Das Erwachen des Tequila-Zombies
Der erste Atemzug nach dem Aufwachen fühlte sich gut an. Ein tiefes und entspanntes Luftholen, dazu kribbelte es in meinen Fingerspitzen. Ich lag auf dem Bauch, das Gesicht fest in ein weiches Kissen gepresst und die Arme darunter verschränkt. Wie jeden Morgen. Allerdings …
Plötzlich glitten meine Gedanken aus der Traumwelt heraus und prallten in die Realität, als hätten sie mit 180 Stundenkilometern einen Betonpfeiler gerammt. Das Blutbad meiner Synapsen lag auf dem Highway verstreut und ich stöhnend dazwischen. Jemand lief in meinem Kopf Amok, mein Rachen kratzte und meine Zunge fühlte sich an, als hätte ich über eine nasse Katze geleckt. Widerwärtig.
Ich kämpfte gegen die Übelkeit an und presste die Augen zusammen, doch da begann sich das schwarze Nichts um mich wild im Kreis zu drehen. Nach Halt suchend krallte ich die Finger in die Matratze und riss die Augen endgültig auf.
Dieses schneeweiße Bettzeug war definitiv nicht meins. Etwas sagte mir, dass ich nicht hier sein sollte. Dieses typische Samstag-Gefühl, wenn man mitten in der Nacht aufwachte, keine Ahnung hatte, wie man hieß, welcher Tag war und ob man zu spät zur Arbeit kam. Mein Name war Hannah. Mehr konnte ich akut nicht rekonstruieren.
Ich rieb mir über die Augen und sah mich um. Auf dem schwarzen Nachtkästchen lag ein bunter Papier-Flyer. MGM Grand Hotel and Casino stand in grauen Buchstaben oben drauf und als hätte mir jemand mit einem kalten Waschlappen ins Gesicht geschlagen, kehrte schlagartig eine drängende Information in mein Gedächtnis zurück. Ich war in Las Vegas. In Amerika! Zusammen mit meiner besten Freundin, um meinen fünfundzwanzigsten Geburtstag zu feiern.
Ich rollte mich auf den Rücken und strampelte mir die Decke von den Füßen. Meine Beine fühlten sich an wie nach einem Marathon und von irgendwoher drang ein Gluckern an meine Ohren, während ich mich in dem riesigen Hotelzimmer umsah. Links von mir erhob sich eine Glasfront vom Boden bis zur Decke, die Gott sei Dank mit weißen Stoffbahnen verhangen war. Selbst das gedämpfte Licht machte mich fertig.
Stöhnend senkte ich den Blick und runzelte überrascht die Stirn. Ich trug ein ausgewaschenes T-Shirt mit ACDC-Aufdruck. Dieses entstammte definitiv nicht meinem Kleiderschrank. Die Boxershorts genauso wenig. Mein Herz begann zu rasen. Wenn ich mir unbekannte Unterwäsche trug, wer hatte dann gerade meine an?
Plötzlich hellwach tastete ich mich ab. Zum Glück war noch alles dran. Ich schien nicht entführt worden und einem Organhändler in die Arme gefallen zu sein.
Etwas beruhigt sah ich mich genauer um. Diese riesige Suite war eindeutig nicht unsere, Louisa und ich hatten nur ein kleines Doppelzimmer gebucht. Außerdem wäre Louisa nicht einfach oben ohne aus dem Bad gekommen.
Erschrocken sah ich zurück zur geöffneten Badezimmertür. Ich hatte nicht mal gehört, dass das Wasser nicht mehr rauschte!
Ein blonder Mann trat einen Schritt in die Suite hinein und rieb sich mit einem Handtuch die Haare trocken. Die blaue Jeans hing tief auf seiner Hüfte. Schockiert musterte ich ihn. Die trainierte Brust, das sanfte Lächeln und die hellblauen Augen.
Panik. Flucht! Das waren die einzigen zwei Gedanken, die mir durch den schmerzenden Kopf schossen.
»Guten Morgen«, sagte er mit rauer Stimme, die sich nach einer durchzechten Nacht anhörte. Nur am Rande nahm ich wahr, dass er Englisch sprach.
Statt zu antworten, wirbelte ich hysterisch herum und schwang die Beine über die Bettkante. Es klirrte scheppernd, weil ich dabei eine leere Flasche Tequila inklusive etlicher Schnapsgläser auf dem Boden umwarf. Jedes einzelne schien mich auszulachen. Ich flüchtete an die Glasfront, möglichst weit weg von meinem Zimmergenossen.
Dieser fuhr sich grinsend mit dem Handtuch über den feucht schimmernden Oberkörper, bevor er es auf das zerwühlte Bett warf. »Alles okay?«, fragte er mit erhobenen Augenbrauen.
Panisch krallte ich die Finger in den schweren Stoff der Vorhänge. Meine Knie waren weich wie Gummi und der Boden unter meinen Füßen tanzte wild im Kreis. Erneut huschte mein Blick zu den verstreuten Gläsern. Ich sah mich genau dort sitzen, gemeinsam mit Jari und einer gigantischen Flasche Tequila zwischen uns.
Jari … sein Name war Jari Mäkinen. Erschrocken presste ich mich an die Glasscheibe, denn sofort schoben sich andere Bilder in meine Gedanken. Das Plakat, das zu Hause über meinem Schreibtisch hing. Das Poster meiner Lieblingsband The Wicked Elephant, das ich mir auf ihrem letzten Konzert in München gekauft hatte.
Nun stand mir ihr Frontsänger halb nackt gegenüber, statt mir morgens mit Rockgitarrenklängen im Auto die Fahrt zu verschönern.
Jari rührte sich nicht von der Stelle, als das Lächeln auf seinen Lippen erlosch. Meine Reaktion auf sein Erscheinen gefiel ihm wohl nicht. Düster starrte er mich an. Ich schüttelte den Kopf, dabei flackerten weitere Bilder vor meinem inneren Auge auf.
Jari und ich auf einer Parkbank, irgendwo im Nirgendwo, umgeben von Dunkelheit, Tausende Sterne über uns.
Als er Anstalten machte, einen Schritt auf mich zuzugehen, presste ich mich weiter gegen die kalte Glasscheibe. »Warte!«
Er zuckte zusammen, wich instinktiv zurück. Ich bildete mir ein, ein Knacken der Scheibe zu hören. Es hätten genauso gut meine Knochen sein können.
»Wo sind meine Sachen? Meine Klamotten?«, krächzte ich.
Er trat einen Schritt zur Seite und bückte sich. Die Erinnerungsfetzen in meinen Gedanken machten mich verrückt. Ähnlich dem hysterischen Stroboskoplicht in Clubs, erschlug mich ein Bild nach dem anderen.
Louisa und ich checkten im Hotel ein. Wir wollten feiern, als gäbe es kein Morgen, um meinen Geburtstag ausgiebig zu ehren und meinen Trennungsschmerz zu betäuben.
Jari richtete sich auf und warf einen Stapel Kleidungsstücke aufs Bett. Sofort erkannte ich die schwarze Jeans mit den aufgenähten Pailletten sowie Louisas weiße Bluse, die sie mir geborgt hatte.
Er verschränkte die Arme vor der Brust und zog erneut die Augenbrauen nach oben. Diesmal eindeutig anklagend. Das schwarz tätowierte Muster, das sich von seiner Schulter über den Oberarm und weiter über die Brust zog, kam mir bekannt vor. Genauso die Geste, wenn er sich mit den Fingern über die Stirn rieb. Jari hatte ein markantes Gesicht. Die dunklen Ringe unter den Augen entstellten ihn nicht. Gähnend kratzte er sich über den Bartansatz und zerzauste sich die blonden Haare. Der Anblick löste ein vertrautes Gefühl in mir aus, das nicht nur von diesem Poster in meiner Wohnung herrührte.
Jari machte wieder einen Schritt auf mich zu. Erneut zuckte ich zurück.
»Bleib, wo du bist.«
Sichtlich genervt seufzte er, blieb jedoch stehen, wo er war.
»Meine Unterwäsche?«, fragte ich piepsig.
Er verdrehte die Augen, wandte sich um und ging zu dem weißen Sofa gegenüber des Betts. Ich hatte meinen schwarzen Slip samt BH vorher nicht mal gesehen, jetzt warf er sie mir vor die Füße.
Die Illusion, dass wir nur geredet hatten und eingeschlafen waren, löste sich damit in Luft auf. Man führte keine geistreichen Diskussionen ohne Schlüpfer. Außerdem ist es nie gut, wenn ein Mann besser als du darüber Bescheid weiß, wo deine Unterwäsche liegt.
Erwartungsvoll starrte er mich aus blauen Augen an. Ein tiefer Atemzug ging durch seinen Körper. Ich hingegen war alles andere als ruhig. Meine Fingerknöchel liefen weiß an, weil ich den Stoff der Vorhänge noch fester an mich zog. Dabei fiel mir ein Glitzern ins Auge.
Ich senkte den Blick und musste zweimal hinsehen, um mich zu vergewissern, dass er tatsächlich an meinem Finger steckte und fröhlich das Sonnenlicht spiegelte. Ein obszön großer, weißer Diamantring prangte an meiner zitternden Hand.
Verdammter Mist.
Plötzlich drehte sich das Zimmer schneller. Keuchend plumpste ich auf den Boden, der Ring fühlte sich tausend Kilo schwer an. Ungläubig sah ich von dem Schmuckstück zu Jari, zurück und wieder zu ihm.
Entspannt sank er auf das Sofa und musterte mich intensiv. Ich war nur noch ein kleines Häufchen Elend. Aber verdammt, ich durfte jetzt nicht ausrasten. Ich musste die Geschehnisse ins rechte Licht rücken und mich erinnern, wie ich in dieses Klischee hineingeraten war.
Der Fluchtweg
»Du bist Finne, was machst du verdammt noch mal in den USA?«, krächzte ich.
Jari saß entspannt auf dem Sofa und fixierte mich mit zusammengekniffenen Augen. Seine Mundwinkel zuckten, ehe er die Arme vor der nackten Brust verschränkte. Das gewährte mir einen perfekten Blick auf das verschnörkelte Tattoo auf seinem Oberarm. Einfallsreich war das Muster nicht, trotzdem faszinierte es mich. Vielleicht lag das aber auch an den angespannten Muskeln darunter. Konnte er sich nicht endlich etwas anziehen?
»Urlaub«, antwortete er schlicht und streckte mir auffordernd die Hand entgegen. »Setz dich zu mir, Hannah. Wir können das klären.«
Ich schüttelte den Kopf und fixierte seine Hand. Meine Augen weiteten sich, als sich erneut ein verfluchter Sonnenstrahl in einem Ring brach und mir wie ein Laserstrahl ins Auge stach. Doch diesmal funkelte es nicht an meinem Finger, sondern an Jaris.
Mein Herz hörte auf zu schlagen, mein Mund wurde staubtrocken. Alles, was ich herausbrachte, war ein gehauchtes »Nein«.
Jari folgte meinem entsetzten Blick und fuhr sich über das Gesicht. Offensichtlich überlegte er, was er mit mir anstellen sollte. Notschlachtung oder medikamentöse Einstufung wären zwei gute Optionen für mich gewesen. »Wir können das in Ruhe besprechen.«
»Nein!« Schluchzend rappelte ich mich auf und bemühte mich, nicht gleich auf das Bett zu kotzen. Eilig griff ich meine Jeans vom Bett und zog sie an. Meine Unterwäsche schob ich in die Hosentasche, ignorierte das Knacken, als der BH-Bügel brach, und zerknüllte die Bluse wütend zwischen den Fingern. Ich konzentrierte mich auf alles, nur nicht auf Jari. Hektisch tastete ich in der Gesäßtasche nach meinem Handy und lachte erleichtert auf, als das Display aufleuchtete. Vier verpasste Anrufe von Louisa und fünfzehn ungelesene Nachrichten.
Die Kopfschmerzen hämmerten gegen meine Sinne, als mir plötzlich wieder einfiel, dass heute Vormittag unser Flieger zurück nach Deutschland ging.
Ein Schnapsglas kullerte einsam über den Boden. Vom Geräusch aufgeschreckt, fuhr ich herum und stolperte prompt über meine eigenen Füße. Bevor ich realisierte, dass Jari das Glas beim Aufstehen mit dem Fuß angestoßen hatte, knallte mein Kopf auch schon gegen seine Brust.
»Vorsicht!«, sagte er neckend.
Meine Wange klebte unvorteilhaft auf seiner Haut. Statt hysterisch zurückzuspringen, erstarrte ich und spürte sofort seine einnehmende Wärme auf mich übergreifen. Er roch nach herbem Duschgel. Große Hände glitten sanft über meinen Rücken. Diese Berührung hinterließ ein reges Kribbeln auf mir. Vielleicht war das aber auch nur die einsetzende Gesichtslähmung, die durch eine Alkoholvergiftung hervorgerufen wurde. Meine Augen fielen zu.
Ich fühlte sein Gewicht auf mir, seine Hände um meine Taille, seine Lippen an meinem Hals.
Ich riss die Augen auf, schob die Erinnerung von mir und drückte mich von ihm weg. Gelähmt war an mir rein gar nichts. Alles prickelte intensiv vor sich hin wie in einer geschüttelten Cola. Ich dachte an das Gefühl, wenn sein Bart auf meinem Bauch eine kratzende Spur hinterließ. Mein Körper erinnerte sich genau an seine Berührungen. Hoffentlich lief mein Gesicht nicht rot an, als mir das Blut mit Schallgeschwindigkeit in die Wangen schoss. Ein Wunder, dass mein Kopf nicht explodierte.
»Ich muss gehen«, stammelte ich und presste die Hand auf meine Lippen, weil mir ein saurer Geschmack hochstieg. Ich wollte weder weinen, noch mich auf ihn übergeben. Schnell ging ich zur Tür, doch ehe ich die Klinke in die Hand bekam, riss er mich am Handgelenk zurück. Ich drehte mich um und wich zurück, bis ich die Tür im Rücken spürte. Er folgte mir, sodass ich den schmerzenden Kopf in den Nacken legen musste, um ihn anzublicken. Seine Gegenwart fühlte sich vertraut und fremd zugleich an.
»Wir müssen darüber reden und das klären«, sagte er ruhig.
Ich starrte ihn weiter an. Aus der Nähe erkannte ich, wie müde er aussah. Seine Wangen wirkten eingefallen, die Augen gerötet. Über der rechten Augenbraue schimmerte eine helle Narbe. Jari war kein Wildfremder für mich. Fast hätte ich genervt aufgeseufzt, weil ich wahrhaftig wusste, wann er Geburtstag hatte und dass er gerade 29 Jahre alt geworden war. Unnützes Wissen blieb ewig im Hirn, während ich dazu neigte, relevante Dinge, wie die letzten Stunden, zu vergessen.
Als ich nicht antwortete, verzog er die Lippen zu einem zaghaften Lächeln. Der irrationale Drang ihn zu küssen war groß, wobei mich die Übelkeit Gott sei Dank davon abhielt. Ich schüttelte heftig den Kopf und fuhr mir mit der Hand durch mein zerzaustes Haar. »Verfluchter Ring«, zischte ich, als sich der Klunker schmerzhaft darin verfing.
»Halt doch mal still«, brummte Jari, weil ich hektisch daran zerrte. Er beugte sich zu mir und zupfte ihn vorsichtig aus dem Knoten. Das war die Chance.
»Es gibt nichts, worüber wir reden müssten«, antwortete ich verspätet, schlüpfte unter seinem freien Arm hindurch und öffnete die Tür.
Sein genervtes Seufzen verfolgte mich, während ich mich orientierte. Erleichtert erkannte ich den prunkvollen roten Teppich, der auch vor unserem eigenen Zimmer auslag. Das sprach dafür, dass ich mich immerhin noch im selben Hotel befand.
Er lehnte sich gegen den Türrahmen und schüttelte den Kopf. »Du machst mich fertig«, murmelte er und strich sich über den flachen Bauch, auf dem helle Härchen zu erkennen waren.
»Tschüss«, knurrte ich trotzig auf Deutsch und machte auf dem Absatz kehrt.
Sichtlich erschrocken über meinen Abgang, griff er nach meiner Schulter.
»Lass mich in Ruhe«, schnauzte ich verzweifelt und wich ihm torkelnd aus, doch er folgte mir weiter. Ich fuhr herum und fixierte ihn finster, damit er den Ernst der Lage erkannte. Erst als er die Hand hob und mit dem Daumen die Tränen von meiner Wange wischte, begriff ich, dass ich wohl alles andere als zornig aussah. Ich weinte bitterlich und hatte es nicht einmal bemerkt. Es war nicht mehr auszuhalten. Er war nicht mehr auszuhalten.
Endlose Sekunden später riss ich mich endlich von ihm los. Ich ließ ihn stehen und stürmte den Gang hinab. Nach wenigen Metern erreichte ich einen Aufzug und stolperte hinein.
Als die Metalltüren ratternd zugingen, überkam mich eine Welle an Emotionen. Scham, Wut, Angst und Schwindel. Ich sank schluchzend an der verspiegelten Wand nieder, nahm mein Handy heraus und tippte Louisa eine Nachricht.
Mir geht es gut. Bin unterwegs zu dir ins Zimmer, gib mir zehn Minuten! Kuss.
Wenige Sekunden darauf vibrierte ihre Antwort.
Gott sei Dank!
Ich schmunzelte verkrampft und sehnte mich danach, in die schützenden Arme meiner Freundin zu fallen, damit ich in Selbstmitleid schwelgen und sie mit Vorwürfen überhäufen konnte. Es war ihre bescheuerte Idee gewesen, diesen Kurztrip zu unternehmen, um über meinen Liebeskummer hinwegzukommen und meinen Geburtstag zu feiern. Jetzt hatte ich ganz andere Sorgen.
Als ich das Handy zurück in die Gesäßtasche schob, blieb der Ring am Bund hängen. Wütend riss ich ihn mir vom Finger und betrachtete ihn hasserfüllt. Der weiße Diamant glitzerte und verhöhnte mich. Vielleicht hatte ich ihn irgendwo gewonnen und das Ganze war total anders, als ich befürchtete. Wir könnten die Ringe geklaut oder auf dem Boden gefunden haben … Alles wäre mir lieber gewesen als die offensichtliche Lösung. Ich schloss ihn in meiner geballten Faust ein und spielte mit dem Gedanken, ihn einfach wegzuwerfen. Aber dafür war er sicher viel zu wertvoll.
Ich brauchte mehr als nur die zehn Minuten, um unser Zimmer wiederzufinden. Es lag in einem anderen Gebäude des gigantischen Komplexes. Ein Rockstar konnte sich natürlich in einem edleren Bereich einquartieren.
Es fühlte sich wie eine Weltreise an. Jeder, an dem ich vorbeikam, starrte entsetzt an mir hinab. Wahrscheinlich sah ich genauso beschissen aus, wie ich mich fühlte. Wenigstens hatte ich den Heulkrampf überwunden und konnte eine starre Miene aufsetzen. Ich würde das alles hinter mir lassen, vergessen und nie wieder darüber nachdenken. Niemand musste davon erfahren.
Vor unserer Zimmertür atmete ich einmal kurz durch. Ich hatte kaum geklopft, da riss Louisa sie schon auf und fiel mir stürmisch um den Hals.
»Du lebst!«, kreischte sie fiepend, woraufhin sich mein ramponierter Magen meldete. Der Hauch ihres vertrauten Parfums mit der Vanillenote verschlimmerte die Lage. Trotzdem war ich erleichtert, meine zierliche Freundin zu spüren. Sie hielt mich einige Sekunden in den Armen und quietschte mir aufgelöst durch ihre blonde Mähne ins Ohr.
»Ich dachte, du würdest irgendwo tot in einer Ecke liegen. Ich habe mir solche Sorgen gemacht! Wo warst …« Sie hielt inne und drückte sich von mir weg. Skeptisch musterte sie mich von Kopf bis Fuß, während sie die kleine Nase rümpfte. »Du riechst wie eine Schnapsbrennerei.«
»Ich weiß«, grummelte ich und schob mich an ihr vorbei in das Zimmer. »Ich glaube, ich habe auch eine leergetrunken gestern Nacht.«
Bestandsaufnahme
Ich lag auf dem Bett und hielt die zerknüllte Bluse in den Händen. Louisa zog die feinen Augenbrauen zu einer beeindruckenden Falte zusammen.
»Was hast du damit angestellt?«
Ich zwang mich in eine aufrechte Position, um in ihr entsetztes Gesicht zu sehen. Das edle Kleidungsstück wies keinen einzigen Knopf mehr auf. Ich steckte die Finger durch die Risse und wog es fassungslos hin und her. Währenddessen schossen neue Erinnerungsfetzen wie Kanonenkugeln durch meinen Kopf.
Jari drückte mich bestimmt gegen die kalte Wand, um die Bluse mit nur einem Ruck aufzureißen und von mir abzustreifen, als wäre sie aus Papier. Er vergrub das Gesicht in meinem Dekolletee und presste mich fest an sich, während meine Hände in seinen blonden Haaren nach Halt suchten. Weiche, gut duftende Haare, die sich fantastisch anfühlten.
Mir brach der Schweiß aus, woraufhin Louisa zurückwich.
»Du kotzt jetzt nicht hier ins Zimmer!«
Ich schlug die Lider nieder, um das aufwühlende Bild zu vertreiben. Mit zitternden Fingern gab ich ihr die Bluse.
»Wie siehst du überhaupt aus, Hannah? Was hast du da an und wo zum Teufel sind deine Schuhe?« Sie klang angeekelt und amüsiert zugleich. Ich suchte in meinen lückenhaften Erinnerungen und entsann mich, dass ich ozeanblaue Stöckelschuhe angehabt hatte. Louisas Schuhe, wohlbemerkt.
Ich sackte ächzend rücklings auf das Bett. »Es tut mir leid.«
»Was tut dir denn so leid, Hannah?«, fragte sie herausfordernd, kicherte aber. »Wo sind meine Schuhe abgeblieben?«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Okay, gibt es etwas, das du mir erzählen musst? Muss ich die netten, sexy Security-Männer holen und jemanden anzeigen, weil er dich belästigt hat?«, fragte sie halb ernst, halb belustigt.
»Nein! So war das nicht … glaube ich«, setzte ich unsicher hinterher.
Sie sah mich mit zusammengekniffenen Augen an, während ich mich an immer mehr erinnerte. All die Bilder sprachen dafür, dass Jari nicht der einzige Schuldige war. Das verräterische Prickeln auf meiner Haut beim Gedanken an ihn deutete darauf hin, dass ich diese Nacht genossen hatte.
»Also gibt es niemanden, dem ich kräftig in die Eier treten muss, weil er sich dir gegenüber unsittlich verhalten hat?«
Die Vorstellung brachte mich unweigerlich zum Schmunzeln. Meine 50 Kilogramm leichte Freundin mit ihren eins fünfundfünfzig und den blonden Haaren, die dem riesigen Jari zwischen die Beine trat. Eishockey-spielender Rocksänger gegen hyperaktive Blondine.
Ich öffnete Jaris Gürtel, zog ihn heraus und warf ihn ziellos über seine Schulter, um ihn zu küssen wie den letzten Mann auf Erden. Wir knutschten pornografisch wild, während er die Hand über meinen Bauch in den Bund meiner Hose schob.
Sofort beschleunigte sich mein Puls. Ich hatte das Gefühl, seine Lippen auf meinen zu spüren. Automatisch fuhr ich mit der Zunge darüber. Erst Louisas grimmiger Blick holte mich aus meiner Fantasie zurück. Verdammt, diese Sex-Flashbacks mussten unbedingt aufhören.
»Nein! Ich habe mich mindestens genauso unsittlich verhalten wie er«, gab ich beschämt zu.
Louisas Gesicht hellte sich auf und sie ließ sich kichernd neben mir aufs Bett fallen. »Wenn dir jemand die Bluse derart vom Leib gerissen hat und du es wolltest, dann will ich jedes Detail erfahren.«
Ich konnte mir ein sarkastisches Lachen nicht verkneifen. »Ja, so geht es mir auch.«
»Hangover?«
Ich nickte müde und musterte Louisa. Ihr Make-up war verwischt und unter ihren Augen lagen dunkle Schatten. Die blonden Locken standen zerzaust in alle Richtungen. Die wilde Haarpracht erinnerte mich stets an das Topping eines Muffins. Louisa war mein Vanille-Cupcake. »Du hast diese Nacht auch nicht in unserem Hotelzimmer verbracht. Mein Verschwinden ist dir erst heute Morgen aufgefallen«, konfrontierte ich sie mit meinem Verdacht.
Sie bemühte sich, schockiert dreinzublicken. Das zufriedene Grinsen legte sich dennoch auf ihre rosafarbenen Lippen. »Es war legendär, aber wenn du ermordet worden wärst, hätte ich mir das nie verziehen.«
»Offensichtlich hattest du ein, zwei Tequila weniger als ich und erinnerst dich auch an den Namen deines Begleiters?«, hakte ich erschöpft nach.
»Oh ja. Aber warte, du hast Tequila getrunken?«, fragte sie skeptisch und tadelnd. »Da lasse ich dich mal fünf Minuten allein an der Bar und du hast deinen ersten Tequila-Rausch. Das sind die Schlimmsten, glaub mir«, sagte sie wehmütig. Sie hatte trotz ihres engelhaften Aussehens definitiv mehr Erfahrungen, was dreckige Affären und Abenteuer mit Männern betraf.
Meine beste Freundin strich mir eine Haarsträhne von der schwitzigen Wange, damit sie mein Gesicht begutachten konnte. »Hast du geweint?«
Mir wurde es schwer ums Herz. »Nein, ich bin nur übermüdet.«
Obwohl ich mir sicher war, dass sie mir das nicht glaubte, nickte sie. Sie würde warten, bis ich es ihr selbst erzählte. »Also ich bin stolz auf meine Leistung heute Nacht«, erzählte sie total verklärt. »Er heißt Tony, ist Feuerwehrmann und wir haben sogar Telefonnummern und Kontaktdaten ausgetauscht. Hoffentlich sehe ich ihn wieder.«
Ich bedachte sie mit einem misstrauischen Blick. »Du bist sicher, dass er ein echter Feuerwehrmann war und kein Stripper?«
Louisa schmunzelte, drückte ihr errötetes Gesicht in das Kissen und summte ein »Ist doch egal«.
Weil ich das Thema nicht vertiefen wollte, stand ich auf und ging ins Bad. »Ich brauche eine Dusche«, murmelte ich – dabei war das hier nur meine letzte Chance, mich vor dem Langstreckenflug heimlich zu übergeben.
»Das geht nicht, wir müssen los«, widersprach Louisa und schwang sich ebenfalls auf die Beine. Sie tippte mit einem Finger theatralisch auf ihre Armbanduhr. »Eigentlich sollten wir vor fünf Minuten ausgecheckt haben! Hier, nimm das.« Sie streckte mir eine Haarbürste, ein Deo und eine Zahnbürste mit einem Klecks Zahnpasta darauf entgegen.
Dankbar vollzog ich immerhin eine Katzenwäsche. Kurz darauf schrie ich frustriert auf und hörte Louisa poltern, bevor sie zu mir ins Badezimmer stürzte.
»Was ist passiert? Hast du eine Spinne gesehen?«
Ich ließ die Schultern hängen und hob den BH mit dem zerbrochenen Bügel hoch. »Sieh dir das einmal an. Kann man da was retten?«
Als sie unkontrolliert losprustete, drehte ich mich verärgert wieder weg und tauschte das ACDC-Shirt gegen eins von meinen.
»Also diesen Typen musst du mir unbedingt vorstellen«, presste sie zwischen den Zähnen hervor, während sie sich die Tränen von den Wangen strich.
Ich beförderte den ruinierten BH zu der Bluse in den Mülleimer. Es war der einzige, den ich für das Wochenende mitgenommen hatte. Louisa um einen Ersatz zu bitten war vergebens, da hätte ich nicht einmal mit Luftanhalten hineingepasst. Das hieß, ich musste den ganzen Tag über die Arme fest vor der Brust verschränken und durfte keinesfalls hüpfen.