Prolog
»Zu viel gefeiert?« Belustigt beobachtete Charlotte Kreutzer ihre junge Angestellte dabei, wie diese drei Anläufe brauchte, um ihr Fahrrad in den Ständer vor dem Fitnessstudio zu bugsieren.
Samira antwortete mit einem undefinierbaren Brummen. Im Licht der Straßenlaterne wirkte sie unnatürlich blass, die schwarz gefärbten Haare standen nach allen Seiten ab, als sei sie gerade erst aus dem Bett gefallen.
Charlotte hielt ihr einen Thermobecher hin. Das veranlasste Samira das erste Mal am heutigen Tag, den Mund aufzumachen. »Schwarztee?«
»Mit drei Stück Süßstoff. Und einem Schuss Milch.«
Ein glückliches Lächeln breitete sich auf Samiras Gesicht aus. Sie nahm den Becher entgegen, schnupperte an der Öffnung und trank einen großen Schluck.
»Du bist die beste Chefin der Welt!«
»Ich weiß.« Charlotte grinste und trank aus ihrem eigenen Becher.
»Na gut, bringen wir's hinter uns.« Samira begann, in ihrem Rucksack nach dem Schlüssel für das Gebäude zu kramen. Als sie ihn gefunden hatte, ging sie an Charlotte vorbei zur Eingangstür.
Die runzelte die Stirn. »Willst du dein Fahrrad nicht abschließen?«
»Wozu? Es ist mitten in der Nacht.«
»Es ist halb sechs morgens.«
»Am Karnevalsfreitag.« Samira warf ihr einen vielsagenden Blick zu. »Meine Mitbewohnerin ist erst vor einer Stunde nach Hause gekommen.«
Charlotte schnippte mit dem Finger. »Eben.«
Wie um ihr Recht zu geben, trug der Wind in diesem Moment das Gegröle einiger Feiernder heran, die durch die dunklen Straßen des Ortes nach Hause stolperten.
Samira ließ sich jedoch nicht beunruhigen. »Das hier ist Niederteerbach, Charly, nicht Köln.« Sie deutete hinauf zu der kleinen Überwachungskamera, die an der Gebäudewand angebracht war. »Und sollte sich tatsächlich jemand mein altes Klappergestell schnappen, finden wir sofort heraus, wer es war.« Sie stieß den linken Flügel der Eingangstür auf und verschwand im Gebäudekomplex.
Charlotte warf einen letzten Blick zu den Fahrradständern, zuckte mit den Schultern, trank noch einmal aus ihrem Thermobecher und folgte ihrer Angestellten ins Innere. Vielleicht hatte Samira ja recht. Niemand war so blöd, vor laufender Kamera ein Verbrechen zu begehen. Zumindest nicht in nüchternem Zustand.
Zu behaupten, sie putze gern, wäre eine glatte Lüge gewesen. Trotzdem mochte Charlotte ihren Beruf. Das Kleingewerbe, mit dem sie sich vor vierzehn Jahren selbständig gemacht hatte, verschaffte ihr ein Stück Unabhängigkeit von ihrem Mann, das sie zwar nicht unbedingt brauchte, aber genoss. Und anders als Samira machte ihr das frühe Aufstehen nichts aus. Vielleicht sollte sie regelmäßig die Schicht bei Fit with Fun übernehmen. Heute war sie nur für Etienne eingesprungen, der sonst mit Samira hier sauber machte und über das verlängerte Wochenende zu seiner Familie nach Frankreich gefahren war – um dem Karnevalstrubel zu entgehen.
»Haben die hier Weiberfastnacht gefeiert, oder was?«, fragte Samira, nachdem die Neonröhren über ihren Köpfen angesprungen waren und nun das Fitnessstudio in künstliches Licht tauchten.
Charlotte stellte ihren Thermobecher auf den Empfangstresen und blickte sich um. »Also wenn, dann haben sie sich ziemlich zurückgehalten«, erwiderte sie, wunderte sich aber auch darüber, dass neben den Crosstrainern einige Pappbecher und zwei leere Sektflasche standen und auf einem Laufband ein aufgeklappter Pizzakarton lag.
Samira deutete hinüber zu den Kraftstationen. »Irgendein Honk hat jedenfalls seine Sachen liegen lassen.«
Tatsächlich. Im Schatten einer Hantelbank stand eine rote Sporttasche, daneben ein Fitness-Shaker aus Edelstahl.
»Ich hol von hinten erst mal ein paar Mülltüten«, beschloss Charlotte. »Schaust du dich kurz in den Umkleiden und im Poolbereich um, damit wir wissen, wie schlimm es ist?«
Samira nickte und Charlotte schlüpfte in den Flur, der zu den hinteren Räumen führte. Dort gab es eine kleine Rumpelkammer, in der sie ihre Reinigungsgeräte und die Putzmittel lagerten. Ein bisschen wunderte sie sich schon: Sie arbeitete nicht erst seit der Neueröffnung des Fitnessstudios vor ein paar Wochen für Konstantin Odenthal, und in den letzten Jahren hatte er sie immer im Vorfeld informiert, wenn in seinen Geschäftsräumen nach Dienstschluss eine kleine Feier angesetzt worden war. Andererseits konnte man bei einem Pizzakarton und ein paar Getränken auch noch nicht von einer Feier reden. Sie griff gerade nach den Müllsäcken auf dem oberen Regalbrett, als Samiras Schrei markerschütternd durch das Gebäude hallte.
»Was ist los?« Mit klopfendem Herzen stolperte Charlotte in den Poolraum, in dem es unangenehm nach Chlor roch.
Samira stand wie erstarrt am Beckenrand. Als Charlotte neben ihr zum Stehen kam, sah sie, was ihr einen solchen Schock versetzt hatte: der Mann im Pool. Um wen es sich handelte, konnte sie nicht sagen. Er lag, mit dem Rücken zu ihnen, auf dem Grund des Beckens. Alles, was sie erkennen konnte, war, dass er dunkle Haare hatte und die hässlichste Badehose trug, die sie jemals gesehen hatte.
Und natürlich, dass er tot war.
Ihre Zähne begannen zu klappern und ihr Körper zu zittern. »Wir müssen die Polizei rufen.«
Kapitel 1
Maike erinnerte sich nicht daran, wann sie das letzte Mal freiwillig so früh auf der Polizeiwache gewesen war. Nicht einmal Kaffee konnte ihre Müdigkeit verdrängen – weder der, den sie von zu Hause mitgebracht, noch der, den sie widerwillig mit der Kaffeemaschine des Reviers zubereitet hatte. Aber schlechter Kaffee war besser als gar kein Koffein. Beherzt nippte sie an der angeschlagenen Tasse mit der Aufschrift 70 Jahre Blasorchester Niederteerbach – und verzog angewidert den Mund. »Igitt.«
Gut. Erkenntnis am Freitagmorgen: Kein Koffein war besser als schlechter Kaffee. Ihre Zunge fühlte sich an, als hätte sie an einer Autobatterie geleckt.
Zum hundertsten Mal in den letzten zwanzig Minuten flog ihr Blick auf die Digitalanzeige der Uhr auf ihrem Computerbildschirm: fünf Uhr vierzig. Viel zu früh für Harry, um die Fressoase zu eröffnen und einen anständigen Kaffee zu kochen. Schon gar nicht am Morgen nach Weiberfastnacht.
Andererseits saß sie ja genau deshalb jetzt gerade hier: Weil Harry eben noch nicht am Marktplatz stand und weder Gabi noch Lukas in der Wache waren. Da sie dem Drängen ihrer Kollegen nachgegeben hatte, befand sich noch nicht mal Nachtschicht-Erwin im Gebäude, um die Arrestzelle zu überwachen. »Über die Karnevalstage bleibt die geschlossen«, hatte Gabi ihr erklärt. »Das ist Tradition so.« Und damit war die Sache erledigt gewesen.
Blieb zu hoffen, dass sich die Niederteerbacher Verbrecher an die Tradition hielten.
Maike blickte erneut auf die Uhr. 5:41 Uhr.
Na gut. Mit einem Seufzen schnappte sie sich den Spiralblock, den sie mitgebracht hatte, und gab den nächsten Namen auf ihrer Liste in den Computer ein
Bergmann, Reinhold,
blinkte auf dem Bildschirm auf.
Schreinermeister in der Sargfabrik von 1973 bis 2001. Gestorben 2007. Verheiratet.
Maike gab den Namen der Ehefrau in ein Suchfeld ein, nur um festzustellen, dass auch Gisela Bergmann bereits seit einigen Jahren nicht mehr unter den Lebenden weilte. Kinder hatten die beiden dem Computerprogramm zufolge nicht gehabt.
Mit einem Seufzen strich sie den Namen auf ihrer Liste durch. Auf zum nächsten: Cöllen, Armin.
Auf die Idee, noch vor Dienstbeginn mehr über die Angestellten der Sargfabrik herauszufinden, war Maike erst vor ein paar Stunden gekommen. Ihre Wohnung lag direkt am Marktplatz, und über den waren die halbe Nacht lang Feiernde gestolpert, sich angeregt unterhaltend oder schrecklich schief Karnevalslieder grölend. Maike hatte sie selbst durch die geschlossenen Fensterscheiben gehört. Kurz hatte sie erwägt, auf der Couch zu schlafen. Im Wohnzimmer gab es zumindest kein Fenster. Schließlich war ihr jedoch ihre Rechercheliste in den Sinn gekommen.
Seit Philipp sie darauf hingewiesen hatte, dass auf dem Foto, das Billies mutmaßlicher Entführer verloren hatte, das Büro seines Chefs abgebildet war, ließ sie die Sargfabrik gedanklich nicht mehr los. Wenn der Täter ein altes Foto des Geschäftsführerbüros besaß, hatte er vielleicht vor zweiundzwanzig Jahren dort gearbeitet.
Der Geschäftsführer, dem das Büro damals gehörte, war seit über zehn Jahren tot, und der neue Besitzer der Sargfabrik, Vincent Rossbach, war damals noch nicht in Niederteerbach gewesen.
Also hatte Maike sich vorgenommen, die Mitarbeiter der Sargfabrik zu durchleuchten, die vor etwa zweiundzwanzig Jahren dort gearbeitet hatten, einen nach dem anderen. Bis sie endlich etwas herausfand, das ihr und Zoe weiterhalf.
Oder verrannte sie sich gerade?
Nein, sie war sich sicher, dass derjenige, der das Mädchen in Frankfurt im letzten Jahr ermordet hatte, auch für das Verschwinden von Billie verantwortlich war. Und sie war es ihrer Freundin schuldig, dass sie herausfand, was damals wirklich geschehen war. Dafür hatte sie sich überhaupt erst nach Niederteerbach versetzen lassen.
Aber auch Armin Cöllen war ein Dead End. Ebenso wie Craemer, Franziska.
Maike seufzte. 5:53 Uhr. Vielleicht …
Ein durchdringendes Geräusch schrillte durch die leere Wache und ließ Maike zusammenzucken.
Noch ein Schrillen.
Das Telefon. Aber nicht ihres, sondern der Hauptanschluss der Wache. Elektrisiert rollte Maike mit ihrem Drehstuhl zurück, stand auf und ging hinüber in das andere Büro. Misstrauisch starrte sie auf das Telefon, das gerade ansetzte, erneut zu klingeln. Schnell hob sie ab.
»Polizeiwache Niederteerbach«, meldete sie sich. »Kriminalhauptkommissarin Maike Pech. Guten Morgen?«
»Maike, ich bin's.«, erklang eine wohlvertraute Stimme.
»Jens?«
»Was machst du so früh auf der Wache?«
»Warum rufst du so früh auf der Wache an?«
»Ich komme nur meiner Aufsichtspflicht nach.«
Maike verdrehte die Augen. »Haha, nicht mal du als – rein theoretisch – mein Chef – darfst so früh Witze machen.«
»Ich bin es nicht nur rein theoretisch, Maike«, erinnerte er sie.
»Ah, richtig«, antwortete sie ironisch. »Ist wohl noch zu früh für einen klaren Gedanken. Wenn du dich so sehr um mich sorgst, wie wär's mit einem Kaffeevollautomat für die Wache?«
Jens lachte. »Vielleicht fragst du da besser eure Bürgermeisterin.«
»Die Graefe? Eine gute Idee. Die hat mir schon angedroht, ein paar Dienstfahrräder für das Rathaus anzuschaffen.« Sie räusperte sich. »Wir werden ja schließlich alle nicht jünger und Bewegung hält fit«, äffte sie die Bürgermeisterin nach.
»Was hast du geantwortet?«
»Was schon? Sport ist Mord.«
Jens räusperte sich. »Das bringt mich auch direkt zum Thema meines Anrufs. Du hast einen Toten in Niederteerbach. Schon wieder.«
Mit wenigen Worten erläuterte Jens, was vorgefallen war. Anschließend rief sie Lukas an.
»Hab ich verschlafen?!« Der junge Polizeikommissar klang völlig verschreckt.
Trotz der Ernsthaftigkeit der Lage grinste Maike in sich hinein. »Nicht, wenn du dich sofort auf die Socken machst. Wie lang brauchst du, um zum Fitnessstudio zu kommen?«
»In Niederteerbach?« Der Arme klang ganz verwirrt.
»Nein, Lukas«, antwortete sie gedehnt. »In Hollywood. Natürlich in Niederteerbach. Kriminalhauptkommissar Jens … also Jens Breuer hat gerade angerufen. Wir haben eine Leiche.«
Das schien Lukas sofort wachzurütteln. »Bei Fit with Fun?«
»Ein junger Mann. Ist vermutlich im Pool ertrunken. Oder wurde ertränkt. Die Spusi ist auf dem Weg hierher. Ich geh schon mal rüber. Du kommst so schnell wie möglich nach, okay?«
Sie hörte es am anderen Ende der Leitung klappern. »In einer halben Stunde bin ich da.«
»Guter Junge.« Maike legte auf, bevor Lukas etwas erwidern konnte.
Ihre Lippen zuckten, während sie ihr Smartphone einsteckte. Sie konnte nichts dafür, es machte einfach zu viel Spaß, Lukas ein bisschen aufzuziehen. Seit ihrer Ankunft in Niederteerbach vor fünf Monaten hatte er etwas von seiner Steifigkeit verloren, aber er war noch immer so dienstbeflissen und engagiert wie an ihrem ersten Tag. Während die Bürotür hinter ihr zufiel, gestand Maike sich ein, dass es sehr angenehm war, Lukas bei Ermittlungen an ihrer Seite zu wissen. Er war anders als ihre ehemaligen Kollegen in Berlin. Und vielleicht war sie sich deshalb so sicher, dass er es noch weit bringen würde. Zumindest, wenn er es schaffte, nicht allzu viele schlechte Angewohnheiten von ihr zu übernehmen.
Die Neueröffnung des Fit with Fun war am letzten Januar-Wochenende mit großem Pomp gefeiert worden. Maike war nicht dort gewesen, doch Bürgermeisterin Sabine Graefe hatte es sich nicht nehmen lassen, vor der ganzen Belegschaft der Wache ihre flammende Rede zu üben, die sie auf der Veranstaltung halten wollte. Darin hatte sie das neue, mit allerlei Steuerbegünstigungen geförderte Niederteerbacher Fitness- und Spa-Zentrum als Teil der Initiative bezeichnet, die den Ort zu »einem noch attraktiveren Urlaubsziel« machen sollte. Irgendwie war es der Graefe sogar gelungen, eine bekannte Influencerin an Land zu ziehen, die demnächst über »die neue Wohlfühloase« berichten würde. Der Großteil der Niederteerbacher stand, so Gabi, hinter der Bürgermeisterin und ihren Plänen. Einigen Dorfbewohnern jedoch war ihre Politik und das Ausmaß dessen, wie viel Geld sie in die Initiative steckte, ein Dorn im Auge. Und auch wenn Maike sich keinen Deut für den kleinsten Rosenmontagsumzug der Welt interessierte, fragte sie sich, ob die Graefe dort ihr Fett wegbekommen würde.
Schick ist der Spa-Bereich allerdings geworden, ging es ihr durch den Kopf, während sie auf das Fitnessstudio zuging. Sie hatte ohnehin vorgehabt, bald mal hier aufzuschlagen. Mithilfe des preisgünstigen Eröffnungsangebots hoffte Maike, den inneren Schweinehund zu überwinden, der sich immer dann besonders stark zu Wort meldete, wenn es um sportliche Betätigungen ging. Tja, jetzt war ihr tatsächlich die Arbeit zuvorgekommen.
Ein Mann mittleren Alters erwartete sie an der Eingangstür des Fit with Fun. Er war nicht viel größer als sie, trug eine Glatze, war extrem gebräunt – sie tippte auf Solarium – und sein tomatenrotes T-Shirt spannte über seinen Muskeln. Ein erleichterter Ausdruck erschien auf seinem Gesicht, als sie auf ihn zuschritt. »Frau Pech, dem Himmel sei Dank sind Sie da.«
Maike nickte dem Fremden freundlich zu. »Und Sie sind?«
Er blickte sie irritiert an. »Konstantin Odenthal. Mir gehört das Studio.«
Ah ja. Jetzt erinnerte sie sich. Sie hatte sein Foto im Niederteerbacher Volksblatt auf Gabis Schreibtisch gesehen. Nicht, dass sie selbst dieses Schmierblatt lesen würde.
»Bin ich die Erste?«, fragte sie.
Konstantin Odenthal nickte. »Ihre Kölner Kollegen sind aber bereits unterwegs. Soll ich Sie jetzt zum … Fundort bringen?«
»Moment.«
Maike fischte aus ihrer Jackentasche ein Paar Plastiküberzieher, die sie auf der Wache eingesteckt hatte, und zog sie sich über die Schuhe. Beim nächsten Blick auf ihr Gegenüber zog sie ein weiteres Paar hervor und reichte sie Odenthal. Der räusperte sich, zog sie jedoch über.
»Das alles ist mir furchtbar unangenehm«, beteuerte er, während er sie durch den Trainingsraum führte.
Sie runzelte die Stirn. »Unangenehm? Weshalb?«
Die Ohrenspitzen des Mannes begannen zu glühen. »Na ja…«, stammelte er. »Ein Toter. So kurz nach der Eröffnung.«
Sie nickte und ließ den Blick umherschweifen. Der Raum, den sie durchquerten, war vollgestopft mit ultramodernen Geräten. Mindestens zehn Stepper und Crosstrainer standen aufgereiht an einer folienbeschichteten Glaswand.
Sie zog den Parka enger um sich. Es war verdammt frisch hier drin. »Warum war der Mann überhaupt nachts hier? War das ein Mitarbeiter?«
Odenthal schüttelte den Kopf.
»Ein Einbrecher?«, riet sie weiter.
»Nein.«
Maike bemerkte, dass Odenthal ihr nicht in die Augen schaute. Interessant. Sie setzte gerade zu einer weiteren Frage an, als sie die Tür erreichten, die zum Indoor-Pool führte.
Auf den weißen Fließen lag eine Rettungsstange.
Maike starrte sie entsetzt an. »Sie haben doch nicht etwa versucht, den Körper selbst zu bergen?!«
»Nein«, beteuerte Odenthal gleich. »Also … ja, das heißt, wir dachten zunächst, wir sollten etwas tun! Aber dann wurde mir klar, dass das keine gute Idee ist und dass wir besser warten sollten.«
»Wir?«
»Die Mitarbeiterinnen der Reinigungsfirma. Sie haben … ihn entdeckt und mich angerufen.«
Überrascht blieb Maike stehen. »Ach so, Sie haben die Leiche gar nicht selbst gefunden?«
Odenthal verneinte.
»Wo sind denn diese Mitarbeiterinnen jetzt?«, fragte sie.
»Frau Kreutzer und ihre Kollegin? Die warten hinten im Aufenthaltsraum. Brauchten erst mal einen Kaffee.«
Maike nickte. »Sie sollen bitte nicht gehen, ehe ich mit ihnen gesprochen habe.«
»Selbstverständlich.«
Odenthal machte sich auf den Weg, um den Damen Maikes Wunsch auszurichten, während Maike an den Rand des Pools trat. Die Leiche lag auf dem Grund des Beckens. Was für ein befremdlicher Anblick. Nicht, weil die Haut des Mannes durch das Wasser sehr blass wirkte. Oder weil sie glaubte, erkennen zu können, dass er ordentlich durchtrainiert war. Es lag vielmehr daran, dass ihr seine nackten Pobacken förmlich entgegenstrahlten. Sie ging in die Hocke.
Trug der Kerl tatsächlich einen neonfarbenen Tanga?
Von ihrem Platz am Pool aus nahm sie den Raum in Augenschein, achtete jedoch tunlichst darauf, ihren Bewegungsradius klein zu halten, um der Spurensicherung die Arbeit nicht zu erschweren. Odenthal waren solche Überlegungen offensichtlich völlig fremd. Als er zurückkam, lief er schnurstracks an ihr vorbei, bevor sie ihn aufhalten konnte.
»Stopp«, fuhr sie ihn an. »Bleiben Sie bitte draußen, bis die Spurensicherung hier ihre Arbeit gemacht hat.«
Odenthal erstarrte. »Natürlich«, versicherte er und steckte die Hände in die Taschen seiner Trainingshose.
Maikes Blick glitt zur Rettungsstange neben dem Pool. Wahrscheinlich ist es dafür eh zu spät, dachte sie resigniert. Schließlich waren bereits vor ihrem Eintreffen mindestens drei Personen eifrig hier durchgestiefelt. Walther Pöller würde sich freuen.
»Einer der Damen geht es nicht gut«, berichtete Odenthal jetzt. »Sie fragt, ob Sie sich beeilen könnten.«
Maike seufzte. »Klar. Es geht ja auch nur um eine Leiche. Können Sie mich zu Ihnen bringen?«
»Natürlich.«
»Sie haben mir noch nicht geantwortet: Wissen Sie, wer der Mann ist?«, fragte sie, während sie neben Odenthal herlief.
»Ich bin mir nicht sicher!«
»Könnte er ein Kunde sein?«
»Nein! Ich meine: Ich glaube nicht. Er war –«
»Frau Pech!«, hallte da die Stimme von Walther Pöller vom Eingang her auf sie zu. »Wenn Sie so weitermachen, muss ich mir noch eine Wohnung in Niederteerbach suchen.«
»Pöller« begrüßte Maike ihren Kollegen von der Spurensicherung. »Na kommen Sie, Ihnen gefällt es doch hier.«
»Na ja, wenigstens ist es diesmal warm und trocken. Sonst ist der Tatort in Ihren Fällen ja gern mal ein Sandhaufen oder mitten im Wald.«
Maike verschränkte die Arme. »Wir wissen noch gar nicht, ob es ein Tatort ist, Herr Kollege.«
Pöller verdrehte die Augen, sparte sich jedoch eine Antwort und machte sich auf den Weg zum Pool.
Maike wandte sich an den Fitnessstudiobesitzer. »Wo finde ich denn nun die beiden Damen von der Reinigung?«
»Ach, stimmt ja. Entschuldigen Sie, bitte. Hier entlang.«
Während Maike Konstantin Odenthal hinterherlief, streckte sie ihre Muskeln und gähnte ausgiebig. Vielleicht war es heute Morgen doch ein bisschen früh gewesen. Sie blickte sie auf das Display ihres Smartphones. Sechs Uhr Siebenundzwanzig. Wo blieb eigentlich Lukas?