Prolog
Die Nacht des letzten Spiels
Um null Uhr zwölf bog Svea mit dem Fahrrad auf den engen Waldpfad ein, der zu der Farm führte. Sie war bis auf die Haut durchnässt und ihr Handy zeigte vier unbeantwortete Anrufe sowie drei SMS. Sie trat stärker in die Pedale, kämpfte so gegen den Nordseewind und den Platzregen an. Seit einer Woche war Sommer, zumindest wenn man dem Kalender glauben durfte. Nur schien das dieses trostlose Örtchen noch nicht mitbekommen zu haben.
Der heulende Wind und das Strömen des Regens übertönten alle anderen Geräusche. Matsch spritzte hoch und färbte ihre Jeans braun. Es gab keine Straßenlaternen, überhaupt keine künstlichen Lichtquellen – bis auf die flackernde Lampe an Sveas Fahrrad, die sie davon abhielt, gegen den nächsten Baum zu fahren.
Eine seltsame Leere hatte sich in Svea ausgebreitet. Seit … dieser Sache. Anders konnte sie das, was passiert war, nicht benennen. Ebendiese Leere hatte sie an den Deich geführt und grübeln lassen, wie es jetzt weitergehen sollte. Nicht nur mit Jeremias, auch mit dem Spiel. Dann war ihr eine Idee gekommen. Svea hoffte, dass es nicht bereits zu spät war. Sie war so schnell gefahren, wie sie konnte, aber für den Rückweg vom Deich hatte sie trotzdem eine gute halbe Stunde gebraucht.
Svea nahm eine scharfe Kurve und bog auf das weite, unbefestigte Gelände ein. Üppige Bäume verdeckten die drei kleinen Gebäude, die einsam und verlassen in der Mitte des Grundstücks lagen. Wer nicht wusste, dass sie da waren, würde sie nicht ohne Weiteres finden.
Außer Atem sprang Svea vom Fahrrad. Die Lampe ging aus. Blind navigierte sie ihr Fahrrad durch die Dunkelheit in den Schuppen, der mit altem Hausrat vollgestellt war.
Vor dem Regen geschützt, zog sie ihr Handy aus der Hosentasche. Sämtliche Anrufe sowie Nachrichten waren von Raik.
Wo bist du???
und
Kommst du noch???
Sollen wir ohne dich anfangen?
Von Jeremias nichts. Die Erkenntnis versetzte Svea einen Stich. Was hatte sie erwartet? Dass er sie bat zurückzukommen?
Svea zog den Kopf ein und rannte die rund fünfzig Meter bis zum heruntergekommenen Haupthaus. Durch die schmutzigen Fensterscheiben drang ein kaum wahrnehmbarer Lichtschimmer nach draußen. Wahrscheinlich war das Feuer im Kamin wieder die einzige Lichtquelle. Jeremias hatte kein Geld, um mehr als das Nötigste an Strom zu bezahlen.
Svea schlüpfte ins Haus. Der Wind erfasste die offene Tür und schlug sie mit einem lauten Knall zu.
Gespenstische Stille und Dunkelheit begrüßten sie. Hoffnung regte sich in Svea. Schliefen die anderen schon? Direkt darauf folgte die Angst: Wenn sie schon schliefen, hatten sie davor das Spiel gespielt?
Sie streifte ihre Turnschuhe und die durchweichte Jacke ab und durchquerte den langen Flur. Ihre nassen Socken hinterließen deutliche Spuren auf den alten Holzdielen. Leise stieß sie die Tür zum Wohnzimmer auf.
Sechs Augenpaare richteten sich augenblicklich auf sie. Vorwurfsvolles Schweigen.
Svea stieß den angehaltenen Atem aus. Sie war rechtzeitig gekommen. „Tut mir leid, ich hab die Zeit vergessen“, sagte sie.
Jeremias’ Blick lastete am schwersten auf ihr. Schon drohte sie, in seinen wissenden Augen zu versinken. Schnell wandte sie sich ab. Natürlich. Er konnte sich denken, dass sie log.
Anton, der bis eben bäuchlings auf dem zerschlissenen braunen Ledersofa gelegen hatte, richtete sich auf und fuhr sich mit der Hand durch das blonde Haar. Neben ihm auf dem Boden standen vier leere Bierflaschen. Selbst so mitgenommen sah er mit seinen ebenmäßigen Gesichtszügen und den Grübchen in der Wange aus wie ein Boyband-Sänger auf dem Bravo-Cover. „Wie spät ist es?“
„Fast halb eins“, sagte Marie-Luise wie aus der Pistole geschossen. Sie saß allein auf dem anderen Sofa, in der Hand ein Glas mit durchsichtiger Flüssigkeit. Vermutlich Wasser. Ihre Augen waren wie üblich gen Boden gerichtet und der Körper leicht nach vorne geneigt, sodass ihr das dunkelblonde Haar ins Gesicht fiel.
Raik, der bis vor Kurzem sofort den freien Platz neben Marie-Luise beansprucht hätte, hockte auf einem Sessel und warf der Jüngsten im Raum einen sehnsüchtigen Blick zu. Seine Jeans schaffte es wie üblich nicht, die langen Beine komplett zu bedecken. Sie endete weit über den Knöcheln und gab den Blick auf die weißen Socken frei. „Geht es dir gut?“, fragte Raik an Svea gewandt.
„Ja, alles in Ordnung“, log sie.
Karli, die im Schneidersitz auf dem Boden saß, bedachte Svea mit einem unfreundlichen Blick. „Können wir endlich anfangen?“
Svea zögerte. „Was haltet ihr davon, wenn wir das Ganze heute sein lassen?“ Sie gähnte demonstrativ, ein Versuch, ihren bedeutungsschweren Worten eine gewisse Beiläufigkeit zu verleihen.
Jeremias’ Mundwinkel bewegten sich minimal, zeigten die Andeutung eines spöttischen Lächelns.
„Geht’s noch?“, fauchte Karli. Der hellblonde Ansatz war schon wieder nachgewachsen und wirkte wie eine kahle Stelle über dem schwarz gefärbten Haar. „Wir waren uns doch einig.“
„Ich finde …“, begann Marie-Luise leise, doch Rachida unterbrach sie: „Erst kommst du zu spät und dann das? Wenn du nicht mitmachen willst, hättest du einfach wegbleiben können.“
Sprachlos starrte Svea ihre Freundin an. Mit den harmonischen Gesichtszügen, den üppigen Wimpern und ihrem Schmollmund war sie auch ungeschminkt eines der hübschesten Mädchen des Jahrgangs. Jetzt blickten die großen Augen ihr feindselig entgegen. Svea ahnte den Grund für Rachidas Unmut: diese Sache, die Svea ein paar Stunden zuvor aus dem Haus getrieben hatte. Doch dieser Hass, der ihr entgegenschlug, brachte sie aus dem Gleichgewicht.
„Raik?“, fragte Rachida mit spitzer Stimme, ohne den Blick von Svea abzuwenden.
„Ich finde, wir sollten es tun. So war es schließlich abgemacht“, sagte Raik.
„Anton?“
„Ähm, klar“, nuschelte er, vermied jedoch den Blick in Rachidas Richtung.
„Sieht aus, als wärst du überstimmt worden“, bemerkte Jeremias und stand auf.
Wie auf ein Kommando erhoben sich auch die anderen.
„Bist du dabei? Oder nicht?“
Svea spürte sechs Augenpaare auf sich. Sie stieß den Atem aus und nickte. „Ich bin dabei.“
Jeremias’ kühle braune Augen musterten Sveas am Körper klebendes T-Shirt und die durchweichte Jeans.
Sie wich abermals seinem Blick aus und starrte stattdessen auf einen willkürlichen Punkt neben seinem dunklen Haar. „Ist schon gut“, nuschelte sie. „Die Sachen trocknen von alleine.“
Jeremias nickte. „Bringen wir es hinter uns.“
Er wandte sich zur Kellertür.
Svea folgte ihm. Sie vergrub ihre zitternden Hände in den Jeanstaschen. Und betete, dass ihre Idee funktionierte.
***
Es hatte bereits der Morgen gedämmert, als Svea in eines der Gästezimmer geschlichen war, um ein paar Stunden Schlaf zu finden. Gerade erst hatte sich diese ersehnte Schwere über sie gelegt, als etwas ihr Bewusstsein aus dem beruhigenden Nichts riss. Zuerst wusste Svea nicht, was sie geweckt hatte. Sie drehte sich auf die andere Seite und versuchte, wieder einzuschlafen, da hörte sie es abermals. Einen Schrei.
Schritte polterten an ihrer Tür vorbei die Treppe hinunter. Aufgeregte Stimmen drangen aus dem Wohnzimmer nach oben.
Svea zog sich ihre über Nacht getrocknete Jeans an und trat auf den Flur. Die Türen von Jeremias’ Zimmer zu ihrer Rechten sowie vom Gästezimmer gegenüber, in dem Karli und Raik manchmal übernachteten, standen sperrangelweit offen.
In dem Moment drang ein Laut nach oben, der Svea das Blut in den Adern gefrieren ließ. Ein schrilles Heulen, wie von einem sterbenden Tier.
Sie rannte nach unten.
Das Wohnzimmer war leer, bis auf den Ursprung des grauenvollen Geräuschs: Rachida stand in der Mitte des Raums, die Arme fest um sich geschlungen. Ihr Mund öffnete und schloss sich und stieß wie in einem grotesken Rhythmus immer wieder diese Klagelaute aus.
Als sie Svea sah, verstummte sie. Dafür streckte sie die Hand aus, wies mit zitterndem Zeigefinger auf die weit offen stehende Haustür und den Schuppen.
Mechanisch bewegte Svea sich auf die Tür zu. Eine Taubheit ergriff von ihr Besitz, die alles andere unwichtig erscheinen ließ. Alles, bis auf das, was sie im Schuppen vorfinden würde.
Svea verließ das Haus. Sie spürte nicht, wie ihre nackten Zehen im aufgeweichten Boden versanken. Aber sie hörte, dass Rachidas Heulen wieder eingesetzt hatte.
Schon von Weitem sah Svea Anton an der maroden Holzwand lehnen, das Gesicht kreidebleich.
Sie wollte umkehren. Doch ihre Beine trugen sie weiter.
Das Erste, was sie sah, als sie die Schuppentür erreichte, war Jeremias. Er stand vor der riesigen, gelbfleckigen Gefriertruhe, die fast die gesamte rechte Wand einnahm. Der Deckel war hochgeklappt. Da wandte sich Jeremias zu ihr um und blickte sie mit undeutbarem Gesichtsausdruck an.
Weiter hinten im Schuppen kauerte Raik am Boden. Karli hatte die Arme um ihn geschlungen und wiegte ihn hin und her wie ein Kleinkind. Tränen liefen ihr über die Wangen. Noch nie hatte Svea Karli weinen sehen.
Sie blieb in der Tür stehen. Krallte sich mit einer Hand in den Türrahmen, so fest, dass ihr Holzsplitter in die Haut drangen. Einen Schritt weiter und sie würde sehen, was sich in der Gefriertruhe befand.
Da bemerkte sie das Blut. Rotbraune Flecken, die von ihren Füßen aus zur Gefriertruhe hin führten. Ohne nachzudenken, trat Svea einen Schritt nach vorne. Zuerst konnte sich ihr Gehirn keinen Reim darauf machen, was ihre Augen sahen. Dann erkannte sie das vierblättrige Kleeblatt und schrie.
Svea schrie immer noch, als Jeremias sie am Arm berührte.
„Sieh einfach nicht hin“, sagte er und zog sie aus dem Schuppen. „Es wird alles wieder gut.“
Doch das wurde es nie mehr.
Kapitel 1
Gegenwart
Svea schlug die Augen auf.
Sie wusste, dass sie wieder von dem Kleeblatt geträumt hatte. Zumindest nannte sie sie Träume, obwohl es eigentlich Erinnerungen waren, die sie nachts heimsuchten. Wenn ihr schlafender Verstand sich nicht dagegen wehren konnte. Erinnerungen an jemanden, dem das vierblättrige Kleeblatt kein Glück gebracht hatte.
Bevor sie aus dem Bett stieg, sah sie auf ihr Handy. Keine Anrufe in Abwesenheit. Das ungute Gefühl, das sie schon seit Tagen hatte, verstärkte sich. Sie tippte auf das grüne Telefon-Symbol und aktivierte mit dem Anruf-Icon die Wahlwiederholung. Nichts. Rachidas Handy war noch immer ausgeschaltet. Erschöpft stand sie auf und zwang sich unter die Dusche.
Auf dem Weg zur Arbeit machte sie in der Kaffeemacherei halt. Wie immer waren alle Tische des winzigen Cafés besetzt und auch der Sitztresen am Fenster war belegt. Der Barista trug seine obligatorische braune Schürze, aus der die hochgekrempelten Ärmel seines blauen Hemdes herausschauten.
„Hi“, sagte Svea, als sie an der Reihe war.
„Guten Morgen.“ Er lächelte sie an. „Das Übliche?“
Svea nickte. Sie zählte die Münzen passend ab und legte sie auf die Theke, obwohl er ihr wie immer die offene Hand hinstreckte. Mit einem kurzen Blick in sein Gesicht versicherte sie sich, dass er ihr die Distanziertheit nicht übel nahm.
Er zwinkerte ihr zu.
Kurz breitete sich ein Schwall von Wärme in ihrem Inneren aus und sie ließ sich zu einem Lächeln hinreißen.
Er war der Inhaber der Kaffeemacherei. Das hatte sie einem beiläufigen Gespräch zwischen ihm und einer seiner beiden Angestellten entnommen, die abwechselnd hier mithalfen. Svea wusste nichts über ihn. Außer, dass er selbst am liebsten Espresso trank, wenn der Kundenansturm es gerade zuließ. Ein Café-Besitzer. Ungefähr Ende zwanzig, in ihrem Alter. So wunderbar normal.
Sie nahm ihren Cappuccino entgegen. Früher einmal hatte sie Kaffee verabscheut. Hatte sich gefragt, wie Jeremias diese Brühe schwarz und ohne Zucker herunterbekam. Ihretwegen hatte er dafür gesorgt, dass auf der Farm immer Milch und Kakaopulver vorrätig war. Außer im Sommer, da verdarb die Milch im ausgeschalteten Kühlschrank zu schnell. Wenn Svea heute an heiße Schokolade dachte, wurde ihr speiübel.
Sie schenkte dem Mann ein Lächeln und hoffte, er würde irgendwie darauf reagieren. Gleichzeitig betete sie, dass er nicht auf die Idee käme, nach ihrer Nummer zu fragen.
Er winkte ihr schmunzelnd zu, als sie nach einem letzten Blickkontakt das Café verließ.
Im Forschungsinstitut für Psychologie, an dem sie seit vier Jahren arbeitete, teilte sie sich einen kleinen Raum mit einer Kollegin, die gerade in Mutterschaftsurlaub war. Svea war das mehr als recht. Nach ihrer Ankunft schloss sie als Erstes die Türe hinter sich, sodass es nur sie, ihren Computer und das Paper zu der aktuellen Studie gab, das sie zu schreiben hatte. Während sie ihren Computer hochfuhr, versuchte sie, sich zu sammeln. Sie bastelte schon viel zu lange an diesem Fachartikel. Laut Zeitplan, den sie vor dem Start dieses Forschungsprojekts, ihrer ersten eigenen Studie, erarbeitet hatte, sollte das Paper bis spätestens Ende dieser Woche fertig sein. Heute war Donnerstag.
Mittlerweile hatte Dr. Heine, die Leiterin des Forschungsbereichs für Entwicklungspsychologie, mitbekommen, dass etwas nicht stimmte, und steckte mehrmals täglich ihren Kopf zur Tür herein. Dabei verstand sie offensichtlich nicht, wo das Problem lag. Die Studie war durchgeführt, die Daten analysiert, die Ergebnisse lagen vor.
Svea öffnete das Word-Dokument. Ihr wurde übel, wie immer, wenn sie auch nur die Überschrift las:
Psychopathic personality traits and peer influence as predictors of adolescent delinquency.
Zu Deutsch etwa: Psychopathische Persönlichkeitsmerkmale und der Einfluss von Gleichaltrigen als Prädiktoren von Jugendlichenkriminalität.
Hatte sie einfach Pech, gerade dieses Thema erwischt zu haben? Dass Dr. Heine darauf bestanden hatte, genau hier gebe es noch Forschungsbedarf? Oder war es Schicksal gewesen, eine Art kosmische Gerechtigkeit? Ihre Strafe?
Im Grunde war sie selbst schuld. Das hatte schon mit dem Psychologiestudium angefangen. Aber nach … dem Vorfall … hatte sie nicht die Kraft gehabt, ihre vorher gefassten Studienpläne über den Haufen zu werfen und sich etwas Neues zu überlegen. Großer Fehler. Wenn die Professoren in der Uni über Persönlichkeitsmerkmale und den Einfluss der Umwelt referiert hatten und wie genau all das Menschen dazu brachte – direkt oder indirekt –, auf die eine oder andere Weise zu handeln, konnte Svea nur krampfhaft versuchen, nicht an Jeremias, Karli, Raik, Rachida und Anton zu denken. Und an sich selbst.
Nach Abschluss ihres Studiums war für sie nur eins klar gewesen: Sie konnte unmöglich Therapeutin werden. Was also dann? Irgendwie musste sie ihren Lebensunterhalt schließlich verdienen. Dann war ihr eine Idee gekommen. Warum nicht in die Forschung gehen, einen angenehm langweiligen Schreibtischjob annehmen? Svea lächelte bitter. Jetzt saß sie hier und konnte dieses verdammte Paper nicht zu Ende schreiben.
Mit zitternden Fingern drehte Svea an dem kleinen Rädchen der Maus, um über den Text hinwegzuscrollen. Einleitung und Methodenteil, inklusive der Beschreibung der Stichprobe, der Messinstrumente und Details zum statistischen Vorgehen, hatte Svea bereits erstellt. Auch der Ergebnisteil war fertig. Was noch anstand, war der letzte Teil, an dem Svea bereits seit über einer Woche saß und nicht weiterkam. Die Diskussion. Die Interpretation der Studienergebnisse. Was bedeutete es, dass Einflüsse gleichaltriger Freunde mindestens eine ebenso große Rolle bei der Delinquenz von Jugendlichen zu spielen schienen wie Persönlichkeitseigenschaften? Die Studie hatte außerdem gezeigt, dass junge Menschen mit hohen Psychopathie-Werten weniger leicht durch Gleichaltrige beeinflussbar waren – dass sie aber umgekehrt besonders häufig andere Jugendliche zu kriminellem Verhalten anstifteten.
Svea sah Jeremias’ Gesicht vor sich. Die kühlen Augen. Das berechnende Lächeln. Sie schüttelte energisch den Kopf, um die Erinnerung zu vertreiben.
Der kleine Strich in der Leerzeile unter der Überschrift Discussion blinkte im Sekundentakt. Sveas Augen schweiften zu der eingeblendeten Uhr oben rechts. Sie saß seit einer halben Stunde hier und hatte noch kein Wort geschrieben.
Psychopathie. Gruppenzwang.
Mittlerweile zitterten ihre Hände so stark, dass sie die Maus loslassen musste.
Hätte Karli die Psychopathie-Checkliste ausgefüllt, welcher Wert wäre dabei herausgekommen? Diese Liste maß zwei Dimensionen von Psychopathie, antisozial-deviant und interpersonell-affektiv. Während manche Psychopathen hohe Werte auf beiden Skalen aufwiesen, tendierten viele eher zu der einen oder der anderen Dimension. Karli wäre aller Wahrscheinlichkeit nach mehr der antisozial-deviante Typ, mit ihrer Impulsivität, der Unfähigkeit zu planen und dem ständigen Gelangweiltsein. Letzteres traf auch auf Jeremias zu.
Indikatoren für die interpersonell-affektive Dimension dagegen waren unter anderem Mangel an Empathie, Gefühlskälte, pathologisches Lügen und Manipulation. Das las sich wie eine Auflistung von Jeremias’ Charaktereigenschaften.
Svea wurde schwindelig. Unsinn. Das war doch alles Unsinn. Viel zu einfach. Nur weil jemand Probleme hatte, seine Gefühle zu zeigen, war er noch lange kein Psychopath. Außerdem hatte Jeremias sie nie angelogen. Hatte er gesagt. Nur eben gewisse Dinge nicht erzählt.
Svea hob eine bebende Hand an ihr Gesicht und wischte den kalten Schweißfilm von ihrer Stirn.
In diesem Moment klingelte ihr Handy. Endlich!
Doch als sie das Telefon aus der Tasche zog, erstarrte sie. Es war nicht Rachida. „Unbekannter Anrufer“ stand auf dem Display.
Sveas Herzschlag dröhnte so laut in ihren Ohren, dass sie nicht hörte, wie die Tür geöffnet wurde.
„Svea? Alles in Ordnung?“
Sie fuhr auf ihrem Drehstuhl herum. Zu heftig, sodass sie mit ihren Füßen abbremsen musste und beinahe das Gleichgewicht verlor.
Dr. Heine, die sie schon mindestens zehnmal aufgefordert hatte, sie ebenfalls beim Vornamen zu nennen, stand im Türrahmen. Unter ihrem dunkelbraunen, gelockten Pony, direkt über dem bunten Rahmen ihrer runde Brille, hatten sich steile Sorgenfalten gebildet.
Das Handyklingeln schallte weiterhin durch den Raum. Svea drückte den Anrufer weg.
„Ich …“ Svea versuchte, ihren keuchenden Atem zu beruhigen. Ihr war noch immer schwindelig. Sie schloss die Augen. Ein Fehler. Sie meinte zu fallen. Instinktiv klammerte sie sich mit beiden Händen an die Armlehnen ihres Stuhls und riss die Augen wieder auf.
„Svea …“
Sie sahen sich an. Wahrscheinlich traute Dr. Heine sich nicht zu fragen, aber Svea konnte sich vorstellen, wonach das hier aussah: nach einer Panikattacke.
War es nicht.
Nur ihr Gewissen, das an die Oberfläche drängte. Das konnte sie Dr. Heine schlecht erklären, also schwieg sie ebenfalls.
„Du solltest für heute Schluss machen“, sagte ihre Vorgesetzte sanft.
Svea schüttelte den Kopf, zwang sich zu einem verkrampften Lächeln. „Es geht schon. Ich brauche nur ein paar Minuten.“ Was sie nicht brauchte, war, jetzt nach Hause geschickt zu werden. Allein in ihrer Wohnung mit ihrem Gewissen.
„Svea, ich meine es ernst. Deine Gesundheit geht vor. Du kannst das Paper von zu Hause fertig schreiben. Und wenn es gar nicht geht, setze ich mich morgen eben dran.“ Sie hob die Hand, als Svea zu einem Widerspruch ansetzte. „Geh nach Hause. Ruh dich aus. In zehn Minuten will ich dich nicht mehr hier sehen.“ Sie zwinkerte Svea zu, wollte die Situation wahrscheinlich auflockern. Es gelang ihr nicht.
***
In Sveas Wohnung stapelten sich die ungelesenen Bücher; missglückte Versuche, diesen Zauber, die diese Geschichten früher auf sie ausgeübt hatten, wiederzubeleben. Früher, vor Jeremias, waren Romane ihre Zuflucht, zeitweise sogar das Einzige gewesen, wofür sie gelebt hatte.
„Bücherwurm.“
Anfangs nur ein freundschaftlich-neckischer Spitzname, von Karli ausgedacht, in den sich schon bald ein gemeiner Unterton gemischt hatte. Karli hatte mit dem Lesen nichts anfangen können, ganz anders als ihr Bruder Raik, der selbst unzählige Programmierfachbücher verschlungen hatte.
Plötzlich sah Svea sie alle wieder vor sich: Raik mit seinen runden Brillengläsern, der sich von seiner Schwester alles gefallen ließ. Rachida, die in jeder freien Minute am Lernen war.
Jeremias. Ein kühles Lächeln auf den Lippen, als er das erste Mal ihren Blick auffing. Die dunklen Augen voller Vorfreude, als er ihnen von dem Spiel erzählte.
Rachida. Das Gesicht verzweifelt und dann hasserfüllt, als sie begriff, dass keiner von ihnen für sie einstehen würde. Rachida …
Svea warf einen prüfenden Blick auf ihr Handy. Fünf weitere Anrufe des unbekannten Anrufers. Sie hatte es auf stumm geschaltet, als sie das Forschungsinstitut verlassen hatte.
In diesem Moment ging ein weiterer Anruf ein.
Sveas Atem beschleunigte sich. Es war nicht Rachida, das wusste sie instinktiv. Auch wenn das die logischste Erklärung wäre. Rachida rief Svea regelmäßig an. Einmal im Monat. Diesen Monat stand der Anruf noch aus. Vielleicht hatte Rachida einfach eine neue Nummer?
Nein. Das hätte sie ihr vorher gesagt. Oder Svea hätte es auf WhatsApp gesehen. Rachida wusste, dass Svea grundsätzlich keine Anrufe von unbekannten Nummern annahm.
Vielleicht war es Raik, redete sich Svea ein. Aber wieso sollte er nach zehn Jahren plötzlich Kontakt zu ihr aufnehmen?
Der Anrufer hatte für den Moment aufgegeben. Doch Svea wusste, er würde es erneut versuchen.
Etwas stimmte nicht. Und dieser Gedanke trieb Svea tatsächlich an den Rand einer Panikattacke.
Sie musste herausfinden, was los war. Während sie wieder versuchte, Rachida zu erreichen, schaltete sie ihren Laptop ein. Rachidas Handy war immer noch aus.
Statt den USB-Stick vom Forschungsinstitut in den Laptop einzustecken und mit ihrem Paper weiterzumachen, rief Svea eine Internetsuchmaschine auf. Ihre Finger schwebten über den Tasten. Dann zwang sie sich, die Suchwörter einzutippen: Nordsee, Gymnasiastin, verschwunden.
Sie überflog die Ergebnisse und atmete auf.
Die Leiche war nach wie vor nicht entdeckt worden.
Das war alles, was sie hatte wissen wollen. Sie könnte den Browser schließen, die Anrufe ignorieren und an ihrem Paper weiterschreiben. Stattdessen klickte sie das erste Suchergebnis an. Es handelte sich um einen Nachrichtenartikel auf der Website einer kleinen, lokalen Zeitung, datiert auf den achten Juni dieses Jahres, also etwa fünf Monate alt. Bevor sie sich davon abhalten konnte, überflog sie die Zeilen:
Heute vor 10 Jahren verschwand die damals achtzehnjährige Marie-Luise spurlos. Das Mädchen besuchte die zwölfte Klasse des Lichtenberg-Gymnasiums. Am Abend ihres Verschwindens fand die Abschlussfeier der höheren Jahrgangsstufe statt, die auch mehrere von Marie-Luises Freunden besuchten. Laut Aussage der Eltern machte sich das Mädchen mit dem Fahrrad auf dem Weg zu ebendiesen Freunden und wurde danach nicht mehr gesehen. Ihr Fahrrad wurde später von der Polizei am Deich aufgefunden. Marie-Luises Freunde sagten aus, dass die Einserschülerin unter hohem Leistungsdruck stand, sodass die Polizei von einem Suizid ausging. Marie-Luises Eltern wohnen noch immer in dem Ort und haben die Hoffnung nicht aufgegeben, dass das Verschwinden ihrer Tochter irgendwann aufgeklärt wird.
Svea war schlecht. Das mit den Eltern hatte sie nicht wissen müssen. Was wohl schlimmer war? Sich Tag für Tag zu fragen, was passiert war, oder die Wahrheit zu kennen? Die Wahrheit … Die kannte Svea ja selbst nicht. Das redete sie sich zumindest immer wieder ein.
Svea erinnerte sich noch allzu lebhaft an den Blick ihrer eigenen Mutter, als die Polizei damals ihr Mietshaus durchsucht hatte, weil sie alle ausgesagt hatten, dass sie dort gefeiert hatten.
Es hatte alles so schnell gehen müssen. Das Fahrrad. In Sveas Wohnzimmer den Anschein einer durchfeierten Nacht erwecken. Dann der Blick ihrer Mutter, die wusste, dass sie logen.
Aus den Augenwinkeln sah Svea, wie ihr Handy aufleuchtete. Wieder der unbekannte Anrufer.
Was, wenn es doch Rachida war? Die süße, liebe Rachida, die keiner Fliege etwas zuleide tun konnte. Aber das stimmte nicht. Wer immer sie vorher gewesen waren, das Spiel hatte sie alle verändert, auch Rachida.
Diesmal gab der Anrufer nicht auf. Svea tat einen tiefen Atemzug und nahm den Anruf an.
Zuerst Stille.
Schließlich: „Svea.“
Keine Frage. Eigentlich überhaupt keine Intonation. Trotzdem beinhaltete dieses eine Wort, ihr Name, so viele mögliche Implikationen, klang wie ein Versprechen und Vorwurf zugleich. Svea kannte nur eine Person, deren Stimme zu so etwas fähig war, und es war nicht Rachida. Es war die Person, mit der alles begonnen hatte.