Leseprobe Tot im Meditationsstudio

Prolog

»Das wird dir guttun, Tantchen«, sagte Sarah und tätschelte Maikes Arm.

Augenblicklich fühlte sich Maike wie eine ältere Dame, die gerade von ihrer Pflegerin aus dem Altenheim geholt worden war. In diesem Falle eine ziemlich gestresste und verärgerte alte Dame.

Sie unterdrückte den Reflex, trotzig ihre Arme zu verschränken. »Du klingst schon wie deine Mutter.«

An welcher Stelle hatten sie hier die Rollen vertauscht?

Gemeinsam mit ihrer Nichte steuerte Maike auf das Zentrum des körperlichen und geistigen Wohlbefindens von Niederteerbach zu: das Spa-Center. Bedachte man die heruntergekommenen Bauten ringsum, war dieses Gebäude der einzige Lichtblick. Das Wohlbefinden der Niederteerbacher war eine gewaltige Baustelle, an der dringend gearbeitet werden musste.

Maike lächelte unweigerlich.

»Siehst du«, sagte Sarah. »Du wirkst schon entspannter.«

»Liegt an den Mordfällen«, gab sie zurück.

Ihre Nichte runzelte die Stirn. »Bitte was?«

»Na, die aufgeklärten Mordfälle im Fitnessstudio und bei CryoYoung – beide im Spa-Center.«

»Ach so.« Sarah nickte wissend. »Das sagt viel über dich aus, dass du bei solchen Gedanken entspannst.« Sie zog die Tür zum Spa nach außen auf.

Maike zuckte mit den Schultern und betrat das Gebäude. In der Tür zum Spa warf sie einen kurzen Blick auf ihr Spiegelbild. Sie bereute es sofort. Die knallpinken Leggins und der weite Pulli wirkten, als sei sie auf dem Weg zu einem 80er-Jahre Aerobic-Kurs. Gut, dass sie das Schweißband zu Hause gelassen hatte.

Das hatte man davon, wenn die eigene Nichte einen Sommerferienjob bei der Bürgermeisterin machte, um bei der Digitalisierung des Archivs zu helfen – und sich diese dann in den Kopf setzte, ihrer gestressten Tante ein wenig Entspannung zu verschaffen.

Sie stiegen die Treppen hinauf zum Meditationsstudio. Sarah zog auch hier die Tür auf und Maike starrte entsetzt auf die Menschenmenge.

»Wo kommen die alle her?«

»Von überall«, sagte Sarah. »Die meisten vermutlich aus Köln.«

»Ich meinte, warum kommen die hierher? Das ist Niederteerbach, die Menschen rennen eher weg, nicht darauf zu.«

Sarah zuckte nur mit den Schultern. »Keine Ahnung.«

Ihre Worte klangen ein wenig zu sehr ›gespielt ahnungslos‹.

»Nichte, spuck es aus«, sagte Maike.

»Ich sage nur: Es wird dir guttun.« Dabei stahl sich ein verschmitztes Grinsen auf Sarahs Gesicht.

»Womit habe ich das nur verdient?«, seufzte Maike.

Sarah zog sie am Arm zu zwei freien Matten im vorderen Bereich des Raums. Maike hätte sich liebend gern näher an die geöffnete Balkontür gesetzt, durch die eine sanfte Brise in den Raum drang. Doch dazu hätten sie sechs Reihen nach hinten und zwei weiter nach rechts gemusst.

Während sie durch den Raum ging, erkannte sie ein paar vertraute Gesichter in der Menge. Nicholas von Marking, der Assistent von Bürgermeisterin Graefe, saß müde auf seiner Matte. Als er ihrem Blick begegnete, sah er schnell zu Boden. Britta Taft, die Inhaberin von CryoYoung, nickte ihr freundlich zu.

Die Matten waren fächerartig im Raum verteilt. Im Zentrum ragte ein mehrstufiger Aufbau empor: Räucherschalen aus Bronze, die übereinandergeschichtet an einem Eisenpfahl angebracht waren. Aus dem Gitter direkt darunter stieg ein süßlicher Geruch nach Lavendel auf.

Maike runzelte beim Anblick der Schalenkonstruktion die Stirn. »Was ist das?«

»Die hat Patrick selbst gebaut«, sagte Sarah.

»Patrick?«, echote Maike.

»Patrick Klinkhammer. Du weißt schon: ›Klink dich ein und finde dein Om‹.« Sarah ließ Maike kurz stehen, eilte zu dem kleinen Tisch neben der Schalenkonstruktion und notierte etwas mit dem bereitliegenden Stift auf einem Papier. Sie kam zurück. »Ich hab uns eingetragen.«

Maike hatte das Gefühl, irgendwo falsch abgebogen zu sein. »Und diese Kurse sind so beliebt, dass er mit diesem Slogan ernsthaft Leute hierherlockt?«

»Er ist echt nice«, sagte Sarah. »Jetzt setz dich hin.«

Maike hatte gerade noch ausreichend Zeit, ihre Position einzunehmen. Wobei der Schneidersitz ihr den Unterschied zwischen einer gelenkigen Sechzehnjährigen aka Sarah und einer in die Jahre gekommenen, unsportlichen Kriminalhauptkommissarin aka ihr selbst aufzeigte.

»Willkommen, meine Freunde.« Patrick Klinkhammer trat aus dem angrenzenden Raum und Maike begriff sofort, warum die Kurse so beliebt waren. Eine Mischung aus Prince Charming und Surferboy. Klinkhammer besaß einen durchtrainierten Körper, die Arme waren muskulös. Er trug ein Tanktop, dazu Jogginghosen. Das Haar leuchtete seidig und es hätte sie keinen Augenblick gewundert, hätte er es erst einmal zurückgeworfen.

»Heute werde ich euch in einer geführten Meditation hin zu eurer inneren Mitte leiten«, erklärte er mit sanfter Stimme.

Maike verdrehte die Augen. Genau, die innere Mitte. Unbedingt.

Klinkhammer aktivierte ein verborgenes Soundsystem. Sanfte Meditationsklänge schwangen aus allen Richtungen durch den Raum. Er trat an die mehrstufige Schalenkonstruktion und entzündete den Inhalt der untersten Schale, dann jene darüber und schließlich die letzte.

Ein leicht süßlicher Geruch erfüllte den Raum.

»Wir schließen die Augen«, sagte er.

Maike kam der Aufforderung nach. Sie sollten ein- und ausatmen. Es war ja nicht so, als hätte sie meditieren nicht bereits versucht. Doch sobald sie eine Meditations-App aktivierte, wurde sie nach der ersten Minute unruhig. Sie wollte aufspringen, ihre Gedanken richteten sich auf die Arbeit. Oder auf Martin und Sandro. Billie. Ihren Mörder, Torsten Esser. Die Zukunft.

Das hier würde nicht funktionieren.

Sie gähnte.

Es funktionierte.

Ihr Körper entspannte sich, ihre Gedanken glitten wie von selbst davon. Die Klänge wurden intensiver, ihre Muskeln weich und nachgiebig.

Weich und nachgiebig. Sie kicherte leise. Das Marzipan war schuld.

Sie glitt noch tiefer davon.

Erst als ein seltsamer Laut erklang, realisierte Maike, dass sie kurz eingenickt war. Lustig, das Geräusch hatte geklungen wie ein Pistolenschuss mit Schalldämpfer.

Etwas fiel zu Boden.

Maike öffnete die Augen. Sie brauchte ein paar Sekunden, bis sich das Bild in ihrem Gehirn zusammensetzte. Neben der Schalenkonstruktion lag Patrick Klinkhammer. Blut breitete sich unter seinem Körper aus. Und während um sie herum Schreie einsetzten, Menschen aufsprangen und zur Tür hetzten, konnte sie den Blick nicht von ihm abwenden.

Er hatte eindeutig seine innere Mitte gefunden. Endgültig.

Kapitel 1

Maike kam schwerfällig in die Höhe. Was war nur los mit ihr? Sie fühlte sich noch immer … meditativ, das traf es wohl am besten. Ein Blick in die Runde zeigte ihr, dass jene Kursteilnehmer, die so wie sie selbst weiter vorne gesessen hatten, benommen wirkten. Die Teilnehmer hinten im Raum blickten hingegen hektisch umher, die Blicke nur wenig getrübt.

Die Balkontür stand offen.

Maike ging zu Klinkhammer und neben ihm in die Knie. Der Schuss war direkt ins Herz gegangen. Nichts mehr zu machen.

»Da war jemand auf dem Balkon«, rief irgendwer links von ihr.

Zustimmendes Gemurmel kam von rechts.

Maike versuchte krampfhaft, ihre Gedanken zu klären. Erst jetzt bemerkte sie, dass Sarah neben ihr stand.

»Stell dich an die Tür«, bat sie ihre Nichte. »Niemand kommt hier rein oder raus.«

»Alles klar.« Sarah wirkte ebenfalls benommen, aber das bekam sie bestimmt hin.

Maike wollte das Smartphone hervorziehen, erinnerte sich jedoch daran, dass es mit ihren Jeans zu Hause auf dem Küchenstuhl lag. Schließlich hatte nichts die Erfahrung der inneren Mitte stören sollen. Auf zittrigen Beinen erreichte sie den angrenzenden Büroraum – ohne sich zu übergeben – und fand dort einen Festnetzanschluss. Sie wählte die Nummer der Wache.

»Wache Niederteerbach, Polizeihauptkommissarin Gabi Petzold am Apparat«, erklang die morgendlich-muntere Stimme aus dem Hörer.

»Maike hier.«

»Ah, das ist ja nett. Wie war die Meditation?«

»Tot«, sagte Maike. »Ich meine, er. Er ist tot. Ich brauche Pöller hier und Lukas. Und Sandro muss informiert werden.«

»Wer ist tot?«, fragte Gabi.

»Patrick Klinkhammer«, antwortete sie. »Mörder auf der Flucht. Vermutlich über den Balkon geflohen.«

Sie legte auf und kehrte zurück in den Hauptraum.

Sie pfiff einmal laut und es gelang ihr tatsächlich, alle Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. »Bleiben Sie bitte alle ruhig. Die Einsatzkräfte sind schon auf dem Weg. Niemand verlässt das Spa … ich meine den Meditations…dings. Also, Sie alle bleiben hier für die Befragung.«

Herrgott, sie bekam nicht einen klaren Satz zustande. Das letzte Mal hatte sie sich vor Jahrzehnten so gefühlt, als Billie ihr einen Joint vor die Nase gehalten hatte. Die gesamte Nacht war Maikes Geist eine einzige Dunstwolke aus unzusammenhängenden Gedanken gewesen. Die Räucherschale hatte eindeutig Zutaten verbrannt, die Entspannung über ein legales Maß hinaus beschleunigte. Erst jetzt nahm sie bewusst den Luftstrom wahr, der von der Tür hereinwehte und die Personen im hinteren Bereich geschützt hatte.

Britta Taft, die Inhaberin von CryoYoung, saß noch immer am Boden und schüttelte apathisch den Kopf.

»Das war wie bei der Vereisung von Della DeLorain. Nur halt mit Schuss. Und ohne Eis.«

»Sehen Sie«, sagte Maike fast verständlich. »So was passiert nicht nur Ihnen.«

Die Taft lächelte verzückt. »Stimmt.«

Es vergingen nur fünf Minuten, dann versuchte jemand, die Tür des Meditationsstudios zu öffnen. Durch die Scheibe erkannte Maike ihren Kollegen Lukas Yilmaz.

Sarah warf sich dagegen. »Niemand kommt rein oder raus!«

Maike klatschte sich die Hand gegen die Stirn, spürte Frustration und kicherte gleichzeitig. »Das ist Lukas, der darf natürlich rein. Lass jetzt alle durch, die kommen.«

»Ach so, ja«, erwiderte Sarah.

»Hallo, Maike.« Lukas trat zu ihr und blickte mit gerunzelter Stirn zu Sarah. »Was hat sie denn?« Erst jetzt bemerkte er Maikes Outfit. »Nett.«

»Wage es nicht. Kein Wort.«

Er grinste. »Ich habe gehört, Pink ist wieder in.«

Maike grinste zurück. »Nachtschichten ebenfalls?«

Er schwieg.

An der Tür rief Sarah: »Aber klar, Sie dürfen rein. Alle dürfen rein.«

Maike hatte vermutet, dass Pöller von der Spurensicherung als Nächster auftauchen würde. Stattdessen betrat ein zufriedener Ingo Brandt den Raum, nickte Sarah dankend zu und begann damit, Bilder zu schießen.

»Nein! Er nicht«, rief Maike.

Sarah zog einen Schmollmund. »Ja soll ich jetzt alle reinlassen oder nicht?«

»Herr Brandt, keine Bilder, das ist ein Tatort!« Lukas bugsierte den Reporter sofort wieder hinaus.

»Seine Seele ist fort«, erklang eine sanfte Stimme hinter Maike. Frau Kuschel stand neben dem toten Patrick Klinkhammer, ihr Blick wie immer entrückt.

»Moment mal.« Maike trat mit gerunzelter Stirn zu ihr. »Frau Kuschel, sagen Sie mir bitte, dass ich mich irre: Haben Sie etwas damit zu tun?«

»Ihr Geistesfeuer leuchtet wie immer hell und rein«, gab die Blumenverkäuferin und Teilzeit-Kifferin zurück. Sie deutete auf den mehrstufigen Schalenaufbau. »Patrick und ich haben gemeinsam an einer zeitversetzten Freisetzung gearbeitet, die uns alle langsam hin zur Mitte geleitet.«

»Ich geleite Sie gleich in eine Zelle zu Horst«, stellte Maike klar. »Was war da drin?«

»Die Rezeptur kann ich keinesfalls herausgeben.« Frau Kuschel verschränkte die Arme. »Betriebsgeheimnis.«

Bevor Maike den Weg von ihrer inneren Mitte hin zur Maximaldetonation einleiten konnte, kam Pöller hereingeschneit.

»Hallo, Frau Pech. Na, Sie haben ja ein fesches Outfit.«

Sie schloss die Augen. »Ganz ruhig.«

»Genau«, sagte Frau Kuschel zu ihr. »Sie machen das richtig. Finden Sie Ihre innere Mitte.«

Maike deutete fuchtelnd in den Raum. »Sie gehen jetzt da hinten zu den anderen Zeugen!« Sie wartete, bis Frau Kuschel weg und Pöller samt Assistent bei ihr war. »Leiche liegt hier.« Sie deutete neben sich auf den Boden.

Pöller runzelte die Stirn. »Ist mir schon aufgefallen, ich stehe ja daneben. Leider, will ich sagen. Es stinkt wie Lavendeltee, den jemand mit Gras gestreckt hat.«

»Richtig, richtig.« So ging das nicht weiter. Sie musste an die frische Luft und benötigte dringend einen Kaffee. »Legen Sie einfach los.«

Lukas war bereits dabei, die ersten Befragungen vorzunehmen. Sarah stand noch immer neben der Tür und blickte verträumt in Richtung der Zeugen, die sich in Grüppchen zusammengefunden hatten.

Maike schob sich an allen vorbei auf den Balkon und holte tief Luft. Viel besser!

Das Geländer bestand aus dünnen Metallstreben, die senkrecht verliefen, begrenzt von einer flachen Querstrebe. Der Boden war aus schmalen Holzbohlen gefertigt, zwischen denen Lücken gelassen worden waren. Soweit sie das sehen konnte, ging der Balkon rings um das Gebäude, vorbei an den Zugängen aller übrigen Räumlichkeiten auf dieser Etage.

Testweise umrundete Maike das gesamte Stockwerk. Die Zugänge waren alle verschlossen, lediglich bei zweien war die Balkontür gekippt. Es gab außerdem zwei Feuerleitern, die ausgeklappt werden konnten. Eine war eingehakt, die andere jedoch ausgefahren. Sie reichte bis zum Boden.

»Hierüber bist du also abgehauen«, flüsterte Maike.

Sie kehrte zurück in den Raum und berichtete Pöller von ihrer Entdeckung. Möglicherweise fanden sich ja Fingerabdrücke am Handlauf der Feuertreppe.

Bevor Pöller sich auf den Weg dorthin machen konnte, meldete sich sein Assistent. »Schauen Sie mal, Chef, hier ist was.«

Gemeinsam traten sie zu ihm an die Eingangstür neben Sarah.

Die Front war verglast, der Griff ein großes, gebogenes Plastikelement, das von der Spurensicherung bereits untersucht worden war.

»Sind das …?«, begann Maike.

»Schmauchspuren«, bestätigte Pöller. »Das Pulver macht alles sichtbar. Und ziemlich viele Fingerabdrücke.«

Maike fluchte innerlich. War der Mörder also gar nicht über den Balkon geflohen? Hatte er kaltblütig das Chaos abgewartet und war dann einfach hinausspaziert? All die vermischten Fingerabdrücke würde man kaum unterscheiden können. Und gelänge es wider Erwarten doch, den einen oder anderen Fingerabdruck zu isolieren, wäre es unmöglich, zu sagen, ob die Person der Mörder war.

»Scheiße«, sagte sie.

»Hätte ich nicht besser sagen können«, entgegnete Pöller.

»Nehmen Sie bitte von allen Anwesenden Fingerabdrücke«, sagte Maike. »Damit wir jeden mit der Anwesenheitsliste abgleichen können.«

»Wird gemacht, Frau Pech!« Pöller ging an die Arbeit.

»Darf ich bei der Befragung helfen?«, wollte Sarah wissen.

»Auf gar keinen Fall.«

»Aber ich habe doch auch die Tür bewacht«, nörgelte sie.

»Und so erfolgreich«, sagte Maike.

»Eben. Ach, komm schon, Maike. Ich kann« – sie sah sich um – »doch einfach Nicholas befragen. Wir arbeiten sowieso täglich zusammen.«

»Ja genau.« Maike nickte und deutete in Nicholas von Markings Richtung. »Wunderbar. Du befragst ihn, damit er direkt zur Graefe rennen und davon erzählen kann.«

»Super, Maike.«

»Das war Ironie!« Maike war langsam überzeugt, in einem Irrenhaus gelandet zu sein. »Du gibst jetzt deine Fingerabdrücke ab und dann ab zur Wache. Dort sagst du Gabi, dass sie deine Zeugenaussage aufnehmen soll. Und dann wartest du, bis deine Mutter auftaucht. Sie holt dich doch heute ab.«

Während Sarah schmollend abzog, wollte Maike gar nicht daran denken, wie Zoe reagieren würde. Ihre Tochter hatte live einen Mord miterlebt. Und dieses Mal nicht über einen Livestream.

Moment, hatte Sarah sie gerade ›Maike‹ genannt? Zoe hatte gestern noch am Telefon davon gesprochen, dass jetzt eine neue Phase anstand. Sobald das Gespräch an Schärfe zunahm, begann das kleine Teenager-Monster damit, Zoe und Mark mit dem Vornamen anzusprechen. Jetzt war wohl auch sie an der Reihe. Vergessen war das vertraute »Tantchen«.

Sie schloss die Augen. »Du bekommst das hin, Maike Pech.«

»Natürlich tust du das«, erklang Sandros Stimme.

Sie wünschte sich augenblicklich, dass die halluzinogenen Stoffe in der Schalenkonstruktion ihr einen Streich spielten. Doch als sie die Augen öffnete, stand er vor ihr. Wie immer saß der Anzug perfekt, die Haare waren gestylt und der Hauch eines herben Aftershaves umwehte ihn. Eines, dass sie schon mehr als einmal aus nächster Nähe und ohne Kleidung zwischen ihnen beiden gerochen hatte.

Aber das war vorbei. Maike räusperte sich. »Hallo, Sandro.«

Er betrachtete sie mit gekräuselten Lippen. »Du kannst einfach alles tragen, Maike Pech.«

»Ganz dünnes Eis, Herr Staatsanwalt«, gab sie zurück. »Eine Leiche reicht doch für heute, oder was denkst du?«

Er grinste sie an.

Die Angst, dass es nach dem Ende ihrer Affäre verkrampft zwischen ihnen werden würde, hatte sich glücklicherweise als unbegründet erwiesen. Sie konnten noch immer locker miteinander umgehen, fast sogar lockerer als vorher. Immerhin waren sie sich nah gewesen. Das Ende war ohne Streit gekommen, wie eine natürliche Entwicklung, die sie beide akzeptierten.

Sie begleitete Sandro zu Patrick Klinkhammer, der kurz davorstand, abtransportiert zu werden. Lukas war gerade dabei, allen Zeugen klarzumachen, dass es keine Handy-Aufzeichnungen geben würde. Erste Geräte waren gezückt worden, die schnell wieder verschwanden.

»Der traf direkt ins Ziel«, sagte Sandro. »Herzschuss. Okay, ich leite den Papierkram ein. Du kannst ermitteln.«

Seine Worte waren letztlich pro forma, denn bei einer derart eindeutigen Todesursache war klar, dass es sich um Mord handelte und nichts anderes.

»Erinnere mich daran, hier niemals irgendeine Spa-Behandlung zu buchen«, raunte Sandro Maike zu. »Oder gibt es hier auch mordfreie Einrichtungen?«

»Da wäre das Massagestudio«, erwiderte Maike. »Bin eben auf dem Balkon daran vorbeigekommen. Das sah lebensverlängernd aus. Wäre ich doch bloß dorthin gegangen, aber nein, es musste eine Meditation sein. Das innere Om und so.«

»Nachdem du den armen Horst so angeschrien hast, war das doch eine nette Idee von deiner Nichte«, sagte Sandro.

»Woher weißt du das denn?!«

Maike war klar, dass die Buschtrommeln in Niederteerbach eher einer perfekt durchdigitalisierten Busch-5G-Verbindung entsprachen. Da konnte der Rest von Deutschland am Faxgerät hängen – Klatsch und Tratsch wurden hier in Echtzeit übertragen. Aber gleich bis nach Köln?

»Jens hat es erwähnt«, sagte Sandro.

»Ah, dieser kleine Verräter. Bestimmt weiß er es von Zoe und die von Gabi.« Natürlich gab es da noch zwei oder drei andere Möglichkeiten, und mittlerweile musste sie Sarah als potenzielle Nachrichtenquelle in ihre Überlegungen mit einbeziehen.

»Aber warum hast du ihn angeschrien? Er singt doch immer«, sagte Sandro.

»Wenn du früh morgens ohne Kaffee an deinem Schreibtisch sitzt, der Rechner nicht funktioniert und du mit der IT-Abteilung telefonierst, die zu dir sagt: ›Haben Sie den Rechner schon mal aus- und wieder eingeschaltet?‹, und dann Horst hereinspringt und anfängt ›Happy Birthday, Mrs. President‹ zu singen, kann dir schon mal der Kragen platzen.«

Sandro begann zu lachen. »Na ja, vielleicht meinte er ja dich. Oder eine noch höhere Macht.«

»Gott?« Maike wollte nicht recht daran glauben, dass ausgerechnet Horst religiös war.

»Ich dachte jetzt eher an Bürgermeisterin Graefe.«

Maike lachte laut auf, wurde aber direkt wieder ernst. »Ich habe mich ja bei ihm entschuldigt. Aber Sarah hat es mitbekommen und deshalb kam sie auf die Idee, heute Morgen etwas gegen mein inneres Ungleichgewicht zu tun.«

»Hm«, machte Sandro.

»Was?«, fragte Maike.

»Sollte dieses Gleichgewicht jetzt nicht perfekt ausbalanciert sein?«

Maike schluckte. Ja, sollte es eigentlich. Sie hatten den Mörder von Billie vor mittlerweile einem Monat verhaftet. Nach so langer Zeit hatten Zoe und sie den Mord an ihrer besten Freundin aufgeklärt. Das Ziel ihrer Ermittlungsarbeit, auf das sie jahrelang hingearbeitet hatten, war plötzlich weg. Und so wirbelten in Maikes Geist alle möglichen Gedanken umher. Dabei schob sich stets eine Frage in den Vordergrund: Sollte sie hier in Niederteerbach bleiben? Immerhin war sie nur wegen des Mordfalls hierhergezogen. Jens schaffte es bestimmt, sie in Köln unterzubringen, falls sie das wollte. Aber wollte sie?

»Sollte es wohl«, murmelte Maike.

»Ich fahre zurück nach Köln.« Sandro hatte bereits sein Smartphone in der Hand, auf dem Sekunden zuvor eine Nachricht eingegangen war. »Halte mich auf dem Laufenden.«

»Wird gemacht, Herr Staatsanwalt.«

»Ausgezeichnet, Frau Kriminalhauptkommissarin.«

Sekunden später war er wieder aus der Tür hinaus. Maike signalisierte Lukas, dass sie noch kurz Klinkhammers Büro prüfen würde, das direkt an den Meditationsraum angrenzte.

Er trat zu ihr. »Es ist ein ziemliches Durcheinander. Die Zeugenaussagen widersprechen sich teilweise. Aber ein paar solltest du dir genauer anhören.«

»Alles klar. Wir haben die Adressen?«

»Natürlich.«

»Dann können alle gehen, außer die, die ich mir anhören soll. Mit denen will ich gleich sprechen.«

Während Lukas sich wieder den Zeugen zuwandte, betrat Maike das Büro von Patrick Klinkhammer.