Kapitel Eins
London, 1803
Honoria lief die Stufen hinunter, als wäre ihr der Teufel auf den Fersen.
Es war zehn Minuten nach zwölf; er würde schon da sein. Sie würde ganze zehn Minuten seiner Gegenwart versäumt haben.
Um ihn anzustarren.
Um ihn zu vergöttern.
Vor dem Atelier ihres Vaters kam sie schlitternd zum Stehen und überprüfte ihr Spiegelbild in der polierten Messingvase, die auf einem Sockel gegenüber der Tür stand. Der Bauch der Vase streckte ihre Augen und ließ sie lang und schmal erscheinen, während ihr übergroßer Mund zu einem affektierten, geschwungenen Schmollmündchen zusammengeschrumpft war. Honey wünschte sich, sie sähe wie dieses imaginäre Mädchen aus und nicht wie das blasse, schlaksige Etwas mit dem zu großen Mund, das ihr in der Realität täglich aus dem Spiegel in ihrem Ankleidezimmer entgegenblickte. Sie streckte ihrem verzerrten Messingspiegelbild die Zunge heraus, kräuselte ihre knubblige Nase und kicherte über die boshafte Fratze, die sie damit geschaffen hatte. Jetzt brauchte sie nur noch ein paar richtig schreckliche Fangzähne.
Er ist da drin, erinnerte sie der Teil ihres Verstandes, der das Ganze weniger lustig fand.
Honey kniff sich in die Wangen, um ihnen ein wenig Farbe einzuhauchen, und schob ihr taillenlanges und viel zu lockiges Haar über ihre Schultern. Ihr Vater erlaubte nicht, dass sie es vor ihrem nächsten Geburtstag hochsteckte, wenn sie sechzehn werden würde. Für einen Künstler konnte Daniel Keyes manchmal recht kleinlich sein, was Schicklichkeit anging und …
»Hallo.«
Honey schrie erschrocken auf und sah in ihrem hässlichen braunen Malkittel zweifelsohne aus wie eine riesige verängstigte und rotgesichtige Maus.
Sie wollte sich nicht umdrehen, aber sie konnte kaum den ganzen Tag hier stehenbleiben und die Tür anstarren. Sie schluckte geräuschvoll, als ob ihr Hals eingerostet wäre, und drehte sich dann langsam, ganz langsam auf der Ferse um.
Augen so blau wie Hortensienblüten starrten auf sie herab, und kleine Fältchen kräuselten sich darum.
Lord Simon Fairchild.
Selbst sein Name war wunderschön.
Doch das war nichts im Vergleich zu seinem Gesicht und seiner Person. Er war nicht nur schön, sondern auch größer als sie. Sie war nicht ganz einen Meter achtzig groß, und er überragte sie nicht haushoch, aber es reichte. Und so fühlte sich Honey zum ersten Mal in den fünfzehn und dreiviertel Jahren ihres Lebens beinahe zierlich.
Er war goldblond, breitschultrig und anmutig, und er sah aus wie der Held aus einer nordischen Saga, gemeißelte, hellhäutige Perfektion. Seine wohlgeformten Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, das Schmetterlinge in ihrem Bauch aufflattern ließ.
»Mylord«, krächzte sie und machte den ungeschicktesten Knicks der Welt.
Er grinste, nahm ihre Hand und beugte sich tief darüber. »Guten Tag, Miss Honoria.« Seine Stimme war wie warmer Honig und rann tief in ihre Mitte. Das Gefühl war … verstörend, und sie platzte mit den ersten Worten hinaus, die ihr in den Sinn kamen: »Sie haben sich an meinen Namen erinnert.«
Und dann hätte sie sich am liebsten versteckt.
Seine Mundwinkel zuckten, und Honey konnte sich gerade noch zurückhalten, sich nicht mit der flachen Hand an die Stirn zu schlagen oder sich hinter dem großen, mottenzerfressenen Wandteppich zu verstecken, der einen großen Teil der gegenüberliegenden Wand bedeckte.
Natürlich erinnerte er sich an ihren Namen, sie hatte ihn erst gestern kennengelernt.
Er verschränkte die Hände hinter seinem Rücken, sodass seine breiten Schultern fast das gesamte Licht nahmen, das durch das Kathedralenfenster am Ende des Flurs hereinfiel. Er war im Reitdress, was bedeutete, dass er sich im Atelier ihres Vaters für das Porträt umziehen würde.
Wenn sie daran dachte, wie Simon Fairchild sich umzog, spürte sie einen heißen Strudel in ihrem Bauch, und ihre Handflächen wurden ganz schwitzig. Außerdem schien sie mehr Speichel zu bilden als notwendig gewesen wäre, als ob ihr Mund einen Leckerbissen erwartete.
Sag etwas, du dumme Gans! Frag ihn irgendetwas. Halt ihn auf. Lass ihn nicht-
»Bleiben Sie und Ihr Vater meiner Sitzungen wegen den Sommer über in der Stadt, Miss Honoria?«
»Nein, wir bleiben fast immer hier.«
Er zog die Augenbrauen hoch und nickte ermutigend.
»Wir fahren nur selten aufs Land«, fügte sie wenig originell hinzu, weil ihr nichts Besseres einfiel.
Doch dann kam ihr eine Inspiration. »Werden Sie denn aufs Land fahren, Lord Saybrook?«
»Den Titel habe ich nicht mehr inne, Miss Keyes«, erinnerte er sie nachsichtig.
Wieder spürte sie die Hitze in die Wangen steigen. »Ach ja, natürlich. Der Duke hat jetzt einen Sohn. Sie müssen sehr‑«
Sie biss sich auf die Lippe. Was musste er sein? Wäre ein Mann erfreut, nicht mehr der Erbe eines Duke zu sein?
Lord Simon ließ seine wundervollen weißen Zähne aufblitzen. »Ich bin überglücklich und erleichtert.«
»Sie wären nicht gern ein Duke?«
»Nein, das wäre ich nicht. Zum einen würde das bedeuten, dass mein Bruder sterben müsste, und zum anderen umfasst diese Stellung für meinen Geschmack insgesamt eine viel zu große Verantwortung. Außerdem habe ich andere Pläne.«
»Andere Pläne?«
»Richtig. Ich möchte auf meinem Landsitz leben und Pferde züchten.«
Honey konnte sich den eleganten Halbgott nicht vorstellen, wie er sich aufs Land zurückzog und dort das Leben eines bloßen Gutsbesitzers führte. Sie lehnte sich an den Türrahmen des Ateliers. Auch wenn sie sich bewusst war, dass es unhöflich war, einen Gast im Flur festzuhalten, war sie jetzt noch nicht bereit, ihn mit ihrem Vater zu teilen.
»Und das können Sie nicht tun, wenn Sie ein Duke sind?«
»Ich denke, der Richtige könnte so etwas, aber ich wünsche mir nur ein ruhiges Leben ohne politische Verpflichtungen im Parlament und die Verantwortung über Hunderte von Leben. Nein, ich bin für das Landleben geschaffen. Ich werde auf meinem viel kleineren Anwesen glücklich sein.« Er schwieg einen Augenblick und sah nachdenklich aus, als ob er sich plötzlich bewusst wurde, dass er – ein Mann von zwanzig Jahren – einer gerade einmal Fünfzehnjährigen seine Sehnsüchte offenbart hatte.
Honey kannte diesen Ausdruck; alle, mit denen sie Umgang hatte, waren älter als sie. Sie war nie aufs Internat gegangen, hatte keine nahen Verwandten in ihrem Alter und hatte lediglich Umgang mit ihrer Gouvernante oder den Freunden und Bekannten ihres Vaters.
Sie hatte sich nie daran gestört, dass sie so jung war, aber plötzlich … fühlte sie sich eingeschränkt.
Er beugte sich zu ihr herunter, um ihren Blick einzufangen, den sie traurig auf seine Füße gesenkt hatte. »Aber Sie interessieren sich gewiss nicht für meine langweiligen Pläne. Während ich in meinen Ställen herumlungere, werden Sie bestimmt durch Ballsäle wirbeln und jungen Männern die Herzen brechen.«
Honoria fiel darauf absolut nichts zu sagen ein, was nicht demütigend gewesen wäre.
»Also …«, sagte er, als sie blöde schwieg, und einer seiner Mundwinkel zog sich etwas nach oben. Sein Blick war fröhlich, aber sanft.
Es war unmöglich, sein Lächeln nicht zu erwidern.
»Also?«, wiederholte sie, während sie dastanden und sich gegenseitig anstarrten.
Er lachte und schüttelte den Kopf, als ob sie etwas Witziges gesagt hätte. Dann deutete er auf die Tür des Ateliers, die sie versperrte. »Ich sollte besser hineingehen. Ich glaube, ich bin zu spät, und Ihr Papa wird mir vermutlich eine verdiente Standpauke halten.«
Honey ging beiseite, und sah dabei ganz so aus wie die verschossene dumme Gans, die sie war. Er öffnete die Tür und machte abermals eine Handbewegung. »Nach Ihnen, Miss Honoria. Also, wenn Sie sich heute wieder zu uns gesellen.«
»Natürlich wird sie das«, dröhnte die Stimme von Honeys Vater aus dem hellen, sonnigen Raum zu ihnen heraus. Er war dabei, seinen Arbeitsplatz vorzubereiten. Seine Stimme war für Honey wie ein Katalysator, und sie riss den Blick von Simons makellosen Gesichtszügen und stürzte hinein.
»Guten Tag, Papa.«
Daniel Keyes lächelte ihr anerkennend zu, als sie zu ihrer Staffelei ging, und wandte sich dann an Simon Fairchild. »Meine Tochter wird eines Tages Englands führende Porträtmalerin werden«, sagte er mit solcher Gewissheit, so viel Stolz und Liebe, dass Honey das Herz aufging und drohte, aus ihrer Brust herauszuplatzen.
Lord Simon warf ihr sein charakteristisches umwerfendes Lächeln zu. »Sie werden also auch ein Porträt von mir anfertigen, während Ihr Vater seines malt?«
»Ja«, sagte Honey und zog den Stoff von ihrer viel kleineren Leinwand. Sie war froh, den Blick von Lord Simons verwirrender Person nehmen zu können; ihr Verstand war von dem kurzen Gespräch im Flur schon vollkommen durcheinander.
Ihr Gemälde nahm langsam Gestalt an, auch wenn sie es niemandem gezeigt hätte, bevor es fertig war. Und selbst dann …
»Im Augenblick lernt meine Tochter den halben Tag und den Rest des Tages verfeinert sie ihre Fähigkeiten. Wenn sie erst achtzehn ist und ihre Schulausbildung hinter sich hat, ist es ihre freie Entscheidung, wie sie ihre Zeit verbringen möchte«, sagte Daniel Keyes, als der jüngere Mann sich hinter den großen Paravent in der Ecke des Raumes zurückzog.
Um sich umzuziehen.
Honey ermahnte sich, das Atmen nicht zu vergessen, und zwang sich, den Blick von seinem Kopf zu nehmen, der über dem Rand der spanischen Wand sichtbar war.
Ihr eigenes Gesicht fühlte sich heiß an, und sie versuchte, ihren Atem unter Kontrolle zu halten, der klang wie das Keuchen ihres uralten Butlers Dowdle, nachdem er zwei Treppen hinaufgestiegen war.
»Und werden Sie mir das Porträt zeigen, das Sie malen, Miss Keyes?«
Sie hob ruckartig den Kopf und sah gerade noch, wie er seine Weste über den Rand des Paravents warf. Das bedeutete, dass er nur sein Hemd trug. Das dünne, feingewebte, weiche Musselinhemd. Ihre Blicke trafen sich, während er hinter dem Sichtschutz irgendetwas tat. Eine Jacke anziehen? Seine andere Weste?
Honey schluckte; ihr Vater und Lord Simon warteten mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Ich weiß es noch nicht«, murmelte sie.
»Das Vorrecht der Künstler«, sagte Daniel Keyes und lachte. »Vielleicht lässt sie es noch nicht einmal mich sehen, Mylord.«
Ihr Vater hatte recht. Es gab genügend Skizzen und Gemälde, die nur für ihre Augen bestimmt waren, und sie hatte den Verdacht, dass dieses Gemälde dazugehören würde.
***
Bei Lord Simons fünftem Besuch fragte er ihren Vater, ob er Honey zu einer Ausfahrt in seinem Phaeton mitnehmen dürfte. Es waren nicht viele Leute im Hyde Park unterwegs, doch Honey fühlte sich königlich in seinem hohen Gefährt und mit ihm an ihrer Seite. Es war der zauberhafteste Nachmittag ihres Lebens.
Bis zu seinem nächsten Besuch, als er sie mit zu Gunter’s nahm.
Miss Keebler, ihre Gouvernante, begleitete sie zu diesem Vergnügen, aber selbst die Gegenwart ihrer sauertöpfischen Anstandsdame konnte ihr die Freude an dem Tag nicht trüben.
Den ganzen Monat führte Lord Simon sie aus oder aß im Hause ihres Vaters zu Abend und verbrachte Abende damit, sich unter die vielen Künstler und Schauspieler zu mischen, in deren Dunstkreis Daniel Keyes sich bewegte, und das schloss Honoria ein, die seit ihrem fünfzehnten Geburtstag mit den Gästen ihres Vaters tafeln durfte.
Ein Teil von ihr war sich bewusst, dass Lord Simon nur so viel Zeit mit ihr verbrachte, weil er im Sommer in London auf seine üblichen Freunde und Vergnügungen verzichten musste, doch es war ihr gleich.
Er nahm sie nach den Sitzungen auf Spaziergänge mit, und sie saßen zusammen im Park. Natürlich hielt sich Miss Keebler stets in der Nähe.
Er erzählte ihr von Everley, seinem Zuhause auf dem Lande. Sein Gesicht strahlte, wenn er darüber sprach, neue Ställe zu bauen und über die Verbesserungen, die er für das Haus plante, das noch aus der Tudorzeit stammte, und immer wieder Reparaturen benötigte.
Er sprach davon, wie er mit seinem Bruder auf dem hochherrschaftlichen Anwesen in Whitcomb aufgewachsen war und erzählte ihr Geschichten über die Geister, die es im Schloss gab, und wie er sich einmal mit einem Laken verkleidet und sein Kindermädchen erschreckt hatte, was ihm die saftigste Tracht Prügel seines jungen Lebens eingebracht hatte.
Honey erzählte ihm, wie sie von Künstlern umgeben aufgewachsen war und ihren Vater angefleht hatte, sie nicht aufs Internat zu geben. Davon, dass sie geplant hatte, mit sechzehn die Führung des Haushalts zu übernehmen und sich um ihn zu kümmern. Sie vertraute ihm ihre Träume an, eines Tages, wenn es wieder sicher wäre, aufs europäische Festland zu reisen und sich all die großartigen Kunstwerke anzusehen, über die sie nur hatte lesen können.
Honey wusste, dass es noch nicht vorgekommen war, dass ihr Vater so viele Sitzungen benötigte – tatsächlich stellte er seine Porträts für gewöhnlich in weniger als zehn Treffen fertig. Doch aus irgendeinem Grunde, vielleicht, weil er wusste, dass es ihr großes Vergnügen bereitete, ließ er den jungen Adligen an dreißig wundervollen Tagen für sechzehn Sitzungen ins Haus kommen.
Honey wünschte sich, es würde nie enden.
***
»Möchten Sie mich auf ein Eis begleiten, Miss Honoria?«
Honey sah ihren Vater an, als sie den Pinsel beiseitelegte und er nickte, wobei der etwas abwesende Ausdruck in seinen Augen ihr verriet, dass er noch immer tief in seiner Arbeit steckte.
Daniel Keyes wandte sich Lord Simon zu, der in seiner Straßenkleidung hinter dem Paravent hervorgekommen war. »Haben Sie heute die Chaise mitgebracht?«
Simon – Honoria benutzte in ihren eigenen Gedanken stets seinen Vornamen – lächelte.
»Nein, Sir, ich fürchte, es ist das klobige alte Schiff meines Bruders.«
Ihr Vater lachte über seine Beschreibung der Kalesche des Duke, in der Honey schon einmal gefahren war.
»Warum trinken wir nicht noch einen Schluck zur Erfrischung, während meine Tochter tut, was Frauen so tun müssen, wenn sie ausgehen, um Eis zu essen?«
Es gab viele Gründe, warum Honoria ihren Papa liebte, aber besonders dafür, dass er ihr die Gelegenheit gab, ihr neues Kleid anzuziehen, das sie gerade in der Hoffnung gekauft hatte, es an einem Tag wie diesem tragen zu können.
Sie läutete nach dem Dienstmädchen, das ihr beim Ankleiden helfen sollte, da sie noch keine eigene Zofe hatte, und war bereits zurück im Arbeitszimmer ihres Vaters, als die Männer gerade eben den letzten Schluck der bernsteinfarbenen Flüssigkeit aus ihren Gläsern tranken.
Sie erhoben sich, als sie hereinkam, und sie hätte vor Freude weinen mögen, weil Simon sie mit anerkennendem Blick musterte.
Ihr Kleid war aus cremefarbener Seide mit Dutzenden Reihen von winzigen gelben Rüschen am Rock und einem Spenzerjäckchen im selben Gelb. Ihre Haube war mit Seide in der passenden Farbe ausgekleidet, und sie hatte sie unter dem rechten Ohr mit einer hübschen Schleife gebunden.
»Du siehst hinreißend aus, Honoria«, sagte ihr Vater mit ungewöhnlich ernstem Blick, als ob er wüsste, wie wichtig ihr dieser letzte Ausflug war.
»Vielen Dank, Papa.«
Simon sprach erst, als sie, Miss Keeble an ihrer Seite, in der großen Kutsche saßen.
»Das ist ein entzückendes Ensemble, Miss Keyes. Ich bin froh, dass es so ein klarer, sonniger Tag ist und wir der Welt Sie und diese wunderhübsche Haube präsentieren können.«
Honoria versuchte, sich nichts auf seine Worte einzubilden, aber es war schwer, zu verhindern, dass aus ihrem Lächeln ein Grinsen wurde.
Sie sprachen über das Porträt ihres Vaters, das er irgendwann im nächsten Monat liefern würde.
»Ich vermute, mein Bruder wird eine Party zur Enthüllung veranstalten. Sie werden Ihren Vater doch nach Whitcomb begleiten?«
Hatte sie richtig verstanden? Hatte er sie auf seinen Familiensitz eingeladen? »Ich … ich muss meinen Vater fragen«, sagte sie, und hauchte es so ehrfürchtig dahin, dass es vermutlich über den Straßenlärm kaum zu hören gewesen war.
»Wenn Sie zu Besuch kommen, kann ich mit Ihnen nach Everley fahren. Es ist nicht weit vom Anwesen des Duke.«
»Das wäre zauberhaft.« Mehr brachte sie nicht hervor, denn in Gedanken war sie zu beschäftigt damit, sich auszumalen, wie sie neben ihm auf einem prächtigen Pferd durch eine kahle, einsame Moorlandschaft galoppierte.
Er sprach auf der kurzen Fahrt über sein Zuhause und seine Familie, und seine Worte waren wie der Gesang einer Sirene, der sie in Bann schlug.
Auf der Straße vor Gunter’s warteten die Kutschen in langen Schlangen; offenbar waren sie nicht die einzigen, die an einem so schönen Tag diese Idee gehabt hatten.
»Drinnen wird es stickig sein, und die Tische draußen sind besetzt«, sagte Simon. »Wollen wir uns den Leckerbissen in samtausgeschlagener Bequemlichkeit gönnen?«
Honey und Miss Keeble stimmten zu, und Simon winkte einer der Bedienungen. Als sie ihre Bestellungen aufgegeben hatten, lehnten sie sich zurück und beobachteten die Leute, die kamen und gingen. Viele davon schienen Simon zu kennen.
Honoria steckte noch mitten in einer Fantasie, in der sie und Simon verheiratet waren, morgen zu ihrem Landsitz aufbrechen würden und nur kurz hielten, um sich von ihren vielen Freunden zu verabschieden, als Simon ein Wort sagte, nur ein einziges Wort, in dem mehr Gefühl mitschwang als in allem, was sie während des gesamten Monats von ihm gehört hatte.
»Bella!«
Simons entzückter Gesichtsausdruck ließ sie zurück auf den Boden der Tatsachen stürzen. Er sah zu drei Frauen hinüber, die neben der Kutsche stehengeblieben waren. Genau genommen sah er nur eine der Frauen an, und seine Empfindungen standen ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.
Honey starrte ebenfalls. Sie – Bella – war die schönste Frau, die sie je gesehen hatte.
»Hallo, Simon.« Bella lächelte ihn an, als er aus der Kutsche stolperte. Sie öffnete leicht ihre kirschroten Lippen und zeigte blendend weiße Zähne. Ihr Teint glich dem sprichwörtlichen Porzellan, und sie hatte leuchtend blaue Augen. Ihr Haar war braun und dunkel genug, um für schwarz durchzugehen, und glänzende, üppige Locken ringelten sich unter ihrer Strohhaube.
In Simons Gesichtsausdruck lag etwas, das sie noch nie gesehen hatte: unterwürfige Anbetung.
Honey spürte, wie in ihrer Brust etwas zerbrach: Simon liebte dieses wunderschöne Geschöpf.
»Mrs Frampton, Bella, Agnes – was machen Sie um diese Zeit in London?«
Seine Worte drangen wie aus einem tiefen Brunnenschacht zu ihr herauf, und sie konnte sich nur mit Mühe aufrecht in ihrem Sitz halten.
Die ältere Dame – offenbar Mrs Frampton – antwortete: »Agnes wird nächsten Monat heiraten, und dafür waren einige letzte Besorgungen zu machen.« Sie sprach über die eine Tochter, doch ihr Blick ruhte auf der anderen – derjenigen, die einem Engel glich, der auf die Erde herabgestiegen war – und dann fiel der Blick ihrer blassblauen Augen auf Honoria. Es war nur eine winzige Geste, aber Lord Simon hatte makellose Manieren. Für gewöhnlich.
Ein rosa Schimmer zeigte sich auf seinen hohen Wangen, als er bemerkte, dass er seine Gastgeberpflichten vernachlässigt hatte. »Mrs Frampton, Miss Agnes Frampton und Miss Arabella Frampton, ich habe die Ehre, Ihnen Miss Honoria Keyes vorstellen zu dürfen und ihre Begleiterin Miss Keeble. Miss Keyes ist die Tochter von Daniel Keyes.«
Alle nickten und lächelten, aber Honoria konnte ihren Blick kaum lang genug von Arabella Frampton nehmen, um sich überhaupt einzuprägen, wie die beiden anderen Frauen aussahen. Ebenso wenig gelang es Simon.
Ein Kellner erschien mit ihrem Eis.
»Wollen Sie sich nicht zu uns gesellen?«, bot Simon an und war sich in keiner Weise bewusst, dass diese sieben Worte sie im Herzen trafen wie ein Axthieb.
»Aber ja, bitte«, sagte Honey mechanisch, als sich ihr vier blaue Augenpaare zuwandten.
Die Damen machten einen wenig überzeugenden Versuch, abzulehnen, Simon öffnete die Tür der Kutsche und machte eine einladende Handbewegung.
»Bitte sehr. Wir werden es ein wenig lauschig haben, aber ich bin sicher, es macht Miss Keyes nichts aus?«
Niemand bemerkte, dass ihr Lächeln besser zu einer Totenmaske gepasst hätte, und Honey sah sich bald den drei Neuankömmlingen gegenüber, und Miss Keeble saß nun neben ihr.
Das Erdbeereis, das sie bestellt hatte, schmeckte wie Asche, und sie wollte nur nach Hause, sich im Bett verkriechen und die Decke über den Kopf ziehen. Und nie wieder hervorkommen.
Später konnte sie sich an kein Wort der Unterhaltung erinnern. Einzig Simons Gesichtsausdruck und die Art, wie er bei jeder Gelegenheit den Blick auf die dunkelhaarige Schönheit geheftet hatte, hatten sich ihr ins Gedächtnis gebrannt.
In dieser Nacht schlief sie wenig, und ihre ehemals lebendige Welt war plötzlich grau und farblos.
Am nächsten Tag war seine letzte Porträtsitzung und Honey hatte sich vorgenommen, in ihrem Zimmer zu bleiben und es zu vermeiden ihn zu sehen – am besten für immer. Doch ihr Vater hatte diese Pläne beim Frühstück zunichte gemacht.
»Du siehst aus, als hättest du nicht gut geschlafen, Honey. Was ist los?«, fragte er, als sie sich in dem sonnigen Frühstückszimmer mit Blick auf den Garten zu ihm setzte. Honey hatte für gewöhnlich einen gesunden Appetit, und ihr Vater hätte gleich Verdacht geschöpft, wenn sie überhaupt nichts gegessen hätte, also nahm sie sich eine winzige Portion von jeder der angebotenen Speisen auf dem Sideboard.
»Ich habe nur ein wenig Kopfweh, Papa.«
»Hmm.« Er legte seine Zeitung beiseite und sah sie durchdringend an. Seine Augen waren den ihren so ähnlich, dass sie das Gefühl hatte, in den Spiegel zu sehen. »Ich weiß, dass dir der junge Fairchild ans Herz gewachsen ist, Liebes, aber – auch wenn du dich nicht so benimmst – du bist erst fünfzehn, und er ist ein Mann von fast einundzwanzig. Er ist ein guter und liebenswürdiger Gentleman, also habe ich dir mehr Freiheiten gestattet, als für einen klugen Vater ratsam gewesen wäre.« Er runzelte die Stirn. »Oft bereue ich, dich nicht aufs Internat geschickt und dir die Gelegenheit gegeben zu haben, dich mit anderen jungen Mädchen in deinem Alter zu umgeben. Vielleicht‑«
»Bitte nicht, Papa.« Sie legte Messer und Gabel ab und begegnete seinem besorgten Blick. »Bitte nicht. Ich wäre todunglücklich, wenn du mich fortschickst. Ich würde dich vermissen, und du weißt, dass das Malen mir alles be‑«
»Nein, mein Liebes, nicht alles. Vergiss das Leben nicht. Und die Liebe. Freude zu empfinden – genau, was du in der letzten Zeit getan hast. Ohne Liebe, Verlust, Schmerz und Freude, eben das Leben zu erfahren, kann man keine großen Kunstwerke erschaffen.«
Honey sagte ihrem Vater nicht, dass sie seit dem gestrigen Tag deutlich mehr Erfahrung mit Schmerz gesammelt hatte, als ihr lieb gewesen wäre.
***
Honey riss ihren Blick von dem vollkommensten Mann Großbritanniens los und sah auf die Uhr: es war fast halb drei. Bald wäre alles vorbei. Bald würde ihr Vater zum letzten Mal den Pinsel niederlegen und sagen‑
»Nun, Mylord, mir scheint, ich habe Sie gut genug eingefangen, um auch meine anspruchsvolle Meisterin zufriedenzustellen.« Daniel Keyes legte den Pinsel ab.
Simon, der über seine Pläne für den Rest des Sommers gesprochen hatte, lächelte Honoria an. »Sie sprechen von Ihrer Tochter, Sir?«
Daniel lachte. »Nein, Lord Simon, ich meinte meine Muse, aber Sie könnten durchaus recht haben.« Er sah zu Honey hinüber und hob die Augenbrauen. »Würdest du den armen Lord Simon erlösen und ihm dein Porträt zeigen?«
Bevor Honey etwas entgegnen konnte, klopfte es laut an der Tür, und ihr steinalter Butler trat ein. Sein Gesicht war rot vor Anstrengung.
»Grundgütiger!« Ihr Vater, der gerade dabei war, den Pinsel an einem Terpentinlappen abzuwischen, hielt in der Bewegung inne und sah den Bediensteten stirnrunzelnd an. »Sind Sie gerannt, Dowdle?«
Der alte Mann war zu sehr damit beschäftigt, nach Luft zu schnappen, als dass er hätte antworten können.
Stattdessen hielt er ein rechteckiges Stück cremefarbenes Papier hoch.
»Für mich?« Daniel Keyes ging einen Schritt auf ihn zu.
Dowdle schüttelte den Kopf. »Draußen wartet eine Mietkutsche.« Er reichte Simon den Brief. »Für Lord Saybrook.«
Honey war überrascht, dass sich ihr Butler mit Simons Titel vertan hatte; für gewöhnlich nahm Dowdle es mit so etwas sehr genau.
Simon öffnete eilig den Brief, und Honey sah, wie alle Farbe aus seinem Gesicht wich. Er schluckte so schwer, dass es im ganzen Raum zu hören war, und sah dann auf.
»Sie müssen mich entschuldigen, Sir. Es ist … nun, wie es scheint, hat mein Neffe Fieber und Husten bekommen und‑« Er wedelte in einer kreisenden Bewegung mit der Hand, als ob es ihm helfen würde, die richtigen Worte zu finden, wenn er die Luft um sich herum durchwirbelte.
Sein Gesichtsausdruck war starr und seine Augen vor Schreck weit aufgerissen. »Mein Neffe, der junge Marquess of Saybrook, ist gestorben. Ich muss unverzüglich nach Whitcomb abreisen.«
Kapitel Zwei
Whitcomb Dorf, vierzehn Jahre später
Simon, der Marquess of Saybrook, war in den Wochen, seit er endlich sein Bett hatte verlassen können, einige Male im St. George Inn gewesen.
Sein Cousin Raymond hatte ihn überredet, auf ein Pint – oder auch sechs ‑ auszugehen.
»Du wirst dich wieder mehr wie du selbst fühlen, wenn du deine alten Jagdgründe besuchst«, hatte Raymond gedrängt, als Simon sich zunächst geweigert hatte.
Er hatte nur einen Abend mit Raymond ausgehen müssen, um sich überzeugen zu lassen, dass sein Cousin recht hatte.
Nach jenem ersten Abend war er wieder und wieder in den gemütlichen Pub gegangen, sowohl mit als auch ohne seinen Cousin. Je mehr er sich körperlich erholte, desto mehr schien er es zu brauchen, zu trinken.
Er stellte bald fest, dass er das St. George lieber mochte als seine Gemächer auf Whitcomb, dieser ausladenden Monstrosität von einem Anwesen, das seinem Bruder gehörte.
Simon und Raymond hatten in jener ersten Nacht Zimmer im Gasthaus gemietet, da keiner von ihnen in der Lage gewesen wäre, einen halbstündigen Ritt zurück nach Hause zu bewältigen, und Simon war seither öfter über Nacht im Inn geblieben.
Heute war wieder eine solche Nacht.
Eine heiße, raue Hand rieb seine Brust, ein seidig glattes Bein schlang sich um einen seiner Schenkel und riss ihn aus seinen Gedanken. »Das war wundervoll, Mylord.«
Simon schnaubte angesichts der Lüge der Schankmagd; er hatte sie grob bestiegen und mit der Finesse eines Soldaten auf Urlaub geritten.
Dies war ihr erstes Mal zusammen, aber er hatte sie schon vorher gesehen, jedes Mal, wenn er im St. George trank, und er hatte seit Wochen ihre Avancen ignoriert.
Der Grund dafür, dass er nicht bereits zuvor versucht hatte, sie ins Bett zu bekommen, war der kleine Hauch von Anstand gewesen, der sich noch irgendwo in sein Gewissen gebrannt hatte.
So nah an seinem Elternhaus herumzuhuren, in direkter Nähe zu seiner Mutter und Nichte, war ihm falsch vorgekommen. Was, wenn es sich bis in den Haushalt seines Bruders herumsprach, was er hier trieb?
Doch heute, nach seiner Auseinandersetzung mit Wyndham, hatte Simon entschieden, dass er verdammt froh wäre, wenn seinem scheinheiligen Bruder etwas über seine Ausschweifungen zugetragen würde. Vielleicht würde Wyndham ihn sogar von seinen Ketten befreien, wenn sich Simon nur abstoßend genug benahm.
Also hatte er, als die Schankmagd ihm das fünfte – oder vielleicht auch das sechste - Glas gebracht, sich keck mit dem Hintern auf seinen Schoß gesetzt und ihre Hand suchend zwischen seine Schenkel geschoben hatte, diese weiter für sie geöffnet.
Kurz darauf hatte er sie mit auf sein Zimmer genommen, wo er sie bestiegen hatte, wie ein Mann, der schon sehr lange keine Frau mehr gehabt hatte. Denn das hatte er auch nicht – schon fast zwei Jahre nicht mehr.
Simon spürte, wie sie über die vernarbte Seite seines Oberkörpers strich und wandte sich ihr zu.
Sie zog die Hand fort und riss die Augen auf. »Es tut mir leid, Mylord. Tut das weh?«
Er nahm ihre Hand und legte sie zwischen seine Schenkel. »Nein, aber die tun weh.«
Ihr Ausdruck wechselte von besorgt zu verrucht, und sie kicherte, während sie seine empfindlichen Juwelen massierte.
Simon stöhnte und schloss die Augen. »Das fühlt sich verdammt gut an.«
Sie rutschte näher, sodass sie besseren Zugriff hatte. Mit der anderen Hand streichelte sie ihn von der Lende bis zur Brust und reizte seine verbliebene Brustwarze, bis sie hart und fest war, dann streichelte sie die vernarbte Haut auf der anderen Seite.
»Was ist da passiert, Mylord?« Ihre Finger waren so sanft und vorsichtig, dass er kaum Druck spürte. Die Narben waren an seinem Oberkörper am dicksten, und es war sehr wenig Gefühl geblieben, obwohl ihm alles weh tat, nachdem er sich den ganzen Tag verausgabt hatte.
Simon öffnete die Augen und blinzelte sie von unten herauf durch das Zwielicht an. Sie war jünger, als er gedacht hatte, und ihr üppiges braunes Haar, das jetzt um ihr Gesicht und über ihren Rücken fiel, machte ihre harten Gesichtszüge weicher. Er wusste nicht, wie sie hieß, aber jetzt war es vermutlich zu spät, zu fragen.
Stattdessen griff er in ihr Haar, wickelte es um seine Hand und zog sie langsam tiefer.
»Umherfliegendes Schrapnell«, sagte er, und die beiden Worte schnitten sich ebenfalls wie Schrapnell in sein Fleisch. Sie runzelte die Stirn, und Simon erklärte es ihr. »Eine Kanonenkugel zerspringt in viele Teile, um Tod und Zerstörung weit zu streuen.«
Sie folgte dem Muster der Schüsse seinen Oberkörper entlang bis zu seiner Hüfte, und er packte ihr Haar fester und zog daran.
Durch zusammengebissene Zähne sog sie scharf die Luft ein, und ihre Augenlider wurden bei seiner groben Behandlung schwer. Der Ausdruck schamloser Lust in ihrem Gesicht ließ seinen Schwanz pochen.
Er nahm ihre Hand von seiner Brust und küsste ihre Handfläche.
»Die Franzmänner sind verdammte Mistkerle«, sagte sie mit belegter Stimme.
Simon lachte, während er ihre rauen schwieligen Hände küsste und die sensible Haut zwischen ihren Fingern mit der Zunge kitzelte, doch es war ein freudloses Lachen.
»Es war eine von unseren, Liebes. Irgendetwas war damit nicht in Ordnung, und sie ist explodiert; die gesamte Seite der Kanone wurde zerfetzt. Ein großer Teil des Rohrs traf mein Pferd.« Armer Hector. Er war ein großartiges Pferd gewesen und hatte es sieben Jahre ohne einen Kratzer geschafft. Doch der Eisenbrocken hatte ihm den Kopf abgeschlagen, sauber wie eine Axt. Simon wusste, es hätte genauso gut sein eigener Kopf sein können. Man hatte ihm gesagt, dass er Glück gehabt hatte.
»Ich hatte Glück«, sagte er laut, nur um zu prüfen, wie die Worte schmeckten und sich anfühlen würden.
Sie schmeckten wie Asche und fühlten sich nach nichts an.
Sie schob die Hand von seinen Hoden aufwärts über seinen harten Schaft, und jetzt war es Simon, der scharf den Atem einsog.
»Ja, Sie haben großes Glück gehabt«, murmelte sie, und ihre Augen wanderten über seinen Körper. In ihrem Blick lag eine Mischung aus morbider Faszination und Lust. Nun, das war immer noch besser als Abscheu, womit er eigentlich gerechnet hatte. Sein ganzes Leben lang war ihm die Bewunderung der Damen zuteilgeworden, und er hatte sie für selbstverständlich gehalten. Simon musste zugeben, dass er sich fragte – und es ihm auch ein wenig Sorgen bereitete – ob jene Tage vorbei waren. Er verspürte eine heiße Woge der Dankbarkeit, die sich mit Lust mischte, Verlangen nach der Frau über ihm: der ersten Frau, die seinen vernarbten Körper nackt zu Gesicht bekam.
Er ließ ihr Haar und ihre Hand los, packte ihre Hüfte und hob sie vom Bett auf. Sie quiekte und wand sich, und die Haut an seiner linken Körperseite brannte wie Feuer, als er sie hochhob. Er wollte sie noch einmal; er würde es dieses Mal wiedergutmachen und sich mehr Mühe geben.
»Und jetzt bist du an der Reihe, Glück zu haben«, sagte er, als sie ihre Schenkel öffnete und zwischen ihren Körpern nach seiner Männlichkeit griff. Simon senkte ihren Körper ganz langsam auf seinen Ständer und stieß gleichzeitig in sie. Die wilde, tiefe Penetration ließ sie beide vor Ekstase nach Luft schnappen.
»Oh, Mylord!«
Das Verlangen in ihrer Stimme ließ ihn aufstöhnen, er schloss die Augen und begann, sich zu bewegen. Er war froh über die Feststellung, dass nicht nur Alkohol ihm half, seinen Gedanken zu entkommen.
Derweil in London …
»Hallo? Honey? Bist du da?«
Honey erschrak, als sie ihren Namen hörte, und wandte sich um.
Ihre Freundin und Mitbewohnerin Serena Lombard stand in der geöffneten Tür und machte ein verwundertes Gesicht. »Ist irgendetwas nicht in Ordnung, meine Liebe?«
Honey wurde bewusst, dass sie mitten im Zimmer stand und den Brief anstarrte. Sie hielt das elfenbeinfarbene Papier mit dem schwarzen Wachssiegel hoch.
»Was ist los?«
»Ein Brief des Duke of Plimpton.«
Serena hob die Augenbrauen. »Hmm, Plimpton. Hat dein Vater den nicht mal gemalt? Warte, nein, das war sein Bruder, der Marquess of Saybrook, nicht?«
Beim Klang seines Namens hörte Honey den Puls in ihren Ohren: es war das erste Mal seit Jahren, dass sie hörte, wie jemand ihn laut aussprach.
Sorgenfalten zeigten sich auf Serenas Stirn. »Du fühlst dich doch nicht wohl, oder? Du bist leichenblass. Was ist los?«
Honey wandte sich ab und faltete den Brief mit ungeschickten, zittrigen Händen zusammen.
»Honey?« Serena legte ihr die Hand auf die Schulter.
»Es geht mir gut. Mir ist nur ein wenig schwindlig. Ich, äh, ich fürchte, ich habe heute Morgen nicht gefrühstückt«, log sie. Sie musste dreimal schlucken, um den Kloß in ihrem Hals hinunterzuwürgen, und sie zwang sich, ihre Gesichtszüge wieder unter Kontrolle zu bringen, bevor sie sich zu ihrer Freundin umdrehte.
»Soll ich uns Tee bringen lassen?«, fragte Serena mit ihrem leichten Akzent.
»Tee klingt perfekt. Und vielleicht ein paar von Unas Butterplätzchen. Schließlich bekommt man nicht jeden Tag Post von einem Duke. Ich komme dann in zehn Minuten ins Wohnzimmer und erzähle dir alles«, versprach Honey und schenkte ihrer Freundin ein Lächeln, von dem sie hoffte, dass es sie beruhigen würde.
»Ich werde alle zusammentrommeln und Tee bringen lassen.«
Die Tür schloss sich hinter ihr, und Honorias Verstand drehte sich wie das bunte hölzerne Windrad, das Serenas kleiner Sohn für den Garten gemacht hatte. Der Duke of Plimpton, nach all den Jahren? Sie hatte sehr lange nicht an den Duke gedacht. Mit seinem Bruder Simon war es allerdings eine andere Sache. Ihm gelang es noch immer aus dem sicheren Gefängnis zu entkommen, das sie in ihrem Kopf für ihn gebaut hatte, obwohl es Newgate ähnelte. Ganz gleich, wie dick sie die Wände machte oder wie klein die Lücken zwischen den Gitterstäben, Simons Schatten entwischte immer wieder und suchte sie heim.
Honey lenkte automatisch ihre Schritte in Richtung ihres privaten Schranks, den sie stets verschlossen hielt.
Sie reckte sich auf die Zehenspitzen und tastete oben nach dem Schlüssel des kleinen Kleiderschranks. Es war einige Zeit her, dass sie die Tür geöffnet hatte.
Viel war nicht darin, tatsächlich war der Schrank alles andere als voll. Vier Leinwände lehnten dort von alten Laken abgedeckt.
Das erste war ein Gemälde ihrer Mutter.
Obwohl sich Honey nicht an die Frau auf der Leinwand erinnern konnte, war es das Werk ihres Vaters, und seine Liebe für das dargestellte Objekt sprach aus jedem Pinselstrich. Sie fand, es war sein großartigstes Werk. Sie wusste, dass es falsch war, es unter Verschluss im Dunkeln zu halten, aber es war ihre einzige Erinnerung an ihre Eltern, und das machte es zu etwas immens Privatem. Das zweite Porträt ließ sie lächeln. Es war das erste Gemälde, das sie je angefertigt hatte. Sie konnte nicht älter als fünf gewesen sein. Natürlich stellte es die Person dar, die sie von allen auf der Welt am meisten liebte: ihren Vater. Es hatte erstaunliche Ähnlichkeit mit Daniel Keyes, und es rief ihr in Erinnerung, wie er reagiert hatte, als sie es gemalt hatte. Freude und Liebe und Stolz hatten so stark aus seinem attraktiven Gesicht geleuchtet, dass sie selbst die Erinnerung noch wärmte wie eine kuschelige Decke.
Das dritte war ein Porträt von ihr. Ihr Vater hatte davon über die Jahre viele gemalt, über ein Dutzend. Einige davon hingen noch immer an den Wänden in ihrem Haus. Doch dieses? Nun, das war besonders. Er hatte es in jenem Sommer gemalt, nicht lange, nachdem er das Porträt von Lord Simon fertiggestellt hatte.
Daniel Keyes war in vielerlei Hinsicht ein egozentrischer Mann gewesen, doch nicht, wenn es um seine Tochter ging. Er wusste, dass es für sie unerträglich gewesen wäre, wenn er ihr zu ihrer unerwiderten Liebe Fragen gestellt hätte, doch sein Gemälde war der Beweis, dass er jedes Gramm ihres Leids in seinem Herzen ebenso mitgetragen hatte. Es schnürte Honey den Hals zu, wenn sie nur den Schmerz in ihren Augen sah.
Auf dem Gemälde war sie wunderschön, viel hübscher als im wahren Leben. Ihre Augen, die wie zersplittertes Eis wirkten, blickten gequält, ihr Blick war nach innen auf eine Seelenlandschaft gewandt, die aus reinem Schmerz bestand.
Das Porträt erinnerte sie daran, wie ihr fünfzehnjähriges Selbst nicht hatte glauben können, dass ihr blutendes Herz weiter schlagen könnte. Und doch war sie nach all den Jahren noch hier: gesund und munter.
Ihre Hand zitterte, als sie das Laken von dem vierten Gemälde zog und in die lächelnden hyazinthenblauen Augen von Simon Fairchild blickte, dem Marquess of Saybrook.
Wie immer gefror ihr der Atem in der Lunge. Honoria hatte in den vergangenen vierzehn Jahren viele Porträts angefertigt, aber in keinem der übrigen hatte sie so meisterhaft das reine Licht und die Essenz des Wesens eines Modells eingefangen wie auf diesem.
Ihre Technik war nun viel geschliffener als vor über einem Jahrzehnt, aber sie hatte niemals etwas Besseres gemalt. Das Lachen in seinen Augen war so lebendig, dass sie sein Echo hören konnte.
Honey deckte das Bild wieder zu, das sie über die Jahre viel zu oft gequält hatte. Simon war natürlich nicht der einzige Mann, den sie gemocht hatte, aber kein anderer Mann hatte je wieder ein so tiefes Gefühl in ihr geweckt.
Sie wusste, dass er in den Krieg gezogen war, weil sie seinen Namen in der Zeitung gelesen hatte – zunächst unter den Vermissten, und dann später noch einmal, als er zurückgekehrt war. Beide Male hatte sie geweint: zuerst aus Trauer und dann vor Erleichterung.
Warum war er in den Krieg gezogen? Was war mit der jungen Frau geschehen, dieser Bella, und seinen Plänen für ein Leben auf dem Land?
Honey seufzte und schloss diese Fragen und ein Dutzend weiterer hinter der Schranktür ein.
Sie ging zu dem kleinen Spiegel neben der Tür und überprüfte ihr wenig reizvolles Spiegelbild. Ihr schweres Haar hatte sich aus der festen Verankerung gelöst, und lange Locken flossen um ihr schmales Gesicht wie eine dunkle Gloriole.
Ehrlich gesagt war ihr schmales Gesicht mit den blassgrauen Augen wesentlich attraktiver, wenn es von den zerzausten Locken umrahmt wurde, aber einer Frau in ihrem Alter und ihrer Stellung geziemte es nicht, also gab sie ihr Bestes, die losen Strähnen in Ordnung zu bringen, ohne alles wieder neu flechten und hochstecken zu müssen. Das Resultat reichte für einen Nachmittagstee mit ihren Mitbewohnern, die alle wie Honey alte Jungfern waren.
Ein winziger Garten mit Blüten im Überfluss trennte ihr Atelier von dem kleinen Haus, in dem sie ihr gesamtes Leben verbracht hatte. Nachdem ihr Vater gestorben war, hatte sie sich entschieden, ihr Atelier in der Remise einzurichten und nicht in seinem Atelier. Es war albern, aber sie hatte das Atelier unberührt gelassen, nicht um einen Schrein für ihn zu errichten, sondern weil dieser Raum so von seiner Essenz durchdrungen war, dass sie den Gedanken nicht ertrug, ihn auseinanderzunehmen.
Als Honoria den schmalen Fußweg zur Hintertür des Hauses entlanglief, bemerkte sie, dass Freddies Pfingstrosen – die so groß waren wie Kohlköpfe – verblüht waren. Wieder war ein Sommer ihres Lebens verstrichen, der neunundzwanzigste.
Dieser Gedanke war etwas deprimierend, aber sie war nicht in der Stimmung, nach den Gründen dafür zu fragen, nicht heute.
Freddie – Lady Winifred Sedgwick – saß an dem kleinen Sekretär in der Ecke und sah auf, als Honey das Wohnzimmer betrat.
»Serena wird jeden Augenblick hier sein. Sie ist in eine Meinungsverschiedenheit verwickelt.«
»Aha, ein Scharmützel zwischen Mrs Brinkley und Una?«
»Was sonst.« Es war keine Frage. Die Haushälterin und die Köchin waren zwar beste Freundinnen, aber zugleich erbitterte Feindinnen, je nach Tagesform.
Honey ließ sich in ihrem liebsten Sessel nieder, einem zerschlissenen grünen Ohrensessel mit Lederbezug, dem Lieblingssessel ihres Vaters.
Sie hätte schwören können, dass sie noch immer die unverwechselbare Mischung aus Terpentin und Haarwasser riechen konnte, die sie mit ihm verband, auch wenn er bereits acht Jahre tot war. Er war nicht lang nach ihrem einundzwanzigsten Geburtstag gestorben – sanft eingeschlafen – ein friedlicher Tod, ganz anders als sein leidenschaftliches, farbenprächtiges Leben gewesen war.
Die Wohnzimmertür öffnete sich, und Honey lächelte.
»Hallo, Oliver. Bist du dem Unterricht entkommen?«
Serenas zehnjähriger Sohn machte eine glaubhafte Verbeugung.
»Mama sagte, ich dürfte zum Tee hinuntergehen.«
»Und für Unas Plätzchen?«, neckte sie. Er grinste und setzte sich neben sie. Honoria zerzauste seine unordentlichen braunen Locken.
»Woran hast du gearbeitet? Ich habe in der letzten Zeit keine Explosionen gehört.«
»Mama sagte, ich dürfe nicht mehr mit dem Elektrizitätsgenerator experimentieren.« Er schien darüber traurig zu sein.
»Und wie gelingt es dir, dich angesichts eines solchen Verzichts zu unterhalten?«
»Sie hat mir einen Automaten geschenkt.« Sein Lächeln war strahlend.
»Aha. Und hast du ihn schon auseinandergenommen?«
Er sah sie leicht spöttisch an, was verriet, was er von einer solch albernen Frage hielt.
Nachdem sie einen kleinen Stapel Post auf den Präsentierteller neben der Tür gelegt hatte, kam Freddie zu ihnen. »Er macht seinen eigenen Automaten, nicht wahr, Oliver?«
»Oui, tante.«
Oliver nannte sie alle Tante und sprach eine fließende Mischung von Französisch und Englisch, was überaus charmant war.
Die Tür wurde geöffnet, und seine Mutter erschien in Begleitung von Mrs Brinkley, die ein Teetablett trug.
»Vielen Dank, Mrs Brinkley«, sagte Honey zu der zierlichen Haushälterin, die ein wenig grimmig aussah.
»Nichts zu danken, Ma’am.« Sie stellte das Tablett unsanft ab und wackelte aus dem Zimmer, zweifellos, um in der Küche ihre Auseinandersetzung wieder aufzunehmen.
Neben ihr grummelte Olivers Magen, und Honey sah ihn mit gespieltem Entsetzen und offenem Mund an.
Er wurde rot. »J’ai faim.«
»Englisch heute, Oliver«, ermahnte ihn Serena. »Hast du einen Brief von Miles bekommen?«, fragte sie Freddie.
»Ja«, sagte Freddie und deutete auf die einzelne Seite auf ihrem Schreibtisch. »Du kannst ihn lesen. Er sagt, er wird noch eine weitere Woche auf dem Land bleiben.«
Miles Ingram war ein Freund von ihnen, der Tanzlehrer an der Stefani Akademie für junge Damen gewesen war, an der sie alle unterrichtet hatten, bevor die Schule im vergangenen Jahr schließen musste.
Sie waren sieben Lehrer gewesen, und hatten einander in den Jahren ihrer Zusammenarbeit ins Herz geschlossen wie Geschwister. Und jetzt waren sie in alle vier Winde zerstreut: Portia war in die Wildnis nach Cornwall gezogen; Annis lebte bei ihrer Großmutter in dem winzigen Städtchen Cocklesham; und Lorelei, ihr Bruder und dessen Familie in seinem Pfarrhaus in der Nähe von York. Nur Honoria, Serena, Freddie und Miles waren in London geblieben.
Freddie machte sich daran, den Tee auszuschenken und die kleinen Sandwiches und Kekse zu verteilen.
»Nun?«, fragte Serena. »Wirst du uns erlösen, Honey? Was hat der Duke zu sagen?«
»Vielleicht sollte sie warten, bis wir zu Ende gegessen haben?«, murmelte Freddie.
»Warten, wie schrecklich«, sagte Serena.
Honey musste über die Ungeduld ihrer Freundin lachen. »Also gut, ich werde es euch vorlesen.« Sie öffnete den Brief und strich die einzige Seite auf ihrem Schoss glatt.
»Miss Keyes,
Ich schreibe Ihnen auf Empfehlung des Viscounts Heath, dessen Frau Sie in diesem Frühjahr porträtiert haben. Ich habe das Gemälde gesehen, und fand Ihre Darstellung der Viscountess sehr treffend, ohne übertriebene Schmeichelei oder zu große Opulenz.«
Darüber musste Honey lachen. »Vielleicht sollte ich das auf meine Visitenkarten drucken lassen – treffende Porträts ohne Schmeichelei oder übertriebene Opulenz?«
»Lies weiter, Liebes«, drängelte Serena.
»Ich würde Sie gern engagieren, um meine Frau und meine sechzehnjährige Tochter zu porträtieren, die‑«
»Schreibt er etwas über die Konditionen?«, fragte Freddie, die stets praktisch dachte.
»Er bittet darum, dass ich ihm ein Angebot mache und den frühestmöglichen Termin nenne, an dem ich zur Verfügung stünde.« Sie gab Serena den Brief, die bereits die Hand danach ausgestreckt hatte.
»Und wann fährst du hin?«, fragte Serena und sah von dem Brief auf, den sie mit einer Vorsicht behandelte, als sei er aus Glaswolle.
»Große Güte, ich habe doch gerade erst davon erfahren. Ich habe mich noch nicht einmal entschieden, ob ich‑«
»Pfft! Tu nicht so schüchtern. Du weißt, dass du annehmen wirst. Wie könntest du auch anders? Eine Duchess und deren Tochter. Seine Gnaden ist ziemlich reich, oder nicht?«
Honeys Freunde wussten nichts von ihrer Jugendschwärmerei für den jüngeren Bruder des Duke. Warum sollten sie auch? Wer erzählte seinen Freunden solch peinliche private Einzelheiten? Sie schauderte bei dem Gedanken, ein solch bemitleidenswertes Geständnis hervorzuwürgen.
»Honey?«
Serena und Freddie sahen sie mit erwartungsvollen Mienen an.
Ein leises Klopfen an der Tür ließ sie zusammenfahren.
Es war Nounou, Olivers Kinderfrau.
Serena lächelte ihren Sohn an. »Du darfst dir ein paar von Unas Plätzchen ins Schulzimmer mitnehmen.«
Oliver, der für einen kleinen Jungen inmitten einer langweiligen erwachsenen Unterhaltung erstaunliche Selbstbeherrschung bewiesen hatte, legte noch drei Plätzchen auf seinen Teller und verneigte sich vorsichtig, bevor er der Französin aus dem Zimmer folgte.
Honey wartete, bis sich die Tür geschlossen hatte, dann räusperte sie sich und stellte Freddie die gefürchtete Frage. »Was weißt du über den Duke of Plimpton und seinen derzeitigen Haushalt?«
Winifred Sedgwick verdiente ihren Unterhalt als Heiratsvermittlerin, auch wenn sie die Bezeichnung verabscheute, und ihr entging nichts, was in der Gesellschaft geschah.
»Ich weiß, dass Seine Gnaden seit ungefähr achtzehn Jahren verheiratet und dass seine Frau die jüngste Tochter des Duke of Stanford ist. Sie ist zart und kann keine Kinder mehr bekommen. Ich glaube, die Tochter ist ihr einziges überlebendes Kind.«
Die Duchess hatte also keine Kinder mehr bekommen, nachdem ihr einziger Sohn gestorben war.
»Der jüngere Bruder des Duke, der Marquess of Saybrook, ist der mutmaßliche Erbe«, fuhr Freddie fort, ohne dass sie sich bewusst gewesen wäre, welches Chaos der Name in Honorias Herzen verursachte.
»Ach ja«, sagte Serena zwischen zwei Bissen von ihrem Plätzchen. »Er war in Waterloo.« Sie schwieg einen Augenblick und runzelte die Stirn. »War da nicht irgendetwas Merkwürdiges an seiner Rückkehr?«
»Ja«, bestätigte Freddie. »Er wurde erst drei Tage nach der Schlacht gefunden. Ich habe seinen Namen in der vergangenen Saison nirgends gesehen, ich denke, er ist noch nicht vollständig genesen.«
All das wusste Honoria. Sie hatte die Geschichte seiner Rückkehr wie eine Besessene verfolgt. Sie nahm einen Schluck Tee; ihre Hand war weiß, weil sie den Henkel der Tasse so fest umklammerte, und sie zwang sich, sich zu beruhigen.
»Ich kann mir kaum vorstellen, was er mitgemacht haben muss«, sagte Freddie und schüttelte den Kopf.
»Ob er im Haushalt seines Bruders lebt?«, fragte Honey.
»Das weiß ich nicht. Warum fragst du? Ach ja, richtig‑«, sagte Freddie, bevor Honey etwas entgegnen konnte, »jetzt erinnere ich mich. Dein Vater hat ihn porträtiert.«
»Wie war er denn so?«, fragte Serena, stippte den Keks in ihren Tee, steckte sich die durchweichte Pampe in den Mund und leckte sich die Finger.
Honey musste sich angesichts der ungehemmten und lässigen Art ihrer Freundin ein Lächeln verkneifen. Sie konnte sich kaum vorstellen, welchen Skandal die sinnliche Französin während ihres kurzen Verweilens unter den Mitgliedern des ton ausgelöst hatte.
»Es ist lange her, dass ich ihn zum letzten Mal gesehen habe, Serena.« Vierzehn Jahre, drei Wochen und fünf Tage. Nicht, dass sie mitgezählt hätte.
Serena antwortete mit einem ihrer sehr französischen Schulterzucken. »An irgendetwas musst du dich doch erinnern.«
Honey seufzte. Warum sollte sie sich die Mühe machen, zu lügen. »Er war der schönste Mann, den ich je gesehen habe.«
Serena erstarrte, den Keks wenige Zentimeter vor ihrem geöffneten Mund, und sie runzelte die Stirn. Ihr Ausdruck war ungläubig. »Aber er ist gewiss nicht attraktiver als Miles, oder?«
Honey spürte, wie ihr die Hitze in die Wangen stieg, aber sie nickte kurz.
Die Französin schmunzelte. »Hmm, das muss ein selten schöner Anblick sein.«
Honey wandte sich von ihrem wissenden Blick ab und machte sich am Griff der Teekanne zu schaffen.
»Ich glaube, er lebte nach seiner Rückkehr zunächst bei seinem Bruder«, sagte Freddie und wechselte dankbarerweise das Thema. »Aber er hat auch ein eigenes Anwesen.«
»Ja. Everley.« Honorias Stimme war kaum ein Flüstern. Sie stellte Tasse und Untertasse mit ruhiger Hand ab und sah ihre Freunde an. Freddies schönes, unergründliches Gesicht blieb ausdruckslos, aber Serena sah sie direkt und herausfordernd an.
Es war auch die ungebändigte Französin, die schließlich das unangenehme Schweigen brach. Ein Glitzern lag in ihren grün-braunen Augen. »Und? Wann wirst du aufbrechen?«