tag verbringen. Danke, Yannis, hol einfach den Koffer ab, bevor du losfährst. Er ist in meinem Zimmer.«

»Geht klar. Bin gespannt, wie diese Lisa aussieht.«

***

Lisas Nachmittag war rasend schnell vergangen. In der Hauptstadt brauchte sie länger, als sie ursprünglich angenommen hatte. Es war nicht einfach, einen Parkplatz zu finden, und es gab so viele Gässchen, dass sie sich mehrmals verlaufen hatte, so dass sie sich beinahe wünschte, Anton wäre bei ihr. Aber letztlich war sie in einer kleinen Boutique gelandet, wo sie zuvorkommend und freundlich bedient wurde. Den Ramsch, den es in den Supermärkten oder Touristen-Läden gab, wollte sie nicht, auch wenn sie dort sofort Strandkleider und Shirts mit dem Logo der Insel fand. So aber hatte sie der netten Besitzerin gleich zwei Kleider, ein Paar Sandaletten und zwei Shirts abgekauft, sogar ein Minirock und neue Unterwäsche hatten den Weg in die Einkaufstasche gefunden.

Anschließend war sie am Flughafen vorbeigefahren und hatte den Koffer des mysteriösen Fremden, dessen Sachen so gut rochen, abgegeben, in der Hoffnung, dass sich der Besitzer des verlorenen Gepäcks dort gemeldet hatte. Das Bodenpersonal versprach, sich darum zu kümmern, und Lisa fiel ein Stein vom Herzen. Schade war nur, dass sie wohl nie erfahren würde, wie der Typ aussah. In ihrem Kopf hatten sich einige Bilder geformt, und kein einziges davon ähnelte Anton auch nur im Geringsten, eher Schauspielern wie Daniel Craig als James Bond oder Chris Hemsworth in seiner Rolle als Thor.

Danach fuhr sie an Laganas und Lithakia vorbei nach Keri Beach und verbrachte den Rest des Nachmittags an einem Strand mit Kieselsteinen und traumhaft klarem Wasser. Anscheinend war sie auf der dem Wind abgewandten Seite der Insel gelandet. Das Meer war hier ruhig und glatt, im Gegensatz zu der Hauptstadt, wo die Brandung heftig gegen die Kaimauern rollte.

Soeben verstaute sie ihre kostbaren neuerworbenen Schätze im Schrank, als sie von der Rezeption verständigt wurde, dass ein Mann in der Lobby wartete, der ihren Koffer dabeihatte.

Konnte das denn sein? Rasch schlüpfte sie in eines der neuen Kleider und Sandaletten, strich mit den Fingern durch ihre widerspenstigen Locken und eilte die Stufen hinunter. Unten angekommen, verschlug es ihr gleich doppelt die Sprache. Der Kerl, der dort stand, hatte zum einen tatsächlich ihren Koffer neben sich stehen, zum anderen sah er einfach viel zu gut aus. Unwillkürlich machte ihr Herz einen kleinen Satz und sie musste sich beherrschen, dass ihr der Mund nicht offenstand. War das Felix Liebl? Das konnte kaum sein, der Mann hier war zierlicher gebaut, als sie es sich anhand der Kleidung ausgemalt hatte.

»Frau Schneider?« Seine Stimme hörte sich warm und weich an.

»Das bin ich«, antwortete Lisa und räusperte sich. Vor ihr stand ein Typ, der an Will Turner aus Fluch der Karibik erinnerte, jedoch um einiges faszinierender.

Die dunkelblauen Augen musterten sie intensiv, bevor sich sein sinnlicher Mund zu einem strahlenden Lächeln verzog. »Das freut mich. Ich denke, der hier gehört Ihnen«, meinte er und zeigte auf das schwarze Teil neben sich.

Lisa wusste nicht, was sie zuerst machen sollte: Vor Freude an die Decke springen, die dargebotene Hand schütteln oder den guten Mann einfach küssen – verlockend genug war die Vorstellung. Sie entschied sich für die zweite Variante, während sie ihn anlächelte, und hoffte, nicht rot zu werden.

»Ich danke Ihnen sehr, Herr …«, stockte sie.

»Strakidis. Verzeihen Sie, dass ich mich nicht gleich vorgestellt habe. Nennen Sie mich einfach Yannis.«

»Gerne, Herr Strakidis, äh, ich meine, Yannis. Vielen Dank, Sie wissen ja nicht, wie froh ich bin, dass der Koffer aufgetaucht ist.«

»Kein Problem. Sie sind nicht zufällig im Besitz des Gepäcks von Felix Liebl?«

»Das war ich«, antwortete Lisa, die sich langsam wieder fasste. »Nachdem ich dem Rat meiner Fluggesellschaft gefolgt bin, habe ich diesen jedoch heute zum Flughafen gebracht und dort am Schalter der Aegean Airlines abgegeben. Das tut mir leid.«

»Machen Sie sich keine Sorgen, Sie haben absolut korrekt gehandelt. Felix wird sicher benachrichtigt werden, sein Bruder hat das Gepäck gestern als vermisst gemeldet.«

»Darf ich Sie zu einem Glas Ouzo oder einem Frappé einladen? Zum Dank, dass Sie mir meine Sachen gebracht haben?«

Yannis’ Augen begannen zu strahlen.

»Sehr gerne. Ich habe alle Zeit der Welt«, sagte er zu ihrer Freude, bevor er ihr nochmals seine Hand entgegenstreckte und ihr mit der anderen die Tür aufhielt. »Aber ich bezahle.«

Kurz darauf saßen Lisa und Yannis an der Poolbar bei einem belebenden Nescafé Frappé und lächelten sich an.

»Wie kommt es, dass Sie so blaue Augen und dunkelblonde Haare haben?«, fragte sie, während sie seine klassisch griechischen Gesichtszüge musterte.

Die gerade Nase, die sinnlichen Lippen, der dezente Oberlippenbart, die schwungvoll geformten Augenbrauen, die ausdrucksvolle Gestik – alles an Yannis faszinierte sie, und sie fragte sich unweigerlich, wie sie es schaffen sollte, sich nicht Hals über Kopf in ihn zu verlieben. Noch dazu hatte sie ein Faible für Männer mit schulterlangem Haar, auch wenn ihr Ex Anton einen Kurzhaarschnitt trug und damit aus dem Rahmen fiel. Yannis hatte seine Krawatte abgenommen und die obersten Knöpfe seines Hemdes geöffnet. Der Anblick seiner glatten Brust brachte Lisas Gemütsruhe gehörig durcheinander. Lisa hielt ihr Glas fest umklammert, denn sie konnte nicht garantieren, was ihre Hände anstellen würden, wenn sie keine Kontrolle darüber hatte. Sie musste sich höllisch zusammenreißen, um ihn nicht zu berühren. Seine Nähe machte sie ganz kribbelig und bescherte ihr wackelige Knie. Vergessen waren die Überlegungen, wie Felix Liebl aussah. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass es eine Steigerung an Männlichkeit gab, die gerade vor ihr saß. Muskulöser vielleicht – aber umwerfender? Wohl kaum.

»Da schlägt das Erbe meines Großvaters mütterlicherseits durch«, erklärte Yannis lächelnd und riss sie damit aus ihren Gedanken.

Während sie miteinander plauderten, erfuhr sie, dass er in Bayern gewohnt hatte, bevor ihm sein Vater das Angebot unterbreitet hatte, die Leitung des Hotels zu übernehmen. Die Zwillinge Felix und Leon Liebl, die nun bei ihm als Ehrengäste logierten, waren Freunde von ihm.

Nach einer Stunde hatten sie die Örtlichkeit gewechselt. Er hatte sie kurzerhand in sein Auto verfrachtet und war mit ihr nach Vasilikos gefahren, wo er eine Taverne am Meer kannte, etwas abseits, sodass es noch ein Geheimtipp war. Und jetzt saßen sie auf dem Balkon des Lokals direkt am Strand, erzählten sich beinahe ihr gesamtes Leben und aßen leckere Mezedes, welche er ausgesucht hatte.

»Ich kann von Glück reden, dass du diesen Anton los bist«, meinte Yannis gerade und leckte sich die Finger vom Olivenöl ab, bevor er das Messer zur Hand nahm und ein Stück Pitabrot mit Tsatsiki bestrich. »Ein kompletter Idiot, wenn du mich fragst. Wie kann man eine so verdammt hübsche und intelligente Frau wie dich laufenlassen?«

Lisa wurde rot, ein ehrlich gemeintes Kompliment hatte sie lange nicht bekommen. »Das klingt, als würdest du Anton kennen«, scherzte sie.

Ihr wurde plötzlich bewusst, dass ihr Verflossener kein einziges Mal bezahlt hatte, wenn sie zusammen ausgegangen waren. Meist hatte sie die Rechnung übernommen, obwohl Geld in seiner Familie keine Rolle spielte. Mit etwas Glück hatte es getrennte Kassen gegeben. Außerdem hatte Anton sich nie erkundigt, wie es ihr ging oder was sie machen wollte, sämtliche Aktivitäten hatte er bestimmt, egal ob es sich dabei um einen Besuch im Kino oder um einen gesellschaftlichen Anlass handelte. Yannis hatte also voll ins Schwarze getroffen. Sie schüttelte sich. Wie hatte sie sich nur so von Anton unterbuttern lassen können?

»Wenn ich zurückdenke, kann ich mich kaum erinnern, was ich an ihm mochte«, nahm sie den Faden wieder auf. »Aber lass uns bitte nicht mehr von meinem Ex sprechen. Wieso hast du keine Frau an deiner Seite? Die Damen müssten doch bei dir Schlange stehen?«

Yannis grinste amüsiert. »Ich hatte bisher keine Zeit, darauf zu achten. Seit ich in Griechenland bin, gab es nur die Planung und die Überwachung des Umbaus des Hotels. Drei Kreuzzeichen, wenn am Samstag die Eröffnung ist.« Yannis kniff kurz die Augen zusammen, ihm war soeben eine geniale Idee gekommen. »Hör zu, Lisa. Möchtest du am Samstag zur Eröffnungsfeier kommen? Ich lasse dir ein Zimmer herrichten, dann musst du nachts nicht zurückfahren. Du würdest dich sicher super mit Leon und Felix verstehen, und es wäre doch jammerschade, wenn du deinen Urlaub allein verbringst, wenn du genauso gut in Gesellschaft sein kannst. Ich würde mich riesig freuen, dein hübsches Gesicht unter den Gästen zu sehen.«

Lisa verschluckte sich beinahe, als er die Einladung aussprach. Sie überlegte jedoch nicht lange, obwohl solche Zusagen sonst nicht ihre Art waren. Sie hatte Urlaub – da schadete ein wenig Spontanität sicher nicht.

»Sehr gerne, Yannis. Da muss ich wohl noch mal shoppen gehen«, stellte sie fest. »Ein Outfit, welches diesem Anlass gerecht wird, habe ich nicht dabei.«

Er nahm ihre Hand, zog sie zu seinem Mund, hauchte einen zarten Kuss darauf und blickte ihr in die Augen, sodass sie glaubte, in den Tiefen eines Gebirgssees zu versinken. Der feste Griff seiner Hand und die zarte Berührung seiner Lippen fuhren ihr durch Mark und Bein und trieben ihren Puls in die Höhe.

»Um das Kleid kümmere ich mich. Du musst kein Geld dafür ausgeben, nur weil ich dich zur Eröffnung einlade.«

»Oh«, machte sie. »Du musst aber nicht …«

Yannis lächelte, und seine strahlend weißen Zähne blitzten ihr entgegen. »Ich lasse keinen Widerspruch zu«, erwiderte er. »Du musst mir nur deine Kleidergröße verraten.«

»Ist das nicht ein bisschen zu intim?«, neckte sie ihn.

»Nur dann, wenn du mir auch deine Körbchengröße verrätst«, konterte er und widmete sich mit Hingabe dem letzten gegrillten Paprikastreifen, der auf seinem Teller lag.

»Uff«, sagte Lisa und strich über ihren Bauch. »Ich platze gleich. Wie kann man nur von Vorspeisen so satt werden, bitte?«

»Indem man von allem etwas probiert. Einen Ouzo zur Verdauung?«

»Gern.«

Yannis orderte zweimal das Getränk und zahlte die Rechnung. Nachdem sie den Digestif geleert hatten, brachte er sie zum Hotel zurück.

Verlegen stand sie ihm auf dem Parkplatz gegenüber, weil sie nicht wusste, ob sie ihn noch mit hineinbitten sollte. Das ginge ihr zu schnell, auch wenn sie sich mehr als alles andere danach sehnte, noch ein bisschen mehr Zeit mit ihm zu verbringen.

»Ich danke dir für die Einladung, Yannis. Ohne dich hätte ich diese Taverne sicher nie gefunden, geschweige denn so hervorragend gegessen.«

»Nicht der Rede wert, ich danke dir für diesen wundervollen Abend. Wir sehen uns am Samstag.«

Er zog sie an der Hand zu sich und beugte sich zu ihr, sodass seine Lippen ihre Wange streiften und neben ihrem Ohr verharrten.

Ihr Puls verdoppelte sich bei dieser zarten Berührung, die aber nur ein Versehen gewesen sein konnte.

»Kalinichta, meine Liebe. Träum schön«, wünschte er ihr leise, bevor er wieder eine aufrechte Haltung einnahm. Er blickte auf die Uhr. »Jetzt muss ich nur zusehen, dass ich noch jemanden am Flughafen antreffe, der mir Felix’ Koffer aushändigen kann«, stellte er abschließend fest.

Lisa winkte ihm nach, bis das Auto nicht mehr zu sehen war. Ihr Herz klopfte noch immer, als sie auf ihrem Zimmer endlich ihren eigenen Koffer ausräumte, und lächelte gedankenverloren, als sie Carli benachrichtigte, dass dieser wieder aufgetaucht war. Aus Gründen, die sie sich nicht erklären konnte, verschwieg sie ihrer Freundin die Begegnung mit dem charismatischen Griechen. Sie setzte sich mit einem Glas Wasser auf den Balkon, blickte verträumt in den Sonnenuntergang und ließ die letzten Stunden Revue passieren. Selbst als sie zwei Stunden später zu Bett ging, konnte sie nicht verhindern, dass die dunkelblauen Augen von Yannis Strakidis sie in den Schlaf begleiteten.