Leseprobe Honigsüßer Tod

1

Spätestens, als der ältere Mann ebenfalls seine Hand vor den Augen hin und her bewegt und darauf stiert, als wäre sie das Faszinierendste, was er jemals sah, weiß ich, dass etwas faul ist. Mit all unseren Gästen. Zwei in der Gesamtzahl. Was für uns schon ein Grund zum Feiern ist. Meistens sitze ich vormittags ohne Gäste in unserem leeren Café.

Ich bin Linn. Vor vier Monaten habe ich mich von meiner Freundin Terry dazu überreden lassen, dieses Café zu mieten, das an der Beak Street im angesagten Londoner Stadtteil Soho liegt und damit weit über unserer Preisklasse.

Aber Terry hat eine Begeisterungsfähigkeit, die ansteckt. Wie ein loderndes Feuer, das auf einen trockenen Busch übergreift. Übrigens ein Ausdruck, der jüngst aus Terrys Mund kam, als sie meine Unausgeglichenheit auf eben jenen zurückführte und mir empfahl, ihn hin und wieder wässern zu lassen. Falls Sie wie ich jetzt erst mal auf dem Schlauch stehen, hilft es, sich klarzumachen, dass es bei Terry meist um Genitalien und das, was Mann oder Frau damit anstellen kann, geht. Und um Mittelchen, die den Sinneseindruck entsprechend anfeuern, um beim ursprünglichen Bild zu bleiben.

Die junge Frau und der ältere Mann sind inzwischen von ihren Stühlen aufgestanden und zu dem großen Spiegel herüber gegangen, der die obere Hälfte der linken Wand einnimmt und der Terry als Präsentationstafel für ihre neuesten Kreationen dient. Ähnlich wie bei einem Cover-up-Tattoo macht Terry sich nicht die Mühe, den Text, der die vorherige Kreation beschreibt, wegzuwischen, sondern kleistert den Neuen einfach drüber. Der Spiegel erinnert an einen Picasso mit eingestreuten Worten, deren Buchstaben so groß sind, dass sie wahrscheinlich noch vom Mann im Mond gelesen werden können.

Unsere Gäste haben tatsächlich in der Farb- und Schriftexplosion noch freie, spiegelnde Stellen entdeckt und betrachten nun ähnlich fasziniert ihre Gesichter wie zuvor ihre Hände. So langsam sickert zu mir durch, was passiert ist. Was wieder passiert ist!

Terry und ich sind exzellente Konditorinnen, was der Hauptbeweggrund zur Eröffnung dieses Cafés war. Nur, während ich eher die klassischen Rezepte backe und nur gelegentlich modifiziere, hat Terry sich die Revolution des Backwerks auf die Fahnen geschrieben. Ob Leberwursttorte oder ein Backstuhl – ein Kuchen in Form eines Stuhls, auf dem man tatsächlich sitzen kann – Terry ist stets auf der Suche nach einer neuen Rezeptur.

Der ältere Herr steht starrend vor seinem Spiegelausschnitt, während die Dame mit seltsam zackigen Bewegungen durch den Raum zurück zu ihrem Tisch stakst. Sie erinnert mich an ein Chamäleon.

„Terry?“, rufe ich und bin überrascht über den schneidenden Ton in meiner Stimme. Ich klinge wie meine Mutter, wenn sie wieder einmal nicht zufrieden ist mit ihrer unfähigen Tochter. Und irgendwie ist es auch so, dass ich häufig das Gefühl habe, die Rolle der Erziehungsberechtigten in Bezug auf Terry übernehmen zu müssen.

Terry drückt die Schwingtür zur Backstube mit dem Rücken auf. In den Händen hält sie einen Teigklumpen, der aussieht, als wäre er radioaktiv verstrahlt. Alle Farben des Regenbogens in einer Wurst, die irgendwie aussieht wie ein …

„Was ist denn, Chefin?“ Terry weiß, dass sie mich mit dieser Anrede zur Weißglut bringt, aber ich atme tief durch und lasse mir nichts anmerken, deute stattdessen auf unsere Gäste. Die Frau scheint ihre Offenbarung am Boden ihrer Kaffeetasse gefunden zu haben – hält sie vor ein Auge, als wäre die Tasse ein Fernrohr und sie Captain Cook, der gerade Tahiti erspäht. Der Mann mit dem Zauselbart betastet inzwischen sein Gesicht, als würde er eine Maske davon herunterziehen wollen, die außer ihm niemand sieht. „Na, das nenne ich mal eine gelungene Show! Soll ich uns Popcorn machen?“

Terry ist schon halb durch die Tür zur Backstube, als ich sie an ihrer Schürze zurückzerre. „Was zur Hölle ist in dem Kuchen?“ Ich deute in Richtung der Teller auf den Tischen, die bis auf wenige Krümel leer gegessen sind.

„China Explosion?“ Terry zuckt mit den Achseln. „Das einzig Verwegene darin ist das Bittermandelaroma …“ Sie stockt, reißt dann die Augen auf. „Oh Mann!“ Sie stürmt in die Backstube, und ich folge ihr. Was hat sie nur jetzt wieder angestellt?

Die Arbeitsfläche gleicht einem Kriegsschauplatz: Nudelholz, verschiedene Backformen, Schüsseln, und alles ist gleichmäßig bedeckt von einer pudrig leichten Mehlschicht.

Terrys Finger suchen und finden schließlich ein Fläschchen, eine Ampulle, die sie mir entgegenstreckt.

„Was ist das?“ Mit gerunzelter Stirn versuche ich, das Etikett zu entziffern, aber Terry kommt mir zuvor: „Ketamin.“

Ihr Tonfall suggeriert, dass ich jetzt etwas sagen sollte, wie: „Ah, natürlich!“ Stattdessen starre ich sie weiter konsterniert an, denn ich habe keine Ahnung, was das ist.

„Special K?“, versucht sie mir erfolglos auf die Sprünge zu helfen.

Ich verdrehe die Augen. „Terry, was zur Hölle ist das für ein Zeug?“

Je mehr Terry mir erzählt, desto größer werden meine Augen. Ketamin ist ein Narkosemittel, das auch in der Tiermedizin für Pferde eingesetzt wird. Na prima! In den letzten Jahren erfreut es sich auch in der Partyszene einer immer größeren Beliebtheit, sorgt es doch für ein verändertes Empfinden von Musik und Umgebung.

So langsam wird mir klar, warum sich unsere Gäste so seltsam verhalten. „Woher hast du das Zeug?“, frage ich entgeistert und ahne bereits die Antwort.

„Hatte gestern eine Lieferung in eine schmerztherapeutische Praxis und habe das wohl in meiner Tasche vergessen.“ Terry schlägt die Augen nieder.

Das ist die Antwort, die ich erwartet habe. Terry fährt neben ihrer Haupttätigkeit in unserem Café Medikamente für die nahegelegen Apotheke aus. Warum sie die auszuliefernden Präparate in ihre Tasche packt und sie dann darin vergisst, sind selbstverständlich Fragen, die ermüdend erörtert werden oder schlicht damit beantwortet werden können, dass Terry Terry ist. Schusselig, aber liebenswert und nie mit böser Absicht.

Also spare ich mir diese Fragen und zerre Terry zurück in den Gastraum und deute auf unsere Gäste. „Was machen wir denn jetzt?“, zische ich.

„Das tut mir wirklich unglaublich leid. Die Ampulle muss nach dem Medikamentenausliefern noch in meiner Tasche gewesen sein. Du weißt ja, dass ich manchmal in Gedanken Dinge an die falsche Stelle räume. Sorry.“ Terry schaut mich an wie ein geprügelter Hund.

„Versprich mir, dass du in Zukunft darauf achtest, dass so etwas nie wieder vorkommt.“

„Auf jeden Fall.“

„Wie geht es jetzt mit den beiden weiter?“ Ich sehe zu, wie Zauselbart wieder seine, die Luft langsam durchschneidenden, Hände betrachtet. Kapitänin Cook scheint ihm durch ihr Tassenfernrohr dabei zuzusehen.

„Keine Sorge. In maximal einer Stunde sollte die Wirkung vorbei sein.“ Terry will wieder in der Backstube verschwinden und wird erneut von mir zurückgehalten.

„Was machen wir jetzt mit denen? Was ist, wenn ein Gast …“ Weiter komme ich nicht, denn mit einem fröhlichen Klingeln des Glöckchens, das ich an der Eingangstür befestigt habe, wird die Tür aufgestoßen, und in ihr steht der Pinguin. Natürlich heißt er nicht so. Diesen Spitznamen hat Terry ihm gegeben, weil er mit seiner Aktentasche, den stets dunklen Anzügen und seinem Watschelgang an einen Pinguin erinnert.

Von der Tür aus wandert sein Blick zu Zauselbart und Kapitänin Cook, dann sieht er mich stirnrunzelnd an. Während ich noch überlege, wie ich die Situation retten kann, drängt Terry an mir vorbei. „Schön, dass Sie da sind. Sie sind der erste Gast unserer neuen Vormittagsveranstaltung!“

Der Pinguin sieht Terry an, als käme sie von einem anderen Stern, was nichts Neues ist, so starrt er sie immer an. Ich glaube, es ist für ihn schwer begreiflich, welche Farben menschliches Haar annehmen kann. Terry trägt seit gestern grün, was ihren Angaben nach eher ein Kompromiss ist, da das Blondieren der vormals blauen Haare knapp am Ziel vorbeigeschossen ist. Ich glaube, ich habe tatsächlich vergessen, was ihre ursprüngliche Haarfarbe ist. Seit Jahren scheint sie die fast täglich zu ändern. Für Pinguin, der dem Erscheinen nach mit Farben nicht allzu viel am Hut hat, muss sie wie ein exotisches Tier sein, bei dem man schon Angst hat, sich allein durch Berührung zu vergiften.

Terry nutzt sein Schweigen, um unbeirrt fortzufahren: „Ab sofort hält die ‚Royal Academy of Dramatic Art‘ jeden Donnerstag einen Kurs für Improvisationstheater in unserem Café ab.“

Der Blick, der sie durch die dicken Gläser von Pinguins Nickelbrille trifft, ist der eines Karpfens auf dem Trockenen, und ich muss zugeben, dass ich ihr fast applaudieren möchte zu diesem Einfall.

„Dann komme ich ab sofort immer sonntags“, murmelt Pinguin und stürmt zur Tür hinaus.

„Ich mach mal Kaffee“, sagt Terry, als sie hinter Pinguin die Tür abschließt und das Schild in der Tür von „geöffnet“ auf „geschlossen“ umdreht.

Sie gehört zu den Menschen, die durch ihre unbedachten Taten nicht nur allerhand Unruhe stiften, sondern auch noch stets damit durchkommen. Tatsächlich klärt sich das Bewusstsein von Zauselbart und Kapitänin Cook, nachdem beide von uns in die bequemsten Sessel im hinteren Teil des Cafés verfrachtet wurden, um dort einen Power Nap zu halten. Darüber hinaus versichert Terry ihnen dann noch derart glaubhaft, dass die wechselnde Witterung schon bei sehr vielen Gästen zu Müdigkeit und Verwirrung geführt habe, dass beide ihr glauben und sich sogar für unsere liebevolle Betreuung bedanken.

„Schade um das gute K“, jammert Terry, als wir alleine im Café sind, und ich muss mich beherrschen, ihr nicht an die Gurgel zu springen.

„Schade? Du findest es schade, dass du unsere Gäste vergiftet hast?“ Dass es keine gute Idee ist, mit Wut die Kaffeetassen abzuräumen, weiß ich spätestens, als diese mit lautem Klirren auf dem Boden zerschellen. Als wäre das nicht schon genug, schneide ich mich beim Zusammenlesen der Scherben auch noch. Den blutigen Daumen im Mund, hocke ich inmitten der Scherben und sehe sicherlich aus wie ein trotziges Kind.

Terry hockt sich neben mich und legt den Arm um mich. „Hey.“ Sie streichelt mir über die Schulter. „Ist doch alles gut gegangen.“

„Dieses Mal, Terry. Aber was, wenn Pinguin deine Geschichte nicht geglaubt hat und überall rumerzählt, was er gesehen hat? Wir können es uns nicht leisten, auch noch die letzten Gäste zu verlieren.“

„Mir fällt schon was ein.“ Terry drückt mich an sich, und plötzlich weiß ich wieder, was ich so an ihr mag: Ihre unerschütterliche Positivität. Ich kann mich nicht erinnern, Terry jemals jammern gehört zu haben. Für Terry gibt es nur Lücken, keine Hindernisse, und ich muss zugeben, dass sie auch immer einen Weg findet. Obwohl ich die Besonnenere von uns beiden bin, kann ich mich stets auf Terrys Kampfgeist und Erfindungsreichtum verlassen.

Ihr wird schon etwas einfallen! Daran glaube ich ganz fest.

2

Nach so einem Tag tut es gut, nach Hause zu kommen und die Füße hochlegen zu können. Täte es, muss ich sagen, denn „Füße hochlegen“ ist Wunschdenken, wenn man in einer Vierer-WG wohnt. Die Mieten in London sind derartig hoch, dass das für die meisten Leute die einzige Möglichkeit ist, überhaupt in der Stadt leben zu können. So teile ich mir nicht nur mit Terry den Wohnraum, was ohnehin schon turbulent ist, sondern auch noch mit Randall und Shaun. Auf nicht üppigen achtzig Quadratmetern hat jeder von uns zumindest ein eigenes Zimmer, es gibt eine Gemeinschaftswohnküche sowie zwei Bäder. Das ist für mich das Beste an der Wohnung, denn so haben wir Mädels unser eigenes Bad, und die Jungs können in ihrem treiben, was sie wollen. Was vor allem Shaun wörtlich nimmt.

Shaun sieht nicht nur verboten gut aus, hat einen Sixpack, auf dem man Steine zermahlen könnte, wie Terry sagt, er hat auch noch einen Job, der sicherlich zu den sexysten gehört, die es überhaupt gibt: Er ist Barkeeper und mixt im angesagten Club 49 Soho wirklich gute Cocktails. Er beherrscht die komplette Nummer mit Flaschen durch die Luft wirbeln et cetera. Kein Wunder also, dass die Frauen bei ihm Schlange stehen.

Ich kann mich nicht daran erinnern, dass Shaun auch nur eine Nacht ohne weibliche Begleitung heimkam. Meist geht es dann stundenlang zur Sache. Man muss Shaun lassen, dass er wirklich Ausdauer hat, was ja bei vielen Kerlen nicht der Fall ist. Wie er es schafft, dennoch morgens fit zu sein, um die neue Bekanntschaft schnell wieder loszuwerden, ist mir schleierhaft. Terry behauptet, dass Shaun eine Art Sexvampir ist, und so abwegig ist das gar nicht. Außer seiner Arbeit im Club und an der Damenwelt hält Shaun seinen Körper in Form und hat Zoff mit Randall, dem vierten WG-Bewohner.

Randall ist auch, auf Grund der bereits beschriebenen Bäderaufteilung, tatsächlich der, der am meisten unter Shauns Eskapaden leidet. Shaun ist pragmatisch und verlagert seine Aktivitäten häufig in die Dusche. Frei nach dem Motto: Duschen muss ich eh, warum nicht das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden? So habe ich mir angewöhnt, Randall morgens ein Zugangsrecht zu unserem Bad zu gewähren, wenn er wieder einmal gegen die Tür hämmert und auf den rammelnden Shaun schimpft.

Randall könnte als das Negativ Shauns bezeichnet werden. Eine Brille mit Gläsern, die aussehen wie die Böden von Colaflaschen, lassen seine Augen klein wirken. Das Gesicht darunter wuchert immer mehr zu, als wolle Randall sich hinter seinem Bart verstecken. Randalls einzigen weiblichen Kontakte, von denen ich weiß, sind Terry und ich. Wenn ich ehrlich bin, ist unsere WG sein einziger Sozialkontakt überhaupt. Randall entwickelt Computerspiele, was er von seinem Zimmer aus erledigen kann, weshalb er es kaum verlässt. Hätte er nicht diesen trockenen Humor, der stets unerwartet und treffend aus ihm herausplatzt und dieses scheue Grinsen, wenn er sich über etwas freut, Randall wäre mir unheimlich. Wahrscheinlich würde ich keine Nacht schlafen, auch ohne Shauns Aktivitäten, weil ich befürchten würde, Randall käme plötzlich auf die Idee, in unserer WG Amok zu laufen. Wobei Shaun Randall bald so weit haben könnte.

Heute herrscht Ruhe in der WG. Shaun ist nicht da, und Randall ist wie immer in seinem Zimmer.

„Willst du noch was essen?“, fragt Terry.

„Lieb von dir.“ Ich muss gähnen. „War ein anstrengender Tag, ich gehe früh schlafen.“

„Gar keine schlechte Idee.“ Terry muss ebenfalls gähnen. „Aber ich muss noch etwas in den Magen bekommen, sonst kann ich nicht einschlafen.“

Ich nicke und betrachte, nicht zum ersten Mal, neidisch Terrys Bauch oder vielmehr den nicht vorhandenen Bauch. Ich bin sicherlich nicht dick, aber ein paar Pfunde weniger würden mir nicht schaden.

„Leistest du mir noch ein bisschen Gesellschaft?“, fragt Terry.

Sie hat eine Art, mich anzuschauen, dass ich ihr selten einen Wunsch abschlagen kann.

Ich setze mich an den Küchentisch, während Terry Nudelwasser aufsetzt. So sehr wir uns auch bei unseren Backkreationen ins Zeug legen, zu Hause und für uns selbst bewegen wir uns kulinarisch auf unterirdischem Niveau. Das muss sich unbedingt ändern.

Ich betrachte Terry beim Kochen. Obwohl ich sie seit Jahren kenne, bin ich jedes Mal überrascht, wie unterschiedlich wir sind, auch äußerlich. Neben der ständig wechselnden Farbe ihrer Haarpracht, hat Terry jede Menge Piercings, eines am Nasensteg unten, was irgendwie aussieht, wie der Ring eines Bullen und eines in der Unterlippe. Das in der Zunge nicht zu vergessen. Terrys Garderobe ist ebenso speziell. Meist trägt sie Springerstiefel, Leggings mit Tierprintmuster und weite, meist schwarze, Pullover darüber. Ihre Erscheinung spiegelt wieder, wie Terry ist: Bunt, unangepasst, einzigartig und für mich einfach liebenswert.

„Mein Dad kommt in die Stadt.“

Ich habe schon geahnt, dass Terry etwas mit mir besprechen möchte. Ihr Dad ist ein Thema, das sie ungern anspricht. Terrys Mom verstarb an Leukämie, als Terry und ich kurz vor unserem Schulabschluss standen. Das war eine schwere Zeit für sie und ihren Vater, aber ebenso für mich. Ich habe Liz, Terrys Mom, sehr gemocht. Von ihr hat Terry das Temperament und ihre Unangepasstheit. Liz hatte über ein Jahr gegen die Krankheit gekämpft, sich dann aber ergeben müssen.

Von einem Tag auf den anderen war Terry allein mit ihrem Vater, der völlig anders ist als Terry und Liz. Ihr Vater Roger ist still und introvertiert. Er arbeitet beim Finanzamt und erfüllt jedes Vorurteil, das man mit diesem Beruf verbindet. Roger hatte Schwierigkeiten, mit der kaum zu kontrollierenden Terry zurechtzukommen. Und Terry ihrerseits fand keinen Trost bei ihrem stillen Vater, der die Dinge mit sich selbst ausmacht und kein guter Gesprächspartner in emotionalen Angelegenheiten ist.

„Wie geht es ihm?“, frage ich, um diese Unterhaltung möglichst neutral zu beginnen.

Terry zuckt mit den Schultern. „Wenn ich das wüsste. Ist bei ihm ja nicht so einfach.“

Ich nicke. Der Start verlief weniger neutral als erhofft, schon sind wir beim Kern des Problems. Andererseits kennen wir uns schon lange genug und haben dieses Thema oft genug besprochen, sodass wir uns das langsame Anschleichen sparen könnten. Es ist nur nicht meine Art, mit der Tür ins Haus zu fallen. Das hat damit zu tun, dass ich ungern verantwortlich sein möchte dafür, dass andere sich schlecht fühlen, mir nahe Menschen insbesondere. Klar, dass das nicht immer zu vermeiden ist, doch diese Erkenntnis ändert nichts an meinem Gefühl.

„Wie geht es dir?“ Seltsam, wie eine Frage, die man tagtäglich Menschen stellt, ohne, dass sie wirklich etwas bedeutet, im richtigen Kontext so elementar sein kann.

Wieder zuckt Terry mit den Schultern. „Auf eine Art tut er mir leid. Er scheint so in sich selbst gefangen. Weißt du, was ich meine?“

„Absolut.“ Das tue ich tatsächlich.

Sie steht auf und gibt Salz in das kochende Nudelwasser, öffnet die Packung mit den Spaghetti und lässt sie ins Wasser gleiten. „Kannst du glauben, dass es schon vierzehn Jahre her ist?“

Das trifft mich wie ein Schlag in die Magengrube. Zwar hatte ich vermutet, dass Terry etwas beschäftigt, aber auf derart trübe Gespräche bin ich nicht vorbereitet. Nicht, dass es mir etwas ausmacht, meiner besten Freundin beizustehen, aber abends nach der Arbeit und nach so einem Tag fällt es mir nicht leicht. „Bis vor einigen Jahren habe ich mit den Augen gerollt, wenn jemand Älteres gesagt hat, dass die Zeit rennt, aber es stimmt leider.“

Terry rührt in den Nudeln. „Ich glaube, dass er nicht darüber hinweg ist. Über Moms Tod.“ Sie kaut auf ihrer Unterlippe. „Und das verstehe ich, wirklich. Auch ich habe diese Tage, in denen es sich anfühlt, als wäre sie gerade erst gestorben.“

Ich möchte aufstehen und sie in den Arm nehme. Weiß aber, dass sie das nicht möchte, weil sie dann die Fassung verliert. So bleibe ich sitzen und warte ab.

„Weißt du, was er braucht?“ Terry wirft mir einen Blick zu, und ich weiß, dass der kurze Traueranflug vorüber ist und wieder die freche Terry vor mir steht, die gleich etwas raushaut. „Er müsste mal wieder richtig gevögelt werden!“ Sie haut mit der Faust auf die Küchenarbeitsplatte.

Ich kann nicht anders, als in Gelächter auszubrechen. Wer bitte würde so über seine Eltern reden? „Du bist unmöglich.“ Ich pruste immer noch.

„Nur die Wahrheit, und die sollte – die muss auch bei meinem Vater ausgesprochen werden.“

„Trefft ihr euch?“

„Er kommt eventuell im Café vorbei. Da ist es wenigstens nicht so unangenehm, wenn das Gespräch wieder schleppend verläuft.“

Ich nicke. Das Problem habe ich zwar mit meiner Mutter nicht, aber dafür kommt sie mir ständig mit Dingen, die ich, ihrer Ansicht nach, falsch mache. Deshalb treffe auch ich mich gerne mit ihr im Café, weil ich weiß, dass sie sich in der Öffentlichkeit zurückhält. „Ich bin da, wenn du mich brauchst, okay?“ Wieder muss ich gähnen, und Terry grinst mich an.

„Lieb von dir. Das weiß ich, aber jetzt solltest du ins Bett.“

Ich protestiere einmal halbherzig und bin froh, dass Terry das nicht zulässt und mich ins Bett schickt. Bevor ich einschlafe, denke ich an Eltern und dass man nicht mit, aber auch nicht ohne sie kann.

3

In der Schule habe ich Mathe gehasst. Umso verwunderlicher, dass ich für die Buchhaltung zuständig bin. Wobei sich das nicht unbedingt durch meine Eignung, sondern vielmehr durch Terrys Unfähigkeit erklären lässt. Sie ist eher das Genie, das das Chaos regiert oder es zumindest versucht. Meist scheitert der Versuch, und ich räume das Chaos auf. Das nervt, aber jedes Mal, wenn ich versuche, Terry böse zu sein, tut sie etwas, das mir klarmacht, warum unsere Partnerschaft funktioniert. Zum Beispiel mit unserem Vermieter Mr Foster sprechen, wenn wir mal wieder mit der Mietzahlung in Rückstand sind. Leider kommt das häufig vor.

„Deine Mom ist am Telefon.“

Ich drehe mich um und sehe Terry, die in der Tür meines Büros steht, das nicht die Bezeichnung verdient, weil es eine Abstellkammer ist. Mehr als ein kleiner Schreibtisch und eine Pinnwand, die über und über mit Notizen vollgepflastert ist, haben in dem fensterlosen Raum keinen Platz. Das hört sich genauso deprimierend an, wie ich die Kammer empfinde. Die bescheidenen Geschäftszahlen tragen außerdem nicht dazu bei, dass sich dieser Eindruck bessert, im Gegenteil.

Ich nehme Terry das tragbare Telefon aus der Hand und verspüre den Impuls, das Gespräch wegzudrücken. Meine Mutter meint es stets gut, aber auch gut gemeinte Ratschläge können einem gehörig auf die Nerven gehen. „Hi Mom.“ Ich kneife die Augen zu, als erwarte ich eine Ohrfeige.

„Hallo Schatz! Ich habe mal meine Kontakte spielen lassen.“

Und schon ist sie da, die verbale Ohrfeige. Meine Mutter macht keinen Hehl daraus, was sie vom Entschluss ihrer Tochter hält, ein Café aufzumachen, anstatt zu studieren, um einen vernünftigen Job zu ergattern. Anfangs musste ich mir das ständig anhören. Mittlerweile zwar nicht mehr, dafür meint Mom aber, sie müsse uns unterstützen, weil wir es selbst nicht auf die Reihe bekommen. Ob das besser ist als die ständigen Vorhaltungen, kann ich nicht behaupten.

„Judith Borrows ist doch die Verwaltungschefin vom Magnolia Gardens.“

Ich muss mich zusammenreißen, um nicht entnervt zu schnauben. Es ist nicht nur, was meine Mutter sagt, sondern vor allem, wie sie es sagt. Weder weiß ich, wer Judith Borrows ist, noch interessieren mich die Freundinnen meiner Mutter oder vielmehr die Ladys, die meine Mutter als Freundinnen bezeichnet. Ich liebe meine Mom, aber ihr war schon immer der soziale Status einer Person wichtiger als Gemeinsamkeiten oder Gespräche, die nicht nur an der Oberfläche kratzen und meiner Meinung nach für eine wirkliche Freundschaft essenziell sind. „Mom, bitte sei mir nicht böse, aber wir haben viel zu tun.“

Meine Mutter gibt einen Laut von sich, der an etwas erinnert, das auf der Strecke vom Niesen zum Lachen verendet. „Schatz, wenn das tatsächlich so wäre, müssten wir uns um euer Café keine Sorgen machen.“

Jetzt schnaube ich laut und vernehmlich. „Echt jetzt? Was ich überhaupt nicht gebrauchen kann, sind deine Vorhaltungen. Wenn du also deshalb angerufen hast …“

„Entschuldige bitte.“ Das klingt reumütig, und so halte ich den Mund und beschließe, sie anzuhören. „Judith Borrows hat mir erzählt, dass im Magnolia Gardens immer wieder Kuchen für Feierlichkeiten gebraucht werden, und da habe ich euch ins Spiel gebracht.“

„Okay.“ Einerseits ist es nett von meiner Mom, andererseits passt mir ihre ständige Einmischung nicht. Als würde ich immer noch bei ihr wohnen und könnte mein Leben nicht ohne sie führen.

Mom seufzt. „Es wäre schön, wenn du mir irgendwann dafür danken würdest, dass ich mich für dich und dein Wohlergehen interessiere. Das Magnolia Gardens hat die Nummer vom Café und wird sich wegen eines Probeauftrags bei euch melden. Dann will ich euch nicht länger aufhalten. Grüß Terry lieb von mir.“ Sie legt auf, ohne eine Antwort abzuwarten. War ich zu hart zu ihr?

Terry steckt den Topf zur Tür herein. „Alles gut?“

Ich zucke mit den Schultern. „Du kennst ja meine Mom. Ich soll dich auf jeden Fall lieb grüßen.“

Terry grinst. „Mach dir keinen Kopf. Sie meint es nicht böse.“

„Das weiß ich, aber es nervt trotzdem. Als wäre ich fünfzehn Jahre alt und nicht schon einunddreißig.“

„Weißt du was? Ich mache uns jetzt erst mal einen ordentlichen Kaffee. Was hältst du von einem Schuss?“ Sie sieht mein skeptisches Gesicht und lacht. „Keine Sorge. Ich dachte an einen Schuss Baileys. Keine Experimente.“ Sie zeigt mir ihre gehobenen Handflächen, als würde ich sie mit einer Waffe bedrohen, was mich wiederum zum Lachen bringt.

„Einverstanden“, sage ich weiterhin lächelnd.

Sie wendet sich zum Gehen, bleibt in der Tür stehen und dreht sich noch einmal zu mir um. „Was wollte deine Mom überhaupt?“

„Sie hat mal wieder ihre Kontakte spielen lassen und uns einen Auftrag vermittelt.“

„Das ist doch nicht verkehrt?“

„Im Grunde nicht, aber ich möchte das alleine hinbekommen. Mit dir.“

Terry zwinkert mir zu. „Und das schaffen wir auch.“

„Terry?“, rufe ich ihr hinterher, und sie kommt zurück. „Sagt dir das Magnolia Gardens irgendwas?“

Terry runzelt die Stirn. „Hört sich an wie ein Sanatorium.“ Sie verdreht die Augen und macht mit beiden Händen eine Geste, als würde sie jemanden abstechen. „Für Psychopathen.“

„Spinnerin!“ Wieder muss ich lachen. Was würde ich nur ohne Terry und ihre Witze machen?