Kapitel 1 – Smaragdgrün
Bitterkalter Wind blies mir ins Gesicht, legte sich eisig auf meine Wangen und hinterließ ein unangenehmes Brennen auf meiner Haut. Die Gondel hatte uns sicher wieder ins Tal gebracht und unsere Ausrüstung fand ihren Weg zurück zum Skiverleih. Es dämmerte bereits, während Katelyn und ich die wenigen Minuten zum St. Regis Aspen Resort liefen. Die Straßenlaternen erhellten die schneebedeckten Straßen, warfen ihr orangerotes Licht auf das glitzernde Weiß und die umliegenden Villen, die in der winterlichen Atmosphäre noch luxuriöser wirkten.
»Verflucht, ist das kalt! Ich brauche dringend ein heißes Bad«, sagte meine beste Freundin bibbernd. Ihr Atem tanzte wie feiner Nebel vor ihrem Gesicht und ihre Lippen zitterten. Mühsam zog sie ihre fellbesetzte Mütze tiefer in die Stirn. Dann ließ sie ihre Handschuhe in den großen Taschen ihrer weißen Daunenjacke verschwinden.
»Ich hätte Hawaii vorgezogen«, murmelte ich leise. Kat verdrehte die Augen – typisch. Sie war unglaublich stur und hatte es geschafft, mich zu einem gemeinsamen Urlaub in einem überteuerten Skiresort zu überreden. Die sommerliche Hitze an einem exotischen Strand wäre mir eindeutig lieber gewesen.
»Sonne haben wir in San Francisco mehr als genug, Celeste. Nahezu die Hälfe des Jahres, und Strände gibt es dort auch.«
Ich seufzte resigniert, während wir weiter durch den Schnee stapften. Kats Unnachgiebigkeit konnte bisweilen anstrengend sein, aber sie war meine beste Freundin. Letztlich war ich ihr dankbar, dass wir diesmal einen typischen Winterurlaub gebucht hatten, anstatt wie üblich in die Karibik zu fliegen und nichts weiter zu tun, als am Strand herumzuliegen. Aspen war vom ersten Tag an einfach himmlisch gewesen. Wir waren auf unseren Skiern die Pisten hinabgesaust, hatten Champagner im blubbernden Whirlpool genossen und uns sogar eine Hot-Stone-Massage gegönnt. Der einzige Wermutstropfen war, dass unser sündhaft teurer Urlaub ein ziemlich großes Loch in mein Portemonnaie gefressen hatte, aber daran wollte ich an unserem vorletzten Tag in Aspen nicht denken.
»In einer Stunde im Restaurant?«, fragte Kat, als wir zurück im Hotel waren. »Ich habe gehört, dass die Mousse au Chocolat ein Gedicht sein soll.«
Ich seufzte leise. Die letzten Stunden auf den eisigen Skipisten waren anstrengend gewesen und meine Beine schmerzten allmählich, aber ich freute mich dennoch auf ein gemütliches Abendessen, um den Tag ausklingen zu lassen.
»Klar«, sagte ich und spürte bereits ein leichtes Hungergefühl. Wir betraten das Foyer des Hotels und steuerten auf einen der Aufzüge zu, dessen Türen sich sogleich öffneten.
»Super. Bis später«, erwiderte Kat, als wir unser Stockwerk erreichten. Unsere Zimmer lagen nur wenige Meter voneinander entfernt. Ich lief auf meine Tür zu und steckte die Karte ins Schloss. Die wohlige Wärme des Raumes umfing mich, während ich mich aus meinen Winterklamotten schälte und mich völlig erschöpft auf das weiche Kingsize-Bett fallen ließ. Müde schloss ich die Augen und lauschte dem Pfeifen des Windes, der sich gegen die bodentiefen Fenster drückte. Kurz darauf erhob ich mich widerwillig von der gemütlichen Matratze, kickte meine Klamotten mit dem Fuß in den begehbaren Kleiderschrank, ehe ich nach meinem schwarzen, rückenfreien Cocktailkleid griff. Eines der wenigen Designerstücke, die ich besaß. Schwarze Pumps und eine paillettenbesetzte Clutch rundeten mein Outfit ab. Ich bürstete mir ein paar Mal durchs Haar, das ich offen ließ, sodass es in leichten Wellen über meine Schultern fiel. Anschließend tuschte ich mir mit schwarzem Mascara die Wimpern, bevor ich noch einen letzten prüfenden Blick in den Badezimmerspiegel warf.
***
Im Hotelrestaurant angekommen ließ ich meinen Blick über die vollbesetzten Tische schweifen. Von Kat keine Spur. Unsere Verabredung würde sie mit Sicherheit nicht versäumen, dafür hatte sie vorher zu sehr von der Mousse geschwärmt. Gedämpfte Stimmen, das Klirren von Champagnergläsern und leise klassische Musik erfüllten die großzügige Räumlichkeit. Kellner, die den Gästen jeden Wunsch von den Augen ablasen, schwirrten umher. Ich steuerte auf die Hotelbar zu, nahm auf einem der schwarzen Lederhocker Platz und studierte die Weinkarte. Bei den Preisen wurde mir schwindelig. Das Hotel führte offenbar nur sehr erlesene Weine aus kalifornischen Anbaugebieten. Ich legte die Karte beiseite und schon kam der Barkeeper mit einem freundlichen Lächeln auf mich zu und erkundigte sich nach meinem Wunsch.
»Ein Glas Chardonnay, bitte«, sagte ich. Er nickte freundlich und griff nach einem Weinglas.
Der Weißwein schmeckte ausgezeichnet und hinterließ eine süßliche Note auf meiner Zunge. Ich nippte daran, während ich über die Tische hinwegsah und aus dem Panoramafenster hinaus einen Blick auf die abendliche Winterlandschaft warf. Das riesige Fenster ermöglichte einen fantastischen Ausblick auf das glitzernde Weiß, das sich ringsherum wie ein dicker Teppich über die Bäume und den gepflegten Steingarten des Hotels gelegt hatte. Kat war immer noch nicht da. So wie ich sie kannte, stand sie gerade völlig überfordert vor ihrem geöffneten Kleiderschrank – ein Umstand, der ihrem viel zu vollgepackten Koffer geschuldet war. Sie hatte mehr Klamotten mitgenommen, als sie eigentlich anziehen konnte.
Ich zückte mein Portemonnaie und legte einen Zwanzig-Dollar-Schein auf den Tresen, ehe ich von meinem Hocker rutschte. Unter der kuppelförmigen Glasfront waren nur noch zwei Tische frei und ich wollte unbedingt am Fenster sitzen. Ich senkte den Blick auf meine Clutch, um mühsam meine Geldbörse zurück in die kleine Tasche zu zwängen. Plötzlich prallte ich unsanft gegen eine breite Männerbrust und geriet ins Straucheln. Der Unbekannte reagierte blitzschnell, umfasste mit beiden Händen meine Taille und verhinderte meinen Sturz.
Nachdem ich mein Gleichgewicht wiedergefunden hatte und sicher auf meinen hohen Absätzen stand, blickte ich zu ihm auf. Seine smaragdgrünen Augen sorgten für den Hauch eines Augenblicks dafür, dass ich vollständig in ihnen versank. Sie strahlten eine Faszination aus, die mich nahezu bewegungsunfähig zurückließ, während ein winziger Teil in mir versuchte, sich seiner verführerischen Ausstrahlung zu entziehen.
»Verzeihung. Wie ungeschickt von mir«, stammelte ich und schaffte es endlich, den Druckknopf meiner Tasche zu schließen. Seine rechte Hand lag noch immer auf meiner Hüfte. Ich spürte seinen Daumen auf der nackten Haut meines Rückens und versuchte die prickelnde Wärme zu ignorieren, die seine Berührung hinterließ.
»Die meisten Frauen, die mir in die Arme fallen, entschuldigen sich nicht dafür«, erwiderte er mit einem sanften Lächeln. Seine Augen blitzten erwartungsvoll, während er mich eingehend betrachtete. Für den Bruchteil einer Sekunde erkannte ich das Begehren hinter seinem Blick, der die ganze Zeit auf mir ruhte. Er war auffallend attraktiv, nicht nur wegen seiner außergewöhnlichen Augenfarbe. Ein schmales Kinn, volle Lippen und ebenmäßige helle Haut, die einen starken Kontrast zu seinen glänzenden dunklen Haaren bildete.
Vermutlich stellten sich nicht viele so dämlich an wie ich und liefen direkt in ihn hinein. Es sei denn, sie taten es mit voller Absicht. In seinem schmalgeschnittenen mitternachtsblauen Designeranzug sah er aus, als wäre er einem Modemagazin entsprungen. Der Stoff spannte sich über seine durchtrainierten Arme.
Ich wandte mich ab, um seinen verführerischen Blicken zu entgehen, die mir tief unter die Haut gingen und eine Wärme erzeugten, die ich kaum ignorieren konnte. Dass auch ich ihm gefiel, war mehr als offensichtlich. Dennoch hatte ich kein Interesse an einem belanglosen Flirt und sehnte mich nach dem anstrengenden Nachmittag auf den Skipisten rund um Aspen nach einem gemütlichen Abendessen – ohne ihn.
»Darf ich dich zum Essen einladen?«, fragte er freundlich, als hätte er meine Gedanken gelesen, und deutete auf den letzten freien Tisch mit Blick auf das winterliche Bergpanorama.
»Tut mir leid. Ich bin verabredet«, antwortete ich und blickte nervös an der Bar vorbei in Richtung Foyer. Kat ließ sich immer noch nicht blicken.
»Vielleicht möchte sich deine Begleitung ja zu uns setzen.«
Er ließ nicht locker – offenbar hatte er noch nie zuvor einen Korb bekommen. Aber welche Frau würde einem Mann, der aussah, als schmückte er die Titelseiten sämtlicher Fashionmagazine, eine Abfuhr erteilen? Ich spürte erneut die hauchzarte Berührung seines Daumens auf meinem Rücken, dann löste er sich von mir und drehte sich um, als wäre er sich sicher, dass ich ihm folgen würde.
»Ich denke, ich sollte jetzt besser gehen«, erwiderte ich und spürte Unsicherheit in mir aufsteigen. Er blieb stehen, drehte sich wieder zu mir um. Die Enttäuschung war ihm deutlich anzusehen. Er bemühte sich nicht, sie vor mir zu verbergen.
»Schade. Es hätte ein so schöner Abend werden können …«
Seine Stimme war sanft und trug den Hauch prickelnder Erwartung in sich, die mich meine Bedenken augenblicklich vergessen ließ. Denn im Grunde ging es mir wie ihm: Er hatte meine Neugier geweckt, und ich kam nicht umhin, mir einzugestehen, dass ich ihn näher kennenlernen wollte.
Mit weichen Knien folgte ich ihm, was ein zufriedenes Lächeln auf seinen vollen Lippen erzeugte. Was tat ich hier eigentlich? Kat würde mit Sicherheit der Mund offenstehen, wenn sie mich mit ihm sah. Zumal sie gerade eine gescheiterte Beziehung hinter sich hatte und Männer derzeit ganz unten auf ihrer Prioritätenliste standen – ebenso auf meiner. Unsere Zeit in Aspen hatte ein entspannter Freundinnenurlaub werden sollen. Männerbekanntschaften waren definitiv nicht vorgesehen, schon gar nicht mit Exemplaren, die verdammt attraktiv waren und einem ohnehin nur das Herz brachen.
Ich setzte mich ihm gegenüber und angelte nach der Weinkarte. Als ich die Auswahl studierte, spürte ich seine Blicke auf mir. Das smaragdgrüne Schimmern war so intensiv, dass es mir jedes Mal, wenn unsere Blicke sich trafen, tief unter die Haut ging. Etwas, dessen er sich mit Sicherheit bewusst war. Nervös senkte ich meine Lider und verbarg mein Gesicht hinter der Karte. Da Alkohol und attraktive Männer jedoch eine ausgesprochen gefährliche Kombination waren, entschied ich mich für ein Glas Wasser, als der Kellner an unseren Tisch kam und sich nach unserer Bestellung erkundigte. Er nahm die Weinkarte an sich, überreichte mir die Speisekarte und ließ uns wieder allein.
Während ich so tat, als würde ich mich ausschließlich für die kulinarischen Köstlichkeiten der Hotelküche interessieren, bemerkte ich den in einen schwarzen Anzug gekleideten Mann, der unweit von unserem Tisch entfernt stand und immer wieder zu uns herübersah. Mit seinen breiten Schultern und dem ausdruckslosen Gesicht wirkte er wie ein Bodyguard, der sich eigentlich unauffällig im Hintergrund halten sollte. Doch seine imposante Erscheinung machte es nahezu unmöglich, ihn zu übersehen. Die Kellner quetschten sich mit prallgefüllten Tellern an ihm vorbei, um zu den Tischen zu gelangen, doch er machte keine Anstalten beiseitezutreten.
Ein unangenehmes Gefühl breitete sich in mir aus. Mit jeder Sekunde, die verstrich, wuchs der Wunsch in mir, den Abend so schnell wie möglich zu beenden und das Restaurant zu verlassen. Einen Augenblick später kehrte der Kellner an unseren Tisch zurück und durchkreuzte mein Vorhaben. Überfordert bestellte ich die erstbeste Pasta, die ganz oben aufgelistet war, während meine geheimnisvolle Begleitung dankend ablehnte und es bei einem Glas Wein beließ.
»Verbringst du deinen Urlaub hier?«, fragte er interessiert, nachdem der Kellner wieder außer Hörweite war, und nahm einen Schluck von seinem Rotwein. Er schien mir nicht der Typ für Smalltalk zu sein, umso mehr verwunderte mich seine Frage.
»Ja, zusammen mit einer Freundin.«
Ich blickte unauffällig auf meine Armbanduhr. Kat war bereits mehr als dreißig Minuten zu spät.
»Und du …? Bist du beruflich hier?«, fragte ich ihn beiläufig.
Mit seinem gepflegten Erscheinungsbild wirkte er für mich wie ein typischer CEO eines erfolgreichen Unternehmens. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass er einen teuren Designeranzug in seiner Freizeit trug. Vermutlich hatte er sich im Restaurant zu einem Geschäftsessen verabredet und ebenso wie ich an der Bar gewartet.
Kurz darauf kehrte der Kellner mit meiner Pasta aus der Küche zurück, stellte sie vor mir ab und erkundigte sich, ob wir getrennt zahlten. Mein geheimnisvolles Date verneinte dies mit einem charmanten Lächeln und schrieb unauffällig seine Zimmernummer auf einen Zettel. Es war mir unangenehm, dass er meine Rechnung übernehmen wollte. Doch nun war es zu spät, seine Einladung auszuschlagen.
»Privat«, erwiderte er knapp und setzte unsere Unterhaltung fort, nachdem der Kellner uns wieder alleingelassen hatte. »Manchmal tut es gut, sich eine Auszeit zu nehmen.«
Der geheimnisvolle Unterton in seiner Stimme machte mich neugierig. Ich erwiderte seinen Blick, probierte von meiner köstlich duftenden Trüffeltagliatelle, während ich das Gefühl, ihn schon einmal irgendwo gesehen zu haben, nicht loswurde. Vermutlich war er schon mehrmals auf der Titelseite von irgendeinem Hochglanzmagazin gewesen. Gedanklich ging ich einige der großen amerikanischen Firmen durch und überlegte fieberhaft, ob ich ihm schon einmal irgendwo begegnet war. Als Journalistin beim San Francisco Chronicle hatte ich auch mit Führungskräften einflussreicher Konzerne zu tun gehabt, wenn ich meine Artikel für den Wirtschaftsteil der Zeitung verfasst hatte. Sein himmlisch schönes Lächeln riss mich aus meinen Gedanken. Ihm war nicht entgangen, dass ich ihn so nachdenklich gemustert hatte. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte ich, hinter seinem Lachen, den Flirtversuchen und der geheimnisvollen Fassade so viel mehr zu erkennen. Einen kurzen Moment lang wünschte ich mir, tief in sein Innerstes blicken zu können.
»Warum kommst du mir so bekannt vor?«, fragte ich leise, in der Hoffnung, sein Schweigen zu brechen, um mehr über ihn zu erfahren.
Er lachte. »Du gehörst zu den wenigen Frauen, die mich nicht erkennen. Die nicht sofort wissen, wer ich bin …«, erwiderte er und stand auf. Meine Ahnungslosigkeit schien ihn gleichermaßen zu verwundern und zu erfreuen. Er kam einen Schritt auf mich zu und beugte sich zu mir hinunter. Ich spürte seinen warmen Atem auf meiner Haut. Seine unerwartete Nähe versetzte meinen Puls augenblicklich in einen Ausnahmezustand.
»… und das macht dich nur noch interessanter«, hauchte er leise, streifte mit seinen Lippen kaum spürbar meinen Hals und ließ dann von mir ab. Er wartete nicht auf meine Zustimmung, sich mir erneut nähern zu dürfen, sondern griff elegant nach meiner Hand. Sein zarter Handkuss ließ ein unerwartetes Prickeln auf meiner Haut zurück.
»Ich muss jetzt gehen«, sagte er, drehte sich um und ließ mich allein. Das wärmende Gefühl seines zarten Kusses breitete sich von meiner Hand unaufhaltsam über meinen ganzen Körper aus, während er das Restaurant gemeinsam mit seinem Bodyguard verließ, der ihm wie ein Schatten in Richtung Foyer folgte.
Kapitel 2 – Verwirrende Träume
Das Brennen auf meinem Handrücken ignorierend, kehrte ich ins Foyer zurück, stieg in einen der Aufzüge und betätigte den Knopf für die zweite Etage. Sein plötzliches Verschwinden ließ mich gleichermaßen verwundert und enttäuscht zurück und machte meine Hoffnung, mehr über ihn herauszufinden, vollends zunichte. In den letzten Jahren hatte ich das ein oder andere Date gehabt, aber noch nie hatte sich einer der Männer so geheimnisvoll verhalten. Meine Unwissenheit um seine Identität hatte ihm gefallen. Ich vermutete, dass er den Abend so abrupt beendet hatte, weil er befürchtete, dass ich ihn erkennen könnte, sobald er mir mehr über sich erzählte.
Die Tür des Lifts schloss sich im Zeitlupentempo hinter mir, bevor der Aufzug langsam nach oben fuhr. Ich drückte meinen Rücken gegen die holzvertäfelte Wand und blickte nachdenklich auf den mit Teppich ausgelegten Fußboden. Wer war er? Und – was viel wichtiger war – was hatte er mit mir gemacht, dass ich so außergewöhnlich stark auf seine Nähe reagierte? Fragen, die plötzlich zeitgleich durch meine Gedanken schossen und mich ausnahmslos überforderten.
Der Lift hatte sein Ziel erreicht, öffnete die Tür mit einem fast geräuschlosen Pling und ließ mir keine Zeit zum Nachdenken. Vor Kats Zimmertür atmete ich tief durch und klopfte gegen das dunkle Holz. Ein schlurfendes Geräusch war von der anderen Seite der Tür zu hören, dann öffnete sie sich mit einem leisen Klicken. Ich blickte in Kats verwundertes Gesicht. Sie trug einen flauschigen Hotelbademantel und hatte ihre frischgewaschenen Haare hochgesteckt.
»Wo warst du?«, erkundigte ich mich zähneknirschend. »Ich habe über eine halbe Stunde im Restaurant auf dich gewartet.«
Sie öffnete die Tür ein Stück weiter, packte mein Handgelenk und zog mich in ihr Zimmer.
»Sah nicht so aus, als hättest du mich vermisst«, entgegnete sie und klang irgendwie ein wenig beleidigt. Kat drehte mir den Rücken zu, ging zu ihrem Kingsize-Bett und setzte sich im Schneidersitz darauf. »Du hast mir gar nicht erzählt, dass du ein Date mit einem heißen Typen hast. Als ich euch zusammen gesehen habe, bin ich mir ein wenig überflüssig vorgekommen.«
Sie war beleidigt – eindeutig. Ich spürte, wie meine Wangen heiß wurden und kaute auf meiner Unterlippe herum, um meine Verlegenheit zu überspielen.
»Das war überhaupt kein richtiges Date. Ich habe an der Bar auf dich gewartet und bin dann in ihn reingerannt, als ich mich an einen der Tische im Restaurant setzen wollte, und er hat mich gefragt, ob er mich zum Essen einladen darf. Vergiss den Kerl einfach.«
Kat sah mich entgeistert an, als hätte ich soeben etwas absolut Unmögliches von ihr verlangt.
»Ich soll ihn vergessen? Ernsthaft?«, stieß sie hervor. Ich nickte. Nach seinem sonderbaren Verschwinden erwartete ich nicht, ihn noch einmal wiederzusehen. Das Geheimnis, das er um seine Identität machte, war mir suspekt, und die Tatsache, dass er offensichtlich ein Celebrity war, lieferte mir nur einen zusätzlichen Grund, mich von ihm fernzuhalten.
»Dafür ist er eindeutig zu heiß«, schwärmte sie, senkte flatternd ihre Lider und fächerte sich auf übertriebene Weise Luft zu. Ich rollte mit den Augen und setzte mich neben sie.
»Hast du ihn überhaupt richtig gesehen?«
»Nur im Profil. Aber das hat gereicht«, erwiderte sie und wedelte weiter mit der Hand vor ihrem Gesicht herum. Anscheinend hatte Kat ihn auch nicht erkannt, weil sie zu weit entfernt gestanden hatte. Ich seufzte resigniert, nahm mir ein Stück von der lauwarmen Pizza, die auf dem Tablett neben ihr stand, und biss hinein. Sie schmeckte köstlich und jeder Bissen milderte mein Hungergefühl.
»Ich dachte, er hätte dich zum Essen eingeladen?«, fragte sie verdutzt, während ich kauend neben ihr saß. Ich schluckte das Stück herunter und nippte an ihrem Rotwein.
»Hat er auch. Aber eigentlich hat er nur mit mir geflirtet, selbst nichts außer ein Glas Wein bestellt und ist verschwunden, als ich mehr über ihn wissen wollte. Irgendwie kam er mir bekannt vor …«
Ich durchforstete weiter meine Erinnerungen, scannte gedanklich sein Gesicht und überlegte fieberhaft, wo ich ihn schon einmal gesehen hatte.
»Hmm …« Kat legte den Kopf schief. »Vielleicht ist er der reiche Erbe einer bekannten Dynastie. In diesem Hotel steigen ständig wohlhabende Leute ab.«
»Vermutlich«, sagte ich und tat so, als würde es mich nicht interessieren. Ich angelte mir noch ein Stück von ihrer Pizza und kippte den letzten Schluck Rotwein hinterher. Obwohl ich nicht leugnen konnte, dass er ausgesprochen attraktiv war, gehörte ich nicht zu den Frauen, die wegen eines bedeutungslosen Flirts sofort ihr ganzes Leben auf den Kopf stellten.
»Hat er dir seinen Namen verraten?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich sagte doch, dass er verschwunden ist, als ich mehr über ihn wissen wollte …«
Kat fixierte irgendeinen imaginären Punkt an der Wand. Sie schien zu überlegen. »So etwas lässt sich ganz einfach herausfinden.«
Ich fuchtelte mit erhobenem Zeigefinger vor ihrer Nase herum.
»Vergiss es. Schon mal etwas von Diskretion gehört? Ich glaube kaum, dass uns der Portier seinen Namen verraten wird.«
Kat stöhnte. »Mensch, Cel. Er sieht so verdammt gut aus. Das solltest du dir nicht entgehen lassen. Es wird Zeit, dass du endlich über Jack hinwegkommst.«
Ich hielt inne und stellte das leere Weinglas zurück an seinen Platz. Seit meiner Trennung von Jack war bereits mehr als ein Jahr vergangen, und auch wenn Kat der Meinung war, dass ich ihm noch immer hinterhertrauerte, dachte ich längst nicht mehr an ihn. Unsere Beziehung war letztlich daran gescheitert, dass ihm seine Karriere als Rechtsanwalt wichtiger gewesen war als ich. Sogar seine Freizeit hatte er in der Kanzlei verbracht, was mich dazu veranlasst hatte, ihm den Laufpass zu geben.
»Es war ein netter Abend und er hat mit mir geflirtet. Das wars. Es war bedeutungslos und ich werde jetzt nicht weiter darüber nachdenken«, sagte ich und rutschte von der Matratze. Andauernd wiederholte ich meine eigenen Worte wie ein Mantra in meinem Kopf, als wohnte ihnen eine Bedeutung inne, von der ich mich erst selbst überzeugen musste. Ich verabschiedete mich von Kat, wünschte ihr eine gute Nacht und verließ ihr Zimmer. Die Tür klickte einmal leise, als sie hinter mir ins Schloss fiel.
***
Eine kühle Brise erfasste meine Haare, wirbelte sie wild durch die Luft und umschmeichelte meine Wangen. Meine Knie waren butterweich, während ich mich ihm langsam näherte. Mein aufgeregter Herzschlag untermalte jeden meiner Schritte. Er drehte sich nicht um, hatte mir den Rücken zugewandt und nahm mir die Sicht auf die Weite des Ozeans.
Ich trat neben ihn. Feine Gischt spritzte zu uns herauf. Die Wellen brachen sich unaufhörlich an den rauen, zerklüfteten Felsen und demonstrierten uns mit ihrer eindrucksvollen Stärke, dass wir den Gezeiten nichts entgegenzusetzen vermochten. Ich traute mich nicht, hinab in die Tiefe zu sehen, aus Angst, mein Gleichgewicht zu verlieren. Stattdessen griff ich nach seiner Hand, hielt sie fest in meiner und bewunderte die markanten Züge seines wunderschönen Gesichts. Die blassgrauen Wellen des Ozeans spiegelten sich in der smaragdgrünen Farbe seiner Augen. Er senkte die Lider, wandte sich zu mir und umfing mit seiner freien Hand mein Gesicht. Hauchzart fuhr sein Daumen über meine Wange und hinterließ ein wärmendes Gefühl, das sich wie ein Schleier über meine Haut legte.
»Ich werde dir niemals geben können, was du dir wünschst. Deshalb beende ich es jetzt, bevor es zu spät ist.«
Die tiefe Verzweiflung in seinen Augen, gepaart mit seinen Worten, schnürte mir die Kehle zu und zerdrückte mein Herz. So lange, bis ich es nicht mehr spürte.
***
Der Wind, der von außen gegen den Fensterrahmen drückte, riss mich aus meiner Traumwelt. Mühsam schälte ich mich aus der flauschigen Bettdecke, richtete mich auf und rieb mir über die müden Lider. Es dauerte einen Augenblick, bis ich mich vollends von meinem Traumbild gelöst, die Gedanken daran betäubt und zurück in die Realität gefunden hatte. Ich hatte meinen Träumen schon immer eine besondere Bedeutung zugeschrieben. In der Nacht, als meine Mutter gestorben war, hatte ich davon geträumt, wie sie sich von mir verabschiedete. Nur dieses eine Mal hatte sich mein Traum erschreckend real angefühlt. Bis heute konnte ich mich an jedes Detail erinnern. So war es auch diesmal – ich fühlte noch immer seine Nähe, als würde ich unmittelbar neben ihm stehen, spürte die Wärme seiner Hand in meiner und hörte seine Worte, die mir die Kehle zuschnürten.
Das Zimmer war eiskalt. Offenbar hatte ich gestern Abend vergessen die Heizung hochzudrehen. Ich stellte das Thermostat auf die höchste Stufe, hüllte mich in die Bettdecke und beobachtete die dunkelgrauen Wolkenformationen am Horizont. Eine Sturmfront war in der vergangenen Nacht über die Rocky Mountains hinweggezogen und hatte eine beachtliche Menge an Neuschnee mitgebracht. Die Schneepflüge fuhren vor dem Hotel auf und ab, um die Einfahrt für die Autos der Hotelgäste zu räumen. Auf meiner kleinen Terrasse türmte sich das strahlende Weiß kniehoch. Die Schneekristalle funkelten im Licht der Außenbeleuchtung und erhellten das ansonsten triste Grau des Wintertages.
Während das Wasser der Dusche über meinen Körper lief und meine Haut erwärmte, drückte ich meine Wange an die hellen Marmorkacheln, schloss die Augen und atmete den dezenten Rosenduft meines Duschgels ein. Erstaunlicherweise war es mir bisher gelungen, die Gedanken an meinen verwirrenden Traum nicht zu vertiefen. Nur seine Worte konnte ich nicht vergessen. Mit dem Klang seiner Stimme wiederholten sie sich in Dauerschleife, als hätte jemand bei einem Spotify-Song die Repeat-Funktion aktiviert.
»Ich werde dir niemals geben können, was du dir wünschst. Deshalb beende ich es jetzt, bevor es zu spät ist.«
Mein Instinkt täuschte mich nicht – es war gut, dass ich mich nicht näher auf ihn eingelassen hatte, denn ich war mir nicht sicher, ob er zu der gefährlichen Sorte von Männern gehörte, die einem das Herz brachen und nur einen Haufen Scherben zurückließen.
***
Kat starrte während unseres Frühstücks gedankenverloren durch die kuppelförmige Glasfront hinaus und beobachtete die Schneeflocken, wie sie anmutig vom Wind getragen zu Boden fielen. Ich war froh, dass sie mich nach unserem gestrigen Gespräch nicht mehr auf ihn ansprach, obwohl ich spürte, dass sie es am liebsten getan hätte. Nachdem wir uns mit Kaffee, Orangensaft und Croissants gestärkt hatten, machten wir uns zu Fuß auf den Weg zur noblen Einkaufsstraße von Aspen. Da ich Kats ausgiebige Shoppingtouren schon aus San Francisco kannte, machte ich mich auf einen kompletten Tag in teuren Boutiquen gefasst. Es gelang ihr immer wieder, mich zu überreden, und auch wenn der Inhalt meines Portemonnaies unaufhaltsam schrumpfte, wenn ich sie begleitete, hatte ich es noch nie bereut. Ich liebte es, mit ihr durch die Stadt zu bummeln, und wenn es mir schlecht ging, brachte sie mich immer auf andere Gedanken.
Nach zwei Juwelieren und vier namhaften Modegeschäften gab ich auf, die Anzahl der Läden, die wir betreten hatten, zu zählen. Mit etlichen Tüten in den Händen, um ein paar ausgewählte Designerstücke reicher und mehrere Hundert Dollar ärmer, stapften wir durch den knirschenden Schnee zurück zum Hotel. Es dämmerte bereits und das warmweiße Licht der Straßenbeleuchtung erhellte die winzigen Flocken, die noch immer vom Himmel rieselten. Kat schwärmte permanent von ihren neuen Klamotten, aber ich hörte nur mit einem Ohr zu. Meine Füße schmerzten und die Kälte brannte auf meinen Wangen.
Erstaunt darüber, dass wir es geschafft hatten, die Tüten allesamt in den Aufzug zu verfrachten, kam Erleichterung in mir auf. Ich half Kat dabei, ihr Zeug in den beiden großen Koffern zu verstauen, brachte meine Einkaufstaschen auf mein Zimmer und machte mich dann auf den Weg zur Rezeption, um mich zu erkundigen, ob ich für heute noch einen Massagetermin bekommen konnte. Die Verspannungen der vergangenen Nacht waren deutlich zu spüren und die Wärme der glatten Steine auf meinem Rücken hatte mir schon einmal gutgetan.
»Ich kann Ihnen noch einen Termin anbieten. Es hat jemand abgesagt«, sagte der Rezeptionist freundlich. Ich bestätigte ihm den Termin und er trug ihn ins Buchungssystem ein.
»Ich sehe gerade, dass jemand eine Nachricht für Sie hinterlassen hat.«
Er reichte mir einen Zettel aus perlmuttfarbenem Papier. Am oberen Rand prangten in schwarzer Schrift ineinander verschlungene Buchstaben, die den Namen des Hotels bildeten.
20 Uhr. Presidential Suite.
L
Mein Mund fühlte sich plötzlich staubtrocken an, während ich mir nach und nach darüber bewusst wurde, dass die Nachricht nur von ihm stammen konnte – meinem geheimnisvollen Date. Ich nickte dem Rezeptionisten zu, drehte mich um und zerknüllte den Zettel in meiner Hand. Wie konnte er eine Nachricht für mich hinterlassen haben, ohne meine Zimmernummer zu kennen?
Ich quetschte mich in den vollen Aufzug, drückte den Knopf für das Untergeschoss, um zur Wellnessabteilung zu kommen, und steckte das zusammengeknüllte Papier achtlos in meine Manteltasche. Offenbar wusste er mehr über mich als ich über ihn, und das beunruhigte mich. Noch ein Grund mehr, mich trotz seines eindeutigen Interesses von ihm fernzuhalten.
Die Massage mit Rosenöl und den heißen Steinen konnte zwar meine Verspannungen lösen, aber schaffte es nicht, dass sich meine Gedanken in Luft auflösten. Ein Teil von mir wollte sich von ihm distanzieren, ihn aus meiner Erinnerung streichen, als wäre ich ihm nie begegnet. Der andere, der stärker war und mit jeder Sekunde an Macht gewann, wollte ihn wiedersehen und herausfinden, wer er war. Wer war der geheimnisvolle L? Ich haderte mit mir, obwohl ich Entscheidungen sonst schnell traf.
***
Um kurz vor 20 Uhr stieg ich aus dem Aufzug und betrat das oberste Stockwerk des Hotels, an dessen Ende sich die Presidential Suite befand. Mit der Gewissheit, dass das, was ich hier tat, völlig absurd und leichtsinnig war, lehnte ich meinen Rücken gegen die edle Holzwand und konzentrierte mich auf eine gleichmäßige Atmung. Meine Neugier, ihn besser kennenzulernen und herauszufinden, wer er war, gewann und vertrieb jeden rationalen Gedanken, der mir unmissverständlich klarmachte, dass es besser war, mich von ihm fernzuhalten. Fiebrige Erwartung vermischte sich mit Anspannung, die sich unter meinen Rippen wie Flügelschläge anfühlte, sich allmählich dort zentrierte und meinen Herzschlag beschleunigte. Seine Erwartungen an unser abendliches Treffen waren mehr als offensichtlich, auch wenn ich noch nicht wusste, ob ich bereit war, mich darauf einzulassen.
Der beigefarbene Teppich dämpfte meine Schritte, bis ich das Ende des langen Flurs erreicht hatte. Ich zögerte kurz, dann klopfte ich gegen das dunkle Holz der Doppeltür und hielt den Atem an. Es dauerte nicht lange, bis sie sich öffnete. Als er mich sah, blitzten seine smaragdgrünen Augen erwartungsvoll, als hätte er nicht damit gerechnet, dass ich seiner Einladung tatsächlich nachkommen würde – nicht einmal ich selbst hatte das.
»Guten Abend.«
Die Wärme in seiner Stimme überzog meine Haut mit einem angenehmen Schauer. Er nahm mir den Mantel ab, nachdem ich die geräumige Suite betreten hatte, und hängte ihn an die Garderobe. Dann wanderte sein Blick langsam über mein schlichtes Outfit, das aus einer hellen Bluse, einer dunklen Hose und Pumps bestand.
»Ich habe nicht mit dir gerechnet«, sagte er und strich mir eine lose Haarsträhne hinters Ohr. Die Geste kam unerwartet, aber angesichts seines zarten Handkusses im Restaurant hatte ich nicht mit Zurückhaltung seinerseits gerechnet. Seine kurze Berührung fühlte sich ausgesprochen gut an.
Ein zufriedenes Lächeln zauberte sich plötzlich auf seine vollen Lippen, und ich wurde das Gefühl nicht los, dass ich diese Grübchen schon einmal gesehen hatte. Wenngleich ich mir sicher war, ihm noch nie zuvor begegnet zu sein.
»Du hättest gestern nicht so schnell verschwinden sollen. Es wurde gerade erst richtig interessant.«
»Wurde es das?«, erwiderte er lachend, als wüsste er nicht, worauf ich hinauswollte.
Auch wenn ich alles andere als begabt im Flirten war und diesen Part lieber den Männern überließ, hoffte ich, so endlich zu erfahren, wen ich vor mir hatte. Kat hätte ihn mit Sicherheit längst erkannt. Fieberhaft ging ich in Gedanken die Titelseiten der bekannten Boulevard-Zeitungen durch, während ich jeden Zentimeter seines außergewöhnlich schönen Gesichts scannte. Er drehte sich um, griff nach der Champagnerflasche, die auf dem riesigen Glastisch stand, und öffnete sie.
Die Einrichtung der Suite erinnerte an ein Berghaus aus dem späten 19. Jahrhundert. Abgesehen von dem riesigen Tisch, der einen Stilbruch darstellte, waren die Möbel in Wintergrautöne und warme Sommertöne gehalten. Die Mitte des Wohnbereichs wurde von einem atemberaubenden Marmorkamin eingenommen, in dem leise ein Feuer knisterte und der von antiken braunen Lederclubsesseln umgeben war. Das angrenzende Schlafzimmer hatte keine Tür, dafür aber ein Kingsize-Bett, von dem aus man einen beeindruckenden Blick auf den Aspen Mountain hatte.
Mit zwei gefüllten Champagnergläsern kam er auf mich zu und reichte mir eins. Als ich danach griff, berührten sich unsere Finger für den Bruchteil einer Sekunde.
»Zugegeben, es hat mich überrascht, dass du nicht weißt, wer ich bin, und ich hatte Bedenken, dass du mich am Ende doch erkennen könntest«, sagte er. Seine Iriden wirkten einen Augenblick lang wie das Tiefgrün eines Bergsees, auf dem sich das Sonnenlicht reflektierte. »Soll ich deinem Erinnerungsvermögen ein wenig auf die Sprünge helfen oder findest du es selbst heraus?«
Er leerte sein Champagnerglas, während meins immer noch unangetastet war, und stellte es zurück auf den Glastisch.
»Ich überlege noch«, entgegnete ich und nippte an meinem Glas. Mittlerweile gefiel mir das Versteckspiel um seine Identität mehr und mehr. Das erwartungsvolle Prickeln zwischen uns, das durch sein Geheimnis erzeugt wurde, war auf eine unerwartete Art berauschend, sodass ich mir nicht länger den Kopf über mögliche Risiken zerbrach.
Plötzlich öffnete er die obersten Knöpfe seines weißen Designerhemds und löste den festsitzenden Knoten seiner Krawatte. Ich hielt den Atem an, weil ich nicht wusste, was er vorhatte und wie weit er gehen würde. Unerwartet flackerte das Cover des letzten GQ-Magazins in meiner Erinnerung auf, das ihn mit offenem Hemd, lockerer Krawatte und verwuschelten schwarzen Haaren zeigte, die ihn lässiger wirken ließen als beabsichtig. Vollkommen unköniglich. Er war es – Prinz Liam. Der Thronfolger Großbritanniens.
Die Erkenntnis, dass er dem attraktiven Prinzen und einem der begehrtesten Männer Europas ausgesprochen ähnlich sah, traf mich so heftig, dass ich mich für einen kurzen Moment fragte, ob ich mich irrte. Bisher hatte ich ihn kaum auf den Titelseiten amerikanischer Magazine gesehen. Lediglich seine außergewöhnliche Augenfarbe war mir aufgefallen, als ich vor einigen Monaten eine Dokumentation über die britische Königsfamilie im Fernsehen gesehen hatte. Sie war mir in Erinnerung geblieben und hatte mir außerdem gestern bei unserem Aufeinandertreffen das Gefühl vermittelt, ihn schon einmal irgendwo gesehen zu haben.
Um meine Nervosität zu überspielen, nippte ich an meinem Champagner und stellte das Glas zurück auf den Tisch. »Danke für den … Hinweis. Darauf wäre ich nicht so schnell gekommen«, sagte ich schüchtern und hatte keine Ahnung, wie ich mich verhalten sollte. Wir waren allein, aber ich wusste nicht, ob es übertrieben gewesen wäre, vor ihm zu knicksen – oder vollkommen falsch, es nicht zu tun. Seine Nähe überforderte mich. Und das nicht nur, weil mir jeder einzelne seiner durchdringenden Blicke tief unter die Haut ging.
Ich ahnte, wohin unser unverfängliches Date führen würde, und hielt es für besser, die Suite umgehend zu verlassen und in mein Zimmer zurückzukehren. Obwohl ich jetzt, nachdem ich endlich wusste, wer er war, nur umso neugieriger war, mehr über ihn zu erfahren.
»Ich sollte nun besser gehen.«
Ohne seine Reaktion abzuwarten, drehte ich mich um, lief zielgerichtet auf die Garderobe zu, um meinen Mantel zu holen und hatte beinahe die Tür erreicht, als sich seine warmen Finger um mein Handgelenk schlossen. Eine Sekunde später hatte er mich in seine Arme gezogen. Ich fühlte seinen aufgeregten Herzschlag in meinem Rücken. Wir waren uns so nahe, dass ich das Heben und Senken seiner Brust spürte. Sein warmer Atem kitzelte auf meiner Wange.
»Du musst nicht gehen«, hauchte er. Ich schloss die Augen, während er mit seiner freien Hand über meinen Arm strich, immer höher, bis er meine Schulter erreicht hatte.
»Ich weiß, dass es mehr als nur unvernünftig ist, überhaupt auf deinen Wunsch eingegangen zu sein und hierherzukommen.«
Er löste seine Finger von meinem Handgelenk, drehte mich zu sich um, schmiegte seine Handfläche an meine Wange, um mit seinem Daumen zärtlich die Konturen meiner Lippen nachzuzeichnen.
»Und dennoch bist du hier.« Ich spürte den sanften Druck seiner Berührung auf meiner Haut. »Du musst nicht gehen«, wiederholte er mit fiebriger Erwartung in der Stimme.
»Wenn ich es jetzt nicht tue, wird es zu spät sein«, erwiderte ich. Die Leidenschaft in seinem Blick raubte mir den Atem, machte mich bewegungsunfähig und ließ mich erzittern.
»Das ist es bereits.«
Seine Lippen ertasteten sich ihren Weg von meinem Hals hinab zu meinem Schlüsselbein. Kurz darauf zog er mich in einen impulsiven Kuss, dessen ungezügelte Leidenschaft meinen Widerstand dahinschmelzen ließ. Ich öffnete bereitwillig meinen Mund, schmeckte die fantastische Süße seiner weichen Lippen und ließ mich von ihm mit jedem Atemzug mehr und mehr in eine Welt des Fühlens und Verlangens ziehen. Unsere Zungen kämpften miteinander, während er mich in sein Schlafzimmer drängte. Er streifte mir die Bluse von den Schultern, deren Knöpfe er bereits geöffnet hatte. Ich tastete mit den Fingern nach dem Stoff seines Hemds und öffnete es. Seine Bauchmuskeln fühlten sich unglaublich an. Ich genoss das erregende Gefühl, während ich mit meinen Fingerspitzen darüberfuhr und mich rücklings auf das weiche Bett sinken ließ.
Liam hatte mich inzwischen ganz von meiner Kleidung befreit. Einen Moment lang hielt er inne, stützte sich mit einer Hand über mir ab. Ein Zurück gab es jetzt nicht mehr. Wir hatten die Grenze längst überschritten. Erst als ich ihn mit einem fast lautlosen Flüstern darum bat, nicht aufzuhören, erlaubte er sich, mit seinen Fingern hauchzart meinen nackten Körper zu erkunden. Jede einzelne seiner Berührungen und jeder seiner sinnlichen Küsse hinterließ eine brennende Spur auf meiner Haut, die mich immer tiefer und tiefer ins Reich der Sinne beförderte.