Prolog
Es knackte im Geäst. Heike schrie auf, als ihr Mann sie am Arm packte und zurückzerrte. Im nächsten Moment preschte kurz vor ihnen ein aufgeschrecktes Reh in der Abenddämmerung über den Waldweg. Waldemar kläffte ihm aufgebracht hinterher.
»Herzinfarkt des Todes«, stieß Christian aus und schlug sich die Handfläche auf die Brust. »Das Biest hat uns fast überrannt.«
Heike zitterte und kämpfte damit, ihren Dackel unter Kontrolle zu halten. Waldemar bellte unaufhörlich, zerrte an der Leine und schlüpfte schließlich durch das Halsband.
»Nein, Waldi, nein!«, rief sie.
Christian fluchte. »Waldi, bei Fuß!« Er hetzte ihm nach, doch der Hund war längst im Dickicht verschwunden.
»Waldi!« Heikes Stimme überschlug sich.
Sie folgte ihrem Mann nur wenige Schritte. Es wurde bereits dunkel und der Gedanke, in den dichten Wald hineinzulaufen, gefiel ihr gar nicht. Dazu kam, dass Waldemars Bellen verstummt und weit und breit nichts mehr von ihm zu sehen war.
Christian schimpfte und kam zu ihr zurück. »Dieser Mistköter!«
Heike verteidigte ihren Dackel. »Er folgt seinem Jagdinstinkt.« Sie schlug die Hände über der Kapuze zusammen. »Was machen wir denn jetzt?«
Christian nahm ihr die Hundeleine ab und legte sie in Schlaufen. »Wir bleiben auf dem Waldweg und rufen ihn.«
Er ging voran.
»Waldi!«, rief Heike wieder und zog sich die Kapuze weiter in die Stirn. Ihre Fingerspitzen waren trotz der Handschuhe kalt. »Der Hund wird erfrieren, wenn wir ihn nicht finden.«
»Quatsch, so eisig ist es nun auch wieder nicht.« Die Atemwölkchen vor seinem Mund und die gerötete Nasenspitze überzeugten Heike allerdings nicht von seiner Behauptung.
»Waldemar! Hierher!« Er aktivierte die Taschenlampenfunktion am Smartphone und leuchtete in die zunehmende Dunkelheit.
»Was, wenn er sich verletzt?« Heike zog die Nase hoch, ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Oder ein wildes Tier ihn angreift?«
Christian blieb stehen und sah sich zu ihr um. »Wir sind in Niederteerbach und nicht in einem kanadischen Nationalpark. Was für ein Raubtier soll das sein?«
Sie hob das Kinn. »Ein Wolf zum Beispiel. Die haben sich wieder in Deutschland angesiedelt.«
Er richtete seine Mütze. »Aber nicht in unserer Gegend.« Abermals rief er nach Waldemar.
Sie überholte ihren Mann. »Und wovor ist das Reh dann geflohen?«
Christian zuckte mit den Schultern. »Das machen Rehe schon mal, sie sind schreckhaft oder vielleicht war auch der Jäger in der Nähe.«
Heike stoppte mitten in der Bewegung. »Der Jäger? O Gott, der wird Waldi erschießen. Hunde müssen an der Leine geführt werden und – «
»Beruhige dich«, unterbrach Christian ihren Redeschwall. »Der erlegt keinen Dackel.«
Sie riss die Augen auf und sah sich nach allen Seiten um. »Es wurden schon Menschen nachts versehentlich von Jägern erschossen!«
Christian seufzte. »Wenn es richtig dunkel wird, können wir sowieso nicht im Wald bleiben. Dann kommen wir morgen früh wieder her, um nach Waldi zu suchen.«
Heike drehte sich um die eigene Achse. »Hast du das gehört?« Sie hob den Finger und lauschte.
Zweige knackten, ebenso raschelte das von Raureif überzogene alte Laub, das den Waldboden bedeckte.
In etwa zwanzig Metern Entfernung huschte Waldemar zwischen zwei Sträuchern hervor und kam mit einem Stock im Maul auf sie zu gedackelt.
Heike atmete auf und lief dem Hund entgegen. »Waldi, mein Schatz. Was machst du denn für Sachen?«
Waldemar ließ den Stock fallen und genoss ihre Streicheleinheiten.
»Was hast du denn da?« Sie hob den Stock auf und schaute ihn sich genauer an. »Oh, wie eklig!« Im weiten Bogen schmiss sie ihn von sich. »Und das haben wohl auch nur Besucher aus einem kanadischen Nationalpark hier vergessen, oder wie?«
Ihr Mann beleuchtete das Fundstück mit dem Smartphone. »Was zum Teufel …? Wir müssen die Polizei rufen!«, stieß er aus, während seine Frau sich vornüberbeugte und erbrach.
1. Kapitel
»Du hast tatsächlich alle Kartons ausgepackt?« Zoe schaute sich in Maikes Wohnzimmer um und nickte anerkennend. »Man könnte fast glauben, du wirst hier langsam heimisch.«
Maike machte sich ein Kölsch auf und ließ sich auf die Couch sinken. »Es war zu anstrengend, immer alles suchen zu müssen.«
Zoe setzte sich schmunzelnd neben sie. »Als würdest du das ohne Kartons nicht auch tun.«
»Was soll das denn heißen?« Maike nahm einen Schluck aus der Bierflasche. »Ein bisschen Chaos hat noch keinem geschadet. Es gibt nichts Schlimmeres als Wohnungen, in denen man nicht sieht, dass dort gelebt wird.«
Tubbs pirschte sich auf leisen Pfoten an und sprang dann mit einem Satz auf Maikes Schoß. Crockett lag auf dem alten gusseisernen Heizkörper, der schon seit Tagen ein merkwürdiges Gurgeln von sich gab. Maike hatte es ihrem Vermieter bereits mitgeteilt und hoffte, dass der etwas unternahm, bevor sie hier mitten im Januar in einer kalten Wohnung hockte.
Zoe lehnte sich vor und kraulte Tubbs hinter den Ohren. »Die beiden haben sich auf jeden Fall inzwischen an ihr neues Zuhause gewöhnt.« Die rot getigerte Katze streckte die Beine aus und begann zu schnurren.
»Wollen wir mal schauen, was wir an unserem Konzertwochenende in Hamburg noch so machen können?«, fragte Maike, hob Tubbs von ihrem Schoß und legte die Katze auf Zoes Beine. Dann zog sie ihren Laptop unter der Couch hervor und klappte ihn auf.
»Du hast wirklich dein eigenes Ordnungssystem«, kommentierte Zoe. »Hätte ich deinen Laptop gesucht, hätte ich ihn vermutlich nie gefunden.«
»Ich habe gestern noch auf der Couch gearbeitet«, sagte Maike, klappte den Laptop wieder zu und stellte ihn auf dem Tisch ab. »Der blöde Akku ist leer. Wo hab ich mein Smartphone?«
»Das kannst nur du allein wissen«, erwiderte Zoe und wedelte orakelnd mit den Händen.
Maike verdrehte die Augen, stand auf und ging in die Küche. Auf der Küchenzeile lag es nicht, auch nicht auf dem Tisch oder dem Fensterbrett.
»Wir müssen auf jeden Fall am Hafen ein Fischbrötchen essen und einmal durch die Speicherstadt schlendern«, schlug Zoe vor. Sie war ihr in die Küche gefolgt, öffnete den Kühlschrank, nahm die Weinflasche heraus und schenkte sich nach. »Und wir müssen noch eine hippe Hamburger Cocktailbar raussuchen, um deinen 40. Geburtstag am Samstag nach dem Konzert gebührend zu feiern.«
»Wir zwei können gern auf meinen Geburtstag anstoßen«, erwiderte Maike. »Hauptsache es gibt keine Party. Die 40 kann mich mal.«
Zoe atmete tief durch und grinste.
Maike schnitt ihr eine Grimasse und lief ins Schlafzimmer. Sie durchwühlte ihre Bettdecke und schaute unters Kopfkissen. Zoe erschien im Türrahmen und beobachtete sie.
»Kannst du mich bitte mal anrufen?«, fragte Maike.
Ihre Schwägerin aka beste Freundin biss sich auf die Lippen und unterdrückte ein Lachen. Sie zog ihr Smartphone aus der Gesäßtasche ihrer engen weißen Jeans, und tat ihr den Gefallen. Aber es war kein Klingelton zu hören.
»Entweder hast du es lautlos gestellt oder in der Wache vergessen.« Zoe zuckte mit den Achseln. »Oder auch dieser Akku ist leer.«
»Wenn ich das Ding noch lange suchen muss, ist meiner auch gleich leer«, entgegnete Maike und rieb sich die Stirn. In Gedanken ging sie durch, wo sie ihr Smartphone das letzte Mal genutzt hatte. Dann hob sie triumphierend den Zeigefinger. »Ich weiß es wieder.«
Sie drängte sich an Zoe vorbei durch die Tür. Auf dem winzigen Waschbecken in ihrer Toilette wurde sie fündig.
Während sie ins Wohnzimmer zurückkehrte, entsperrte sie das Display und bekam drei verpasste Anrufe von Jens angezeigt. Da er es mehrfach in kurzer Zeit versucht hatte, ahnte sie, dass er nicht als Freund, sondern als ihr Chef angerufen hatte.
»Ich befürchte, es gibt Arbeit«, sagte Maike und ließ sich mit Zoe wieder auf der Couch nieder. Dann rief sie Jens zurück und drückte auf das Lautsprecherzeichen.
»Wenn ich dich nicht so gut leiden könnte, würde ich dir jetzt den Kopf abreißen«, meldete er sich, ohne ein Wort der Begrüßung. »Ist dein Handy kaputt, oder was ist los?«
Normalerweise war sie um keine schlagfertige Antwort verlegen, aber Erwin, der zweimal in der Woche in Niederteerbach die Nachtschichten auf der Wache übernahm, war gerade krank und deshalb hatte Maike gerade Bereitschaft. Dummerweise hatte sie vergessen, den Ton wieder einzuschalten, den sie heute Mittag wegen der ständigen Anrufe von Sabine Graefe abgestellt hatte. Die Bürgermeisterin lag ihr momentan wegen des digitalen Archivs in den Ohren und brauchte ständig irgendwelche Akten und Antworten. Da half es manchmal nur, ihre Anrufe zu ignorieren.
»Sorry, mein Fehler«, sagte Maike. »Wo brennt es denn?«
Er atmete tief durch. »Waldemar hat einen menschlichen Knochen im Niederteerbacher Wald gefunden.«
Sie hob die Augenbrauen. »Wer?«
»Der Dackel von den Eheleuten Heike und Christian Zumwinkel.«
»Ach, die kenne ich. Die wohnen am Ortsausgang und haben sich über den Bau des Spa-Centers und die Lärmbelästigung beschwert. Gabi vermittelt da ständig in einem Nachbarschaftsstreit. Heißt ihr Hund nicht Waldi?«
»Es ist mir ehrlich gesagt total egal, wie der Hund heißt«, entgegnete Jens. »Tatsache ist, dass zu einem Knochen andere gehören. Wir riegeln am Fundort gerade alles ab. Ein Spürhund ist im Einsatz und Walther Pöller und sein Team sind alarmiert. Nur unsere Kriminalhauptkommissarin fehlt.«
Maike seufzte. »Ich bin so gut wie da.«
»Gut. Und halt mich auf dem Laufenden.«
»Mach ich. Schickst du mir die Koordinaten?«
»Längst passiert, Frau Pech. Schau in deine Nachrichten. Also beeil dich!« Jens legte auf.
»Das war es dann wohl mit unserem Mädelsabend«, sagte Zoe und stellte ihr halb leeres Weinglas auf den Tisch.
»Ich hätte nichts dagegen, wenn du mich begleitest«, erwiderte Maike und rief Jens’ Nachricht mit den Fundort-Koordinaten auf. »Da könntest du dir den Knochen schon mal ansehen.«
»Ich habe gehofft, dass du mich darum bittest.« Zoe rieb sich die Hände. »Lass uns aufbrechen.«
Sie ging voraus, zog im Flur ihre eleganten braunen Stiefel an, nahm ihren Mantel vom Haken und reichte Maike den Parka. Die bunte Ohrenklappenmütze ließ sie hängen, Maike griff jedoch danach und zog sie sich auf den Kopf.
»Ich hab die Befürchtung, dass du damit deine Autorität untergräbst«, sagte Zoe, während sie im Treppenhaus nebeneinander die Stufen hinabliefen.
»Pöller kennt meine Mütze schon«, entgegnete Maike.
Als sie durch die Haustür nach draußen traten, stob ihnen eisiger Wind ins Gesicht. Im Licht der Straßenlaternen glitzerte der angefrorene Reif auf dem Kopfsteinpflaster. Um diese Uhrzeit war bei den Minusgraden kein Mensch mehr unterwegs.
»Kann ich es mir noch anders überlegen und in deiner warmen Wohnung auf dich warten?« Zoe hakte sich bei ihr unter. Auf ihren dünnen Sohlen schlitterte sie mehr, als dass sie lief. Da war Maike mit ihren Boots besser dran.
»Nix da, du kommst schön mit. Seit wann lässt du dir eine Leichenschau entgehen?« Maike pustete warme Atemluft in ihre Handflächen und rieb sie aneinander. Ihre Handschuhe lagen im Auto, das wie immer auf dem Revierparkplatz stand.
Zoes Antwort war ein übermäßiges Zähneklappern.
Die Scheiben des braunen Nissan Cube waren von einer dünnen Eisschicht überzogen. Maike startete den Motor und nahm ihre Handschuhe vom Armaturenbrett. Mit vereinten Kräften kratzten sie die Fenster frei und fuhren schließlich Richtung Wald.
»Was wissen wir über den Fall bis jetzt?«, fragte Zoe.
Maike saß durch die Kälte so verkrampft, dass ihre Schultern schmerzten. »Waldi hat einen Knochen gefunden.«
Zoe schaute zu ihr hinüber.
»Okay. Anders gefragt: Arbeiten die Besitzer vom Waldi in medizinischen Berufen?«, fragte Zoe.
Maike hob die Augenbrauen und sah sie an. »Nicht, dass ich wüsste. Was spielt das denn für eine Rolle?«
»Wenn sie sich anatomisch nicht auskennen, den Knochen aber dennoch einem Menschen zuordnen konnten, wird es sich vermutlich um einen Hauptknochen handeln.« Sie tippte sich mit der behandschuhten Hand gegen das Kinn. »Oder wir haben es nicht nur mit Skelettteilen, sondern mit Leichenteilen zu tun.«
Maike gab einen gespielten Würgelaut von sich. »Na toll, zum Glück habe ich heute nicht viel gegessen.«
Die restliche Fahrt verbrachten sie schweigend. Sie folgten der Ansage des Navis, verließen die Straße und bogen auf einen Waldweg ein. Durch den unebenen Boden wurden sie im Auto ordentlich durchgerüttelt. Die Finsternis verbreitete eine gruselige Atmosphäre. Im Lichtkegel der Scheinwerfer ragten die Bäume wie Schattenwesen neben ihnen auf. Maike war froh, als sie nach einer Kurve eine weitere Lichtquelle sah.
Beim Näherkommen erkannte sie einen Streifenwagen, in dem zwei Polizisten saßen. Die drei Transporter von Walther Pöller und seinem Team standen hinter einem Absperrband, ebenso ein weiteres Fahrzeug, das zur Hundestaffel gehörte. Als Zoe und sie ausstiegen, verließen die zwei Beamten ebenfalls ihr Auto und kamen auf sie zu.
»Kriminalhauptkommissarin Maike Pech«, stellte Maike sich vor und zückte ihre Marke. »Rechtsmedizinerin Zoe Iyeke Schwäfel aus Köln begleitet mich.«
Die Männer nickten ihnen zu.
Sie deutete mit dem Kinn zum Absperrband. »Wurden weitere Knochen oder Überreste gefunden?«
»Die sind da erst vor zehn Minuten rein«, erwiderte einer der beiden und zog sich im Nacken den Kragen hoch.
»Wo sind die Zeugen?«, hakte Maike nach.
»Die waren total durchgefroren«, sagte der andere und kramte aus der Innentasche seines Anoraks einen Zettel hervor. »Wir haben sie nach Hause geschickt. Das sind ihre Kontaktdaten.«
Sein Kollege strich sich über die Ärmel, wippte auf und ab. »Hier draußen friert man sich echt die Eier ab.«
Maike schmunzelte. »Kann ich nicht nachvollziehen. Können wir uns auf den Arsch einigen?«
Er grinste breit.
»Ich hab immer ein paar Schutzanzüge im Auto«, sagte sie an Zoe gewandt, ging zum Kofferraum und reichte ihr einen. Nachdem sie auch Schuhüberzieher übergestreift hatten, holte sie die Taschenlampe aus dem Handschuhfach. Die zwei Beamten hatten sich inzwischen wieder in den Streifenwagen zurückgezogen und ließen für die Heizung den Motor laufen.
Zoe hielt das Absperrband hoch, damit sie hindurchschlüpfen konnten. Nur die Taschenlampe und der sichelförmige Mond spendeten ihnen in der Dunkelheit des Waldes etwas Licht. Sie hörten einen Hund bellen und bemerkten kurz darauf eine weitere Lichtquelle, in der sich dunkle Gestalten bewegten.
»Ich spür schon jetzt meine Finger nicht mehr«, hörten sie Walter Pöller in seinem typischen kölscher Dialekt klagen, noch bevor sie am Fundort eintrafen.
Die Spurensicherung hatte einen Stromgenerator für die Strahler aufgestellt, die in einer Mulde den Waldboden ausleuchteten. Die Szenerie erinnerte Maike an archäologische Ausgrabungen. Pöller und sein Team hockten in Schutzkleidung im Dreck und legten mit Spateln und kleinen Bürsten Stück für Stück ein Leichenteil frei.
Maike stieß hörbar die Luft aus. »Na super. Das wird ein Puzzlespiel.«
Walter Pöller stampfte über den unebenen Boden auf sie zu. »Was hat Sie denn aufgehalten, Frau Kollegin? Haben Sie heißen Tee für uns gekocht?« Er drehte sich zu den anderen um, ohne auf eine Antwort zu warten. »Gegen ein Zelt und Heizstrahler hätte auch keiner was einzuwenden.«
»Ich habe eher an ein Lagerfeuer gedacht«, erwiderte Maike, sah Zoe an und zwinkerte ihr zu. »Holst du bitte noch die Kuscheldecken aus dem Auto?«
Pöller verdrehte die Augen. »Haha.«
Maike ging an ihm vorbei und hockte sich neben einen seiner Kollegen.
»Ach, Pöllerchen«, hörte sie Zoe sagen. »Welche Laus ist Ihnen denn über die Leber gelaufen?«
»Ihnen wird der Humor auch noch vergehen, wenn Ihnen Eiszapfen aus der Nase wachsen.«
»Sehen Sie das Wetter doch mal von der guten Seite.« Mit Pöller im Schlepptau kam Zoe ihr nach. »Im Sommer wären hier jetzt massenweise Insekten am Start.«
Er gab ein versöhnliches Grummeln von sich.
»Wurde der Kopf schon gefunden?«, fragte Maike in die Runde.
Pöller rieb sich an seinem Ärmel die Nase. »Wir haben gerade erst angefangen. Dass der oder die Tote zerstückelt wurde, brauche ich wohl nicht zu erwähnen. Leider hat uns der Täter die Leichenteile nicht auf einem Silbertablett angerichtet.« Er stockte und verzog den Mund. »Bei den gegebenen Wetterbedingungen ist die Bergung äußerst schwierig. Der Boden ist stellenweise gefroren. Das verrottete Laub lässt Schuhabdrücke ebenfalls kaum erkennen. Und außerdem waren hier schon Wildtiere am Werk.«
»Lässt sich sagen, welche Tiere?«, fragte Zoe.
»Eine Wildschweinrotte, Füchse, Marder, Vögel …«, antwortete er. »Wären wir auch nur einen Tag später gekommen, wäre vermutlich nicht mehr viel übrig geblieben. Sie haben die Überreste gewittert, teilweise ausgegraben, gefressen und auch verschleppt.«
»Das müssen wir später bei unserer Arbeit im Obduktionssaal berücksichtigen«, sagte Zoe.
»Wie ist dein erster Eindruck?«, erkundigte sich Maike.
»Kann ich bitte mal ein paar Gummihandschuhe haben?«
Pöller ging zu einem Metallkoffer und gab ihr welche.
Zoe tauschte ihre Wollhandschuhe gegen die aus Latex, hockte sich hin und nahm einen Knochen von der ausgebreiteten Folie, auf der sie zwei bisher gefundene Leichenstücke drapiert hatten. Die Anwesenden unterbrachen ihre Arbeit und beobachteten sie.
»Niedrige Temperaturen, Tierfraß, ich nehme an, postmortale Zerteilung. Viele Faktoren; nicht viel übrig«, sagte sie in Gedanken. »Bei den Temperaturen ist keine Grünfäule zu erwarten, die noch erhaltene Haut sieht eher rosa aus.« Sie legte den Knochen zurück. »Das ist jetzt eine reine Schätzung. Wenn die Tiere das Fleisch einmal gewittert haben, wird nichts davon eingeteilt. Dann ist die Grabstelle nachts wie ein Magnet. Unter Berücksichtigung der gegebenen Umstände gehe ich davon aus, dass die Körperteile hier ein, höchstens zwei Tage liegen. Der Todeszeitpunkt kann anhand der Haut- und Fleischbeschaffenheit allerdings bis zu einer Woche zurückliegen. Konkretes kann ich erst sagen, wenn ich die Leichenteile auf meinem Seziertisch habe.«
Maike nickte und ließ ihren Blick über den aufgewühlten Erdboden schweifen. »Dann dürfen wir keine Zeit verlieren.« Sie wandte sich an Zoe. »Kann ich dich vielleicht dazu überreden, dass du dir die Überreste noch diese Nacht im Institut genauer ansiehst?«
Zoe begutachtete einen abgefressenen Knochen. »Du hattest schon immer die besten Ideen.«
»Sehr gut. Dann kontaktiere ich gleich die Staatsanwaltschaft und hole mir eine dringliche Genehmigung ein.« Maike klopfte Walther Pöller auf die Schulter. »Verpacken Sie bitte die bisherigen Fundstücke und lassen Sie diese ins rechtsmedizinische Institut nach Köln bringen. Den Rest können Sie nachliefern.«
»Klingt, als wäre ich vom Paketdienst oder Pizzaservice.« Er zog die Nase hoch. »Ich sollte wirklich über eine Umschulung nachdenken.« Sein Tonfall war ernst, doch dann zwinkerte er ihr zu.
Maike wollte sich gerade abwenden, da hörte sie in der Nähe wieder einen Hund bellen. Sie drehte sich um und sah einen Hundeführer auf sich zukommen, der eine Stirnlampe trug und seinen Schäferhund eingehend lobte.
»Herr Pöller«, rief er. »Artax hat hier wieder was gefunden.«
»Dann hoffen wir mal, dass es keine zweite Leiche ist«, sagte dieser und seufzte.