Leseprobe Perfect Tackle

1

Lindsey

»Und es ist wirklich okay für deinen Bruder, wenn du hier einziehst?« Das kann ich mir kaum vorstellen, aber Cassandra López nickt begeistert und sieht sich mit leuchtenden Augen in meinem Wohnzimmer nebst Küchenzeile um, in dem wir stehen.

»Es ist billiger als ein zweites Wohnheimzimmer, und unsere gemeinsame Wohnung wurde uns gerade gekündigt. Deshalb hat er ja gesagt, dass ich mir eine WG suchen soll.«

»Ich meinte, ob er was dagegen hat, dass du hier einziehst. Bei mir.«

Cassies Bruder Jay, einer der Offensive Tackles der Sacramento Ravens, ist nicht gerade ein Fan von mir.

Cassie zieht die Nase kraus. »Warum sollte er?«

Na, da wüsste ich so an die zehn Gründe. Einer davon ist, dass ich seinem besten Kumpel Tim angeblich das Herz gebrochen habe. Ich hab mir nie die Mühe gemacht, das richtigzustellen. Ist der Ruf erst ruiniert und so weiter.

Plötzlich reißt sie die Augen auf und schlägt sich die Hand auf den Mund. »Ach, du meinst, weil dich die Leute für eine … na ja …«

»Ja, genau.«

Sie muss das Wort nicht aussprechen. Wir beide wissen, was sie meint. Lindsey Severin, das männermordende Biest. Das ist es, was alle in mir sehen, und, wie gesagt, ich stelle solche Gerüchte nicht mehr richtig. Und ein Biest war ich wirklich oft genug.

Wie aufs Stichwort klingelt es.

»Das muss Abby sein.« Ich sprinte zur Tür, öffne sie einen Spalt und drücke auf den Summer für unten.

»Oh … Hast du noch mehr Besichtigungen angesetzt?« Cassie schaut unglücklich drein, als ich aus dem Flur zurück ins Wohnzimmer komme. »Ich möchte wirklich gern hier wohnen«, fügt sie eifrig hinzu. »Mir ist egal, was über dich geredet wird. Wenn du denkst, es sei ein Problem, dann sage ich Jay einfach nicht, zu wem ich ziehe. Die Wohnung liegt toll, das Zimmer ist riesig im Gegensatz zu meinem alten, und du bist nicht mit mir verwandt und wirst mir nicht auf die Nerven fallen.« Sie verdreht die Augen. »Außerdem bist du volljährig und kannst Wohnungs- und sonstige Angelegenheiten selbstständig erledigen.« Ihre Miene verfinstert sich. »Bei mir dauert das ja noch.«

»Ich dachte, du studierst! Wie alt bist du denn?«

Die Röte, die sich auf ihrem Gesicht ausbreitet, ist trotz des dunkleren Teints deutlich zu erkennen. »Ich werde an Neujahr siebzehn. Bitte sag nicht, dass das ein Problem ist!«

Eine sechzehnjährige Archäologiestudentin? Sie muss ein verdammtes Wunderkind sein! Sind die nicht immer etwas merkwürdig? Ob ich mir damit einen Gefallen tue?

Dann muss ich an ihren Bruder denken. Jay wirkt auf mich nicht besonders helle. Vielleicht hat die Kleine alles abbekommen, was an guten Genen vorhanden war, nachdem bei ihm gespart wurde. Ich grinse in mich hinein.

Cassie sieht mich mit gerunzelter Stirn an, und ich will mir gerade eine Ausrede für meine unpassende Mimik einfallen lassen, da kommt Abby herein.

»Hey, Lindsey«, sagt sie und lächelt, aber es sieht ein wenig unsicher aus. Sie vertraut mir immer noch nicht ganz. Kein Wunder, da wir viele Jahre verfeindet waren. Die jüngsten Ereignisse haben mich aber verändert. Mein Leben hat sich verändert. Mein Bruder Pete hat sich abgesetzt, nachdem er den Ravens-Quarterback Cooper kurz vor dem Spiel um den Conference-Sieg mit Alkohol – oder Schlimmerem – außer Gefecht gesetzt hat, in der Hoffnung, dass er auf dessen Position eingesetzt wird und sich als Retter des Teams aufspielen kann. Ich habe dazu beigetragen, dass alles aufflog und er aus der Mannschaft geworfen wurde. Das Team gerettet hat dann Ethan, Abbys Freund. Ein heißer Typ, aber ich hab ihn mir abgeschminkt. Er wollte eine süße, liebe Freundin. Tja, damit kann ich nicht dienen. Auch wenn ich mir geschworen habe, die Krallen in Zukunft häufiger eingefahren zu lassen.

»Hi!«, entgegne ich überschwänglich und strahle Abby an. »Schön, dass du da bist. Ich hab gerade noch eine Besichtigung für Petes Ex-Zimmer. Du kennst Cassandra López?«

»Nur vom Sehen.« Abby lächelt Cassie herzlich an, diese erwidert das Lächeln zögerlich.

»Abby will hier nicht einziehen, keine Sorge«, versichere ich ihr rasch. »Du bist meine einzige Besichtigung, und wenn du möchtest, hast du das Zimmer.« Irgendwie gefällt mir der Gedanke, Jays Schwester hier wohnen zu haben. Das dürfte ihn ordentlich ärgern, wenn er es herausfindet. Natürlich sollte das besser nicht allzu bald passieren, denn Cassie hat erzählt, dass Jay das Zimmer bezahlen wird.

Cassie strahlt mich an. »Das ist super, danke! Wann kann ich einziehen?«

Ich hebe die Schultern. »So schnell du möchtest. Das Zimmer steht ja leer. Petes restliche Sachen schaffe ich schon noch irgendwie beiseite.« Ich sehe mich in meiner Wohnküche-Schrägstrich-Atelier um und seufze verzweifelt. Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, wo ich den Krempel meines Bruders lassen soll, und ein wenig peinlich ist mir mein Chaos nun auch. Gewöhnlich sehe ich es gar nicht mehr, aber jetzt … Ich bin versucht, wenigstens einige meiner überall verteilten Schuhe und Taschen unauffällig mit dem Fuß unters Sofa zu schieben, aber dafür ist es nun wohl zu spät.

»Kein Problem!«, ruft Cassie enthusiastisch. »Darum kann ich mich kümmern.« Gleich darauf errötet sie. »Natürlich nur, wenn nichts allzu Persönliches darunter ist.«

Ich schnaube. »Nee, seinen persönlichen Kram hat er mitgenommen. Da sind nur noch Klamotten und einige seiner alten Bücher. Aber wohin willst du denn damit?«

»Ich bin gut im Aufräumen und Wegorganisieren«, behauptet Cassie. »Das klappt schon. Jahrelanges Training als einziges Mädchen in einer Familie, in der hauptsächlich die Männer zählen.« Erneut verdreht sie die Augen. »Sosehr ich meine Eltern liebe: Dass ich meinem Bruder und meinen Cousins jahrelang die Ärsch… äh, hinterherputzen musste, nehme ich ihnen immer noch übel.«

Ha, genau so hatte ich mir Jay López vorgestellt. Ein Macho vor dem Herrn. Die arme Kleine.

»In einer Frauen-WG macht es mir aber gar nichts aus«, beteuert sie. »Wenn du als Künstlerin nicht den Kopf dafür hast, übernehme ich gern ein paar zusätzliche Aufgaben.«

Mein Blick huscht zu Abby, die nur die Augenbraue hochzieht, glücklicherweise aber schweigt. Ihre Mundwinkel zucken. Schnell richte ich meine Aufmerksamkeit wieder auf Cassie. »Ich möchte nicht, dass du dich ausgenutzt fühlst. Ich lasse dich auch hier wohnen, wenn du mir nicht hinterherräumst.« Obwohl es zugegebenermaßen höchst praktisch wäre. Was für ein Glücksfall!

Gleich schäme ich mich für den Gedanken, doch Cassie winkt ab. »Das weiß ich doch. Du hast mir schließlich schon zugesagt, bevor du davon gewusst hast.« Noch einmal lächelt sie strahlend. »Dann kann ich Jay sagen, dass ich ein Zimmer gefunden habe und er monatliche Schecks ausstellen soll?« Sie kichert. »Natürlich nicht auf deinen Namen, sondern blanko. Nicht, dass er doch noch Ärger macht.« Sie schultert ihre Tasche und geht zur Tür. »Danke, Lindsey. Und bye, ihr beiden.«

Dann ist sie verschwunden.

»Die Künstlerin und ihr kreatives Chaos, ja?« Abby grinst breit.

»Willst du behaupten, du wärst nicht unordentlich?«

»Nicht so sehr wie du.«

Ich muss lachen. »Das ist wohl auch schwer. Aber hey, als ich letztens im Coffee&Dreams ausgeholfen habe, hatte ichs voll drauf, oder etwa nicht?«

Abby nickt. »Ich muss zugeben, du hast einen ausgezeichneten Job gemacht. Schade, dass du nicht dauerhaft bei uns arbeiten willst. Shona fällt laufend aus, das ist kein Zustand.«

Bei ihren Worten wird mir seltsam warm ums Herz. »Danke, Abby.« Ich hätte nie gedacht, dass ich mich mal über ein Lob von Abigail Giroud freuen würde. Nicht nach der Sache mit Tim …

Sie streicht sich eine blonde Locke aus der Stirn und legt den Kopf schief. »Sag mal …« Sie zögert, wirkt gehemmt, dann atmet sie tief durch. »Ich will hier nichts kaputtmachen, und ich möchte wirklich gern mit dir an meiner Mappe arbeiten, aber … ich habe das Gefühl, dass immer noch irgendetwas zwischen uns steht, sosehr ich deine Bemühungen schätze.« Nun zieht sie sogar leicht den Kopf zwischen die Schultern, als erwarte sie eine bissige Entgegnung.

Ich seufze. »Möchtest du was trinken? Ich hab Cola da.«

Abby nickt, legt ihren Skizzenblock auf meinem Maltisch ab und setzt sich an den schmalen, kurzen Küchentresen. Ich hole uns beiden eine Dose Cola und setze mich auf den hohen Hocker neben ihr. Schweigend trinken wir. Schließlich gebe ich mir einen Ruck.

»Wir haben nie über die Sache mit Tim geredet. Vielleicht hätten wir das längst tun sollen, aber das Thema … ist nicht leicht für mich.«

Abbys Augen weiten sich, dann runzelt sie die Stirn. »Die Sache mit Tim? Wovon redest du? Was habe ich mit Tim zu tun?«

Verdutzt halte ich inne und mustere sie. Kann es sein …

Nein. Sie hatte definitiv mit Tim zu tun. Seine Aussagen waren eindeutig.

Andererseits ist er bewiesenermaßen ein Lügner, während Abby sogar dann die Wahrheit sagt, wenn es ihr selbst schadet.

»Lindsey … Was hat er dir denn erzählt?«

Ich schlucke. Dass das Thema nicht leicht für mich ist, war die Untertreibung des Jahrhunderts. »Dies und das«, weiche ich aus.

Ihr Blick durchbohrt mich. »Du hast vorgeschlagen, dass wir reden. Raus mit der Sprache! Und bitte keine Ausflüchte.«

Ich starre meine Coladose an. Tröpfchen von Kondenswasser rinnen daran herab. »Ich … war noch nicht bereit, mit ihm zu schlafen. Ich war sechzehn, verdammt noch mal! Er hat mich gedrängt, mir gesagt, wenn ich es nicht tue, wird er jemanden finden, der es tut. Es gäbe noch andere heiße Frauen, dich zum Beispiel.« Meine Augen fangen an zu brennen. Ich blinzele. »Ich hab den Scheißkerl geliebt. Trotzdem – oder gerade deswegen – war ich einfach noch nicht bereit. Ich wollte Romantik, echte Gefühle.« Meine Stimme klingt belegt, und ich schlucke krampfhaft. »Er hat mich sitzen lassen, herumerzählt, ich hätte ihm das Herz gebrochen, und kurz darauf mit dir angebändelt, genau wie angedroht.« Ich zwinge mich, den Blick zu heben. »Du warst meine Freundin, Abby. Es war nicht richtig von dir, was mit ihm anzufangen.«

Endlich habe ich es ausgesprochen. Das, was jahrelang zwischen uns stand. Was unsere Highschool-Freundschaft zerstört hat. Was mich dazu gebracht hat, ihr bei jeder Gelegenheit einen Spruch zu drücken, Ethan anzugraben … all die Dinge, für die ich mich geschämt habe, noch während ich sie tat. Aber ich habe mir eingeredet, dass ich das Recht dazu hätte.

Sie starrt mich immer noch mit ihren blauen Augen an. »Ihr wart getrennt. Weil du ihn betrogen hattest. Weil du mit jedem ins Bett gegangen bist.« Ihre Augen werden noch größer. »Du meinst, das war … gelogen?« Sie sieht so fassungslos aus, als wäre das Konzept von Lügen etwas, was sie nicht versteht.

»Ja. Ich war Jungfrau, als er mich verlassen hat. Nur hat das natürlich niemand mehr geglaubt. Wenn die Ravens-Spieler etwas behaupten, gibt es genug Leute, die es unkritisch nachplappern, wie du sicher inzwischen herausgefunden hast. Außerdem liebe ich es, zu flirten. Das war damals schon so und hat natürlich nicht zu meinem guten Ruf beigetragen.« Ich hebe die Schultern. Zum Glück ist mir nicht mehr nach Heulen zumute. Die Wut, die ich seit Jahren in mir trage, ist zurück. Wut auf Tim, nicht mehr auf Abby. Auch sie ist eindeutig ein Opfer der magischen Ravens-Macht. Die komplette Truppe kann mir gestohlen bleiben, ehrlich! Eher friert die Hölle zu, als dass ich mich noch einmal auf einen von denen einlasse. »Danach war es dann auch egal. Meine erste große Liebe hatte mich verlassen und mit Dreck beworfen. Mit dem nächsten Typen bin ich dann ins Bett gegangen. Nicht, damit er mich nicht verlässt. Sondern weil ich wissen wollte, was so besonders daran ist, dass Tim nicht warten konnte. Und weil er sowieso niemand war, mit dem ich mir eine Zukunft vorstellen konnte.«

»Ich hätte nie geglaubt, dass du länger Jungfrau warst als ich«, murmelt Abby, dann beißt sie sich auf die Unterlippe.

»Schon gut. Ich hätte das auch nicht wirklich geglaubt.« Ich zwinkere ihr zu. »Tim war aber nicht …« Ich wedele mit der Hand, um es nicht aussprechen zu müssen.

Abby lacht. »Gott behüte, nein. Er war nicht mein Erster. Und um ehrlich zu sein: Du hast nichts verpasst. Ich hab schnell gemerkt, dass das mit uns nicht funktioniert. Wir waren nie wirklich zusammen, es waren nur ein paar Dates.« Sie hebt die Schultern. »Es hat einfach nicht gefunkt.«

»Dabei hat er mir erzählt, wie toll du bist und wie glücklich er mit dir ist«, gebe ich düster zurück.

»Aber du musst doch mitbekommen haben, dass das mit Tim und mir nichts Längeres war.«

»Er hat mir weisgemacht, dass ihr euch heimlich getroffen habt, um deinen Ruf nicht zu beschädigen, da deine Familie da streng wäre.« Ich lache bitter auf. »Mein Ruf war ihm offensichtlich egal. Ich habe ja auch keine Familie, die mir irgendetwas vorschreiben könnte.«

Abby runzelt die Stirn. »Ich dachte, dein Bruder …« Sie unterbricht sich und sieht auf ihre Coladose hinab. »Sorry.«

»Schon gut. Ja, Pete hat sich gelegentlich als Beschützer aufgespielt, und ich glaube auch, dass ich ihm wichtig bin. Aber seine eigenen Interessen stehen wohl immer noch im Vordergrund. Sonst hätte er mich jetzt nicht alleingelassen. Und obwohl ich ihm verboten hatte, sich in mein Liebesleben einzumischen, hätte er mich gegenüber Tim verteidigen müssen, als der angefangen hat, diesen Mist über mich zu verbreiten. Aber offenbar hat er ihm geglaubt, nicht mir.« Ich zucke mit den Schultern. »So wie alle anderen auch.« Ich höre selbst, wie verbittert ich klinge, und presse die Lippen zusammen, um nicht noch mehr zu sagen. Ich lege den Kopf in den Nacken und atme tief durch.

Plötzlich fühle ich Abbys Hand auf meiner und sehe sie überrascht an. »Es tut mir leid, Lin. Ich würde mich über einen Neuanfang freuen. Tim hat uns schließlich beide verarscht.«

Ich drücke ihre Hand. »Und bald sind wir auch Studienkolleginnen. Komm, lass uns deine Bewerbungsmappe auf Vordermann bringen, damit du das Stipendium dieses Mal auch wirklich bekommst.«

2

Jaime

Ich fasse Tim ins Auge. Ein Trainingsspiel gegen die eigenen Leute steht an. In den letzten Spielen hat sich gezeigt, dass die Defensive Line eine Schwachstelle beim Tackeln hat und der gegnerischen Mannschaft zu viele Punkte schenkt, um in den Playoffs eine Chance zu haben. Mit einem Sieg rechnen wir nicht, aber wir wollen einen guten Eindruck hinterlassen, damit der ebenfalls anstehende Draft einigen von uns die Chance gibt, in die National Football League zu wechseln.

Unser Center Will ruft: »Hut

Ich konzentriere mich wieder auf Tim, der als Inner Linebacker zusammen mit einem Defensive Tackle das innere Spielfeld abdecken soll. Sein vorrangiges Ziel ist es, den Runningbacks meiner Aufstellung die Möglichkeit zu nehmen, Raumgewinn zu erzielen. Ich hingegen diene meinem Teil des Teams als Schutz gegen eben diesen Angriff.

Tim läuft auf Ethan zu, den Runningback, zu dem Cooper den Ball gepasst hat. Also renne ich ebenfalls los und springe Tim in die Seite, bevor er Ethan auch nur nahe kommt.

»Uff!«

Ich lande auf meinem Freund, der mich mit einem Schlag gegen den Schulterschutz von sich stößt. Er flucht und rappelt sich auf.

»Spinnst du?«, schnauzt er.

Ich halte ihm die Hand entgegen, damit er mir aufhelfen kann, aber er ignoriert die freundschaftliche Geste.

»Gerber hat mich im Visier, und du musst mich tackeln?«

Ich rappele mich auf. Um uns herum hat der Spielzug sein Ende gefunden. Ethan ist offenbar an der ganzen Defense vorbeigehuscht und hat das Ei fünfzehn Yards weit getragen.

»Das ist mein Job.« Ich zucke die Achseln und schlage ihm auf die Schulter. »Und den mache ich.«

Wir werden auf unsere Ursprungspositionen zurückgerufen, und unser Headcoach tadelt Tim tatsächlich. Gerber nutzt ein Megafon, wodurch es natürlich jeder in der Aufstellung und am Rand des Spielfelds mitbekommt. Mein schlechtes Gewissen meldet sich. Vielleicht hätte ich Tim nicht mit voller Wucht umwerfen müssen.

»Also, wir versuchen es noch einmal. Ich will euch nicht auf dem Boden sehen, verstanden?«

Ich sehe zu meinen Kameraden in der Line of Scrimmage, aber sie zucken nur die Achseln. Ich bin mir nicht sicher, wie die Worte unseres Trainers aufzunehmen sind. Will er nun niemanden auf dem Boden sehen oder nur keinen von der Defense?

Wir nehmen Aufstellung und warten auf Wills Ruf, dass der Spielzug beginnt.

Mein Blick streift die uns gegenüber aufgestellte Truppe. Tim fällt mir wieder auf. Er ist nervös und tänzelt herum. Das verrät mir, dass er nach links laufen wird. Es ist Gesetz, dass man dem Gegner keinen Hinweis darauf bietet, welchen der eintrainierten Spielzüge man abruft. Dies gilt sowohl für das Offense- als auch für das Defense-Team, denn es geht nicht vorrangig darum, den Gegner während des Spiels zu lesen, sondern bereits in der Aufstellung. Je nachdem, wo der Tight End oder der Wide Receiver steht, kann man einen Spielzug vorausahnen und damit die Verteidigung darauf abstimmen.

Ich will Tim nicht wieder tackeln, aber letztlich ist dies hier kein Freundschaftsspiel, sondern ein absolut wichtiges Training.

Ich atme betont gleichmäßig, schaue, ob einer der anderen Defensive Lines und Ends mich im Auge hat. Das wäre nicht ungewöhnlich, aber sie scheinen voll auf Cooper konzentriert zu sein.

»Hut!«, ruft Will, und ich stoße mich kräftig vom Boden ab, um den Ersten umzureißen, der mir vor die Füße kommt. Dieses Mal ist es Chris. Er ist einer der Jüngsten im Team und noch nicht regulär in der Startaufstellung, trotzdem bekommt auch er nun vom Coach eine Standpauke gehalten.

Chris ist nicht der Einzige, der erneut zu Fall gebracht wurde. Ich fange Tims grimmige Miene auf und grinse ihm zu.

»Verdammt!«, brüllt Gerber in das Megafon und stampft dabei über das Feld. »Ich habe noch nie eine dermaßen unterentwickelte Defense gesehen! Cooper, runter vom Feld, wir können es uns nicht leisten, dass dich einer der Deppen noch umhaut! Außerdem hat sich ja gezeigt, dass wir deinen Ersatzmann dringend fit und spielbereit brauchen. Charlie, rein mit dir, du hast lange genug gefaulenzt!«

Cooper ballt die Fäuste. Der arme Kerl hat einiges zu schlucken, seit er ausgerechnet bei dem entscheidenden Heimderby gegen die UC Davis mit Abwesenheit geglänzt hat. Er ist ungewohnt kleinlaut und trottet nun ohne ein Widerwort vom Platz. Seine hängenden Schultern sprechen jedoch Bände.

»Hat er nicht anders verdient«, ruft Tim. »Warum spielt Ethan nicht dauerhaft auf seiner Position?«

»Weil Coop der bessere Quarterback ist«, sagt Ethan bestimmt. Als einer der Runningbacks steht er nicht weit von mir entfernt, und ich sehe ihm an, dass er Tim liebend gern auch physisch in seine Schranken weisen will, sich aber zurücknimmt.

»Wow!«, ruft Leroy und hebt die Hände. »Jetzt chillen wir mal alle wieder!«

»Aufstellung dreizehn!«, schreit der Headcoach ins Megafon, und mir klingeln die Ohren. »Tim, wenn du wieder geblockt wirst, bist du am Samstag raus!«

Ich konzentriere mich auf die Aufstellung. Dreizehn. Tim wird versuchen, Charlie zu blocken. Tja. Ich habe da kaum eine Wahl. Ich kann mir nicht leisten, nicht aufs Spielfeld zu dürfen, weil ich in einem Training nicht hundert Prozent gebe. Ich liebe diesen Sport. Er ist mein Lebensinhalt. Es kommt nicht infrage, dass ich meine Aufgabe vernachlässige und Tim zu Charlie durchlasse. Freundschaft hin oder her.

»Hut

Ich springe auf und schneide Tim den Weg ab. Die Idee hatte jedoch nicht nur ich. Jackson und Kendrick kollidieren gleichzeitig mit ihm, und wir gehen als riesiges Knäuel zu Boden.

»Fuck!«, grölt Tim und rudert mit den Armen, aber er kommt nicht auf die Füße, bevor Jackson mich und Ken von ihm runtergezogen hat. »Ihr hohlen Nüsse! Habt ihr nicht kap–«

»Tim!«, ertönt Gerbers Stimme. »Runter vom Feld!«

 

Als ich die Umkleidekabine verlasse, treffe ich auf Tim. Er sieht mich grimmig an und stapft los. Ich folge ihm aus dem Gebäude.

»Alles in Ordnung?« Ich kann mir denken, dass er mit seiner miserablen Leistung heute auf dem Feld zu kämpfen hat. »Hey, das wird wieder.« Ich schlage ihm gegen die Schulter. »Soll ich dich mitnehmen?« Ich deute auf meinen grünen Camaro, der nur ein paar Meter weiter steht.

Tim grunzt. »Verschwinde bloß.«

»Was ist das Problem?« Ich trete vor ihn und suche seinen Blick. »Hey, so ist das Spiel. Du kannst von keinem verlangen, um dich herumzulaufen.«

»Ich bin raus!«

Tim tritt nah an mich heran. Seine Brust stößt gegen meine. Er ist einige Zentimeter größer als ich, aber ich fühle mich nicht bedroht. Was mir an Länge fehlt, gleiche ich an Muskulatur aus. Tim ist keine Gefahr für mich, und das weiß er auch. Wir haben zu viele Freundschaftskämpfe hinter uns, als dass wir nicht genau wüssten, wozu wir in der Lage sind.

»Ich werde beim ersten Spiel der Playoffs nicht auf dem Feld stehen!«, blafft Tim. Seine Augen glühen. Ich habe ihn noch nicht oft so wütend erlebt. Eigentlich schafft er es, sich zu mäßigen, aber wenn etwas nicht nach seiner Vorstellung läuft, wird er auch schon mal handgreiflich.

Ich atme tief ein, um auf meine breite, trainierte Brust aufmerksam zu machen. Ich bin aus gutem Grund ein Offensive Tackle. Allein meine Körpermasse flößt dem Gegner Respekt ein. Und auch Tim rudert nun zurück. Er tritt zur Seite und mustert mich nur.

»Ja, und?« Damit wir nicht seitlich zueinander stehen, drehe ich mich zu ihm um. »Dann strengst du dich beim Training wieder mehr an, und Gerber –«

Tim stößt mich an, und ich torkle einen Schritt zurück. »Wenn meine Freunde keine Ärsche wären, bräuchte ich mich nicht anzustrengen!« Er drückt mich zur Seite und stapft los. Ich sehe ihm verständnislos nach.

Das Klingeln meines Telefons reißt mich aus meiner Verwunderung über sein Verhalten, und ich halte es mir eilig ans Ohr. »Digame

»Hola, Jaime!«

Ich atme tief ein. »Mamá!« Ist es denn schon so spät? Ich schaue hastig auf mein Display. Tatsächlich habe ich durch das intensive Training die Zeit aus den Augen verloren. »Hallo! Wie geht es dir?«

Ich sehe mich um. Eigentlich achten Cassie und ich darauf, zusammen zu sein, wenn unsere Mutter anruft. Dadurch verstricken wir uns nicht so leicht in Widersprüche, weil jeder von uns die Geschichten des anderen kennt und uns keine Fehler passieren.

»Ach, mein lieber Jaime, Papa macht mir das Leben schwer.« Sie seufzt. »Ohne Cassandra ist der Haushalt auch kaum zu bewältigen. Ist sie denn da?«

»Nein«, murre ich. »Ich habe es noch nicht nach Hause geschafft.«

»Oh! Aber ich habe doch gesagt, wann ich anrufen werde!«

»Ja, Mamá.« Ich ziehe die Tür meines Camaro auf und rutsche auf den Sitz. »Die Vorlesung hat länger gedauert. Kann ich dich in zehn Minuten zurückrufen?«

»Oh, das wird schwierig. Du weißt doch, dass Papá sein Nickerchen halten muss, und ich möchte ihn da nicht stören.«

Ich verdrehe die Augen. »Mamá, du kannst das Mobiltelefon nehmen und vor die Tür gehen.« Ich starte den Wagen und stelle das Gespräch auf den Lautsprecher. »Und du sprichst doch ohnehin noch eine gute Stunde mit uns.«

»Nein, nein, Jaime, dafür ist doch heute keine Zeit.« Sie lamentiert über Vater, die Nachbarn und ganz Ahualulco del Sonido, während ich zum Wohnheim rase.

Cassie steht vor dem Haupteingang und winkt mir zu. Ich halte am Straßenrand und lasse sie zusteigen. Ihr fröhliches Grinsen verpufft sofort, da unsere Mutter sich immer noch aufregt.

»Hola, Mamá!«, ruft meine Schwester überschwänglich und ändert damit gleich das Thema.

»Cassandra? Dios mío, warum schreist du denn so? Habe ich dir nicht beigebracht, dass sich ein anständiges Mädchen niemals unangebracht hervortut?«

Cassie verdreht die Augen. »Verzeih, Mamá, ich bin nur so glücklich, dich zu hören!«

»Nun, was hindert dich daran, heimzukommen und mich jeden Tag zu hören?«

»Meine Ausbildung, Mamá. Wir waren uns doch einig, dass ich die Schwesternschule abschließen muss, um meinem späteren Ehemann und seiner Familie von Nutzen zu sein.«

Ich weiß, dass Cassie die Aussicht, einmal das Anhängsel eines Mannes zu sein, hasst. Allerdings hat sie bisher keine Diskussion über ihre selbstbestimmte Zukunft gewinnen können. Niemand nimmt sie ernst, und erst meine Chance, in den USA zu studieren, hat ihr etwas Freiheit verschafft. Wenigstens so viel, dass unsere Eltern einer praktischen Ausbildung zugestimmt haben. An der Cassie natürlich kein Interesse hat.

»Du bist bald alt genug zum Heiraten«, behauptet unsere Mutter. »Das ist wichtiger als der Abschluss irgendeiner Schule.«

Meine kleine, viel zu kluge Schwester erstarrt. Das ist ihr schlimmster Albtraum, und das weiß ich genau. Auch mir wird ganz anders zumute, wenn ich an eine aufgedrängte Frau denke. Nur dass ich ein gewisses Mitbestimmungsrecht genieße, wenn es um meine Zukunft geht. Cassies liegt ganz in den Händen unserer Eltern.

»Ich würde mich über eine Frau freuen, die klug ist«, stelle ich vorsichtig fest. »Und … Krankenschwestern werden doch immer gebraucht. Ich bin mir sicher, dass jeder gute Mann eine Frau sucht, die –«

»Ay dios!«, unterbricht unsere Mutter mich. »Wie soll ich dich nur unter die Haube bekommen, Sohn?«

Mir klappt der Mund zu, und der Blick, den ich Cassie zuwerfe, ist sicher ebenso voller Horror wie der ihre.

»Mamá, niemand muss mich unter die Haube bekommen. Ich entscheide selbst, mit wem ich mein Leben teilen möchte.« Und ich lasse mir sicher nicht reinreden.

Cassies Lächeln wirkt nun angespannt. Mitleid regt sich in mir. Sie ist so gescheit, hat die Schule mit Bravour vorzeitig abgeschlossen und sich nicht nur ohne Hilfe mit den Voraussetzungen für ein Begabten-Studium in den USA auseinandergesetzt, sondern sich dann auch noch erfolgreich fürs Archäologiestudium beworben!

Dagegen fühle ich mich dumm wie eine Scheibe Brot. Ich meistere zwar das medizinische Vorstudium irgendwie neben den Trainingssessions und den Spielen, aber für mich ist das kein Klacks, und ich muss mich schon dazu aufraffen, nach einem Buch zu greifen.

»Cariño«, säuselt unsere Mutter in den Hörer. »Glaube mir, du kannst das Wesen einer guten Frau gar nicht durchblicken. Sie muss doch nicht gescheit sein! Sie muss nicht einmal hübsch sein. Cariño, das Einzige, was wirklich zählt …«

ist ihre loyale Liebe? Ich weiß, dass es nicht diese Worte sind, die Mutter aussprechen wird, und schüttele den Kopf. Egal, was sie als höchste Eigenschaft ansieht, ich bin mir sicher, dass mir diese gleich sein wird.

»… ist, dass sie fügsam, fleißig und fruchtbar ist!«

Genau wie erwartet und absolut nicht das, was ich mir von einer Beziehung auf Augenhöhe wünsche. Cassie fängt meinen Blick ein. Ihrer ist müde und eine Spur ängstlich. Ich weiß nicht, was in ihr vorgeht, aber sicher denkt auch sie daran, dass sie dazu gedrillt worden ist, fleißig zu sein. In vielen Bereichen ist sie dies auch aus eigenem Antrieb. Das mit der Fügsamkeit steht jedoch auf einem anderen Blatt. Da sind wir uns ähnlich: Wir rebellieren. Wir machen nicht blind, was man uns aufträgt. Wir suchen Auswege. Bisher haben wir immer welche gefunden. Wir können nur hoffen, dass unser Glück anhält, denn im Grunde tanzen wir auf dem Vulkan …

3

Lindsey

Obwohl Cassie erst knapp zwei Wochen bei mir gewohnt hat, ist es ein komisches Gefühl, ihr jetzt am Flughafen hinterherzuwinken, als sie, mit einem breiten Lächeln im Gesicht und einer prall gefüllten Reisetasche in der Hand, durch die Sicherheitstür verschwindet. Ich werde sie vermissen. Obwohl sie noch so jung ist, waren die Gespräche mit ihr schön. Und meine Wohnung war noch nie so ordentlich.

»Keine Sorge, die Miete wird weiterbezahlt«, hat sie mir versprochen, als sie mir eröffnet hat, dass sie spontan einen Nachrückplatz für die Ausgrabungsreise ihres Professors ergattert hat. »Halt mir das Zimmer bitte frei. Es sind ja nur ein paar Monate.«

Ein paar Monate in Südamerika, wo jetzt der Sommer vor der Tür steht. Die Glückliche! Wobei – auf Inka-Pyramiden herumzukraxeln und im Dreck zu wühlen, wäre nun nicht mein Traum, und so schlimm ist der kalifornische Winter nicht. Vermutlich gibt es in Peru irgendeine Regenzeit, die den Aufenthalt ins Wasser fallen lassen könnte.

Dominic hat mir seinen Wagen geliehen, um Cassie zu fahren. Dafür hat ihn Abby mit ins Stadion genommen. Heute spielen die Ravens im Viertelfinale der Playoffs, weswegen Jay seine Schwester auch nicht zum Flughafen bringen konnte. Für mich ist es nicht schlimm, das Spiel zu verpassen. Seit mein werter Bruder so unrühmlich aus dem Team geflogen ist, halte ich mich eh vom Stadion und den Männern fern. Und da ich schon mal ein Auto zur Verfügung habe, was so häufig nicht passiert, nutze ich die Gelegenheit und fahre raus zum Folsom Lake. Vom Parkplatz aus wandere ich ein Stück am Wasser entlang, über kargen, felsigen Boden und zwischen niedrigen Büschen hindurch, lasse meinen Kopf leer werden und atme tief die Luft ein, die in der Stadt nie so frisch ist. Dann setze ich mich an den Strand und hole meinen Zeichenblock aus der Tasche. Es gibt im Dezember einige Regentage hier in der Gegend. Heute ist keiner davon. Der Himmel ist allerdings von dramatischen Wolkenschichten bedeckt, manche dunkel, andere noch dunkler, und auch das Wasser des Sees ist vielfarbig und unruhig. Erst skizziere ich nur, dann fülle ich die Umrisse mit meinen Malkreiden aus, mische Grau und Blau, Grün und Schwarz, streue Punkte und winzige Flächen aus Gelb und Violett ein, und auch wenn nach einer Weile ein Abbild der Szenerie vor mir auf dem Papier entstanden ist, bin ich unzufrieden. Es ist mir nicht gelungen, die Lebendigkeit einzufangen. Alles wirkt statisch, gefühllos. Ich seufze. Was ist los mit mir? Ich dachte, es ginge bergauf. Cassies Fröhlichkeit und sogar die sporadischen Aushilfsdienste im Coffee&Dreams haben meine Stimmung verbessert, die seit den Vorfällen mit Pete und den Ravens öfter auf dem Nullpunkt ist. Es ist gut, wie es gekommen ist, denn er hat den Rauswurf verdient. Ich kann nur nicht gut allein sein. Und jetzt bin ich es wieder. Sosehr es mich freut, dass Abby und ich uns wieder näherkommen – Freundinnen sind wir noch längst nicht. Außerdem hat sie ihren Ethan und selten Zeit. Seufzend blicke ich wieder auf den See und dann zurück auf meinen Zeichenblock. Abby hätte dem Bild mehr Leben eingehaucht. Ich habe es wieder einmal gemerkt, als wir an ihrer Mappe gearbeitet haben. Sie ist besser als ich. Sie hätte das Stipendium mehr verdient. Ich grabe die Finger in den Sand, versuche, mich zu erden, denn die Wut und den Neid, die in mir aufsteigen wollen, möchte ich nicht mehr fühlen. Die neue, verbesserte Lindsey freut sich für andere und gönnt ihnen die Erfolge.

Puh. Das wird noch ein Stück Arbeit.

Als es zu dämmern beginnt, werfe ich einen letzten Blick auf die malerische Umgebung, dann reiße ich mich los, packe meine Sachen und gehe zurück zum Auto. Kaum bin ich eingestiegen und habe das Radio angestellt, verkündet ein Sprecher im Jubelton den Sieg der Ravens und den Einzug ins Halbfinale der Playoffs. Den ersten in der Vereinsgeschichte! Nun springt die Freude doch auf mich über. Es ist schließlich ein großes Ding für die Stadt. In allen Einzelheiten berichtet der Moderator vom Verlauf des Spiels und vor allem über die entscheidenden Touchdowns. Vier an der Zahl waren es, einer durch Cooper, zwei durch Abbys Ethan und der letzte durch Cassies Bruder Jay.

»Dieser Jaime López avanciert immer mehr zum neuen Star der Mannschaft«, prahlt der Radiosprecher so übertrieben begeistert wie ein stolzer Vater. »Was kann der Kerl eigentlich nicht? Jetzt auch noch Touchdowns, egal wie viele Gegner ihm am Körper hängen. Eine wahre Dampfwalze!«

Mir entfährt ein Schnauben.

Reiß dich zusammen, befehle ich mir. Freu dich für ihn. Und wenn schon nicht für ihn, dann für Cassie.

Ob sie im Flugzeug mitbekommt, wie das Spiel ausgegangen ist? Oder wenigstens morgen, wenn sie nach ihren fünfzehn Flugstunden und einem bestimmt ewig langen Transfer endlich in ihrer Unterkunft angekommen ist? Falls es in den Unterkünften der Ausgrabungsstätte Internet gibt. Unvermittelt überkommt mich Sorge um meine Mitbewohnerin. Ist die Kleine überhaupt vorbereitet auf so eine Exkursion? Klar, sie kennt ihre Kommilitonen und den Professor, und es sind auch genügend Frauen dabei. Aber sie ist noch so jung. Und als Nachrückerin fliegt sie ganz allein und kommt in eine bestehende Gruppe, die schon seit Wochen dort ist.

Ich schüttele den Kopf über mich. Ich habe Cassie nicht adoptiert und bin nicht für sie verantwortlich. Das mit der neuen Lindsey nimmt langsam Formen an …

»Allerdings hat sich López bei der Aktion offenbar leicht verletzt«, fährt der Moderator nach einigen weiteren Lobeshymnen fort. »Aus Mannschaftskreisen heißt es, dass es nichts Ernstes ist und mit etwas Ruhe, Entspannung und Physiotherapie alles bis zum Halbfinale in der kommenden Woche wieder in Ordnung sein sollte. Hoffen wir es für die Ravens!« Dann lacht der Sprecher. »Tja, das heißt wohl, dass es heute keine Siegesfeier für den guten López geben wird. Da ist Headcoach Gerber streng, wie wir alle wissen.« Und wieder schallendes Gelächter. Ich verdrehe die Augen und wechsle den Sender. Ob Jay López heute feiern darf, könnte mir nicht gleichgültiger sein.

Es ist schon dunkel, als ich den Wagen auf Dominics Privatparkplatz vor dem Coffee&Dreams abstelle. Das Café ist seit einer halben Stunde geschlossen und Shona ist schon weg, aber der Chef werkelt noch hinter dem Tresen herum. Ich stoße die Tür auf, und die Ladenglocke klingelt.

»Ah!« Dominic blickt mir freudig entgegen. »Ich dachte schon, du bist mitgeflogen und hättest mein Baby verkauft, um dir den Flug leisten zu können.«

»Dein Baby ist ein zehn Jahre alter Buick. Ich bin froh, dass ich heil zurückgekommen bin!« Ich lege den Schlüssel auf den Tresen und setze mich auf einen Hocker. »Machst du mir einen Hafermilch-Latte?«

»Nein. Die –«

»… Maschine ist schon sauber, ich weiß.« Ich verdrehe die Augen.

»Du kannst ein Glas kalten Kakao haben«, sagt Dominic gnädig. »Aber schlag hier keine Wurzeln, ich will nach Hause und mir die Aufzeichnung noch mal ansehen.« Er kippt Getränkepulver und Hafermilch in ein Glas und schiebt es mir rüber.

Ich trinke einen Schluck. Kalter Kakao, das Pulver noch nicht richtig aufgelöst. Gibt Besseres. »So gut war das Spiel, dass du es dir noch mal anschauen willst?«, frage ich, um ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Ich will noch nicht allein in meiner Wohnung sein.

Ein schockierter Ausdruck erscheint auf seinem Gesicht. »Es war großartig! Hast du was anderes erwartet?«

»Natürlich nicht. Und wie war die Stimmung im Stadion?«

»Grandios! Als Cooper den ersten Touchdown gemacht hat, stand alles kopf. Er –«

»Schon gut.« Ich hebe die Hand, ehe er sich in Lobhudeleien auf seinen Angebeteten, den Ravens-Quarterback Cooper, ergehen kann. Nicht, dass ich es nicht süß fände, aber es tut mir in der Seele weh, Dominic so schwärmen zu hören, wenn ich doch weiß, dass Cooper in meinen Bruder verliebt ist. War, würde ich gern sagen, doch das glaube ich nicht, auch wenn er so tut. Mit ein Grund, warum Pete immer besonders männlich tun musste, was auch immer das heißt. Um bloß nicht in Verdacht zu geraten, ebenfalls homosexuell zu sein. Leider ist er damit übers Ziel hinausgeschossen … »Ich weiß, Coop ist perfekt.« Und wahrscheinlich wird Dom die Aufzeichnung jedes Mal, wenn er ins Bild kommt, anhalten und ihn anschmachten. Ich weiß nicht, warum, aber die Vorstellung schnürt mir die Kehle zu. Ich zwinkere Dominic zu und stürze den Inhalt meines Glases hinunter. Es hilft ja nichts, meine leere Wohnung ewig zu meiden, und Liebesgesäusel kann ich nun wirklich nicht ertragen. Ich rutsche vom Hocker. »Ich muss los. Danke für das Auto, Dom.« Ich reiße meine Zeichnung vom Block und reiche sie ihm. »Hier, für dich.«

Er nimmt sie und betrachtet sie. »Folsom Lake, ja? Deshalb warst du den halben Tag unterwegs.« Er schwenkt drohend den Zeigefinger. »Ich bekomme Benzingeld von dir.«

»Ich brauchte frische Luft, und du bekommst dieses Meisterwerk einer zukünftigen berühmten Künstlerin.« Ich grinse ihn an.

»Und eine Spätschicht. Mindestens!«

Ich muss lachen. »Alles klar, Boss. Viel Spaß mit deiner Aufzeichnung.«

Damit verlasse ich das Café, gehe um das Haus herum in den Hof und die Treppen hoch zu meiner Wohnung. Ich betrete das stille, leere Wohnzimmer, das Cassie trotz ihrer Reisevorbereitungen noch aufgeräumt hat, betrachte den sauberen Küchentresen und die ordentlich auf das Sofa drapierten Kissen. Wehmütig seufze ich. Ich werfe die Zeichensachen auf den Tisch, meine Jacke aufs Sofa und meine Schuhe in die Ecke. Dann wasche ich mir die Hände in der Küchenspüle und nehme mir eine Cola aus dem Kühlschrank. Ich will schon die Tür schließen, da fällt mir ein abgedeckter Teller auf. Ich spähe unter die Folie und sehe einen Berg typisch mexikanischer Empanadas. Wann hat Cassie die denn noch gemacht? Hach, die Kleine ist echt toll. Ich kanns nicht erwarten, dass sie zurückkommt! Herzhaft beiße ich in eine der frittierten Teigtaschen. Sie schmeckt grandios – nach einigen Bissen stocke ich jedoch und kaue vorsichtiger weiter. Ich könnte schwören, dass da Fleisch drin ist. Ich nehme mir eine weitere Teigtasche, breche sie durch und betrachte den Inhalt. Hm. Es ist nicht genau zu erkennen. Könnte Hack sein, könnten Sojaschnitzel sein oder Pilze. Nach Pilzen schmeckt es aber nicht.

Ich schüttele den Kopf und esse auch die zweite Empanada. Cassie weiß schließlich, dass ich Vegetarierin bin.

Nach einigen Schlucken Cola gehe ich in mein Zimmer, aber auch da hält es mich nicht lange. Ich sollte mich doch freuen, die Wohnung für mich zu haben, keine Rücksicht nehmen zu müssen. Aber nein – ich fühle mich einsam. Crap!

Vielleicht hilft ein heißes Bad. Ich entledige mich meiner Klamotten und werfe sie auf mein Bett. Immerhin muss ich nicht befürchten, meinem Bruder oder meiner sittsamen Mitbewohnerin zu begegnen, und kann jetzt so herumlaufen, wie es mir passt. Zum Beispiel splitternackt. Ich muss grinsen.

Ich löse meinen Zopf und fahre mir mit den Händen durch die langen Strähnen. Auf dem Weg von meinem Zimmer ins Bad werfe ich einen Blick auf das Wohnzimmer. Ich habe es tatsächlich geschafft, es innerhalb von zwei Minuten zu verwüsten. Auf dem Küchentresen ein zerknülltes Geschirrtuch und die halb getrunkene Cola, und auch sonst liegt überall irgendwas herum. Ich seufze verzweifelt und stoße die Badezimmertür auf.

In meiner Wanne liegt jemand.

Schon wieder.

Die Bilder von damals rasen durch mein Bewusstsein. Cooper, letztlich nur ohnmächtig, aber nach meinem ersten Eindruck tot. Tot? Ist dieser Mann hier tot? Ist es Cooper? Was passiert hier? Was zum Teufel ist hier los?

Ein Schrei gellt in meinen Ohren, und nur am Schmerz in meiner Kehle erkenne ich, dass es mein eigener ist. Das Bild vor meinen Augen überlagert das aus meiner Erinnerung. Coopers hellbraune Haare werden tiefschwarz, seine Figur massiger, die Wanne ist plötzlich voll Wasser. Alles gerät in Bewegung, es plätschert, dann erhebt sich ein Riese aus der Wanne, steht vor mir, splitternackt und tropfend.

Splitternackt … Das Wort sollte mir irgendwas sagen, aber ich bin zu verwirrt. Meine Gedanken springen in alle Richtungen wie die Wassertropfen, als die Erscheinung vor mir nun die Arme hochreißt.

»Hör auf zu kreischen!«, brüllt der Mann.

Ja, es ist eindeutig ein Mann, und ich weiß auch, wer es ist. Eigentlich. Gerade komme ich nicht darauf. Aber ich gehorche, klappe den Mund zu. Starre ihm ins Gesicht, dann seinen langen, muskelbepackten Körper hinab bis zu seinem –

Splitternackt.

Ich schreie auf und reiße meinen Bademantel vom Haken. Die Zeit, ihn anzuziehen, nehme ich mir nicht, sondern halte ihn nur mit einer Hand vor meinen Körper. Mit der anderen schnappe ich mir ein Handtuch und schleudere es in seine Richtung. Er zeigt gute Reflexe, fängt es auf und hält es sich vor sein bestes Stück.

»Was zur Hölle tust du hier … Jay?« Meine Stimme überschlägt sich. Ich reiße die Augen auf. Jay! Jaime López, Cassies Bruder. Tims bester Freund. In meiner Wanne.

»Lindsey?« Er klingt nicht minder fassungslos. Seine Hand sinkt herab, das Tuch taucht ins Wasser ein, und ich sehe ihn erneut in seiner ganzen Pracht. Zum Glück lenkt etwas anderes meinen Blick von seinem durchaus beeindruckenden Penis ab – ein riesiger Bluterguss an seiner linken Seite. Ist das die Verletzung, von der der Moderator im Radio gesprochen hat?

Und warum zur Hölle ist das jetzt gerade wichtig?

Ich straffe die Schultern. »Was tust du in meiner Wohnung, Jaime?«

»Mit dir wohnt meine kleine Schwester zusammen?« Er klingt entsetzt.

»Nun tu nicht so, als hättest du das nicht gewusst.« Zwar bin ich ziemlich sicher, dass Cassie ihm tatsächlich nicht die Wahrheit gesagt hat, aber das erzähle ich ihm besser nicht.

»Habe ich nicht.« Er hebt das Handtuch an, wringt es in aller Seelenruhe aus und schlingt es sich um die Hüfte. Dann klettert er aus der Wanne. Er verzieht gequält das Gesicht, als er das linke Bein über den Rand hebt.

Als er direkt vor mir steht, sieht er noch größer und breiter aus. Beinahe beängstigend. Ich will schon zurückweichen, da rufe ich mich zur Ordnung. Das hier ist meine Wohnung, und ich habe keinen Grund, Angst vor ihm zu haben.

Oder?

»Warum ist das nun mein Problem, dass deine Schwester dich anlügt?«

Sein Gesicht verzerrt sich, und kurz verfluche ich mich für mein loses Mundwerk. Sollte ich ihn wirklich provozieren?

»Ich wäre nie einverstanden gewesen, dass sie ausgerechnet mit dir zusammenzieht«, presst er zwischen den Zähnen hervor.

»Ausgerechnet mit mir? Was soll das denn heißen?« Dabei weiß ich genau, was es heißen soll. Ich bin kein Umgang für seine keusche kleine Schwester. Ich, die Schlampe, als die Tim mich dargestellt hat.

Er antwortet nicht, zieht nur einen Mundwinkel hoch. Arschloch!