Leseprobe Plätzchenküsse und Nordseeliebe

Kapitel 1

Mia

Mia hatte gewusst, dass es schwierig werden würde.

»Wie stellst du dir das vor?« Ihre Mutter stand wie ein Racheengel vor ihr, eine gertenschlanke Frau, perfekt geschminkt und ebenso gestylt. Ihrem dunklen Hosenanzug mit der weißen Bluse war nicht anzusehen, dass er bereits den gesamten Tag getragen wurde. Auch aus der Frisur, einem meisterhaft aufgesteckten Knoten, wagte sich kein Härchen heraus. »Alles ist schon arrangiert. Hast du eine Ahnung, wie schwierig es war, vor Weihnachten eine Location zu bekommen? Patrick ist schließlich nicht irgendwer, sondern eine bedeutende Persönlichkeit in der Stadt. Die Einladungen, einhundertfünfzig wohlgemerkt, sind alle verschickt.«

»Es tut mir leid, Mama, aber ich kann ihn nicht heiraten.«

»Und das fällt dir jetzt ein? Vier Wochen vor dem Hochzeitstermin? Nein, mir tut es leid, Mia. Ich habe dir zu viel durchgehen lassen. Dieses Mal nicht.« Ihre Stimme klang unerbittlich hart. Nicht umsonst war ihre Mutter an der Universität Salzburg als ›eiserne Professorin‹ bekannt.

»Was ist nun wieder los?« Ihr Bruder Lukas stand in der offenen Tür zum Flur. Er hielt seinen Autoschlüssel in der Hand, den er nun in die vorgesehene Keramikschale gleiten ließ.

»Dieses Kind bringt mich noch um.« Ihre Mutter fiel auf einen der weißen Lederstühle, die zur Sitzgarnitur im Wohnzimmer gehörten. Mia stützte sich an der Lehne des anderen Stuhls ab, sie fühlte sich sicherer, wenn sie stand.

Dass ihre Mutter sie mit dreiundzwanzig immer noch als Kind sah, schmerzte. Doch sie musste zugeben, dass sie in den letzten Jahren einfach Mist gebaut hatte.

Zuviel davon.

An Lukas’ Gesicht konnte sie nichts ablesen. Als Arzt war er es gewohnt, einen kühlen Kopf zu bewahren, und oft behandelte er die Familienmitglieder wie seine Patienten: ruhig und sachlich.

»Also, Mia, erzähl von Anfang an.«

»Ich möchte Patrick nicht heiraten«, sagte sie mit klarer Stimme. Es gab nichts zu beschönigen.

Im Grunde genommen hatte sie es schon lange gespürt. Sie war zu feige gewesen, es auszusprechen, weil die Verlobung mit Patrick Altenstein, einem renommierten Salzburger Anwalt und ehemaligen Kollegen ihres verstorbenen Vaters, so ziemlich das Einzige war, was sie in den Augen ihrer Familie geleistet hatte.

»Da hast du es.« Ihre Mutter stand auf. »Ich kann nicht mehr. Fünf Jahre sind seit der Matura vergangen, in dieser Zeit hast du nichts gemacht. Wenn man davon absieht, dass du vier, nein fünf, Ausbildungen abgebrochen hast. Zum Glück muss dein Vater das nicht mehr erleben! Verstehst du denn nicht, dass die Hochzeit deine einzige Chance ist? Du kannst froh sein, dass ein Mann wie Patrick dich überhaupt nimmt! Und er ist weiß Gott reich genug, dass du weiterhin dem Nichtstun frönen kannst, vielleicht kommen ein paar Kinder. Dann bist du als Hausfrau und Mutter versorgt.«

»Ich werde Patrick nicht heiraten.« Mia ballte ihre Hände und presste die Lippen aufeinander. Ihr war zum Schreien zumute.

Lukas Seewald lockerte seine Krawatte und ging zum Barschrank. Sie wusste: Wenn ihr Bruder zu einem Glas Weinbrand griff, bedeutete es, dass er angespannt war. Er goss sich ein Glas ein und drehte sich zu seiner Mutter um. »Möchtest du auch etwas trinken?«

»Nein, danke. Mir kann sämtlicher Alkohol der Welt nicht helfen.« Theatralisch hob sie die Arme in die Höhe. »Ich muss noch eine dringende E-Mail beantworten. Bring du die Kleine zur Vernunft.«

Es wurde ruhig im Raum.

Die Stille dröhnte in Mias Ohren, denn sie war sich bewusst, dass ihr der eigentliche Kampf noch bevorstand.

»Darf ich fragen, weshalb du deine Meinung – sozusagen fünf Minuten vor zwölf – geändert hast?« Die Stimme ihres Bruders klang geschäftsmäßig kühl. »Ich nehme nicht an, dass Patrick dich betrogen hat, nicht wahr? Dazu ist er zu anständig. Zudem vergöttert er dich.«

Mia holte Luft. »Nein.«

»Nein, was?« Er schwenkte sein Glas und ließ die goldgelbe Flüssigkeit darin tanzen. »Sprich in ganzen Sätzen, Mia. Ein wenig Schliff wird ja wohl von deiner Matura hängengeblieben sein, nicht wahr?«

Die Galle stieg in ihr hoch, weil er so herablassend mit ihr sprach. Die zwölf Jahre Altersunterschied machten ihn noch nicht zum Ersatzvater.

Sie unterdrückte ihre Wut. »Patrick hat mich nicht betrogen. Trotzdem kann ich ihn nicht heiraten. Lukas, er ist doppelt so alt wie ich.«

»Es ist keine Neuigkeit, dass er dir ein paar Jahre voraus hat.« Lukas roch an dem Glas, ein unvermeidliches Ritual. Dabei schob er seine Brille zurück und strich kurz über sein etwas schütter gewordenes dunkelblondes Haar. »Es spricht nicht unbedingt für dich, dass du dir dieser Tatsache erst jetzt bewusst zu werden scheinst. Du bist seit vier Jahren mit ihm zusammen, nicht wahr? Bis zu diesem Zeitpunkt hat das Alter für dich keine Rolle gespielt.«

»Aber jetzt tut es das.« Mia setzte sich hin und verschränkte die Arme. Sie konnte es ihrem Bruder nicht genauer erklären. Sie wusste nur, dass sie sich nicht ein Leben lang an Patrick binden konnte.

Sie fühlte sich auch noch nicht reif für Kinder.

»Was höre ich da?« Ihre Schwester Elisabeth stand auf einmal in der Tür. Sie war ein jüngeres Ebenbild ihrer Mutter, trug bereits ähnliche Hosenanzüge sowie das Haar in einer lockeren Hochsteckfrisur. Lediglich die Haarfarbe war anders, Elisabeth hatte sie dunkel getönt, während ihre Mutter blond bevorzugte. Wenn Mia die Augen schloss, hatten sogar ihre Stimmen den gleichen Klang. »Bist du jetzt komplett übergeschnappt? Du willst die Hochzeit absagen? Es ist alles bestellt und arrangiert, das geht nicht mehr. Und Patrick ist ein wunderbarer Mann, das kannst du ihm nicht antun!«

»Heirate du ihn doch, wenn du ihn so toll findest.« Ganz falscher Tonfall!, dachte Mia. Sie klang wie ein trotziges Kleinkind. So konnte sie ihre Familie nicht überzeugen.

»Mäßige dich, Fräulein!« Den Zeigefinger erhoben fuhr er fort. »Wenn du wie eine Erwachsene behandelt werden willst, dann benimm dich so.«

»Patrick und ich passen nicht zueinander.«

»Und das hast du plötzlich festgestellt?« Elisabeth schnippte mit den Fingern. »Meine Güte, Mia, das geht nun wirklich zu weit. Lukas, schenkst du mir ein Glas Sherry ein? Wo ist Renee?«

»Sie hat heute Spätschicht.«

Gott sei Dank! Wenigstens eine Person weniger im Gerichtssaal. Renee war Lukas’ Frau und ebenfalls Ärztin an der Klinik Salzburg.

Lukas Seewald griff nach einem Sherryglas aus dem Barschränkchen und suchte nach der richtigen Flasche.

»Mir auch, bitte.« Mias Hals kratzte.

»Du spinnst doch.« Elisabeth tippte sich an den Kopf. »Solange du nicht vernünftig bist, ist es besser, du betrinkst dich nicht.«

»Ich bin dreiundzwanzig«, begehrte sie auf.

»Auf dem Papier mag das stimmen, aber ich fürchte, du wirst nie erwachsen.« Ihre Mutter war wieder eingetreten. »Das ist man nämlich erst dann, wenn man einen vernünftigen Beruf hat, auf eigenen Beinen stehen kann und nicht mehr den Eltern am Rockzipfel hängt. Davon kann bei dir keine Rede sein.«

»Ich habe eben noch nicht das Richtige gefunden.« Mias Hals wurde eng. Sie hatte gewusst, dass es darauf hinauslaufen würde.

»Lass mich aufzählen.« Elisabeth stellte sich vor sie hin, das Glas mit der glänzend braunen Flüssigkeit zwischen den Fingern. »Erst wolltest du Englisch und Französisch studieren und Lehrerin werden, danach hast du umgesattelt auf Biologie und Sport. Ein Jahr später waren es dann Kommunikations- und Medienwissenschaften und schließlich Betriebswirtschaft gefolgt von Jura. Habe ich was vergessen?«

»Danach hat sie die Kindergartenschule besucht, nach vier Monaten abgebrochen, weil sie doch nicht mit Kindern arbeiten will. Die Fachhochschule für Sozialberufe hast du drei Wochen später geschmissen, und als Letztes hast du die Lehre für Hotelfachbetriebe versucht, die hast du keine zehn Tage durchgehalten«, ergänzte ihre Mutter. »Du hast keinen Beruf, keine Ausbildung. Wovon willst du leben, wenn du dir jetzt einbildest, auf einmal Patrick nicht mehr heiraten zu wollen?«

Mia fehlten wie immer die Worte, wenn sie sich ihrer ach so perfekten Familie gegenübersah. Ihr Blick fiel auf das Bild, das auf dem Flügel stand, der einen großen Teil des Wohnzimmers einnahm.

Der Mann darauf blickte ernst, trug Brille und besaß weißes, etwas gelichtetes Haar. Erwin Seewald hatte als Einziger in der Familie Klavier spielen können. Er hatte es nur zu selten getan. Als viel beschäftigter Anwalt hatte er sich kaum Freizeit gegönnt. Kurz nachdem Mia maturierte, hatte er einen Herzinfarkt erlitten. Immer noch konnte sie nicht daran denken, ohne dass ihr Hals eng wurde.

Kapitel 2

Sebastian

»Tobi, sei vernünftig, die Party ist nichts für dich.« Sebastian seufzte innerlich, als sich die Mundwinkel seines Neffen verächtlich verzogen.

»Ich bin kein Baby mehr, in ein paar Wochen bin ich sechzehn. Und ich werde zu dieser Klassenparty gehen.« Der hoch aufgeschossene Junge vor ihm hatte die Hände in die Hüften gestützt, mit seinen tiefrot gefärbten Wangen wirkte er wie ein gespannter Bogen.

»Und ich sage, wenn keine Erwachsenen im Haus sind, wirst du keinen Fuß dorthin setzen.« Sebastian holte Luft und bemühte sich um einen ruhigeren Tonfall. »Tobias, du musst vernünftig sein. Ihr seid noch zu jung, um unbeaufsichtigt zu feiern. Das eskaliert hundertprozentig, wenn dreißig Kinder …«

»Nenn uns nicht Kinder«, blaffte Tobias. »Überhaupt kann man mit dir nicht reden. Du bist verbittert und verbohrt, kennst nur deine Arbeit und weißt nicht, was es heißt, fröhlich zu sein. Ich wollte, du wärst damals auch gestorben.« Damit drehte er sich um und eilte die Treppen hinauf.

Sebastian blieb erstarrt stehen. Hatte der Junge das wirklich gesagt?

Er ging einige Schritte zurück und setzte sich an den großen Tisch, vergrub sein Gesicht in den Händen.

So fand ihn seine Großmutter ein paar Minuten später. Die rüstige Einundachtzigjährige, deren weißes halblanges Haar wie immer etwas ungeordnet um ihren Kopf lagen – um ihr Aussehen hatte sie sich nie besonders gekümmert –, beugte sich über ihn und drückte seine Schulter. »Wieder Ärger mit Tobi?«, fragte sie leise.

Sebastian sah sie an. »Ich komm mit dem Jungen nicht klar.« Er schüttelte den Kopf. »Er möchte zu einer Klassenparty, zu den Nordmanns, du weißt schon, der reiche Junge, der in seine Klasse geht. Seine Eltern kümmern sich kaum um ihn und sind so gut wie nie zu Hause.«

Antje Christiansen stellte ihre Einkaufstasche ab und setzte sich zu ihrem Enkel. »Sebastian, du vergisst, dass er bald sechzehn wird. Er ist ein braver Kerl. Du musst ihm vertrauen. Du kannst ihn nicht das gesamte Leben in Watte packen, er muss seine Flügel ausbreiten können.«

»Er ist erst fünfzehn, Oma, da kann viel passieren.«

»Es kann immer etwas passieren, jeden Tag.« Sie strich ihre Haarsträhnen zurück. »Sebastian, es ist fast zehn Jahre her. Ich vermisse alle genauso wie du.« Tränen traten in ihre Augen. »Du und Tobias, ihr beide wart mein Halt, dass ich weiterleben konnte. Aber es ist nun mal der Lauf der Dinge, dass Kinder flügge werden. Du musst ihm vertrauen und loslassen. Sein Freund, der Oliver, der wird doch dabei sein?«

»Angeblich die gesamte Klasse.«

»Siehst du, da kannst du ihn nicht ausschließen. Und wenn der Vater von Oliver, der Knut, das erlaubt, dann passt das schon. Den kenne ich, seit er klein war.«

Sebastian seufzte. »Aber um zehn sollte er zu Hause sein.«

Seine Großmutter stand auf und bückte sich nach den Einkaufstaschen. Schnell sprang Sebastian auf, nahm die Taschen und trug sie in die Küche. »Du sollst doch nicht so schwer tragen. Denk an deinen Rücken«, sagte er und stellte die Taschen auf dem Tisch ab.

»Der funktioniert seit dieser unnützen Kur wieder bestens.«

»Dann kann sie nicht so unnütz gewesen sein.« Sebastian packte das Gemüse aus.

Antje öffnete den Kühlschrank und räumte Milch und Butter hinein. »Rede mit dem Jungen. Die Pubertät ist eine schwere Zeit, du warst auch anstrengend damals.«

»Ach was, deine Erinnerung spielt dir einen Streich.«

»Zum Glück gibts noch andere Zeitzeugen. Jetzt raus aus der Küche, du stehst mir nur im Weg herum.«

Sebastian hob gespielt beschwichtigend beide Arme. »Schon gut.« Im Wohnraum zog ihn der Kachelofen an, auf dem zahlreiche Fotos standen.

Simba war von ihrer Decke aufgestanden und stupste ihn in die Seite. Die Hündin spürte immer genau, wenn er sich nicht wohlfühlte. Mit der einen Hand streichelte er sie, während sein Blick über die Bilder wanderte.

Ein fröhliches lachendes Ehepaar Mitte fünfzig. Sebastian erinnerte sich genau, wann das Foto entstanden war. Bei der silbernen Hochzeit seiner Eltern, zwei Jahre vor ihrem Tod. Sie wirkten glücklich, unbeschwert und ausgelassen wie Teenager. Seine Eltern Johannes und Kathrin Christiansen. Selten hatten sie sich einen Urlaub gegönnt, denn die kleine Kunsthandwerkfirma, in der sie spezielles Keramikgeschirr hergestellt hatten, hatte sie vollkommen in Anspruch genommen. Seine Mutter war äußerst kreativ gewesen und hatte die verschiedenen Teller und Schalen bemalt, während sein Vater sie geformt und gebrannt hatte. Von weither waren die Menschen gekommen, um das spezielle Keramikgeschirr zu kaufen, vor allem die kunstvollen Aschenbecher. Ein Kunde hatte einmal gesagt, dass man kein Raucher sein müsse, um die kreativen Designs zu mögen.

Direkt neben dem Foto war das Bild von Christina und Helmut, in der Mitte ein kleiner Junge, mit einem verschmitzten Lachen.

Tobias.

Christinas Babybauch war deutlich zu erkennen. Sebastian erinnerte sich daran, wie sehr sie sich auf das Schwesterchen für Tobias gefreut hatten.

Das letzte Bild zeigte ein dunkelhaariges Mädchen mit großen Augen.

Wiebke.

Mit dem Finger strich er über ihr Gesicht und wie immer überkamen ihn die Schuldgefühle dermaßen heftig, dass er die Hand rasch wieder zurückzog, als wäre das Foto glühend heiß.

Fünf Menschen waren mit einem Schlag tot gewesen.

Eine Beerdigung mit fünf Särgen, ganz Büsum war dabei gewesen.

Er konnte es nicht vergessen.

Nie.

Von oben dröhnte laute Musik und holte ihn in die Gegenwart zurück.

Er musste mit Tobias sprechen. Mit einem Ruck drehte er sich um und rannte fast in seine Oma hinein, die leise hinter ihn getreten war.

Stumm umarmte er sie.

Es gab keine Worte, sie waren alle schon vor geraumer Zeit gesagt worden. Und dennoch schien es ihm, als könnte die Wunde niemals heilen. Der Verlust blieb, ein Leben lang.

Aber Tobias lebte. Er war damals nicht in dem Auto gewesen, genau wie er.

Sebastian löste sich von seiner Großmutter und stieg die Treppen hoch. Vorsichtig klopfte er an, es kam jedoch keine Reaktion. Also trommelte er stärker gegen die Tür, die gleich darauf aufgerissen wurde.

»Was willst du noch?« Tobias machte keine Anstalten, den Weg in sein Zimmer freizumachen.

»Lass uns reden.«

»Nö, ich weiß genau, wie das geht. Du laberst mich voll und ich soll dann einsehen, was das angeblich Beste für mich ist. Nicht mit mir.« Schon wollte er die Tür wieder schließen, doch Sebastian stellte seinen Fuß dazwischen.

»Bitte, Tobi. Du darfst zu dieser Party gehen.«

»Sheesh!«

Sebastian runzelte die Stirn, vermutlich war dies ein Wort der Zustimmung.

»Aber?« Tobias trat zu ihm. »Da ist doch ein Haken?«

»Du bist um zehn«, Sebastian schluckte, als er die Miene seines Neffen sah, »sagen wir um elf zu Hause.«

»Mann, da gehts doch erst los!«

Sebastian holte Luft. »Wie lange würdest du gern bleiben?«

»Bis vier mindestens.«

»Mitternacht, das ist mein letztes Wort. Ich hole dich ab.«

»Ich hab mein Fahrrad.«

»Es ist eisig um diese Zeit, das weißt du.«

»Okay, ich fahr mit Oliver, sein Vater kommt um halb eins.« Es klang patzig.

Sebastian nickte. Im Grunde genommen war er ohnehin froh, wenn er nicht mehr mitten in der Nacht hinausmusste. Als Tierarzt passierte ihm das oft genug.

Sebastian fühlte sich mies, als er die Treppen hinunterging. Er hatte nichts erreicht. Er selbst war nach wie vor nicht einverstanden, dass sein Neffe überhaupt zu dieser Party ging, und Tobias hatte nicht mit der erwarteten Begeisterung auf die Erlaubnis reagiert.

Es war nicht fair, dass Tobi mit einer alten Uroma und einem als Sorgeberechtigten ungeeigneten Onkel aufwachsen musste.

Er hatte kein Kind gewollt. Und dann hatte er die Verantwortung für seinen damals sechsjährigen Neffen übernommen. Ein Kind, das ernstlich traumatisiert war, weil es von heute auf morgen seine Eltern und Großeltern verloren hatte.

Das Schicksal konnte so schwere Wunden schlagen, die niemals heilten.

Kapitel 3

Mia

»Ich habe keine Ahnung, was ich nun tun soll.« Mia rührte in ihrer Kaffeetasse. Sie hatte in der Nacht kaum geschlafen, ihre Familie hatte auf sie eingeredet, bis sie schließlich in ihr Zimmer geflohen war. »In der Früh fand ich einen Zettel am Tisch.«

Sie hielt ihrer besten Freundin, die sie während ihrer Ausbildungszeit im Hotel kennengelernt hatte, das Blatt Papier hin. Im Gegensatz zu ihr hatte Anja die Ausbildung abgeschlossen und arbeitete nun in einem der führenden Salzburger Luxushotels. Nach Mias Hilferuf hatte sie spontan ihre Schicht getauscht und nun saßen sie hier zusammen in einem Café.

Anja griff nach dem Zettel, auf dem nur wenige Worte standen.

Die Hochzeit findet wie geplant statt. Ohne Geld kann man nicht leben.

»Gehts noch? Was für eine schreckliche Ansage.« Anja schüttelte den Kopf. »Aber, ganz ehrlich Mia? Ich verstehe nicht, weshalb du nicht schon früher die Reißleine gezogen hast. Mit Patrick, meine ich. Ich habe mich immer gewundert, was du mit dem alten Kerl willst. Ich meine, er ist doppelt so alt wie du. Und seine Denkweise ist ebenfalls antiquiert.«

Mia zuckte die Achseln. »Er hat mich damals getröstet, nach der Beerdigung. Und ein Jahr später haben wir uns zufällig wiedergetroffen, mir ging es mies, weil ich gerade wieder ein Studium abgebrochen hatte. Er hat mir Mut zugesprochen und irgendwie hat es sich toll angefühlt. Obwohl ich nichts auf die Reihe brachte, wollte er mich und nimmt mich so, wie ich bin, das tut er immer noch. Er war der Einzige, dem es egal war, ob ich eine Ausbildung abschließe oder nicht.«

»Klar, weil er dich als Schmuckstück an seiner Seite wollte. Du bist bildhübsch, das weißt du ja.«

Mias Hals wurde eng. »Hübsch und nichts im Hirn.« Sie schluckte. »Ich weiß, was alle von mir denken.«

Anja griff nach ihrer Hand. »Jetzt drück dich mal nicht runter, Mia. Du hast eben deine Berufung nicht gefunden, das kommt noch.«

Mia schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht mehr dran. Es war einfach nichts dabei, bei dem es Klick gemacht hat, verstehst du? Meine Mutter hat ja recht: Ich habe so viel angefangen und alles immer geschmissen. Das war nicht okay, ich hätte was durchziehen müssen. Auch wenn es mir nicht gefallen hat. Vermutlich wollte ich deswegen an der Verbindung zu Patrick festhalten, aber nach dem gestrigen Tag …«

»Was war denn genau?« Anja zog ihre Hand zurück und rückte ihre Brille gerade. »Ich meine, du musst es mir nicht erzählen, aber vielleicht tut es dir gut.«

»Weißt du, dass mich das niemand gefragt hat?« Mia fühlte sich nach den zahlreichen Vorwürfen, die auf sie herabgeprasselt waren, immer noch wie ein ausgewrungener Wischlappen. Nicht einer hatte sich bemüht, herauszufinden, wie sie empfand.

»Nein?« Anja nahm einen Schluck Kaffee. »Hast du ihn mit einer anderen im Bett erwischt?«, fuhr sie dann leise fort.

Mia lachte. »Nein. Dazu ist Patrick zu korrekt. Aber du hast schon recht, das ist eins der Probleme zwischen uns. Der Sex.«

Anja schwieg, wartete ab und das empfand Mia als sehr angenehm. Denn sie musste erst die richtigen Worte finden, wie sie alles formulieren sollte.

»Bei Patrick läuft alles nach strengen Regeln ab. Das ist vermutlich bei ihm beruflich nötig, als Rechtsanwalt muss er natürlich einen Plan haben. Aber privat stelle ich mir mein Leben anders vor. Und am Anfang war es auch nicht so krass, das hat sich in letzter Zeit entwickelt. Sex haben wir nur am Wochenende. Kannst du dir das vorstellen? Einmal pro Woche? Und es ist nicht einmal die Quantität, es ist diese Regelmäßigkeit. So nach Schema F, es läuft immer gleich ab.«

Anja hörte mit offenem Mund zu.

»Sei ehrlich, wie oft schlaft ihr miteinander? Robert und du?«

»Fast jeden Tag«, sagte sie, ohne nachzudenken, dann rührte sie verlegen in ihrer Tasse. »Na ja, das ist vielleicht übertrieben, aber ja, so ungefähr kommts hin.«

»Zuerst dachte ich, es wäre sein Alter. Ich meine, er ist Mitte vierzig und da hört man halt immer, dass Männer …« Mia wischte mit der Hand durch die Luft. »Egal. Ich muss nicht jeden Tag Sex haben, aber ich will mich als Frau begehrt fühlen, verstehst du? Nicht eine Nummer auf seiner To-do-Liste, die er abhakt. Spontan läuft gar nichts mehr. Ich habe gestern …« Es war zu peinlich, sie senkte den Kopf. Doch sie hatte damit angefangen, daher musste sie auch fortfahren. »Ich habe mir extra sexy Unterwäsche gekauft. Er saß vor dem Laptop, ich bin von hinten zu ihm. Zuerst hat er nicht einmal aufgesehen und dann, als er mich angesehen hat, sagte er bloß, ich würde mich verkühlen.«

Anja gluckste, wurde jedoch sofort wieder ernst. »Tut mir leid, es klingt lustig, aber ich kann mir vorstellen, dass es das für dich nicht war.«

»Ich habe zunehmend festgestellt, dass … Wie soll ich das am besten erklären? Ich möchte bei einem Mann die Nummer eins sein, verstehst du. Wenn ich ins Zimmer komme, wünsche ich mir einen liebevollen Blick, Augen, die mir sagen, dass ich ihm nicht nur etwas, sondern alles bedeute. Und Gespräche auf Augenhöhe. Er spricht mit mir nie über seine Arbeit, klar darf er keine Interna verraten, das weiß ich, aber so allgemein könnte er darüber reden.«

»Das tut er nicht?«

»Nein, ich bin immer nur sein Häschen, wir wollen doch den Tag genießen und uns nicht mit komplizierten juristischen Zusammenhängen befassen.« Mia ahmte Patricks Stimme nach und Anja musste erneut kichern. »Er behandelt mich wie ein Kind und ich könnte auch vom Alter her fast seine Tochter sein.«

»Das ist alles schön und gut«, Anja zog die Stirn kraus, »aber ich kann den Ärger deiner Familie ein bisschen verstehen, dass es jetzt, vier Wochen vor der Hochzeit, wirklich sehr spät ist. Was hat denn Patrick gesagt?«

»Er hat mich nicht ernst genommen.« Mia lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. »Das hat mich noch einmal darin bestätigt, dass ich nicht mehr mit ihm kann. Er hat gesagt: ›Häschen, du bist nervös wegen der Hochzeit. Mach dir keine Sorgen, du wirst bezaubernd aussehen. Meine Mutter schwärmt von dem Hochzeitskleid.‹« Mia beugte sich vor und schlug mit der Hand auf den Tisch. »Das Kleid haben meine Mutter und meine Schwiegermutter in spe ausgesucht. Es ist eine einzige Rüschenorgie. Ich sehe damit aus wie ein überdimensionaler Zuckerball.«

»Weshalb hast du nicht …«

»Sie haben mir alles ausgeredet, was mir gefallen hatte. Am Schluss ließ ich sie einfach machen.«

Anja winkte der Bedienung. »Zweimal Sachertorte und noch zwei Cappuccino.« Sie drehte sich zu Mia. »Du brauchst jetzt eine Dosis Zucker.«

»Ich werde vor dem Altar Nein sagen.«

»Vor dem Altar ist es zu spät.« Anja griff nach ihrer Hand. »Du musst auf dem Standesamt Nein sagen.«

»Patrick kennt ja sämtliche Leute von den Ämtern, schon von Berufs wegen. Bestimmt würde er das als spaßig hinstellen.«

»Das funktioniert nicht. Ich habe einen Bericht gelesen von einem Pärchen, wo der Mann aus Spaß Nein gesagt hat. Daraufhin hat die Standesbeamtin die Mappe zugeschlagen und es gab keine Hochzeit an diesem Tag. Ob sie an einem anderen Tag geheiratet haben, stand da nicht.«

»Wow, echt jetzt?«

»Mia, das ist keine Option für dich.« Anja lehnte sich zurück, als die blonde Kellnerin Kuchen und Kaffee servierte. »Überleg dir was anderes.«

»Ich muss mich verstecken. Ich habe mein Sparbuch geplündert, viel ist es nicht. Ich muss weg, raus aus Salzburg und die Zeit bis nach Weihnachten totschlagen.«

»Und wo willst du hin?« Anja schluckte. »Du könntest auch zu uns kommen, es wird allerdings ein wenig eng.«

»Nein, auf keinen Fall, das tue ich Robert und dir nicht an.« Mia mochte Anjas Freund, der wie sie im Hotel arbeitete, aber sie hatten nur eine Zweizimmerwohnung. Sie konnte den beiden Verliebten unmöglich wochenlang auf der Pelle hocken.

»Wie viel Geld hast du denn?«

»Eintausendeinhundert Euro.«

»Damit kommst du nicht weit.«

»Ich weiß.« Mia stieß die Gabel in die schokoladige Köstlichkeit. Sonst liebte sie Sachertorte, aber nicht einmal das konnte sie heute aus ihrer verzweifelt deprimierten Stimmung reißen.

»Hast du keine Verwandten irgendwo, die dich aufnehmen könnten?«

»Meine Großeltern leben nicht mehr und mein Vater hatte keine Geschwister, aber …« Mia tippte sich an die Stirn. »Meine Mutter hat eine Schwester.«

»Das wäre doch eine Lösung. Wohnt sie hier in Salzburg?«

»Nein, irgendwo in Norddeutschland.«

»Du weißt nicht wo? Verstehst du dich gut mit ihr?«

»Ich kenne sie gar nicht.«

»Das musst du jetzt genauer erzählen.«

»Ich habe in den alten Fotoalben Bilder von ihr gefunden. Kinderbilder und auch ein Familienbild von meinen Großeltern, meiner Mutter und noch einer jungen Frau. Als ich nachgefragt habe, erklärte meine Mutter, es sei ihre Schwester. Aber sie hätten keinen Kontakt.«

»Spannend. Ein Familienzwist.« Anja aß einen Bissen von der Torte und spülte mit Kaffee nach. »Was weißt du darüber?«

»Leider nichts. Meine Mutter sagte, sie hätten sich seit der Beerdigung meines Großvaters nicht mehr gesehen. Da war ich noch gar nicht geboren. Das war alles, was ich aus ihr herausbringen konnte.«

»Und du denkst, diese Tante würde dich aufnehmen?«

»Warum nicht? Wenn sie mit meiner Mutter verfeindet ist, kann sie mich vielleicht verstehen.« Mia sah auf ihren Teller und stellte überrascht fest, dass ihr Tortenstück deutlich kleiner geworden war.

»Wie willst du ihre Adresse herausbekommen? Und möglicherweise lebt sie gar nicht mehr, hast du daran schon gedacht?«

Mia schob sich rasch eine Gabel voll in den Mund. Der Rettungsanker schien wieder zu versinken. Aber noch gab sie nicht auf. »Ich habe tausend Euro, damit kann ich nach Norddeutschland fahren und vielleicht finde ich dort einen Job, muss nichts Besonderes sein. Eventuell ein Hilfsjob bei einem der Weihnachtsmärkte. Es reicht, wenn ich mich ein paar Wochen über Wasser halten kann, bis der Hochzeitstermin am 22. Dezember verstrichen ist.«

»Dein Optimismus in allen Ehren, aber so leicht wird das nicht sein.«

»Mögt ihr noch etwas bestellen?« Die Servierkraft, ein junges Mädchen mit Zöpfen, beugte sich zu ihnen.

»Zwei Gläser Prosecco.«

»Gern.« Die Zopfdame verschwand.

»Ich lade dich ein«, sagte Mia leise zu Anja. »Und dann möchte ich, dass du mit mir zusammen auf eine glückliche Zukunft trinkst.«

Sie gab sich zuversichtlicher, als sie war. Denn schließlich hatte sie keine Ahnung, wo die besagte Tante wohnte.

Und ob sie überhaupt noch lebte.