1 Brave Mädchen kommen in den Himmel
Vanessa
Ich hatte nie vor, meiner großen Liebe das Herz zu brechen.
Ich wollte auch nie die Träume meiner Mutter zerstören oder meine beste Freundin hintergehen. Genauso wenig, wie ich die elfte Klasse wiederholen, zwei Studiengänge abbrechen und meinen Vater an dreihundert Tagen im Jahr vermissen wollte.
Den Großteil meiner Jugend hatte ich auf Bühnen und im echten Leben die erste Geige gespielt – im übertragenen Sinne, denn meine Leidenschaft war das Tanzen, nicht die Musik –, aber spätestens an meinem siebzehnten Geburtstag hatte auch ich festgestellt: Das Leben war kein Wunschkonzert. Man bekam nicht, was man sich wünschte, sondern was man verdiente.
Und so sehr diese Wahrheit schmerzte: Ich verdiente es wohl, seit Jahren Single zu sein, während manche Freunde aus meiner Schulzeit mit dreiundzwanzig schon heirateten oder Kinder hatten. Und ich verdiente es wohl auch, auf Hochzeiten eingeladen zu sein, die mir das Herz brechen würden.
»Oh mein Gott, wie wunderschön ist bitte diese Karte?«, rief in dem Augenblick Isabella aus der Küche, als hätte sie meine Gedanken gelesen. Ich hörte ihre beschwingten barfüßigen Schritte auf den Dielen und tat eilig so, als wäre ich völlig in meinen Laptop vertieft, um der Inquisition auszuweichen. Es gelang mir ganze zehn Sekunden, in denen ich deutlich spürte, wie sie mich von der Küchentür aus ansah. »Hast du die gesehen?!«
Jetzt musste ich doch schmunzeln. Meine Mitbewohnerin war unverbesserlich. »Nein, Isa, ich hab die Karte blind aus dem Umschlag gezogen und auf den Küchentisch gelegt«, zog ich sie auf, woraufhin sie eine Grimasse schnitt, die ihr ovales Gesicht wie das eines niedlichen Meerschweinchens aussehen ließ. Das Sofa sank neben mir ein, als sie sich mit der Selbstverständlichkeit einer Hauptmieterin darauf fallen ließ und die mit getrockneten Blumen beklebte Karte mehrfach wendete.
»Gehst du hin?«
Plötzlich war mir heiß. Ich klappte den Laptop zu und befreite meine nackten Beine von der Kunstfelldecke, zupfte an dem weiten Ausschnitt meines Oversize-Pullis.
»Ich denke schon.« Was blieb mir anderes übrig?
Isabella warf mir einen liebreizenden Wimpernschlag zu. »Also, falls du eine Begleitung brauchst, sag Bescheid! Ich wollte schon immer mal eine Hochzeit auf Mallorca erleben. Und was ist mit der hier?«
Während ich noch mit mir haderte, ob ich es wirklich ertragen konnte, dabei zuzusehen, wie mein Dad eine andere Frau heiratete und neben mir zwei weitere erwachsene Kinder bekommen würde, hatte Isabella die zweite Einladungskarte hervorgezogen. Sie inspizierte das roségolden geprägte Kraftpapier, befühlte die aufgeklebte Spitze und betrachtete das perfekte Paar auf dem Foto mit geradezu aufdringlicher Neugier.
»Krass, dass dein Ex dich einlädt.«
Mein Kopf ruckte herum, obwohl ich wusste, dass sie es nicht so herablassend meinte, wie es geklungen hatte. Ich hatte ihr nicht erzählt, was damals geschehen war, sondern nur, dass dieser Ex den wohlklingenden Namen Milias hatte, meine erste große Liebe und wir unsere jeweils erste Beziehung gewesen waren. Gott, das war so lange her, und trotzdem erinnerte ich mich noch genau an den Tag, an dem wir uns endlich getraut und unsere Verliebtheit gestanden hatten – mit sechzehn auf der Skifreizeit unserer Klasse! Wie wir auf der Rückbank im Bus knutschend Schulgeschichte geschrieben hatten und fast zwei Jahre lang das Traumpaar der gesamten Schule gewesen waren.
Tja. Dann hatte ich alles kaputtgemacht und jetzt heiratete meine erste und einzige große Liebe eine andere.
Eigentlich hatte ich gedacht, dass ich darüber hinweg sei. Aber die Tatsache, dass mich eine bloße Einladungskarte zurück in den alten Strudel aus Minderwertigkeitsgefühlen, Selbsthass und Herzschmerz geworfen hatte, bewies: Fehlanzeige. Trauma blieb Trauma und Fehler blieb Fehler. Da brauchte ich auch keine Therapiestunden und kein Psychologiestudium, um das zu erkennen.
»Ich meine, wenn ich mich von Sandro trenne, würde ich ihn bestimmt nicht zu meiner Hochzeit einladen«, nahm Isabella den Gesprächsfaden wieder auf, in dem sich meine Gedanken verstrickt hatten.
Ich hing noch einen winzigen Moment der Erkenntnis nach, dass Milias eben ein Traummann war, den man nur einmal im Leben fand. Dann wurde sein geistiges Abbild von einem anderen Mann abgelöst, dessen bronzefarbene Haut im Sommer nur geringfügig heller war als Milias’ italienische Bräune. Sandros Statur war drahtiger und sein Gesicht schärfer geschnitten, aber sein Grinsen war genauso gewinnend, sein charmantes Selbstbewusstsein genauso anziehend. Wenn er denn grinste, was leider nicht allzu oft vorkam.
Doch ich schob das Bild und alle Vergleiche mit Milias weit von mir. Denn Sandro war Isabellas Freund, und zwar seit fast einem Jahr. Und Isabella war nicht nur meine Mitbewohnerin, die mich großzügig in ihrer Wohnung aufgenommen hatte, sondern mittlerweile fast so etwas wie meine beste Freundin, auch wenn es ihre Launen einem nicht immer leicht machten, sie zu mögen. Entschieden schüttelte ich den Kopf und konzentrierte mich auf Isabellas letzte Aussage, um endlich auch etwas zu diesem einseitigen Dialog beizutragen: »Wenn du dich von Sandro trennen würdest, würde zuallererst deine Mutter ausrasten.«
Isabella lachte lahm. Unsere von Perfektion besessenen Mütter waren eine der Gemeinsamkeiten gewesen, die wir im ersten Psychologie-Semester entdeckt hatten, als wir den Einfluss der Eltern auf die Psyche und Entwicklung ihrer Kinder untersucht hatten. Seitdem wunderte mich auch nicht mehr, was bei mir so schiefgelaufen war: Bei einer nahezu geisteskrank fanatischen Mutter, die heimlich die Pille abgesetzt hatte, um ihren Traummann festzuhalten, und einem nie erwachsen gewordenen Peter Pan, der sich seit zehn Jahren verzweifelt aus ihren Fängen zu lösen versuchte, hatte aus mir ja gar kein normaler Mensch werden können. Nicht, dass ich meinen Eltern die Schuld für irgendetwas gab. Manchmal wünschte ich mir bloß, wir wären … nun ja, glücklicher gewesen. In dem Haus, in dem ich aufgewachsen war, hatte nie ein Familienporträt über dem Kamin gehangen und waren nie Weihnachtspostkarten in ulkigen Pullis verschickt worden. Dort hatte es bloß kalten Marmor, kältere Botox-Grimassen und gähnende Leere im Kühlschrank gegeben – abgesehen von Detox-Smoothies und Sellerie.
»Oh Mann, darüber hab ich noch gar nicht nachge– Scheiße!« Plötzlich saß Isabella aufrecht neben mir auf dem Sofa, sah hektisch auf ihre elegante Armbanduhr und strich sich mit beiden Händen die dunkelbraunen Haare aus dem Gesicht. »Sie wollte ja gleich vorbeikommen! Oh Gott, und ich hab total vergessen, ihre Bluse aus der Waschmaschine zu holen. Die ist jetzt bestimmt total …«
»Keine Sorge«, unterbrach ich ihre Panikattacke, indem ich beruhigend eine Hand auf ihren Oberschenkel legte. »Ich hab die Wäsche heute Morgen rausgeholt und aufgehängt. Die Bluse ist bestimmt sogar schon trocken.«
Isabella blinzelte mich kurz an, strich sich dann erneut das Haar aus dem Gesicht, diesmal erleichtert. »Du bist echt die Beste, Vanessa.« Ich zwang mich, die Mundwinkel zu heben, sagte jedoch nichts. »Moment, wie lange bist du denn schon wach?« Wieder sah sie auf ihre Uhr und diesmal tat ich es ihr aus Reflex gleich. Es war halb elf an einem grauen Samstag im Januar. Aber als ich gegen acht Uhr aufgestanden war, hatte noch die Morgensonne gegen die Winterwolken angekämpft.
»Egal, ich muss mich anziehen«, entschied Isabella und erhob sich, ohne meine Antwort abzuwarten. »Und ich muss frühstücken. Wann hast du zuletzt gegessen?«
»Vorhin«, log ich vage und stand ebenfalls auf, um die Kunstfelldecke wieder zwischen die champagnerfarbenen Kissen zu drapieren und meinen Laptop in mein Zimmer zu bringen. »Ich brauch nix.«
Ich hörte, dass Isabella hinter mir stehen blieb und sich auf den nackten Fußballen umdrehte. Als ich den Kopf hob, hatte sie das missbilligende Gesicht aufgesetzt, das sie von ihrer Mutter geerbt hatte. »Ist es wieder so weit, ja?«
Ich schüttelte den Kopf, um keinen Streit vom Zaun zu brechen. Sie sorgte sich um mich, deswegen reagierte sie so. Aber zu erklären, dass ich wegen zwei simplen Einladungskarten derartige Minderwertigkeitskomplexe entwickelte, dass sich mein Magen allein beim Gedanken an Nahrung verknotete, brachte ich nicht fertig. Das wäre ein Eingeständnis, dass ich trotz aller Bemühungen nicht so weit war wie ich gerne wäre.
»Nein, ich hatte einfach keinen Hunger. Ehrlich! Aber ich hatte zwei Kaffee mit Hafermilch«, führte ich Beispiele an, die eindeutig nicht auf jemanden mit Essstörung hinwiesen. Zweihundert Milliliter Hafermilch hatten immerhin achtzig Kalorien. Letzteres behielt ich für mich, weil es doch ziemlich nach Essstörung klang.
Isabella schien nicht überzeugt und ließ noch einen kritischen Blick über meinen Körper wandern, wie um Bestätigung für meine Worte zu suchen. Dann zuckte sie mit den Schultern und ging in die Küche, um sich einen Kaffee und eine Schüssel Cornflakes zu machen, womit sie im Bad verschwand. Wo sie so lange brauchte, dass ich keine Chance mehr hatte, wenigstens meine Haare zu kämmen, bis es an der Tür klingelte.
»Vanessa, was für eine Überraschung, dich zu sehen!«, rief Constanze mit maskenhaft versteinerter Miene, als ich die Tür öffnete.
Wer sonst? Ich wohne schließlich hier.
Ich versteckte diese Gedanken hinter einem Lächeln, während Isabellas Mutter meine Schultern festhielt, um mich mit zwei Wangenküssen in Chanel No. 5 zu ersticken. Ich hasste Chanel No. 5 ebenso sehr, wie ich dessen Schöpferin bewunderte.
»Mmmh, du hast ein tolles Parfüm an dir, Vanessa«, sagte sie mit Gönnermiene, während sie in unsere Wohnung stolzierte wie ein Pfau. »Aber du zeigst immer noch zu viel Haut.« Jetzt ließ sie fast denselben missbilligenden Blick über mich gleiten wie ihre Tochter vor einer halben Stunde, und ohne dass ich es wollte, fühlte ich mich plötzlich unwohl mit meiner entblößten Schulter in dem Oversize-Pulli und den nackten Beinen in Kuschelsocken. »Du wohnst hier schließlich nicht alleine, und andere junge Frauen haben Beziehungen. Und damit meine ich echte, tief verbundene Beziehungen.«
Ich ließ ihre unterschwellige Beleidigung auf die Weise an mir abprallen, die mir meine eigene Mutter beigebracht hatte: indem ich den Stich mit einem Lächeln überspachtelte wie andere Narben mit Make-up. »Und ist jetzt mein Beziehungsstatus das Problem oder glaubst du ernsthaft, dass ein unförmiger XXL-Strickpullover eine echte, tief verbundene Beziehung gefährden könnte?«
Constanze blinzelte, schloss den Mund, ließ dezent den Blick schweifen und sagte dann versöhnlich: »Nein, natürlich nicht. Das war nur ein gut gemeinter Rat.«
Ich tat mein Bestes, versöhnlich zurückzulächeln. »Willst du einen Kaffee?«
Constanze nahm mein Friedensangebot an, und während ich unsere Maschine bediente, kam endlich Isabella aus dem Bad, woraufhin ich mich wieder ins Wohnzimmer zurückziehen und in das Konzept für den Onlineshop vertiefen konnte, den ich im Moment betreute.
Als ich nach einer Stunde wieder in der Küche auftauchte, um mir etwas zu essen zu holen, rief Isabellas Mutter gerade in voller Lautstärke: »Papperlapapp!« Ich blieb irritiert neben dem Kühlschrank stehen, eine Hand untätig am Griff, und wechselte einen Blick mit meiner Mitbewohnerin, die höchst unglücklich aussah. »Nichts für ungut, mein Kind, aber Sandro ist mit Abstand der beste Fang, den du jemals gemacht hast! Er muss bloß aus dieser asozialen Schlägerszene raus, das ist alles. Glaub mir, Bella …«
Mir entfuhr ein Schnauben, während ich jetzt doch die Kühlschranktür öffnete und den spärlichen Inhalt betrachtete, mir einen Sojajoghurt nahm und einen Löffel aus der Schublade zog. Als ich mich umdrehte, sah Constanze mir direkt in die Augen.
»Ist was, Vanessa?«
Ich erwog, die Küche einfach wieder zu verlassen, aber alles an dieser Frau erinnerte mich so sehr an meine eigene Mutter, dass ich geradezu instinktiv zum Widerspruch anhob, um Isabella und ihrem Freund beizustehen: »Kickboxen ist ein ganz normaler Sport.«
»So wie Poledance?«, fragte sie spitz zurück und warf einen sehr eindeutigen Blick auf mein nacktes Bein, das ich aus Gewohnheit gegen den linken Oberschenkel gestemmt hatte wie in der Yoga-Baumposition. Ich verdrehte die Augen und stellte den Fuß wieder auf den Boden.
»Vanessa ist Ballerina, Mama, keine Stripperin«, ergriff nun Isabella ihrerseits Partei für mich, auch wenn ich seit meiner Kindheit kein Ballett mehr getanzt hatte. Aber ich korrigierte Isabella nicht, um sie nicht vor ihrer Mutter bloßzustellen. Und, weil es Constanzes Meinung ohnehin nicht ändern würde.
Isabella warf mir einen mitleidigen Blick zu, aber ich versicherte ihr stumm, dass ich mich nicht beleidigt fühlte. Schließlich lenkte sie das Gespräch wieder auf sich selbst: »Außerdem geht es darum gar nicht! Ich weiß einfach nicht, ob wir noch lange zusammen sein werden.«
Moment mal, sprach sie etwa gerade davon, ihre Beziehung hinzuschmeißen?
Ich sah sie verstört an, fing dabei aber erneut den finsteren Blick ihrer Mutter auf, die mich mit vielsagend erhobener Braue ansah. »Wieso, ist er fremdgegangen?«
Fuck it, das musste ich mir nicht geben!
Und während Isabella noch empört »Nein, natürlich nicht!« rief, ließ ich die beiden einfach sitzen und verschanzte mich mit voll aufgedrehten Kopfhörern in meinem Zimmer.
2 Kein Sex ist auch keine Lösung
Vanessa
Ich kehrte erst wieder aus dem Musiktunnel zurück, als Isabella den Kopf durch die Tür steckte.
»Wenn du mich nicht klopfen hörst, ist deine Musik vielleicht ein bisschen zu laut, meinst du nicht?«
»Ich spüre Mom-Vibes«, teilte ich ihr mit, schob aber bereits den Kissenberg von meinem Bett, um ihr Platz zu machen. Sie verzog das Gesicht – sie hasste es, wenn sie sich wie eine unserer Mütter anhörte – und setzte sich schuldbewusst auf die Bettkante. »Sorry. Und sorry wegen dem, was sie vorhin gesagt hat.«
Ich zuckte mit den Schultern und zog ein Bein in einen halben Schneidersitz, während ich nach den richtigen Worten suchte. Gerade hatte ich sie gefunden, da redete Isabella schon weiter.
»Kannst du mir einen Gefallen tun und Sandro nicht sagen, dass wir über ihn geredet haben?«
»Klar.« War ja nicht so, als würden wir viel miteinander reden. Sandro fiel in die Kategorie verschlossener Typ, der meistens eher stumm observierte als viel redete. Aber seine Augen bekamen immer einen warmen Glanz, wenn er Isabella ansah … die daran dachte, ihn zu verlassen. »Alles okay bei euch?«, fragte ich vorsichtig.
Jetzt zog sie auch ein Bein aufs Bett und legte das Kinn aufs Knie. »Keine Ahnung. Ich hab einfach …« Sie unterbrach sich, schnaubte, setzte noch mal an. »Das klingt total bescheuert. Ich hab irgendwie das Gefühl …« Wieder eine Pause, in der ich deutlich sah, dass sie nicht auszusprechen wagte, was sie eigentlich sagen wollte. Angst flackerte in ihrem Blick.
»… dass er fremdgeht?«, stellte ich behutsam dieselbe Frage wie ihre Mutter.
»Nein, natürlich nicht! Wir reden hier immer noch über Sandro Stavaros, okay? Würde mich wundern, wenn er überhaupt irgendeine weibliche Handynummer in seinen Kontakten hat.«
Da hatte sie recht, musste ich einräumen. Ich hatte in den zehn Monaten, die er jetzt mit meiner Mitbewohnerin zusammen war, nicht ein einziges Mal erlebt, dass er eine andere Frau auch nur angesehen hätte. Und das machte die Beziehung der beiden in meinen Augen nur noch bewundernswerter … und Isabellas Zweifel umso tragischer.
»Dass du Abwechslung brauchst?«, tippte ich also auf die nächstwahrscheinlichste Option. Ich sagte es vorsichtig, doch sie fuhr herum wie von der Tarantel gestochen, sodass ich sofort abwehrend die Hände hob und mich entschuldigen wollte.
»Merkt man das?« Ich wollte verneinen, aber da ließ sie schon die Schultern hängen und den Fuß von meinem Bett baumeln. »Wir hatten seit über einem Monat keinen Sex mehr.«
»Autsch!«, kommentierte ich. »Das ist ja fast länger als ich, und ich bin Single.«
»Danke, Arschkuh!«, schnaubte sie. »Und das ist länger als du, weil ich mich nämlich ziemlich gut daran erinnere, dass Nico vor drei Wochen abends um zehn vor der Tür stand.«
Ich verzog ertappt das Gesicht. Nico war vor ein paar Jahren mein erster Freund nach Milias gewesen. Unsere Beziehung hatte ganze drei Monate gehalten, weil ich meinen ersten Freund einfach noch nicht überwunden hatte, aber na ja … hin und wieder verabredeten Nico und ich uns trotzdem noch. Wir redeten uns beide ein, dass wir nur nett plaudern wollten, aber eigentlich wussten wir jedes Mal ziemlich genau, wie der Abend enden würde. Immerhin musste ich mich so nicht durch Clubs knutschen, um ein passables Date zu finden.
»Okay«, nahm ich die Schuld auf mich und den Faden wieder auf. »Und geht das von deiner oder Sandros Seite aus?«
Sie warf mir einen sehr eindeutigen Blick zu, bei dem ich mit aller Kraft gegen die Hitze auf meinem Gesicht ankämpfen musste. Natürlich nicht von seiner Seite, denn dieser Typ verbrachte den Großteil seines Tages in testosterongeladenen Faustkämpfen.
»Bist du schwanger?«
»Vanessa!« Ihr Gesicht glich mittlerweile mehr einem runzligen Maulwurf, so sehr hatte sie die Augen zusammengekniffen und die spitze Nase gekräuselt. »Nein, ich hab … einfach keine Lust!«
Ich war froh, dass sie in diesem Moment Löcher in meinen flauschigen Hochflorteppich starrte, denn ich konnte nicht verhindern, dass mir die Gesichtszüge entgleisten. Sandro war so ziemlich der heißeste Typ, den ich kannte, dessen Körper wie aus Bronze gemeißelt war und dessen scharf geschnittenes Gesicht eine olympische Medaille zieren könnte – und sie hatte keine Lust?
»Vielleicht solltest du die Pille wechseln?«, schlug ich vor, um meine Gedanken abzulenken. Ich hatte schon vor Jahren aufgehört, diese künstliche Hormonschleuder zu nehmen, aus genau dem Grund, dass sie schleichend die Kontrolle über unseren Körper und unsere Gefühle übernahm – ganz zu schweigen von der Belastung für unser Abwassersystem.
Isabella warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu, seufzte dann aber. »Ich weiß nicht. Vielleicht hab ich im Moment einfach nur zu viel Stress mit der Bachelorarbeit und der Entscheidung für einen Master-Studiengang und meiner Mom und dem Nebenjob …«
Ich hatte vergessen, dass sie schon den Bachelor machte – weil sie im Gegensatz zu mir Dinge durchzog und das Psychologiestudium nicht nach zwei Semestern abgebrochen hatte. Aber ich hatte nicht vergessen, dass ihr Studium und Nebenjob als Nachhilfelehrerin alles andere als anstrengend waren. Zumindest nicht, wenn man wie ich seit dem Abi gewohnt war, Nebenjob und ein eigenes Gewerbe neben dem Studium zu jonglieren. Doch ich verkniff mir jeden Kommentar darüber, zumal sie ohnehin schon weitersprach.
»Vielleicht muss ich einfach mal wieder so richtig einen draufmachen. Die Jungs gehen heute Abend ins Ace, hast du Lust, mal wieder mitzukommen? Vielleicht lernst du ja einen süßen Typen kennen.«
Ich schnaubte. In meiner Jugend war ich fast jedes Wochenende in Clubs unterwegs gewesen, hatte unzählige Kerle abgeschleppt und noch mehr Alkohol getrunken. Heute blieb ich lieber zu Hause, arbeitete an Blogartikeln und Konzepten und rief vielleicht Nico an, wenn ich mich einsam fühlte.
»Bitte, bitte, bitte!« Isabella fiel gegen meine Schulter, zog einen Schmollmund und setzte einen Hundeblick auf. »Lena und Marc kommen auch.«
»Wow, Pärchenabend«, kommentierte ich wenig begeistert, woraufhin sie sich wieder aufrichtete und einen Finger hob.
»Nein, Tiago kommt auch! Und der scheint ja ziemlich scharf auf dich zu sein. Hattet ihr mal was miteinander?«
»Nein. Santiago hat eine Freundin!«
So wie verdammt noch mal jeder in unserem Alter in der Lage war, eine funktionierende Beziehung zu führen. Isabella zuckte bloß mit den Schultern, als wäre das kein Hindernis. Oder, als würde sie mir genau wie ihre Mutter zutrauen, ihn trotzdem abzuschleppen.
Während ich noch in Selbstpsychoanalyse versunken war, vibrierte Isabellas Handy. »Oh, das ist Sandro. Noch mal, das bleibt unter uns, ja?«
Ich nickte. Natürlich blieb das unter uns, warum sollte ich denn ihrem Freund erzählen, dass sie keine Lust mehr auf ihn hatte? Das musste sie ihm schon selbst sagen.
Strahlend nahm sie das Telefonat entgegen. »Hey Schatz!«
Da gestikulierte ich zur Tür. »Könnt ihr das wenigstens draußen machen?«
Sie streckte mir die Zunge raus. »Nee, das ist Vanessa. Ich bin grad in ihrem Zimmer. – Grüße«, richtete sie mir aus.
Kopfschüttelnd ließ ich zurückgrüßen, aber das hörte Isabella wie immer nicht mehr, während sie in meinem Zimmer herumtigerte und unzusammenhängende Worte sprach:
»Nö … Ja … Na klar … Doch … Hm.«
Was für ein tiefsinniges Gespräch. Ich schwang gerade das Bein vom Bett, um sie aus meinem Zimmer zu schieben, als Isabella flötete: »Klar kommt sie mit!«
»Nein, tut sie nicht!«, widersprach ich so laut, dass er es am anderen Ende hören musste.
»Hör nicht auf sie, sie kommt mit. Grüß Tiago von mir … Klingt super … Was, zwei Stunden?! Sagen wir drei? … Ich mich auch, ciao!«
»Santiago kann mich mal am Arsch lecken«, projizierte ich meinen Frust unfairerweise auf Sandros südamerikanischen Machokumpel und sah auf die Uhr. »Und in drei Stunden bin ich definitiv nicht fertig, weil ich um vier Kurs habe.«
»Oh ja, richtig. Yoga«, spottete sie.
»Pilates«, korrigierte ich. Ein Teil von mir wollte wieder Ballett tanzen, aber der größere Teil hatte immer noch zu große innere Blockaden bei der Erinnerung daran, meiner Mutter gefallen zu müssen.
Isabella gab mir einen vergnügten, wenn auch etwas zu harten Klaps auf den Po. »Dann hopphopp! Heute Abend wird Party gemacht.«
Ich war mir immer noch nicht sicher, ob ich es allein zwischen all den Pärchen aushalten würde.
»Kann ich wen mitbringen?«, fragte ich aus einem spontanen Impuls heraus und zog bereits mein Handy hervor, um der einzigen Frau zu schreiben, mit der ich das durchstehen konnte: Valeria Schwarzer, der kleinen Schwester meines Ex-Freunds.
***
Sandro
»Und?«, fragte Santiago, immer noch voller Adrenalin davon, dass er im Übungskampf gegen Marc gleich viele Punkte geholt hatte. »Was hat sie gesagt?«
Ich zog den Reißverschluss meiner Sporttasche zu. »Hat sich angehört, als würde sie mitkommen.«
»Geil«, kommentierte er, aber ich war mir da nicht so sicher. In zehn Monaten hatte ich Vanessa noch nicht ein einziges Mal auf einer Party gesehen. Santiago zog sich seinen Sweater über. »Die hat grad keinen Freund, oder?«
Ich fuhr mir beherrscht über das Gesicht. Ich liebte Tiago, aber heute machte er mich fertig. Andererseits konnte ich es ihm kaum verdenken: Seine Freundin Eva hatte vorgestern fast ein Jahr Beziehung hingeschmissen.
»Ich glaube nicht. Frag sie doch einfach selber. Wir treffen uns in drei Stunden bei Ella. Ich fahre.«
Damit schulterte ich die Tasche und verließ die Umkleide, um draußen zu Marc aufzuschließen. Tiago holte uns schneller ein, als mir lieb war, drängte sich zwischen uns und hängte die Arme über unsere Schultern.
»Hey, Marc, mal ganz objektiv: Wie stehen meine Chancen bei Vanessa?«, fragte Tiago.
Mein engster Freund gluckste. »Vanessa, die Freundin von Bella? Ich schätze mal, so bei minus zehn?«
»Qué cabrón, so schlecht bin ich auch nicht!«
Das stimmte, Santiago war eigentlich ganz cool, wenn er nicht gerade Trennungsschmerz mit Machomanier zu kompensieren versuchte, und sein südamerikanischer Latino-Charme ließ ihm die Herzen geradezu zufliegen. Aber Vanessa war nun mal …
Ich hielt meine Gedanken auf, bevor sie weiter wandern konnten – bloß, um sie eine Sekunde später aus Marcs Mund zu hören.
»Das sagt ja auch keiner! Aber sie ist einfach weit über deiner Liga. Zehn von zehn, Mann. Frauen wie sie können sich jeden aussuchen, und ganz ehrlich: Wäre ich sie, würde ich dich nicht nehmen.«
Ich schüttelte belustigt den Kopf, mischte mich aber nicht ein. Gedanken über Vanessa Kaiser erlaubte ich mir nicht, aus genau diesem Grund. Sie war verdammt heiß, und sie war intelligent genug, um zu wissen, wie sie auf Männer wirkte. Dennoch ging sie kaum aus, trug keine sexy Kleidung und nicht halb so viel Make-up wie andere Frauen – und das machte sie noch attraktiver. Himmel, sie war vermutlich die einzige Frau in meinem Umkreis, die mich noch nicht ein einziges Mal angeflirtet hatte – und ich sie auch nicht, worauf ich ziemlich stolz war. Das hätte der Sandro von letztem Jahr mal sehen sollen! Und das, obwohl es zwischen uns definitiv diese Momente der Anziehung gab, die ich manchmal geradezu mit Händen greifen konnte, mit Fingern erkunden und Lippen kosten wollt–
Stopp! Ich hatte definitiv zu lange keinen Sex mehr gehabt. Entschlossen schob ich jeden Gedanken weit von mir und widmete meine Aufmerksamkeit meinen beiden Sportpartnern, die sich immer noch lachend Beleidigungen zuriefen.
Mochte sein, dass Vanessa mich beeindruckte, seit ich sie zum ersten Mal gesehen hatte. Fakt blieb, dass das drei Tage gewesen war, nachdem ich eine Beziehung mit Isabella begonnen hatte. Und ich war nicht mehr der Typ von damals. Ich würde keinen Rückzieher machen, nie mehr. Wenn ich etwas anfing, dann zog ich es durch.
Das war ich mir schuldig.
Das war ich Jamie schuldig.
»Tiago«, warnte ich, als der gerade immer noch lachend die Linke vorschnellen ließ. Aber Marc war schneller, duckte sich und machte Santiago grinsend im Schwitzkasten kampfunfähig, bevor ich dazwischengehen musste.
»Sieh’s ein, Tiago«, lachte Marc. »Das sind wir halt: Straßenjungs. Wir haben uns alle hochgearbeitet, aber wir werden trotzdem nie eine wie Vanessa kriegen. Die ist drei Ligen über uns.«
Und jemand wie Vanessa würde nie einen Typen wie uns nehmen, fügte ich in Gedanken hinzu und hakte das Thema ab.
Tiago war anderer Ansicht: »Hast du nie Aladdin geguckt, Mann? Der kommt auch von der Straße und kriegt die Prinzessin.«
Marc konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. »Der hat auch ’nen Geist in der Flasche und ist keine Flasche ohne Geist.«
»Ihr guckt beide zu viele Disneyfilme«, beendete ich das Thema und verdrängte dabei jeden Gedanken an kleine Geschwister.
Tiago murrte eine spanische Beleidigung. »Dann halt nicht Vanessa. Aber irgendwen muss ich heute Abend abschleppen, sonst sterbe ich. Ich hatte über eine Woche keinen Sex mehr!«
Ich schnaubte, sagte aber nichts dazu und ersparte es mir, nachzurechnen, wie viele Monate es bei mir her war.
»Also um halb zehn im Ace?«, vergewisserte ich mich in Marcs Richtung, um mich endlich auf das Hier und Jetzt zu fokussieren. Er streckte den Daumen nach oben, dann stieg er in seinen neuen BMW und ich in meinen verbeulten Volvo. Der alte Kombi war keine Augenweide, weil sein Vorbesitzer ein kurzsichtiger Rentner gewesen war, aber er hatte einen großen Kofferraum, überall Airbags – und vor allem war er günstig gewesen.
Ich startete den Motor, nachdem Santiago endlich eingestiegen war.
»Wusstest du, dass sie mit achtzehn eine Misswahl gewonnen hat?«
Ich blinzelte, weil es einen Moment dauerte, bis ich begriff, dass er immer noch von Vanessa sprach. Mein Blick streifte die aufblinkende Warnleuchte. »Nein, wusste ich nicht. Schnall dich an.«
»Total krass«, laberte Tiago weiter, tat aber wie geheißen, und die Warnleuchte samt Ton erlosch. »Sie hat elftausend Fans auf Instagram, aber vor zwei Jahren plötzlich aufgehört Modelbilder zu posten und ’nen Blog über gesunden Lifestyle gestartet. Dann hat sie bei irgend’ner Modemarke eine Kollektion rausgebracht und jetzt schreibt sie Konzepte für andere Blogs und Onlineshops. Alles neben dem Studium! Ganz schön viele Talente, oder?«
»Oder ganz schön inkonsequent«, kommentierte ich, bevor ich mich daran erinnerte, dass ich eigentlich nicht über Vanessa sprechen oder nachdenken wollte. Trotzdem musste ich mir die nächsten zehn Minuten lang anhören, wie perfekt sie in Santiagos Augen war – und was sie alles so in den letzten Jahren gemacht hatte.
»Alter«, realisierte ich plötzlich, als wir vor dem Wohnblock seines Vaters anhielten, spürte ein vertrautes Lodern im Bauch und spannte unwillkürlich die Muskeln. »Stalkst du sie etwa?«
»Wenn alles im Internet steht, ist es kein Stalken«, antwortete er mit seinem sonnigen Grinsen, schnallte sich ab und machte Anstalten, seine Tasche aus dem Kofferraum zu holen.
Ich war schneller aus dem Wagen als er, hielt die Kofferraumklappe fest und schob mich dicht vor ihn. Er war vielleicht schwerer als ich, aber ich war einen Kopf größer.
»Halt dich von ihr fern, Tiago.«
Eine Sekunde lang blitzte Kampfgeist in seinen dunklen Augen, dann grinste er unverfänglich, ging rückwärts auf das schmucklose Mehrfamilienhaus zu und streckte dabei die Arme aus.
»Klar, aber ich kann nicht versprechen, dass sie sich von mir fernhält. Was soll ich machen, ich bin halt heiß.« Das entlockte mir ein unwillkürliches Glucksen. Er war einfach unverbesserlich. »Ich komme übrigens selbst zum Club, du kannst also den Nachmittag mit deiner Süßen verbringen. Vielleicht hast du ja Glück und Vanessa ist nicht da, dann habt ihr ein paar Stunden für euch. Für Sex, zum Beispiel.«
Ich schüttelte belustigt den Kopf. Sex wäre in der Tat grandios, aber mit Glück hatte das nichts zu tun, höchstens mit Glücklichsein.
Und dieses Recht hatte ich schon vor langer Zeit verspielt.