Prolog
Alex
Ich gehe in die Hocke und lege die Blumen auf der hellgrauen Steinplatte ab. Es sind Rosen. Achtunddreißig Stück – alle, die in dem kleinen Beet auf der Plantage noch übrig waren. Alle bis auf eine.
Lange starre ich die Blumen an und muss dabei an ein Gespräch denken, das ich vor ewiger Zeit geführt habe, mit meinem Onkel Harley Jones, als ich 14 war.
Ich weiß, dass sich der Gedanke, Rache zu nehmen, gut anfühlt, hat er damals gesagt. Aber dir muss eins klar sein. Eine Sache, die du nicht vergessen darfst. Rache bringt uns die, die wir verloren haben, nicht zurück. Niemals. Hast du mich verstanden, Dale?
»Alex«, murmle ich in die Stille des Friedhofs hinein. Das habe ich ihm damals geantwortet, mehr nicht. Denn Dale, der kleine Junge, der ich einst war, ist in Chicago geblieben. In einer Zeit vor dem ganzen Chaos, der Mafia, dem Zeugenschutz, den neuen Identitäten, die sie uns verpasst haben. Dale hätte Harley vielleicht geglaubt, hätte sich vorstellen können, dass Rache keine Lösung, kein Ausweg ist. Dass es besser ist, die Vergangenheit ruhen zu lassen und neu anzufangen, immer und immer wieder.
Doch Alex glaubt nicht an diesen Bullshit.
Ich spüre, wie ich den Stiel der verbliebenen Rose viel zu fest packe, sodass sich die Dornen in meine Handfläche bohren. Warmes Blut quillt zwischen meinen Fingern hervor und tropft auf die Grabplatte, die noch sauber und frisch ist, aber schon bald alt und vom Wetter grau sein wird, so wie all die anderen Gräber hier, auf dem Friedhof von Arecibo.
Auf einmal vernebeln Tränen meine Sicht und ich wische sie hektisch fort.
Sie soll mich nicht heulen sehen. Sie soll nicht sehen, dass ich …
Ich schüttle den Kopf und lache, kurz und hart, als mir klar wird, was für ein Blödsinn dieser Gedanke ist. Egal, was ich tue, sie sieht es nicht. Vollkommen egal, was ich sage: Sie hört es nicht.
Sie ist tot. Sie ist nicht hier. Unter dieser Steinplatte ist nur ein Sarg, der schon bald verrottet sein wird. Und Alessia, die Frau, die ich liebe – die Einzige, die ich je geliebt habe – von ihr ist nichts übrig.
In den letzten Tagen habe ich mir oft eingeredet, dass es vielleicht anders ist. Ich war nie gläubig, doch ich habe versucht mir zu sagen, dass sie jetzt dort oben ist oder ein Teil von ihr vielleicht noch an den Orten, an denen wir gemeinsam waren.
In unserer Wohnung zum Beispiel. Ich habe probiert, sie mir vorzustellen, wie sie morgens aus dem Badezimmer kommt, ihre langen Haare nass und wirr, oder wie sie abends auf der Fensterbank sitzt, mit einer Tasse in den Händen, wie sie runter auf die Straße sieht und mir von den Orten erzählt, die wir alle noch gemeinsam besuchen werden. Von ihrer alten Heimat in Rom hat sie besonders oft gesprochen und ihre dunklen Augen haben dabei geleuchtet wie …
Ich schüttle die Erinnerung ab. Es hat nicht funktioniert. Die Wohnung ist leer. Es ist nichts mehr von ihr da außer ihren Sachen, die sie nie wieder berühren, benutzen oder anziehen wird.
Das ist die Wahrheit, das ist das Einzige, was der Tod eines Menschen bedeutet: Leere.
Und wenn man diesen Menschen geliebt hat, wirklich geliebt, dann bedeutet sein Tod Leere für immer. Eine Leere, die sich anfühlt wie ein schwarzes Loch, die sich ausbreitet und nur Wut und Hass zurücklässt.
Und den Wunsch danach, andere dasselbe spüren zu lassen. Diejenigen, die schuld sind.
Ich hebe den Blick und zwinge mich, die Inschrift auf der Grabplatte zu lesen. Goldene, geschwungene Buchstaben. Kein Geburts- oder Sterbedatum, nur die Dinge, die wichtig sind. Ein Name und ein Versprechen:
Hier ruht Alessia Calliari
Die Liebe hört niemals auf.
Auch wenn mir Gott und die Bibel nach wie vor egal sind, bekomme ich diesen einen Absatz, aus dem auch die Inschrift stammt, seit Alessias Tod nicht mehr aus dem Kopf. Tag und Nacht geistert er durch meine Gedanken: Die Liebe erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, hält allem stand. Die Liebe hört niemals auf.
Nein, das wird sie nicht, und sie tut sogar noch mehr. Sie hält mich aufrecht, sie lässt mich die Schuldigen finden. Sie sorgt für Gerechtigkeit.
Die Liebe tötet, wenn es sein muss.
Und das muss es.
Minuten- oder vielleicht stundenlang starre ich die Worte an. Dann stehe ich auf. Ich sage nichts, denn es ist niemand hier, der mich hören würde. Doch ich schwöre mir selbst etwas.
Von jetzt an werde ich mein Leben einer Toten widmen. Ich werde alles dafür tun, dass sie nicht umsonst gestorben ist. Ich werde herausfinden, wer dafür verantwortlich ist und machen, was ich am besten kann.
Rache nehmen.
Ob ich mich dadurch besser fühlen werde? Sicher nicht.
Ob meine Vergeltung mir Alessia zurückbringen wird? Ich wäre ein Idiot, so etwas zu glauben.
Aber eines ist sicher. Diejenigen, die sie mir genommen haben, werden mit ihrem Leben dafür bezahlen. Und das reicht mir schon.
Das ist alles, was ich noch will.
Ich wende mich von Alessias Grab ab und gehe ein paar Meter weiter über den menschenleeren Friedhof. Vor dem zweiten frischen Grab bleibe ich stehen und lege die einzelne, blutige Rose darauf ab. Noch einen Moment lang halte ich inne, dann verlasse ich mit entschlossenen Schritten den Friedhof.
Wer auch immer für das hier verantwortlich ist, hat mir das Herz aus der Brust gerissen.
Es ist Zeit, ihnen zu zeigen, wozu ein Mann ohne Herz fähig ist.
Kapitel 1
Sieben Tage zuvor
Alessia
Auch wenn es ein früher Oktobermorgen ist, erhitzt die Sonne meine Haut, als hätten wir noch Hochsommer. Ich genieße die warmen Strahlen in meinem Gesicht und kneife die Augen ganz fest zusammen, damit ich nicht geblendet werde. Die Hängematte, in der ich liege, schwingt ganz leicht hin und her und ein sanfter Wind spielt mit meinem Haar. Ich habe Durst, bin aber zu träge um aufzustehen.
Ich genieße die Stille hier draußen auf der Plantage, auf der Alex’ Mutter mit ihrem Mann lebt. Sie ist wie ein kleines Paradies. In der Stadt ist es viel lauter und hektischer und auch wenn ich Arecibo wirklich liebe, bin ich froh, dass wir hin und wieder hierherfahren und die Ruhe genießen.
Der Wind raschelt in den Blättern der Bananenbäume um mich herum, dann höre ich das leise Knacken von trockenem Laub. Ich rechne fest damit, dass Kim, die Tochter von Megan und Harley, gleich um die Ecke springt und mich mit ihrer Wasserpistole attackiert, doch der Wind flaut ab und schlagartig ist es wieder ganz still um mich herum.
Ich seufze, drehe mich auf die Seite, wobei ich Mühe habe, nicht aus der Matte zu purzeln und stoße mit der Nase gegen etwas. Erschrocken reiße ich die Augen auf und sehe direkt in Alex‘ unverschämtes Grinsen. Er hockt vor mir und hält mir eine dunkelrote Rose vors Gesicht.
»Erschreckt?«, fragt er und hört weder auf zu grinsen, noch nimmt er die Blume auch nur einen Zentimeter von mir weg. Im Gegenteil. Wieder stößt er damit gegen meine Nase.
Ich schnuppere daran und lächle. »Ist die für mich?«
»Nein.« Alex zuckt leichthin mit den Schultern. »Ich wollte sie meiner Mutter schenken und dachte, du kannst die vielleicht mal probeweise halten.«
Jetzt muss ich lachen. »Du bist ein Idiot.«
»Nun nimm schon.«
Behutsam nehme ich ihm die Rose aus der Hand und setze mich auf. »Sie ist wunderschön.«
»Selbstgezüchtet.«
»Aber klar.« Ich rieche noch einmal daran. Er redet ständig so einen Unsinn, erzählt mir, dass er ein geheimes Blumenbeet irgendwo hier auf der Plantage hat, auf dem Rosen für unsere Hochzeit wachsen. Ich muss jedes Mal schmunzeln. Zum einen, weil ich ihn mir nicht als Rosenzüchter vorstellen kann. Zum anderen, weil ich kaum glaube, dass wir jemals heiraten werden. Alex wirkt auf mich wie jemand, der in gewissen Maßen seine Freiheit braucht. Und auch ich bin mir nicht sicher, ob ich jemals wieder heiraten werde. Natürlich, meine letzte Ehe war nur eine Scheinehe, aber trotzdem. Es hat mir gereicht.
»Du glaubst mir nicht. Aber du wirst schon sehen.«
Ich mustere ihn. Noch immer hockt er vor mir. Das dunkle kurze Haar ist noch feucht vom Duschen und ich kann sein Aftershave riechen. Es ist ein sportlicher, männlicher Duft. Ich lasse meinen Blick weiter wandern, über seine tiefblauen Augen, die immer ein wenig herausfordernd funkeln und seinen Mund, den meist ein Grinsen umspielt. Meistens. Mittlerweile immer öfter. Als ich ihn kennengelernt habe, lag darum ein harter Zug und in seinen Augen stand eine Finsternis, die mir noch immer Sorge macht, wenn ich daran zurückdenke. Als wir uns kennenlernten, habe ich mich oft gefragt, wozu dieser Mann fähig wäre, wenn es drauf ankommt. Und die Antwort war jedes Mal dieselbe: zu allem. Ich bin wirklich froh, dass er jetzt hier bei mir ist und nicht im Gefängnis.
»Du starrst mich an«, stellt er fest und es scheint ihn nicht im Geringsten zu stören.
»Hm«, mache ich unbestimmt und sehe mir seine muskulösen Schultern an, die definierten Arme in dem dunklen Shirt, und schließlich wandert mein Blick …
»Schluss jetzt.« Alex wirft sich auf mich, zieht mich in seine Arme und gemeinsam kippen wir aus der Hängematte auf den weichen Boden. Er fängt unseren Fall mit seinem Körper ab und ich habe alle Mühe, die Rose in die Höhe zu recken, damit sie nicht abknickt.
»Alex!«, tadle ich ihn und will noch mehr sagen, doch er verschließt meinen Mund mit einem leidenschaftlichen Kuss, der mir den Atem raubt. Mir wird schlagartig schwindelig und ich habe das Gefühl, dass ich fallen würde, wenn da nicht Alex wäre, der mich fest an sich drückt.
Ich brauche einen Moment, bis ich seinen Kuss erwidern kann, dann massiere ich seine Zunge mit meiner und konzentriere mich ganz auf seine Hände auf meinem Körper. Seine Berührung jagt einen Schauer über meinen Rücken und lässt mein Herz schneller schlagen.
»Ih, Alex! Was macht ihr denn da?«
Kim. Ich halte inne und lasse die Augen geschlossen. Vielleicht geht sie wieder weg, wenn wir uns ganz still verhalten.
Doch ich höre sie noch immer kichern.
Alex drückt mir noch einen Kuss auf die Lippen, bevor er sich von mir löst und aufsieht. »Du bist ein Monster, Kim.«
»Ich weiß.« Sie klingt so amüsiert, als würde sie sich ihren Lieblingscartoon im Fernsehen anschauen.
Jetzt öffne ich auch die Augen und sehe zu der Kleinen rüber. Kim ist neun Jahre alt und scheint sich noch nicht ganz entschieden zu haben, ob sie Mädchen oder Junge sein will. Sie trägt eine Latzhose und hat ein Käppi auf, unter dem ihr langes Haar komplett verborgen ist.
»Ist das Frühstück schon fertig?«, frage ich, weil mir nichts Besseres einfällt und mir die ganze Situation doch ein wenig peinlich ist. Bisher haben wir uns vor ihr immer zurückgehalten.
»Nö.«
»Geh deiner Mutter helfen. Mach ein Lagerfeuer. Spray die Wände an, klau ein Auto oder so, aber lass uns mal einen Moment in Ruhe, ja?«, sagt Alex, ehe ich ihn daran hindern kann.
»Geht klar.« Kim mustert uns beide noch einen Augenblick eingehend, dann rennt sie davon.
»Ich will nicht wissen, welchen von deinen Vorschlägen sie jetzt ausführen geht.« Ich richte mich etwas auf, aber Alex zieht mich gleich wieder an sich.
»Sie ist genau so eine Nervensäge wie ich früher. Am besten, man sperrt sie irgendwo ein und holt sie erst mit 18 wieder raus. 21. Na gut, 30.«
Ich lächle und streichle Alex über die Brust. Er liebt Kim, das weiß ich, auch wenn ich seine Sprüche manchmal etwas derb finde, in Gegenwart einer Neunjährigen. Doch sie scheint zu wissen, wie sie damit umgehen muss. Die beiden verbringen ziemlich viel Zeit miteinander. Kim interessiert sich für MMA und möchte immerzu neue Techniken von Alex lernen. Sie ist wirklich ein besonderes Mädchen.
»Wir sollten langsam ins Haus gehen. Ich hab noch was mit dir vor …«
»Was mit mir vor?«, frage ich.
Alex nickt. »Sí. Oder glaubst du, ich lasse es auf mir sitzen, dass uns Kim gerade unterbrochen hat?«
Ich muss lachen. Nein, das glaube ich natürlich nicht. Was so etwas angeht, ist er ein echter Südländer – voller Leidenschaft und Feuer.
»Hast du je etwas auf dir sitzen lassen?«, frage ich.
»Nein, aber jemanden.« Er zwinkert mir zu.
»Verstehe. Also dusche ich wohl besser hinterher.«
»Vorher, hinterher … Willst du jetzt so lange rumquatschen, bis ich dich in meine Höhle schleife?«
»Du hast es aber eilig heute«, stelle ich grinsend fest.
»Wir haben nicht viel Zeit.« Auch er grinst, aber es wirkt irgendwie verschwörerisch. »Du musst nachher weg.«
»Ich?« Perplex sehe ich Alex an. »Wo muss ich denn hin?«
»Du musst mit Harley und Patricia weg.«
»Mit deinem Onkel und Grandma? Wieso denn das?«
»Weil …« Alex sieht an mir vorbei in die Luft und ich erkenne wieder dieses Funkeln in seinem Blick. »Weil Harley ein bisschen Beschäftigung braucht. Ihr geht mit ihm … shoppen.«
Jetzt verstehe ich überhaupt nichts mehr. »Bist du betrunken?«
»Sehe ich für dich betrunken aus?« Alex bohrt seinen Blick in meinen und wieder wird mir schwindelig.
»Nein. Eigentlich nicht.«
»Vertrau mir einfach. Ihr drei fahrt ein bisschen in die Stadt und heute Abend sehen wir uns wieder. Tu mir den Gefallen. Und Megan. Sie kann eine Auszeit von ihm gebrauchen.«
Jetzt geht mir ein Licht auf. »Sie plant eine Überraschung für ihn, richtig?«
»Vielleicht.« Alex schmunzelt, packt mich an den Hüften und hebt mich von sich runter. »Aber das werde ich dir alles später erklären.«
Ich stehe auf und halte Alex die Hand hin, um ihm ebenfalls aufzuhelfen. »Ich bin gespannt.«
Ein Shoppingtrip mit Harley und Patricia. Ich gehe nicht besonders gerne einkaufen. Und Harley ist auch nicht gerade ein Fashion Victim, soviel ich weiß. Aber wenn Alex so viel daran liegt, wird er schon einen triftigen Grund haben.
Ich werde ihm also den Gefallen tun und den Nachmittag mit Shoppen verbringen.
***
Eine gute Stunde später liegen wir eng umschlungen in dem schmalen Bett im Gästezimmer. Alex’ Arme umfangen mich, ich spüre seine warme Haut auf meiner und fühle, dass ich absolut glücklich bin.
Es gibt nichts, das ich mir im Augenblick wünschen würde. Alles ist absolut perfekt.
Sechzehn Monate. So lange sind wir beide jetzt ein Paar und es kommt mir immer noch jeden Tag wie ein Traum vor, dass sich mein Leben in eine so vollkommen andere Richtung entwickelt hat, als ich geplant hatte.
Noch vor anderthalb Jahren war ich Luciana Cosentino, die Scheinfrau eines berüchtigten Mafiabosses. Ich hatte nichts anderes im Kopf, als diesen Mann und seine Familie zu Fall zu bringen. Dann trat Alex in mein Leben und wirbelte alles durcheinander. Er verfolgte genau dieselben Ziele wie ich: Er wollte Rache an Salvatore Cosentino, am ganzen Cosentino-Clan. Ich war Interpol-Agentin, er war ein Straßenkämpfer. Als ich die Wahrheit über ihn herausfand, hätte ich ihn beinahe erschossen.
Und jetzt? Jetzt lebe ich mit ihm in Puerto Rico und wünsche mir nichts mehr, als dass wir für den Rest unserer Leben zusammenbleiben.
Gott, wie kitschig dieser Gedanke ist. Es gab Zeiten, da hätte ich andere Frauen für sowas ausgelacht. Aber wenn man erstmal den Menschen gefunden hat, den Einen, mit dem man endlos reden, lachen und sogar streiten kann, bis die Fetzen fliegen, versteht man plötzlich all diese Romantikerinnen. Wenn ich einen Wunsch frei hätte, würde ich nichts anderes als das hier wollen. Nur uns, für immer.
»Bist du eingeschlafen?«, fragt Alex leise und dreht sich auf die Seite, sodass er mich ansehen kann.
Mein Kopf rutscht von seiner Brust und ich drehe mich ebenfalls um, blicke auf seinen muskulösen Oberkörper und fahre seine Tätowierungen mit den Fingern nach. Es sind einige dazugekommen in der letzten Zeit. Die Initialen seines Vaters auf seiner Brust, ein ganzes Kunstwerk aus Symbolen auf seinem Unterarm. Ich denke, das ist seine Art, mit der Vergangenheit klarzukommen. Damit abzuschließen. Seit er ein Teenager war, war sein ganzes Leben nur auf Rache und Vergeltung ausgerichtet, genau wie meines. Aber jetzt haben wir eine Zukunft ohne all das. Und wir sind beide da, um den jeweils anderen aus seinen düsteren Gedanken zu holen, wann immer es nötig ist. Wir haben beide früh Menschen verloren, die uns wichtig waren, aber jetzt haben wir uns.
Das ist das Einzige, was zählt.
»Nein«, antworte ich, auch wenn das wohl offensichtlich ist, und drücke ihm einen Kuss auf die nackte Brust.
Alex hebt die Hand und streicht mir ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht, sodass er mich ansehen kann. Ich blicke auf und erkenne, dass ein nachdenkliches Lächeln seine Lippen umspielt.
»Was ist?«, frage ich leise.
»Was soll sein, cariño?«
Mein Herz schlägt schneller, wie immer, wenn er Spanisch spricht. Das war von Anfang an so und es hat sich bis heute nicht geändert.
»Wenn du denkst, dass du mich so rumkriegst …«
Alex lacht leise, es ist mehr ein Schnauben. »Glaub mir, ich würde nichts lieber, als dich direkt nochmal rumkriegen.« Während er spricht, lässt er seine Hand an meinem Körper hinabwandern, über meine Seite bis zu meiner Hüfte. Dann zieht er mich enger an sich und ich schlinge mein Bein um ihn.
Als ich seine Männlichkeit spüre, drücke ich ihm einen Kuss auf die Lippen und erwidere leise: »Das kannst du …« Ich küsse sein Kinn, seinen Hals, beiße sanft in seine Haut und als er scharf einatmet, spreche ich weiter: »… schön vergessen, wenn ich heute noch shoppen gehen soll.«
Alex flucht und ich muss lachen.
»Jetzt würde ich am liebsten sagen, vergiss das Shoppen!«
»Aber?«, frage ich und blicke zu ihm auf.
Dieses unbestimmte Lächeln auf seinen Zügen ist wieder da. »Aber das geht nicht.«
Ich seufze theatralisch und drehe mich auf den Rücken. »Ich verstehe. Ein Mann, ein Wort, hm?«
Alex beugt sich über mich und ich lege die Hände auf seinen Rücken, spüre seinen definierten Muskeln nach. Wir trainieren oft zusammen. Er bringt mir Jiu Jitsu und Boxen bei, ich ihm Krav Maga. Seine Familie scherzt dauernd, dass man uns wohl wirklich als unschlagbares Team bezeichnen kann.
»Ich hab für dich auch ein Wort«, sagt er, beugt sich herunter und küsst mich sanft aufs Schlüsselbein.
Ich erschauere. »Und das wäre?«
»Heute Abend …« Noch ein Kuss. »… werden wir zwei jede Menge Zeit für uns haben. Versprochen.«
Ich lasse meine Finger über seinen Nacken gleiten, fahre ihm durchs kurze Haar. »Nicht nur heute Abend, hoffe ich.« Das hoffe ich wirklich, denn ich habe eine kleine Überraschung für ihn. Wenn ich daran denke, fängt mein Herz schneller an zu schlagen.
»Versprochen.«
Ich lächle und schließe die Augen, um noch für ein paar Minuten seine Nähe zu genießen, ehe ich aufstehen muss.
Sein Versprechen gefällt mir. Das, was aus meinem Leben geworden ist, gefällt mir.
Und was das Beste ist: Ich spüre, tief in meinem Inneren, dass es Alex ganz genau so geht.
Alex
Ich sehe Alessia dabei zu, wie sie vor dem Spiegel in der Diele steht und ihr langes Haar kämmt. Ich will nicht behaupten, dass sie eitel ist, aber irgendwie habe ich mir Interpol-Agentinnen anders vorgestellt. Ich hätte gedacht, sie sind morgens schnell im Bad, allzeit bereit und sowas. Aber na ja, ich habe es hier schließlich auch mit einer beurlaubten Agentin zu tun.
Eigentlich wollte Alessia ein paar Wochen, nachdem wir die Cosentinos hatten hochgehen lassen, wieder in den Dienst einsteigen. Aber ihre Bosse haben ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht. Die Ermittlungen laufen noch und es ist nicht sicher, ob nicht noch irgendwelche Verbündeten der Mafia-Familie frei herumlaufen. Solange das nicht geklärt ist, ist es besser, dass sie sich hier in Puerto Rico versteckt. Ich weiß, dass ihr das nicht passt. Mir passt dieses ewige Versteckspiel auch nicht. Aber ich kenne kaum etwas anderes und bin es seit Jahren gewöhnt, im Zeugenschutz zu leben. Alessia hingegen kommt mir manchmal vor wie eine Löwin im Käfig. Das macht aber nichts, solange ich sie gut zu beschäftigen weiß …
»Jetzt starrst du mich an«, höre ich sie sagen.
Ich blicke auf und erkenne, dass sie mich durch den Spiegel ansieht.
»Nein, ich versuche nur, an dir vorbei mein eigenes Spiegelbild zu bewundern, claro?«
Sie lacht. »Aber sicher doch. Und das befindet sich rein zufällig genau auf der Höhe meines Hinterns, was?« Spielerisch lässt sie die Hüften kreisen und ich würde mich echt zu gerne davon ablenken lassen. Doch das geht jetzt leider nicht, denn ich habe heute etwas sehr Wichtiges vor.
»Nicht, dass mich der Anblick stört, aber bist du bald mal fertig? Ihr müsst los«, sage ich.
»Ich seh schon, du willst mich loswerden«, seufzt sie. »Soll ich das Haus nach deiner Geliebten absuchen?«
»Ist das nötig?« Ich komme näher, bleibe hinter ihr stehen und lege meine Arme um ihre schmale Taille. »Habt ihr Italienerinnen nicht ein Gespür für sowas?«
Alessia mustert mich skeptisch durch den Spiegel, dreht sich in meinem Griff zu mir um und sieht mir in die Augen. »Falsche Antwort. Du hättest sagen sollen: Ich habe keine Geliebte und werde auch nie eine haben.«
Obwohl ich über den Zorn in ihrem Blick grinsen muss, beschließe ich, ihr eine ernsthafte Antwort zu geben. Ich drücke ihr einen Kuss auf die Stirn, dann sage ich, dicht an ihrem Ohr: »Si supieras lo mucho que significas para mi, entenderías que nunca mas tendré otro amor que no seas tú.«
»Warum sagst du die romantischen Sachen immer auf Spanisch?«, fragt Alessia leise.
»Damit du Spanisch lernst.«
»Lern du doch Italienisch.«
»Irgendwann vielleicht.« Wenn sie wüsste, dass ich längst damit begonnen habe.
Sie blickt zu mir auf. »Verrate mir, was du da gerade gesagt hast«, fordert sie.
Ich schüttle langsam den Kopf. »Das musst du schon selber herausfinden.«
Ich habe ihr gesagt, dass ihr klar wäre, dass ich nie wieder eine andere Geliebte haben werde, wenn sie wüsste, was sie mir bedeutet. Natürlich, ich könnte es ihr übersetzen, aber so leicht mache ich es ihr nicht.
Ehe ich auch nur daran denken kann, sie abzuwehren, klatscht ihre Faust gegen meine Brust. »Raus mit der Sprache.«
Ich lache und hebe die Hände. »Überleg dir gut, ob du dich tatsächlich mit mir anlegen willst. Du weißt, dass mich keiner besiegen kann.«
Alessia setzt zu einer Antwort an, doch jemand anders ist schneller.
»Du irrst dich«, sagt Harley, mein Onkel, von der Haustür aus. »Mich kann keiner besiegen.«
Ich verdrehe die Augen. Ja, sein MMA-Kampfname war Der Unbesiegte. Aber das ist Jahre her und er arbeitet längst wieder als Cop, nicht mehr als Fighter. Wann wird er endlich aufhören, darauf herumzureiten?
»Ich könnte dich locker besiegen«, erwidere ich und Alessia lacht.
»Großkotzig wie immer, so kennt man dich«, kommentiert sie, küsst mich kurz zum Abschied und lässt mich los.
Ich sie aber nicht. Stattdessen ziehe ich sie wieder an mich und erwidere: »Was war das denn für ein Grundschüler-Kuss?«
»Du hast also in der Grundschule schon rumgeknutscht, hm?«, fragt sie, aber dann stellt sie sich auf die Zehenspitzen und ich nehme ihr Gesicht in die Hände, um ihr einen anständigen Abschiedskuss zu geben.
Harley schüttelt den Kopf. »Leute, nur damit ihr euch das klarmacht – ihr seht euch in ein paar Stunden wieder.«
Damit geht er an uns vorbei, wahrscheinlich um Patricia zu holen.
Ich löse meine Lippen von Alessias und sehe in ihre dunklen Augen. »Mach keinen Unsinn da draußen.«
»Mach du keinen Unsinn«, gibt sie zurück, löst sich von mir und schnappt sich ihre Handtasche.
Ich sehe ihr schmunzelnd nach. Ich glaube schon, dass es in ihren Augen ziemlicher Unsinn ist, was ich vorhabe. Schließlich sind wir gerade einmal seit sechzehn Monaten zusammen. Aber ich bin mir sehr sicher, dass ich trotzdem das Richtige tue. Bei solchen Dingen muss man sich auf sein Gefühl verlassen.
»So, ich bin auch endlich so weit!« Mit diesen Worten kommt Patricia aus dem Wohnzimmer, mit Harley im Schlepptau. Sie ist die Mutter von Harleys Frau Megan, aber für mich war sie immer wie eine Großmutter. Und auch jetzt, als sie mich so verräterisch anstrahlt, dass Alessia eigentlich direkt kapieren müsste, was Sache ist, kommt sie mir vor wie eine typische Grandma.
»Hach ja, ist das aufregend«, sagt sie und Alessia runzelt die Stirn.
Wahrscheinlich fragt sie sich, wie jemand so enthusiastisch sein kann, wenn es um ein bisschen Shopping geht. Möglicherweise versucht sie aber auch sich auszumalen, was Megan für Harley wohl für eine Überraschung plant. Wenn sie wüsste.
»Also, Mädels, seid ihr so weit?« Harley zieht seine ausgetretenen Boots an und hält mir über die Frauen hinweg die Hand hin.
Ich werfe ihm meinen Autoschlüssel zu und Alessias Blick wird jetzt noch fragender.
»Warum nehmen wir deinen Wagen?«
»Weil ich …« Shit. Die Wahrheit ist, dass ich Harleys deutlich größeres Auto gleich brauchen werde, um ein paar Dinge zu transportieren. Aber das kann ich ihr schlecht sagen.
»Weil ich keine Lust hab, mich mit dem Pick-up durch den Stadtverkehr zu quälen«, springt Harley ein.
»Sí, das wollte ich sagen.«
Alessia nickt langsam und glaubt uns offensichtlich kein Wort.
Glücklicherweise hakt Patricia sich bereits bei Alessia unter und ruft: »Auto hin oder her, wir machen uns jetzt ein paar schöne Stunden! Ich will unbedingt noch ein Eis in der Stadt essen, bevor die Touristenzeit beginnt und man dort wieder kein Bein auf den Boden bekommt!«
Damit zieht sie Alessia auch schon zur Tür.
Ich zeige Harley den erhobenen Daumen und er zwinkert mir zu, dann wendet er sich ebenfalls ab.
An der Tür dreht sich Alessia nochmal zu mir um und ein herausforderndes Lächeln umspielt ihren Mund. Sie beißt sich kurz auf die Unterlippe, ehe sie sagt: »Anche se è sciocco, perché ti rivedrò già presto, mi mancherai.«
Damit verlässt sie an Patricias Seite das Haus und Harley folgt den Frauen mit einem Schulterzucken.
»Hey!«, rufe ich und laufe hinterher zur Tür. »Was hieß das, he?«
»Lern doch Italienisch!«, erwidert Alessia und ich sehe ihr ungläubig nach, wie sie mit wehenden Haaren die Verandastufen hinabläuft und auf den schmalen Weg einbiegt, der von der Plantage führt.
Die Frau macht mich fertig. Ich versuche mich an den Satz zu erinnern, um ihn mir selbst zu übersetzen. Aber sehr weit komme ich mit meinen Italienischkenntnissen noch nicht. Irgendwas, auch wenn ich dich wiedersehe …
Nein, keine Chance. Sie wird es mir später verraten müssen.
Ich höre mich selbst lachen, schüttle den Kopf und gehe zurück ins Haus. »Seid ihr so weit?«, rufe ich. »Die Luft ist rein!«
Sofort kommen meine Mutter, ihr Mann Juan, Megan und Kim in die Diele. Megan hat schon ihr Kleid dabei und Kim fragt: »Muss ich echt auch so ein Teil anziehen?«
»Sí, heute müssen wir alle besonders schick sein«, antwortet Juan und sieht mich an. »Nicht wahr. Alex?«
Ich atme tief durch und nicke. Mir wird klar, dass es jetzt losgeht.
Also schön. Dann wollen wir mal.
Alessia
Ich lasse den seidigen Stoff durch die Finger gleiten und bewundere, wie leicht und fließend er sich anfühlt.
»Probier es an«, sagt eine Stimme hinter mir und ich drehe mich zu Harley um. Er steckt in einem schicken dunklen Anzug, dessen weißes Hemd ein Stück weit offen steht. Er ist groß, durchtrainiert und hat blaue Augen wie Alex, allerdings viel heller. Früher, als ich über die Jones-Familie recherchiert habe, habe ich gelesen, dass sein kalter Blick im Käfig jeden Gegner eingeschüchtert haben soll. Jetzt gerade allerdings wirkt er überhaupt nicht kühl. Lächelnd deutet er auf das auberginefarbene Kleid, das ich anstarre, seit er in der Kabine verschwunden ist.
»Der Anzug ist toll«, sage ich. Alex hat mir aufgetragen, dass ich Harley dazu bringen soll, einen Anzug zu kaufen und ihn direkt anzubehalten. Wie ich das unauffällig machen soll, ist mir ein Rätsel, aber ich glaube, Harley ahnt sowieso schon etwas von Megans Überraschung, denn er grinst die ganze Zeit so komisch. »Du solltest ihn gleich anlassen.«
»Und du solltest dieses Kleid anprobieren.«
»Ich weiß nicht …« Ich trete einen Schritt zurück und betrachte es eingehend. Es ist bodenlang und hat Off-Shoulder-Ärmel, die ihm etwas Märchenhaftes verleihen.
Wow, Off-Shoulder. Ich habe mir wohl doch noch den einen oder anderen Begriff aus der Zeit gemerkt, als ich Salvo Cosentinos Frauchen spielte und hauptberuflich in Zeitschriften blätterte. Ich muss schmunzeln. Das war so ein vollkommen anderes Leben damals …
Ich sehe mir das Kleid weiter an. Um die Taille herum wird es eng und das Dekolleté ist nahezu züchtig im Gegensatz zu dem gewagten Ausschnitt am Rücken. Es ist wunderschön, aber ich sehe keinen Grund es anzuprobieren, denn ich werde es mir so oder so nicht kaufen. Zumindest fällt mir spontan kein Anlass ein, an dem ich es tragen könnte. Andererseits hat Alex heute Mittag, als wir aufgebrochen sind, gesagt, ich soll Harley so lange es geht beschäftigen, weshalb ein Abstecher in die Umkleide nicht schaden kann, denn wir haben erst halb sechs.
»Jetzt mach schon. Alex hat gesagt, ich soll dir was Schönes von ihm kaufen.«
Ich runzle dir Stirn. Wieso sollte Alex das gesagt haben?
Ehe ich nachhaken kann, kommt Patricia aus einer der Kabinen und ich staune nicht schlecht, als ich sehe, dass sie ebenfalls ein schickes Abendkleid trägt. Ihres ist aus dunkelgrüner Spitze, liegt eng an ihrem schlanken Körper an und lässt sie so elegant aussehen wie eine Hollywood-Diva.
»Wow, du siehst toll aus!«
Patricia lächelt verschmitzt und deutet auf den Traum in Lila vor mir. »Und du siehst darin sicher ganz wunderbar aus, meine Liebe. Probier es doch mal an.«
Okay. Irgendwas geht hier vor sich. Das wird mir so langsam klar, denn die beiden verhalten sich wirklich seltsam. Was haben Megan und Alex – mittlerweile bin ich mir sicher, dass die zwei zusammen etwas aushecken! – vor?
Also schön. Wenn Alex wirklich 650 Dollar für ein Kleid ausgeben möchte, dann kann er das gerne haben. Kurzerhand nehme ich das Abendkleid von der Stange und steuere damit die Umkleide an.
»Sehr schön«, sagt Patricia und wirkt überaus zufrieden.
Ich schließe den Vorhang hinter mir, ziehe mich bis auf die schwarze Spitzenwäsche aus und betrachte mich im Spiegel. Meine Haut ist gebräunt und ich sehe gesünder aus, als es noch vor einem Jahr der Fall war. Kein Wunder. Ich habe mich für das erste Treffen mit Salvatore Cosentino runtergehungert, um das perfekte Modepüppchen abzugeben. In seiner Gegenwart habe ich gegessen wie ein Spatz und auf den Sport musste ich auch größtenteils verzichten. Wenn man eine falsche Identität annimmt, um einen Verbrecher auffliegen zu lassen, darf man sich keinen Angriffspunkt leisten.
Behutsam, als wäre es ein rohes Ei, befreie ich das Seidenkleid von seinem Bügel und schlüpfe hinein. Ich ziehe es über die Hüften und meine Brüste und bin überrascht, wie gut sich der glatte Stoff auf meiner Haut anfühlt. Der Reißverschluss befindet sich an der Seite, sodass ich keine Hilfe beim Anziehen brauche. Ich ziehe ihn zu und spüre, wie die Seide meinen Körper umschmeichelt wie eine zweite Haut. Ich drehe mich leicht. Das ausgestellte Unterteil gibt ein leises Rascheln von sich und fliegt um meine Beine.
Ich wende mich wieder dem Spiegel zu und lege mir die schwarzen Haare über die Schultern. Das Kleid sieht einfach großartig aus. Alex wird es lieben. Auch wenn ich immer noch keinen Schimmer habe, wo ich so ein teures und elegantes Kleid jemals tragen soll.
Ich greife in mein Dekolleté und hole die schmale Silberkette heraus, die mir Alex zu unserem Halbjährigen vor zehn Monaten geschenkt hat. Sie ist dünn und elegant und hat einen kleinen Anhänger in der Form eines Ankers. Ein Symbol für Vertrauen, wie Alex mir gesagt hat – weil wir es geschafft haben, einander von Anfang an irgendwie zu vertrauen, obwohl wir beide zuerst nicht wussten, wer der andere wirklich ist.
»Bist du fertig, Liebes?« Patricia klingt ein bisschen ungeduldig.
Das ist nicht verwunderlich, denn schließlich trödle ich ziemlich herum, da ich Harley ja beschäftigen soll. Langsam gehen mir die Ideen aus, jetzt, wo wir alle ein Outfit für was auch immer haben.
Ich lächle und trete trotzdem endlich nach draußen.
Sowohl Harley als auch Patricia bleibt der Mund offenstehen und mein Lächeln wird noch breiter.
»Das ist einfach zauberhaft! Bleib so, genau so!« Patricia wedelt mit der Hand in Harleys Richtung. »Nun gib mir doch mal deinen Fotoapparat, Junge.«
Harley grinst, holt sein Smartphone aus der Tasche und gibt es ihr. »Du hast selber ein Telefon mit Fotofunktion, Patricia.«
»Bei meinem finde ich diesen dusseligen kleinen Knopf aber nie.«
Harley zwinkert mir zu.
Ich muss lachen und da schießt Patricia auch schon ein Foto von mir.
»Grandma«, nörgle ich. Sie weiß genau, dass ich ungerne fotografiert werde. »Schickst du es Alex?«
»Wir wollen ihm doch nicht die Überraschung verderben.« Sie gibt Harley das Handy zurück. »Das Bild ist nur eine Erinnerung an den Moment davor«, sagt sie kryptisch.
»Davor?« Ich runzle dir Stirn.
»Bevor er dich darin sieht.« Harley packt mich an den Schultern, dreht mich herum und schiebt mich zurück in Richtung Kabine. »Hol deine Sachen, wir müssen jetzt los.«
»Du meinst, ich soll mich umziehen und –«
»Nein, nein, zum Umziehen ist keine Zeit mehr. Wir bleiben alle drei so.«
Keine Zeit mehr?
Während ich langsam zurück in die Kabine gehe und meine Klamotten hole, dämmert mir allmählich, dass die geplante Überraschung ganz und gar nichts mit Megan und Harley sondern mit Alex und mir zu tun haben muss. Die ganze Jones-Familie ist nicht gerade besonders geschickt darin, etwas zu verbergen. Ich höre Harley und Patricia draußen tuscheln, verstehe aber kein Wort. Bis auf seinen Namen. Alex, beziehungsweise Dale, wie Patricia ihn als Einzige immer noch nennt.
Er hat etwas geplant. Da bin ich mir ganz sicher. Und wenn ich mir unsere Garderobe so ansehe, kann es nur eins sein.
Meine Kehle fühlt sich mit einem Mal wie zugeschnürt an und mein Herz schlägt schneller. Was ist, wenn Alex mir …? Ich wage den Gedanken gar nicht zu Ende zu denken. Und doch schleicht sich ein Wort in mein Unterbewusstsein.
Hochzeit.
Schon wieder dieses Wort. Schon das zweite Mal heute.
Was ist, wenn Alex mich fragt? Wenn er mir einen Antrag macht.
Was würde ich antworten?
Mein Herz schlägt noch eine Spur schneller, als mir klar wird, dass ich vermutlich ja sagen würde. Alex ist der Mann, den ich liebe. Der Einzige, für den ich je so empfunden habe. Ich kann mir niemand anderen als ihn vorstellen, mit dem ich meine Zukunft verbringen will.
Ich werfe einen letzten Blick in den Spiegel und atme noch einmal tief durch. Auf einmal bin ich so aufgeregt, dass ich am liebsten davonlaufen will. Doch sofort wird mir klar, dass es nur einen Menschen gibt, zu dem ich laufen würde, und das ist Alex.
Und damit ist auch der letzte Rest Unsicherheit aus meinem Inneren verschwunden.
Ich fühle mich bereit und verlasse die Kabine.