Leseprobe Raven Wings

1. Kapitel

Der Wind brauste über die Plattform, ließ meine Hände am Geländer erzittern und flüsterte mir zu, dass ich den perfekten Tag gewählt hatte.

Heute würde ich verschwinden und nicht zurückkehren.

Die Lichter der Stadt breiteten sich unter mir aus wie Sterne, die sich auf einem Meer spiegelten. Ihre Anordnung war wahllos, und doch erzählten sie tausend fremde Geschichten. Hier oben auf dem Berg im Grünen – mit dem Rauschen der Blätter und der Abgeschiedenheit – fühlte ich mich frei. Während bald der Morgen anbrechen und der Alltag in der Stadt weitergehen würde, änderte sich für mich alles. Ich hatte diesen Weg bewusst für meinen Abschied gewählt, denn die Aussicht war atemberaubend. So zeigte sich meine Heimat in ihrer ganzen Pracht, die meinem alten Leben wegen dieser scheußlichen Visionen verwehrt geblieben war. Hoffentlich fand ich einen glanzvolleren Neuanfang.

Ein Seufzer entschlüpfte meiner Kehle. Für einen Moment legte ich den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. In mir braute sich ein Schrei zusammen, der all die Wut und Ungerechtigkeit enthielt, die mich hierhergetrieben hatten. Aber um ihn loszulassen, fehlte mir die Kraft. An jeden Tag in den letzten Jahren war ich schwach und machtlos gewesen. Dazu verdammt, tatenlos zusehen zu müssen. Ich wollte hier weg. Mehr nicht.

Die Hände vergrub ich in meinem Haar und starrte in den Himmel, bis meine Kehle von den zu schnellen Atemzügen austrocknete. Bis nur noch krächzende Laute meine Atmung begleiteten. Vor mir lag Einsamkeit und ich begrüßte sie. Denn sie war die letzte Hoffnung auf ein Leben ohne die Visionen.

Keuchend breitete ich die Arme aus und genoss den Wind, der an mir zerrte. Ich wollte davonfliegen und nicht mehr zurückblicken. Doch selbst in diesen kurzen Moment, der nur mir gehörte, holten mich die Erinnerungen ein. Dunkelheit, Rauschen, ein Knall. Zitternd schlang ich die Arme um den Körper, während ich den Tod meiner Eltern wieder vor mir sah. Eindringlich schüttelte ich den Kopf, um die Bilder zu vertreiben, aber es half nicht. Die Vision zu diesem Ereignis hatte mich vor so vielen Jahren heimgesucht und war zu meiner Vergangenheit geworden. Den Teufel würde ich tun und wieder zuschauen, wenn meiner besten Freundin das Gleiche bevorstand.

Es war an der Zeit, dass ich verschwand. Ich hatte versucht, die Visionen ein ums andere Mal zu verhindern und wieder versagt.

Müde betrachtete ich den Mond. Heute Nacht war ich achtzehn Jahre alt geworden. Endlich war ich für mich allein verantwortlich. Und das hier war die beste Entscheidung, die ich treffen konnte.

Meine Augen folgten den Lichtern am Himmel und denen unter mir, während ich näher an das niedrige Geländer trat, das mir nur bis zur Hüfte reichte. Das kühle Metall umfassend, suchte ich nach Lichtformationen in der Stadt, die mir bekannte Orte zeigten. In welcher Richtung befand sich der Feuersee, in dessen Nähe ich bei meiner Tante gewohnt hatte? Lagen dort hinten im Dunkeln meine Schule und das Freibad? Ich konnte es kaum erkennen und plötzlich verspürte ich den Drang, jedes kleine Detail in mich aufzusaugen und für immer im Gedächtnis zu behalten, bevor ich Stuttgart und mein ehemaliges Leben dort hinter mir ließ.

Ich beugte mich tief über das Geländer und sah den steilen Berghang hinab. Obwohl mir Höhe nie etwas ausgemacht hatte, wurde mir mulmig zumute. Doch ich schluckte die Unsicherheit herunter und betrachte die Stadt genauer. Ein letztes Mal.

Bis an den Fuß des Bergs entdeckte ich Häuser, aber noch nicht überall brannte Licht. Hunderttausende Leben, die nichts von meiner Qual wussten und deren Alltag weitergehen würden, auch wenn ich schon lange fort war. Die meisten Menschen schliefen, während mein neues Leben begann. Irgendwo weit weg von hier.

Es ist Zeit, Lenna.

Energisch richtete ich mich auf, verlor das Gleichgewicht, taumelte. Bis schließlich Dunkelheit vor meinen Augen flackerte und die Lichter überdeckte. Ich krallte mich am Geländer fest, schüttelte den Kopf. Aber die Vision überrannte mich.

Konnten sie mich nicht einmal am Tag meiner Flucht in Ruhe lassen?

Blinzelnd kämpfte ich dagegen an, doch die Bilder schoben sich in meine Gedanken. Ein Wimmern erklang, das aus der Zukunft stammte. Einer Zeit, die ich eigentlich nicht kennen sollte. Schweiß überzog meine Handflächen, mein Puls raste.

Die Vision trübte jeden Gedanken, ich hyperventilierte und krümmte mich. Mein Herz setzte einen Schlag aus, bevor es laut in meinen Ohren dröhnte und pochte. Der Wind gewann an Kraft, zerrte an mir und ich verlor den Halt.

Nein!

Mit den Füßen in der Luft ruderte ich hilflos mit den Armen. Meine Hüfte schabte über das Geländer und ich fiel vornüber. In Zeitlupe rauschte ich an der Brüstung vorbei und geradewegs auf die Häuser tief unter mir zu. Die Vision klang ab, aber ich konzentrierte mich nicht auf die Bilder, die sie mir zeigte, denn der Tod saß mir im Nacken. Mit den Fingernägeln kratzte ich über den rauen Bodenbelag der endenden Aussichtsplattform, streifte vereinzelte Grashalme, doch nichts bekam ich zu fassen. Vor mir lag der Abgrund und ich stürzte ungehalten hinab.

Noch während eine Stimme in meinem Kopf flehte, dass ich nicht sterben dürfte, überschlug sich mein Körper.

Wind peitschte mir ins Gesicht. Ich riss die Augen auf und schrie. Der Klang schien meilenweit entfernt zu sein, fremd und genauso unwirklich wie mein Todesflug. Die Lichtflecken der Stadt näherten sich in erschreckendem Tempo. Es begleitete mich ein Gefühl der Schwerelosigkeit.

Und plötzlich stand die Zeit still. Es gab keine Geräusche mehr, keine Gedanken – nur mich und die Geschwindigkeit, mit der ich meinem Ende entgegenflog.

Ein Schatten zischte an mir vorbei. Ich riss den Kopf herum und versuchte, seinen Ursprung auszumachen. Ein Tier? Vor meinen Augen flimmerte ein dunkler unförmiger Punkt vor dem Meer aus Lichtern.

»Hilf mir«, schrie ich in den Wind.

Diese Nacht sollte ein Abschied sein, aber nicht mein Tod.

Die Gestalt verharrte vor mir in der Luft und mein Fall stoppte. Wie eingefroren hielt mein Körper mitten in der Bewegung inne. Schwarze Augen trafen meine. Starrten mich an, während dunkle Schwingen durch die Luft sirrten. Aus dem Rumpf streckten sich mir menschliche Arme entgegen, die ab den Ellbogen in schwarze Federn übergingen. Ich ruderte schwerfällig mit meinen Gliedmaßen.

Was zum Teufel …

Halluzinierte ich?

Der Schnabel öffnete sich und ein Kreischen drang heraus. Statt Füße baumelten Krallen in der Luft.

Mit einem Ruck durchdrangen sie den Stoff meiner Hose und bohrten sich in meine Oberschenkel. Ich schrie vor Schmerz und meine Muskeln verkrampften sich. Hände packten meine Schultern und mit einem Schlag der Flügel änderten wir die Richtung. Das Wesen wirbelte mit mir in den Himmel hinauf, rotierte, drehte sich. Etwas Dunkles fiel weiter hinab, segelte zu Boden und verschwand aus meinem Sichtfeld.

Scheiße, ich hatte den Verstand verloren.

Wir umkreisten ein paarmal die Plattform, bis ich abermals fiel. Ich landete mit einem dumpfen Schlag – beinahe genau dort, wo ich nur Minuten zuvor gestanden hatte. Schmerz durchfuhr jede Faser meines Körpers und ich presste die Hände auf die Oberschenkel, wo mich die Krallen erwischt hatten. Tränen schossen mir in die Augen und ich tastete nach den Wunden, doch fühlte nichts. Kein Blut, keine Verletzung. Nichts.

»Was?«, keuchte ich und würgte.

Meine Flucht.

Mein Neubeginn.

Beides verloren.

Wieder wegen dieser verfluchten Visionen!

Die Gestalt landete vor mir, klappte die Flügel zusammen und beugte sich über mich. Mit den Händen griff das Wesen nach mir, zog mich vom Boden zu sich. Sein Kopf kam nah an mich heran. Dicht vor mir hielt es inne und tippte mir mit dem Schnabel gegen meine Stirn. Die Berührung brannte auf meiner Haut und Hitze breitete sich von dort aus. Zum Schrei riss ich den Mund auf, doch der Laut blieb mir im Hals stecken. Das Bild vor mir verschwamm, der Lichtschein wurde dumpfer, die Konturen in der Dunkelheit schärfer. Dann erreichte der Schmerz meine Kopfhaut. Keuchend krümmte ich mich, als funkensprühendes Feuer sich seinen Weg bahnte und aus meiner Haut brach. Ich schlang die Hände um die Oberarme und zuckte zurück. Zitternd hob ich sie näher an mein Gesicht. Schwarze Federn platzten ab den Ellbogen aus meiner Haut hervor. Fahrig krallte ich die Finger hinein und zog daran. Wischte darüber. Versuchte, sie abzuschütteln.

Vergebens.

Alles um mich herum drehte sich. Tausende Bewegungen schwirrten an mir vorbei. Ameisen, Motten, Staubkörner in der Luft. Sie leuchteten in einem satten Orange, tanzten durch die Nacht zu einer stummen Melodie.

Ich rollte mich auf die Seite und sah an mir herunter. Mein ganzer Körper stand in Flammen. Knochen wanden sich unter meiner Haut und ich schlug die Hände vors Gesicht. Statt meinen Mund traf ich auf einen Schnabel.

»Was?«, würgte ich hervor, doch es klang wie ein Krächzen.

Das krähenähnliche Monster über mir beugte sich tief zu mir herunter. Leuchtender Rauch umgab seine Konturen, kräuselte sich in der Luft und vibrierte. Hinter ihm strahlte der Mond wie die Sonne, vermischte die Dunkelheit der Nacht mit mehr von diesem unnatürlichen Orange. Sein Gefieder schimmerte samtig, der Schnabel dunkel und matt. Es starrte mich mit seinen schwarzen Augen an und in ihnen zeichnete sich mein Spiegelbild ab. Ich sah genauso aus wie das Wesen vor mir.

2. Kapitel

Meine Augenlider flackerten. Wo war ich?

Ich tastete meine Umgebung ab, suchte nach meinem Bett, bis ich mich darauf besann, dass ich davongelaufen war. Doch dann kam die Erinnerung an den Sturz zurück und ich strich über den Boden, erwartete Gras von der Böschung unter meinen Fingern oder Geröll, auf dem ich aufgeschlagen sein sollte.

Halt, nein. Da war dieses Geschöpf …

Ich riss die Augen auf und starrte in Lichtflecken, die sich nur langsam zu Konturen wandelten. In den schimmernden Umrissen erschien als Erstes das Gesicht eines jungen Mannes. Er beugte sich über mich, zog die Augenbrauen besorgt zusammen und blinzelte. Seine dunklen Haare fielen ihm ins Gesicht und seine grünen Augen leuchteten wie saftiges Gras.

Er lächelte vorsichtig, als er meinen Blick einfing und ein Grübchen erschien in seinem rechten Augenwinkel.

So etwas hatte ich noch nie gesehen.

Ob das Grübchen von einer Narbe stammte?

Ich hob die Hand und versuchte, ihn zu berühren. Licht umspielte seine Konturen, zeichnete makellose Linien in meine verschwommene Sicht. Dieses Wesen hieß mich willkommen, wo auch immer ich hier gelandet war.

»Ein Engel?«, fragte ich. Denn das musste er sein. Ich war tot und im Himmel angekommen.

Sein Lächeln wurde breiter, ehe er losprustete und aus meinem Sichtfeld verschwand. Der magische Moment war vorbei, er verlor sich im haltlosen Lachen dieses Kerls.

»Xeron«, ertönte eine mahnende Stimme hinter mir.

Ich richtete mich auf, hörte, wie sich mehrere Menschen räusperten, ehe sich im Licht weitere Gesichter bildeten. Die Hitze in meinen Wangen fühlte sich an wie ein Feuer.

»Wo bin ich?«, krächzte meine Stimme und klang, als würde sie nicht zu mir gehören. Hektisch sah ich mich um. Ich lag mitten in einem kahlen Raum, der wie ein leeres Klassenzimmer wirkte. Nur dass an den Wänden weder Poster noch eine Tafel hingen. Nichts deutete darauf hin, was mich hier erwartete. In einem Halbkreis saßen einige Personen auf Stühlen. Ich wollte zählen, wie viele es waren, doch der junge Mann unterbrach meine Musterung und zog meine Aufmerksamkeit auf sich.

»Nicht im Himmel«, presste er unter Gelächter hervor. Er hielt die Luft an, musterte mich und verzog die Lippen zu einem breiten Grinsen. Bevor ich Angst haben konnte, dass sein Gesicht platzte, keuchte er und hielt sich den Bauch. »Ein Engel.«

»Xeron«, ermahnte ihn die Stimme erneut. Sie gehörte einem Mann mit dunkler Haut. Er wirkte äußerlich nicht älter als Mitte dreißig, doch seine Erscheinung verlieh ihm etwas Erhabenes. Er musterte mich mit Augen, in denen jahrhundertealtes Wissen zu liegen schien. Die Ruhe, die er ausstrahlte, legte sich schwer über mich und bildete einen Kontrast zu der Unsicherheit, die in mir tobte. Diese Mischung gab mir ein beklemmendes Gefühl. Der Kerl konnte keine Mitte dreißig sein. Dafür wirkte er zu … alt.

Hatte ich das gerade wirklich gedacht? Wie kam ich auf so eine absurde Idee? Ich musste tot sein. Oder träumen.

Oh Gott, bitte lass mich träumen.

»Du kannst mich ab sofort Schutzengel nennen«, meinte der Kerl, der vermutlich Xeron hieß. Er hatte sich dem dunkelhäutigen Mann zugewandt, warf mir aber einen kurzen Blick über die Schulter zu.

»Meinst du wirklich, dass du dir das erlauben kannst?«, fragte eine Frau mit schulterlangem Haar und mandelförmigen Augen. »Nach dem ganzen Schlamassel?« Sie strich sich eine braune Strähne hinters Ohr.

Xerons Gesicht fror ein. »Nein, Licia.« Er ging zur Seite und lehnte sich mit dem Rücken an die freie Wand links von mir.

»Ich gehe nicht davon aus, dass Xeron dich eingeweiht hat«, meinte Licia an mich gerichtet. Sie verschränkte die Arme. »Nach deiner Verwandlung.«

Mit offenem Mund schüttelte ich den Kopf. »Meine Verwandlung? Das war ein Traum. Dieses Untier …« Ich zuckte zurück und betrachtete Xeron. Ich hatte mich also tatsächlich in dieses Monster verwandelt? Und Xeron war dabei gewesen? Ich öffnete den Mund und deutete auf ihn. »Diese Vögel. Bitte sagt mir, dass ich mir das nur eingebildet habe.«

Das war doch nicht echt gewesen?!

Die Frau bedachte Xeron mit einem tadelnden Blick, den er gekonnt ignorierte. Er betrachtete den Boden, als wäre er wichtiger als dieses Gespräch.

Mit einer ausschweifenden Geste umfasste Licia den Raum und die Anwesenden. »Du bist in der Zwischenwelt.«

»In der was?«

»Xeron hat dich abgeholt, als du gestorben bist. Dein Körper ist zurückgeblieben, aber deine Seele ist hier.«

»Er hat meine Seele abgeholt?« Ich musterte Xeron, der die Güte besaß, nicht mehr den Boden anzustarren. Stattdessen funkelten mich seine grünen Augen an.

Hitze pumpte durch meine Adern und mir wurde gleichzeitig kalt. Halt. Stopp. Zurückspulen.

Ich war wirklich tot? Und meine Seele wurde in eine Zwischenwelt gebracht – von einem gigantischen Vogel, in den auch ich mich verwandelt hatte?

Xeron senkte betreten den Blick und ich blinzelte. Einmal. Zweimal.

Dieses Geschöpf, das war wirklich er gewesen?

Waren hier alle verrückt?

»Moment.« Ich sah die Frau an. Am liebsten hätte ich gefragt, ob sie sich über mich lustig machte. »Ich bin wirklich gestorben? Und jetzt bin ich hier? In einer Zwischenwelt?«

Die Worte auszusprechen, gab ihnen mehr Gewicht. Mein Herz raste und ich schlang die Arme um den Körper. Doch der Sog in meiner Brust ließ nicht nach. Stattdessen schien er mich mit sich in die Tiefe zu ziehen und ich wusste nicht, was mich im Abgrund meiner Angst erwartete.

»Wo sollst du sonst sein?«, fragte Xeron. »Im Himmel?« Da war es wieder, dieses Grinsen, das ich ihm am liebsten aus dem Gesicht schlagen wollte.

»Ich wollte weglaufen, neu beginnen. Und jetzt bin ich tot?«, presste ich hervor, ballte die Hände zu Fäusten und kämpfte gegen die aufsteigende Panik in meiner Brust an. Ich atmete tief ein und versuchte zu verstehen, was diese Menschen mir erzählten. Doch es half nichts, ich hyperventilierte.

Mir wurde schwindlig, ich stützte mich vornüber mit den Händen und zählte die Sekunden.

Eins. Zwei. Drei.

Verdammt, ich musste langsamer atmen.

Das hier war zu viel. Meine Pläne zerrannen in meinen Händen und ich konnte sie nicht mehr greifen.

Ich wollte fliehen, wegrennen und nicht sterben!

Vier. Fünf. Sechs.

Ein. Aus.

Wo war ich hier nur hineingeraten?

»Lenna«, Xerons Stimme erklang direkt vor mir. Ich hob den Blick und sah in sein Gesicht, das nur wenige Zentimeter entfernt war. Er berührte mich nicht, aber seine Nähe strahlte etwas Vertrautes, Tröstendes aus. Ich bildete mir eindeutig zu viel ein! »Beruhige dich, Lenna.«

»Ach, und das geht so einfach?«, fragte ich schnippisch. »Ich bin tot!« Die Wut lenkte mich ab und ich sank zurück, zog die Beine zum Schneidersitz an. Immerhin war mir nicht mehr schwindlig.

»Ja, du bist tot«, schaltete sich der dunkelhäutige Mann ein. Er fuhr sich mit der Hand über das kurzgeschorene Haar. »Dies hier ist eine Art des Todes. Wir alle sind tot.« Er deutete auf sich, die anderen und den sonst leeren Raum.

Ich schüttelte den Kopf. Wo war das Nichts, das ich vom Tod erwartete? Und warum war ich hier? Wieso hatte ich mich nur über das Geländer gebeugt? Wieso hatte ich eine Vision gehabt?

»Ich hatte Schmerzen!« Meine Hände wanderten zu meinen Oberschenkeln, wo die Krallen mich erwischt hatten. Doch da war keine Wunde. Vielleicht gab es eine logische Erklärung. Ich war nicht ganz bei mir. Hatte mir beim Sturz aber die Oberschenkel an der Felswand aufgerissen und dieses Getier war nur Teil meiner Einbildung gewesen. Ich tastete wieder über den Boden, suchte nach etwas, das mir zeigte, dass dies nur ein Traum war, während ich tatsächlich am Fuß des Hangs im Sterben lag. Oder zugedröhnt in irgendeinem Krankenhaus.

»Ich war vielleicht etwas grob.« Xeron hob die Schultern. »Als ich deine Seele ausgerissen habe. Aber es ging alles so schnell.«

Xerox hob die Schultern und entfernte sich an die Seite des Raums.

Ich starrte ihn an. Was?!

»Das ist jetzt nicht wichtig.« Licia erhob sich und trat neben den Mann, der diese seltsame Versammlung zu leiten schien. »Marxem«, sagte sie ernst und legte ihre Hand auf seine. »Wir müssen nachsehen.«

»Was nachsehen?« Meine Stimme klang motzig, aber konnten sie mir das verdenken? Ich war heute Nacht mit einem Ziel losgezogen und alles war schiefgegangen. Anstatt allein in einer neuen Stadt, in der mich ein Bus weit wegbringen sollte, war ich hier. Wo auch immer das war.

Xeron murrte. Er stieß sich von der Wand ab und warf mir einen kurzen Blick zu, bevor er sich abwandte. Er ging an den Menschen vorbei, die im Halbkreis um mich positioniert waren, und blieb neben zwei leeren Stühlen stehen, ohne sich zu setzen. Dieses Mal sah ich genauer hin. Marxem, der weiterhin Ruhe ausstrahlte und Licia mit ihrem strengen Blick nahmen Platz. Daneben saßen drei weitere Personen: ein blonder Junge, vielleicht achtzehn Jahre alt, eine grauhaarige Alte und eine Frau mit einem dunklen Lockenkopf.

»Chio«, sagte Marxem und nickte der Alten zu. Ihr Stuhl stand etwas von den anderen entfernt, als würde sie auf Sicherheitsabstand gehen.

Chio zog eine Kette aus ihrem weißen Kleid hervor, an der drei bunte Edelsteine baumelten. Sie umfasste den roten mit ihrer Hand und schloss die Augen. Ihre Lippen bewegten sich, sie murmelte lautlose Worte, während sie sich langsam aufrichtete. Als sie die Augen aufriss, glänzte ihre Stirn feucht.

»Er ist es«, hauchte sie. Die fünf sitzenden Personen tauschten bedeutungsschwere Blicke, während mich Xeron mit steinerner Miene anstarrte. Da war mir sein dummes Grinsen lieber.

»Wer ist was?« Konnten diese Irren nur in Rätseln sprechen?

»Bist du dir sicher, dass er mir nicht zugeteilt wurde?«, fragte Xeron verbissen.

»Er ist Lennas Schützling«, antwortete Chio und ich erkannte Mitleid in ihren Augen.

»Können wir nicht tauschen?«, warf Xeron ein. »Ich könnte …«

»Du weißt, dass das nicht geht.« Marxem erhob sich wieder. Er kam auf mich zu und blieb vor mir stehen. Er streckte mir jedoch keine Hand entgegen, um mir aufzuhelfen.

»Es gibt viel, das wir dir erklären müssen.«

»Das denke ich auch«, erwiderte ich und stand ohne seine Hilfe auf.

»Fangen wir nochmal von vorn an. Mein Name ist Marxem, ich bin der Ajiva der Kämpfer.«

»Der was?«

Er lächelte. »Ich bin einer der fünf Ajiva. Ein Anführer der Gaben. Hinter mir siehst du die anderen.« Er deutete auf die sitzenden Personen.

Xeron kam wieder näher und seufzte ungeduldig. »Kürzen wir das doch einfach ab.« Er fixierte mich mit seinen grünen Augen, während er die Hände in den Hosentaschen vergrub. »Willkommen in der Zwischenwelt. Du hattest das Pech, im falschen Moment zu sterben.«

»Xeron«, zischte Licia und schüttelte ihr schulterlanges Haar, aber er ließ sich davon nicht beeindrucken.

Marxems Gesichtsausdruck zeigte, dass er Probleme hatte, die richtigen Worte zu finden.

Doch das übernahm Xeron augenscheinlich gern für ihn. »Als Krähe«, er deutete auf mich, sich und die anderen, »musst du den Schutzengel spielen.« Das Wort Engel betonte er dabei besonders und untermalte es, indem er eine Augenbraue hob. Vor mir blieb er stehen. Sein Geruch erinnerte mich an frisch gemähtes Gras nach einem Regenschauer. »Wir begleiten die Menschen, beschützen sie vor Bösem. Bla bla bla.« Er zuckte die Schultern. »Deine Zeit war noch nicht gekommen. Du warst noch nicht bereit für den Tod. Daher holte ich deine Seele in die Zwischenwelt.«

»Das reicht«, schaltete sich Marxem nun doch ein. Er hielt den Arm zwischen mich und Xeron, ohne einen von uns zu berühren. »Jede Krähe erhält einen menschlichen Schützling, die Seher erkennen ihn und an ihn bist du gebunden. Dieses Band wird geknüpft, während du in die Zwischenwelt überwechselst. Erst mit dem Tod des Schützlings endet die Verbindung und eine neue entsteht.«

»Schützling. Schutzengel. Zwischenwelt«, wiederholte ich, weil mein Gehirn nicht mehr zustandebrachte. Wie hatte das alles so aus dem Ruder laufen können?

»Schon seit Wochen beobachten wir einen Jungen.« Marxem schluckte, warf einen schnellen Blick zu den anderen, die immer noch auf ihren Stühlen saßen. »Sein Karma ist gefährlich negativ. Die Geister …« Er stockte, suchte wieder nach Worten. »Wir glauben, dass er die Schlüsselfigur für den Untergang der Zwischenwelt sein könnte. Und jetzt ist er an dich gebunden.«

Mein Mund klappte auf. Okaaaay. Diese Leute waren verrückt. Energisch kniff ich mir in den Arm, sodass mir Tränen in die Augen schossen. Doch ich wachte nicht auf, war immer noch hier, zwischen diesen Wesen, in dieser angeblichen Zwischenwelt. Mit einem an mich gebundenen Menschen, der eine Welt zerstören würde? Und was sollte ich da ausrichten? Ich war doch kein Avenger!

Xeron ging einen Schritt auf mich zu, wodurch Marxem seine Hand zurückzog. In seinem Gesicht breitete sich ein bitteres Lächeln aus.

»Willkommen mittendrin«, raunte er. »Im Krieg der Welten.«