Leseprobe Rückkehr nach Ellis Island

Eins

New York, Februar 1907

Eine Sache, die in New York niemals vorhersehbar ist, ist das Wetter. Eine andere Sache, die ebenfalls nicht so vorhersehbar war, ist mein Leben. Ich schätze, die Schwierigkeiten waren mir in vielerlei Hinsicht vorherbestimmt. Nie war ich das Kind, das brav gehorchte. Hatte stets große Träume. Meine Mutter sagte mir mit ermüdender Regelmäßigkeit, dass es für mich schlimm enden würde, wobei sie mit den Augen rollte und vermutlich den ein oder anderen Heiligen anrief. Nun, das schlimme Ende war noch nicht gekommen, doch ich habe es einige Male definitiv nur knapp verfehlt.

Jetzt, da ich nicht länger als Privatdetektivin arbeitete (zumindest nicht offiziell), sahen die Dinge anders aus. Ich war eine New Yorker Hausfrau wie viele andere, und blickte, umgeben von Familie und Freundinnen, einer gesetzten, ruhigen Zukunft entgegen. Ich hoffte sogar auf ein weiteres Kind. Der Arzt sagte, mit mir sei alles in Ordnung, ich solle also einfach mein Leben leben und mir keine Sorgen machen. Also habe ich genau das getan – ich habe mich um meinen Ehemann und meinen Sohn Liam gekümmert, und um Bridie, das junge irische Mädchen, das wir vor einem Leben als Bedienstete gerettet und mittlerweile zu unserem Mündel gemacht hatten. Alles lief erstaunlich reibungslos, bis eines Februarnachmittags ein Schneemann vor meiner Tür auftauchte.

Nach einem milden Januar, als gerade die ersten Schneeglöckchen erblühten, kam ein grausamer, arktischer Kälteeinbruch über uns, der alle Frühlingsblumen erfrieren ließ, die es gewagt hatten, sich schon zu zeigen. Es war bitterkalt und schneite zwei Tage lang ununterbrochen, was es unmöglich machte, das Haus zu verlassen. Daniel hatte sich mit den anderen Männern unserer kleinen Straße zusammengetan und einen schmalen Pfad zur Greenwich Avenue freigeschaufelt, damit er zur Arbeit und Bridie zur Schule gehen konnten. Ich hingegen musste zu Hause bleiben und schauen, wie ich mit den vorhandenen Vorräten zurechtkam. Ich hoffte zwar, dass die Kohlevorräte halten würden, doch sie schwanden rapide dahin und der Andrang beim Einkauf war groß. Wir zogen uns aus dem vorderen Wohnzimmer zurück und drängten uns im hinteren Raum zusammen, der sonst Daniels Reich war, oder saßen am Küchentisch und genossen die Wärme des Ofens.

Mein Tagesablauf sah üblicherweise auch einen Besuch bei meinen Nachbarinnen Sid und Gus vor. (Und falls Sie nicht mit meinen Freundinnen vertraut sind und sich bei den Namen zwei irische Arbeiter vorstellen, lassen Sie mich Ihnen sagen, dass es sich um zwei junge Damen aus gutem Hause handelt, die mit Taufnamen Elena und Augusta hießen.) Doch ich hatte sie seit einer Weile nicht mehr gesehen. Ich vermutete, dass sie schwer mit ihrem jüngsten Projekt beschäftigt waren. Sie hatten immer irgendetwas Neues, das ihre Aufmerksamkeit fesselte. Sie waren echte Renaissance-Frauen, die sich an Kunst, Musik und ausländischer Küche versuchten, und sich an sozialen Bewegungen wie den Suffragetten beteiligten. Doch es war nicht die richtige Jahreszeit für Suffragettenparaden. Ich fragte mich gerade, ob es nur das raue Wetter war, das sie fernhielt, als es am späten Nachmittag an meiner Haustür klopfte.

„Tante Sid, Tante Gus!“, rief Liam aufgeregt und schob sich an mir vorbei zur Tür. Es klang zwar eher wie: „Aa-Si? Aa-Gu?“, doch ich wusste, was er meinte.

„Hey, junger Mann, bleib drinnen.“ Ich packte ihn im letzten Moment am Pullover. „Da draußen ist es kalt und es liegt Schnee. Und wir wissen nicht, ob es Tante Sid und Tante Gus sind.“

Ich hob Liam in meine Arme, damit er nicht in den Schnee hinausrennen konnte, dann öffnete ich vorsichtig die Tür und ließ damit einen eisigen Windstoß herein. Liam sollte recht behalten. Es war Sid, die da stand, auch wenn ihr Gesicht hinter dem großen Schal kaum zu sehen war.

„Mensch, ist das kalt“, sagte sie. „Wie geht es dir, Molly?“

„Wir kuscheln uns in der Küche zusammen. Komm rein.“

„Ich bleibe nicht lange“, sagte sie, „aber ich habe euch etwas von unserem indischen Gemüsecurry mitgebracht. Wir haben uns im Moment ganz der indischen Küche verschrieben, seit wir entschieden haben, dass es falsch ist, Tiere zu töten und zu essen. Es schmeckt wirklich gut und wird euch warmhalten. Es ist viel zu viel für uns beide, aber ich konnte das Rezept auch nicht halbieren.“

„Das ist sehr lieb“, sagte ich und stellte die Kasserolle auf dem Tisch im Flur ab. „Willst du wirklich nicht einmal eine Tasse Tee trinken?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, vielen Dank. Ich muss zurück. Wir haben zu tun. Es wartet ein ganzer Berg von Kleidung, den wir sortieren müssen.“

„Kleidung? Mistet ihr eure Schränke aus?“ Mir ging durch den Kopf, dass sie mir vielleicht einige der ausgemusterten Sachen vermachen würden. Das hatten sie in der Vergangenheit schon getan.

„Nicht unsere. Der Vassar-Wohltätigkeitsverein, deren Präsidentin Gus zurzeit ist, veranstaltet eine Sammlung warmer Kleidung. So viele arme Seelen erfrieren in der Stadt. Wir haben gesammelt und jetzt ist unser vorderes Wohnzimmer voll.“

„Ich könnte helfen kommen, wenn du möchtest“, sagte ich.

„Oh, das ist sehr lieb, aber ich glaube, wir schaffen das“, sagte sie. „Außerdem ist in dem Zimmer gerade ohnehin kein Platz für mehr als zwei Personen. Manchmal kann ich Gus unter all den Sachen gar nicht mehr finden.“ Sie lächelte. „Ich sollte nicht noch mehr kalte Luft in dein Haus lassen …“ Sie wandte sich zum Gehen, hielt dann mit offenem Mund inne und sagte: „Was in Gottes Namen?“

Ich folgte ihrem Blick die Gasse hinunter und sah einen Schneemann, der auf uns zukam. Als er näherkam, konnte man ihn als Person identifizieren, die in einen großen, weißen Schal gewickelt und mit Schnee bedeckt war. Ich erkannte den Schal in dem Augenblick, in dem Sid rief: „Bridie? Bist du das?“

„Jesus, Maria und Josef!“, ich lief auf sie zu. „Was in aller Welt hast du getan? Hast du dich im Schnee gewälzt?“

Bridie kam strauchelnd auf uns zu und bei jedem Schritt fiel Schnee von ihrer Kleidung herab. „Oh, Molly“, sagte sie, und ich merkte, dass sie den Tränen nahe war. „Die Jungs haben mich ins Visier genommen, als ich den Washington Square überquerte. Sie haben sich eine Schneeballschlacht geliefert, dann sahen sie mich kommen und haben sich alle gegen mich gewandt. Die Schneebälle sind nur so auf mich eingeprasselt. Sie wollten gar nicht aufhören und in dem hohen Schnee konnte ich nicht rennen.“

„Welche Jungs?“, wollte ich wissen. „Lass mich meinen Umhang holen, dann werde ich ihnen den Marsch blasen. Ich werde ihnen zeigen, was es heißt, junge Mädchen anzugehen.“

„Ich komme mit“, sagte Sid. „Wir werden sie zurechtstutzen, nicht wahr, Molly?“

Bridie hob eine Hand, um mich aufzuhalten. „Das bringt nichts. Der Constable an der Ecke hat sie gesehen und ist ihnen nachgejagt. Sie sind lachend weggerannt. Außerdem würdet ihr nur erreichen, dass sie mich noch mehr hassen.“

„Und warum hassen sie dich?“, fragte Sid.

„Weil ich Irin bin“, sagte sie ausdruckslos.

„Weil du Irin bist?“

Sie kaute auf ihrer Unterlippe herum, was sie deutlich jünger als ihre dreizehn Jahre wirken ließ. „Es sind hauptsächlich Italiener in meiner Klasse. Sie legen sich mit den irischen Jungs an und beschimpfen uns.“

„Wissen sie denn nicht, dass sie jetzt in Amerika sind, wo jeder willkommen ist?“, fragte Sid. „Du musst mit dem Rektor sprechen, Molly.“

„Das werde ich definitiv tun“, sagte ich.

Ich legte einen Arm um Bridies Schulter. „Komm rein, meine Liebe. Wir holen dich aus diesen nassen Sachen raus und dann setzt du dich mit einer schönen, heißen Tasse Tee ans Feuer.“ Ich wandte mich an Sid. „Vielen Dank für das Curry. Ich muss mich jetzt um die Kleine kümmern.“

Ich stellte Liam ab und ging zu Bridie, die sich mittlerweile in der Gasse den Schnee aus dem Schal schüttelte. „Bwidie nass“, sagte er.

„Als ich gerade die Tür schließen wollte, packte Sid mich am Arm. „Stimmst du jetzt dem zu, was wir die ganze Zeit schon sagen? Über Bridie, meine ich. Wir können sie nicht länger an dieser Schule lassen.“

„Lass uns das nicht jetzt diskutieren.“ Ich schaute warnend in Bridies Richtung.

Wir gingen hinein und ich schloss die Tür. Ich war versucht, geradewegs zu dieser Schule zu marschieren und die Jungs aufzuspüren, doch Bridie zitterte immer noch und war nach wie vor den Tränen nahe. „Du musst sofort aus diesen Sachen raus. Soll ich dir ein heißes Bad einlassen?“ fragte ich sie.

„Nein, ich möchte lieber am Feuer eine Tasse Tee trinken“, sagte sie. „Im Bad ist es eiskalt.“

„Das stimmt“, sagte ich. „Dann geh nach oben und zieh dich um. Du darfst auch gleich Nachthemd und Pantoffeln anziehen, wenn du möchtest.“

Sie lächelte mich dankbar an. Während sie die Treppe hinaufstieg, rieselte immer noch Schnee aus ihrem Haar.

„Bwidie kalt“, merkte Liam an, als wir in die Küche gingen. „Bwidie Schneemann ’baut?“

„Ich glaube, Bridie war der Schneemann“, sagte ich und musste lächeln. Liam war der einzige von uns, dem die Kälte nichts auszumachen schien. Aber er hatte auch die Energie eines frechen Zweijährigen, und rannte stets herum, sprang kletterte und geriet an Stellen, wo er nicht hingehörte.

Meine Schwiegermutter erhob sich, als wir in die Küche kamen. „Was in aller Welt war das?“, fragte sie. „Du hast viel zu lange die Haustür offengelassen, Molly. Was denkst du dir dabei, all die kalte Luft hereinzulassen? So schaffen wir es nie, das Haus zu heizen.“

Meiner Schwiegermutter setzte die Kälte am schlimmsten zu. Wir hatten sie zu uns geholt, nachdem sie sich eine schlimme Grippe zugezogen hatte. Ihr Dienstmädchen Ivy arbeitete nicht mehr für sie, da sie sich beruflich verbessern konnte, und ihrer einzigen anderen, älter werdenden Bediensteten Martha war es zu viel geworden, sich allein um das große Haus zu kümmern. Daher bestand Daniel darauf, dass Mrs. Sullivan bei uns bleiben würde, bis wir ein neues Dienstmädchen und eventuell noch eine Köchin für sie finden konnten.

Natürlich konnte ich nicht ablehnen, aber es war definitiv herausfordernd, mit so vielen Menschen in meinem beengten, kleinen Haus zu leben. Die echte Herausforderung bestand allerdings darin, dass mich Daniels Mutter ununterbrochen beobachtete und alles kommentierte, was sie anders tun würde. „Ach, so isst Daniel sein Schweinefleisch dieser Tage? Mir sagte er immer, dass Schweinekoteletts gegrillt werden müssen.“ Ich konnte nicht eindeutig sagen, ob es ihre Absicht war, mir damit zu schaffen zu machen, doch das war auf jeden Fall die Wirkung. Ich war mir sehr bewusst, wie enttäuscht sie gewesen war, als Daniel mich einer Schönheit aus der gehobenen Gesellschaft namens Arabella Norton vorgezogen hatte. Um ehrlich zu sein, hatte mich das selbst ein wenig überrascht. Immerhin hatte ich damals nichts anzubieten gehabt – war ich doch gerade erst von der wilden Westküste Irlands geflohen, wo ich in einem kleinen Bauerncottage aufgewachsen war.

„Es ging um Bridie“, sagte ich. „Eine Bande von Jungs ist auf dem Platz über sie hergefallen. Sie haben das arme Ding mit Schneebällen eingedeckt. Ich habe sie nach oben geschickt, damit sie aus den nassen Sachen rauskommt, und werde ihr eine Tasse Tee einschenken. Möchtest du auch gleich eine?“

„Da sage ich nicht nein“, sagte sie. Das war eine weitere Sache, die mich an ihr ärgerte. Sie sagte nur selten Bitte oder Danke. „Aber das ist kein schönes Erlebnis für ein junges Mädchen. Es wäre etwas anders, wenn sie Teil der Schneeballschlacht gewesen wäre. Ich weiß noch, dass Daniel als kleiner Junge viel Spaß an Schneeballschlachten hatte.“ Sie lächelte ob der Erinnerung.

Ich hatte gerade eine großzügige Portion Zucker in den Tee gegeben, als Bridie in Morgenmantel und Pantoffeln herunterkam.

„Himmel hilf!“, rief Mrs. Sullivan. „Ist es jetzt schon um vier Uhr Schlafenszeit?“

„Ich habe ihr erlaubt, sich so anzuziehen“, entgegnete ich. „Sie muss sich aufwärmen. Komm und setz dich ans Feuer, meine Liebe.“

Bridie warf meiner Schwiegermutter einen Blick zu, während sie am Feuer Platz nahm. Sie legte die Finger um die Teetasse, trank einen Schluck und seufzte dann zufrieden. Ich betrachtete sie mit liebevollem Blick, während mich ein Anflug mütterlicher Liebe für sie überkam. Sie war mit Unterbrechungen Teil meiner Familie gewesen, seit ich sie vor all den Jahren aus Liverpool hergebracht hatte – damals, nachdem sie gerade ihrer eigenen Mutter entrissen worden war, noch als ängstliches, kleines Mäuschen. Jetzt war sie zu einer klugen und selbstbewussten, jungen Frau erblüht – zumindest, bis ihre Klassenkameraden angefangen hatten, ihr das Leben schwer zu machen.

Sie hob den Blick. „Worüber habt ihr gerade gesprochen?“

„Als du heruntergekommen bist? Das weiß ich gar nicht mehr.“

„Nein, mit Tante Sid. Sie sagte, du würdest ihr zustimmen.“

„Oh“, sagte ich. „Sid und Gus sind der Meinung, dass ich dich nicht länger auf diese Schule schicken sollte.“

„Aber ich möchte die Schule nicht verlassen“, sagte sie. „Ich lerne gern. Ich weiß, dass ich im Sommer abgehen muss, aber …“

„Genau das ist es“, sagte ich. „Wir werden deine Schulbildung natürlich nicht damit enden lassen. Wir suchen dir eine Privatschule. Es ist nur – nun, du weißt, wie dringend Sid und Gus dich unterrichten und eines Tages nach Vassar schicken wollen, nicht wahr? Nun, Gus hat angeboten, dafür zu bezahlen, dass du ihre alte Akademie für junge Damen besuchst.“

„Und wo wäre die?“, fragte sie. „Ich dachte, Tante Gus kommt aus Boston.“

„Stimmt“, sagte ich. „Es handelt sich um ein Internat draußen in Massachusetts.“

„Ein Internat? Du meinst, ich würde dort leben?“

„Ja“, sagte ich. „Und ich halte das für eine schreckliche Idee. Ich habe dich schon einmal verloren und will dich nicht wieder gehen lassen.“

„Ich möchte auch nicht weggehen“, sagte sie.

„Dann wirst du das auch nicht tun. Es muss auch in New York Schulen geben, die wir uns leisten können. Oder vielleicht wollen Sid und Gus auch bei den Gebühren aushelfen, da ihnen deine Bildung so wichtig ist.“ Mir war natürlich bewusst, dass Daniels Polizistensold nicht für eine gute Privatschule ausreichen würde, und wenngleich Sid und Gus Bridie liebten und darauf brannten, sie zu unterstützen, war es mein Stolz, der es schwer machen würde, so etwas anzunehmen. Ich nahm ihre Tasse und schenkte ihr nach. „Wenn sie mit ihrem jüngsten Projekt fertig sind, werden wir sie darauf ansetzen, eine bessere Bildungseinrichtung für dich zu finden.“

„Das wäre toll.“ Sie strahlte. „Ich würde gerne an eine Schule gehen, wo es keine Sünde ist, lernen zu wollen.“

„Wenn das deine schlimmste Sünde ist, musst du dir glaube ich keine Sorgen machen, mein Kind“, rief Mrs. Sullivan. „Und wenn ihr meine Meinung hören wollt: Das Mädchen konnte davon profitieren, eine so erlesene Akademie zu besuchen und sich unter gehobenere Leute zu mischen.“

Ich versuchte, Ruhe zu bewahren – nicht immer eine meiner leichtesten Übungen. „Aber Mutter Sullivan, denk doch mal darüber nach. Daniel ist Polizist. Wir leben in diesem kleinen Haus. Wie soll sie sich jemals unter den Töchtern der Reichen und Mächtigen wohlfühlen?“

„Daniel wird vielleicht nicht für immer Polizist bleiben“, entgegnete sie mit einem wissenden Nicken. „Wir haben über die Möglichkeit gesprochen, in die Politik zu gehen, nicht wahr? Und über die Verbindungen, die die Familie knüpfen könnte …“

„Daniel wird nur über meine Leiche in die Politik gehen!“ So. Meine Ruhe hatte nicht lange gehalten. „Und ich werde so egoistisch sein, zu sagen, dass ich Bridie bei mir zu Hause behalten will.“

„Dann könntest du die Nonnen in Erwägung ziehen“, sagte sie. „Es muss gute Klosterschulen in der Stadt geben. Daniel weiß da vielleicht mehr. Eure Nachbarinnen sicher nicht, die hängen nicht dem wahren Glauben an.“

„Ein klares Nein zu den Nonnen“, entgegnete ich. „Ich habe noch zu lebhafte Erinnerungen an meine eigenen Erfahrungen mit Nonnen. Sadistisch, das waren sie. Wenn ich den Griffel fallenließ, kamen sie mit dem Stock. Wenn ich ein Wort falsch buchstabierte, musste ich die Hände ausstrecken, für den Stock. Eine von ihnen hat uns mit einer Bibel auf den Kopf geschlagen. Also keine Nonnen für Bridie.“

Bridie hob den Blick und lächelte mir dankbar zu.

Ich trank meinen Tee aus. „Ich sollte mich jetzt um das Abendessen kümmern.“

„Was hast du heute Abend als Essen für deinen Mann geplant?“, fragte Daniels Mutter. „Mir ist aufgefallen, dass wir kein Fleisch mehr im Haus haben, und ich wüsste nicht, dass du heute einkaufen warst.“ Sie hielt inne und fügte dann hinzu: „Was bei dem Schneesturm natürlich verständlich ist.“

„Unser Abendessen ist schon fertig. Ich habe es auf dem Tisch im Flur abgestellt, als Bridie kam“, sagte ich. „Meine Nachbarinnen waren so gut, indisches Curry für uns zu machen.“

„Curry?“ Sie rümpfte die Nase. „Dann mag Daniel mittlerweile auch unchristliches Essen, ja?“

„Er wird es mögen müssen, oder hungrig bleiben“, entgegnete ich gelassen, während ich in den Flur ging, um das Essen zu holen. Ich nehme an, es lag daran, dass wir in einem zu kleinen Haus zu eng aufeinandersaßen, aber mein Geduldsfaden war gegenüber meiner Schwiegermutter sehr dünn geworden, und mir war aufgefallen, dass ihre Kommentare in jüngster Zeit bissiger wurden. Es würde sich etwas ändern müssen.

Am Abend im Bett erzählte ich Daniel von Bridies Martyrium. Ich merkte, dass ich die Sache deutlich ernster nahm als er.

„Kennt sie die Jungs?“, fragte er.

„Ja, sie gehen auf ihre Schule.“

„Nun, es waren nur Schneebälle. Die habe ich früher auch gerne geworfen.“

„Ja, davon hat deine Mutter mir erzählt. Aber das hier ist etwas anderes. Die Jungs haben sie nicht in den Spaß miteinbezogen, sie haben sie angegriffen. Ich werde morgen mit dem Rektor sprechen.“ Ich versuchte, meine Wut unter Kontrolle zu bringen. „Nur Feiglinge stürzen sich so auf ein Mädchen.“

„Mach das lieber nicht“, sagte Daniel. „Es wird nicht helfen. Er wird dir sagen, dass es nur Schneebälle waren – bloß Jungenstreiche. Du musst dich auf die wichtigen Schlachten beschränken.“

„Aber das ist meine Schlacht, Daniel“, sagte ich aufbrausend. „Sie kam weinend nach Hause und sagte, die Jungs würden sie hassen.“

„Warum sollte man sie hassen?“

„Weil sie Irin ist und strebsam“, sagte ich. „Sie liest und lernt gern. Diese Lausbuben wissen, dass sie im Sommer mit der Schule fertig sind, und wollen nur noch raus.“

Ich erzählte Daniel, was Sid und Gus für Bridie vorgeschlagen hatten. „Deine Mutter meint, es wäre ein guter Plan, dir einen Einstieg in die Politik zu verschaffen.“

Daniel schmunzelte. „Meine Mutter hatte immer große Pläne für mich“, sagte er. „Wenn man sie sprechen hört, würde niemand glauben, dass sie von Eltern aufgezogen wurde, die vor der Hungersnot geflohen sind. Aber wenn Sid und Gus für Bridies Bildung sorgen wollen, habe ich nichts dagegen. Sie können schauen, ob sie eine geeignete Privatschule in der Stadt finden. Und du lässt die Situation lieber so, wie sie ist.“ Er sah mich ernst an und ich schenkte ihm ein hoffentlich demütig wirkendes Lächeln, während ich beschloss, dem Rektor trotzdem meine Meinung zu sagen. Ich hätte es nie zu etwas gebracht, hätte ich mich von anderen Menschen herumschubsen lassen, und ich würde auch nicht zulassen, dass man mein Mündel herumschubste! Es überraschte mich, wie viel von meinem Leben mittlerweile daraus bestand, Mutter zu sein und mich um meinen Haushalt zu kümmern, ganz im Gegensatz zu der aufregenden Zeit meiner eigenen Detektei. Manchmal fühlte sich das Leben ziemlich öde an, wenn man sich in der Vergangenheit mit Verbrechern und Mördern herumgeschlagen hatte. Ich war mir sicher, mit einem Rektor würde ich fertigwerden.

Ich war froh zu hören, dass Daniels Ansichten sich nicht geändert hatten, egal was seine Mutter über die Politik sagen mochte. Seiner Karriere bei der Polizei stand nichts mehr im Weg, seit es einen neuen Chief of Police gab, den Tammany Hall nicht in der Tasche hatte. Ich war sehr erleichtert, weil er wieder Spaß an seiner Arbeit hatte. Im letzten Jahr war es im Gespräch gewesen, dass Daniel oben in White Plains die Stelle als Chief of Police annehmen könnte; in der Nähe seiner Mutter, die jetzt bei uns lebte. Gott sei mir gnädig! Allein bei dem Gedanken wurde mir heiß und kalt. Präsident Roosevelt hatte ihm ebenfalls eine Stelle angeboten, für die wir nach Washington hätten ziehen müssen. Doch jetzt konnten wir so weiterleben wie bisher in unserem kleinen Haus im Patchin Place, gegenüber meinen engsten Freundinnen Sid und Gus.

Zumindest war ich davon ausgegangen, dass wir hier weiterleben könnten, doch kurz vor dem Einschlafen erwähnte Daniel, dass seine Mutter in Zukunft vielleicht dauerhaft bei uns leben würde und wir dann offensichtlich ein größeres Haus bräuchten. Mit seiner Beförderung zum Kopf der neuen Abteilung für Mord und Schwerverbrechen würde uns mehr Geld zur Verfügung stehen, und wir sollten darüber nachdenken, wo wir leben wollten. Doch jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt für meinen Widerspruch. Mit etwas Glück würde das Wetter besser werden und Mrs. Sullivan bald nach Hause zurückkehren wollen.

Zwei

Am folgenden Morgen hatte sich das Wetter tatsächlich verbessert. Wir erwachten zu kristallklarer Luft. Sonst banale Objekte wie Mülltonnen oder Gartenhütten lagen unter strahlend weißen Schneehaufen verborgen. „Heute kann Liam einen Schneemann bauen“, sagte Daniel, während er aus dem Fenster schaute. „Das wird ihm gefallen. Schade, dass ich arbeiten muss, sonst könnte ich ihn zum Schlittenfahren in den Central Park mitnehmen.“

„Ich kann ihn zum Platz bringen, und ihn dort spielen lassen“, sagte ich. „Es sei denn, diese gemeinen Jungs sind wieder dort.“ Ich hielt inne. „Ich glaube, ich sollte Bridie heute lieber nicht in die Schule schicken. Was meinst du?“

„Sollen diese Raufbolde wirklich die Nachricht erhalten, dass sie gewonnen haben?“, fragte er. „Sollte sie nicht lieber hingehen, und sich ihnen stellen?“

„Die Entscheidung werden ich ihr überlassen“, entgegnete ich.

„Mach das, Molly.“ Er wedelte warnend mit dem Finger. „Das Mädchen muss aber lernen, für sich einzustehen. Es wird ihr nicht helfen, wenn du sie in Watte packst.“

„Natürlich, mein Liebster“, antwortete ich und wandte mich ab, damit er meinen Gesichtsausdruck nicht sehen konnte.

Als Bridie zum Frühstück herunterkam, konnte ich in ihrem Gesicht lesen, dass sie sich nicht auf die Schule freute.

„Keine Sorge, meine Liebe, du kannst zu Hause bleiben, wenn dir das lieber ist. Ich werden deinem Lehrer einen Brief schreiben und den Grund erklären.“

„Nein, mach das nicht.“ Sie kaute nervös auf ihrer Unterlippe herum. „Es ist nur noch ein halbes Jahr. Das werde ich überstehen.“

Daniel war schon zur Arbeit gegangen und ich räumte gerade den Frühstückstisch ab, als es an der Haustür klopfte. Sid und Gus standen auf der Schwelle. „Wir haben nachgedacht“, sagte Sid, und ihr Kinn zuckte herausfordernd. „Bridie sollte nicht länger an diese Schule gehen. Deshalb haben wir beschlossen, unsere anderen Aktivitäten für den Moment ruhen zu lassen, sobald wir diese Kleidersammlung abgeschlossen haben, um ihre Bildung selbst zu übernehmen, bis wir eine angemessene Schule für sie finden können.“

Sie gingen durch in die Küche. Bridie hatte alles mitangehört – dank Sids gebieterischem Ton. Ich sah, dass sich ein erwartungsvolles Strahlen auf ihrem Gesicht ausbreitete. „Ihr würdet mich unterrichten? Das wäre wundervoll. Wann kann ich anfangen?“

„Heute nicht“, sagte Gus. „Wir sind eigentlich hier, um Molly für unsere Arbeit zu rekrutieren. Und dich auch, wenn du nicht in die Schule gehst.“

„Was braucht ihr?“, fragte ich.

„Wir haben die warme Kleidung sortiert und wurden dafür eingeteilt, sie auf Ellis Island an die neuen Immigrantinnen und Immigranten zu verteilen. Das sind schrecklich viele Sachen, deshalb hatten wir gehofft, ihr würdet uns begleiten.“

„Ellis Island?“, fragte ich. Mich überkamen widersprüchliche Gefühle. Ich war seit meinem ersten Monat in Amerika nicht mehr nach Ellis Island zurückgekehrt. Bei meinem ersten Eintreffen dort war ich auf der Flucht vor einer Mordanklage in Irland, und beim zweiten Mal hatte ich versucht, meinen Namen reinzuwaschen und zu beweisen, dass ich keine Mörderin war. Ich erinnerte mich an ungezügelte Panik und Hilflosigkeit. Ich war damals auf der Flucht vor meinem alten Leben in einem fremden Land eingetroffen und hatte niemanden gehabt, an den ich mich hätte wenden können. Doch ich hatte Mitgefühl für die Menschen, die gerade jetzt ähnliche Situationen durchmachen mochten. Ich hatte hier mein sicheres, warmes Haus, einen liebevollen Ehemann, Kinder und Freunde. Es wäre herzlos gewesen, nicht zu helfen, wo ich doch die Möglichkeit dazu hatte.

„Ich helfe gern“, sagte ich. „Diese armen Leute müssen regelrecht erfrieren. Ich erinnere mich nicht daran, dass die Räume dort beheizt oder sonderlich gemütlich gewesen wären.“

„Natürlich!“ Sid wirkte animiert. „Du bist über Ellis Island eingereist. Das habe ich ganz vergessen. Du wirst auf der Insel unsere Reiseführerin sein. Unsere ganz eigene Immigrantin: Give me your tired, your poor, your huddled, coatless masses“, rezitierte sie laut und falsch das Sonett, das im Sockel der Freiheitsstatue verewigt worden war. „Wie ist es dort?“

„Hauptsächlich fühlt es sich an, als würde man in einer endlosen Schlange anstehen“, sagte ich, und sparte mir den Teil mit der Flucht vor der Mordanklage. „Und man hat Angst, an ihrem Ende abgewiesen zu werden. Es gibt eine fürchterliche medizinische Untersuchung, bei der man dir die Augenlider hochzieht und peinliche Fragen stellt. Aber für mich war das nicht der schlimmste Teil.“ Ich hielt inne. Mir wurde bewusst, dass ich Sid und Gus nie von meinem Martyrium erzählt hatte, obwohl wir uns so gut kannten. Doch jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt dafür. „Immerhin kam ich aus einem englischsprachigen Land und war gebildet“, fuhr ich fort. „Manche der Menschen in meiner Nähe sprachen kein Wort Englisch und konnten für die Behörden nicht einmal ihren Namen buchstabieren. Bridie war auch bei mir. Erinnerst du dich noch daran, Bridie?“ Ich drehte mich zu ihr. Eigenartigerweise hatten wir noch nie über dieses Thema gesprochen. Ich hatte Bridie und ihren Bruder auf Bitte ihrer im Sterben liegenden Mutter über den Atlantik begleitet, um sie zu ihrem Vater zu bringen – und für den Fall, dass mich das wie eine Heilige wirken lässt, muss ich gestehen, dass mir das dabei geholfen hat, in Irland der Polizei zu entgehen. In der ersten Zeit waren wir hauptsächlich mit unserem Überleben beschäftigt gewesen, und nachdem Bridies Mutter Kathleen gestorben war, hatte ich diese frühe gemeinsame Zeit nicht mehr angesprochen, da ich die Trauer in Bridies Augen nicht hatte sehen wollen.

„Ich erinnere mich daran, dass ich so tun musste, als wärst du meine Mutter“, sagte sie. „Ich hatte Angst, von dir getrennt zu werden und dich in der Menge zu verlieren. Ich sagte mir, dass ich einfach deinem roten Haar folgen würde.“

Ich lachte. „Dann ist es wohl etwas Gutes, dass ich aus einer Menschenmenge hervorsteche. Aber bist du dir sicher, dass es nicht zu traurig für dich wäre, dorthin zurückzukehren?“

„Es wäre egoistisch, nicht denen zu helfen, die gar nichts haben, während ich mittlerweile so gut versorgt bin“, sagte Bridie leise.

„Sehr richtig!“, mischte sich Gus forsch ein. „Siehst du, Molly, es ist völlig verschwendet, sie auf diese örtliche Schule zu schicken. Sie ist zu Größerem bestimmt!“

„Wann wollt ihr denn losgehen?“, fragte ich.

„Wir treffen uns um eins mit den anderen Damen, um zusammen zur Insel überzusetzen“, sagte Gus.

„Ich habe Liam versprochen, ihn heute Vormittag im Schnee spielen zulassen, aber ich werde Mrs. Sullivan fragen, ob sie am Nachmittag auf ihn aufpassen kann. Dann helfe ich gern. Aber wie in aller Welt werden wir dort hingelangen? Wenn ihr genug Kleider habt, um einen ganzen Raum zu füllen, weiß ich nicht, wie wir die zu viert tragen und in eine Droschke packen sollen, selbst wenn sie versuchen würde, durch all den Schnee hier in die Straße zu fahren.“ Der Patchin Place war eine so schmale Gasse, dass sich Droschkenkutscher häufig weigerten, weit hineinzufahren, da sie ihr Gespann nicht wenden konnten.

„Kein Problem.“ Gus winkte ab. „Mrs. Sage schickt uns ihr Automobil. Die Hälfte der Sachen können wir dort hineinladen. Und der Chauffeur kann uns dabei helfen, den Rest der Sachen zum Ende der Straße zu tragen und sie dort in eine Droschke zu laden.“

„Mrs. Sage?“ Der Name sagte mir nichts.

„Eine der alteingesessenen Persönlichkeiten der New Yorker Gesellschaft, meine Liebe. Und sie ist philanthropisch sehr engagiert.“

„Und zudem eine Vassar-Absolventin“, fügte Sid süffisant hinzu.

„Darf ich in dem Automobil mitfahren?“ Bridie strahlte vor Begeisterung.

„Ja, ja gut“, sagte Sid, während sie sich bei Bridie unterhakte. „Du kannst mit Molly im Automobil fahren, während Gus und ich euch in einer Droschke folgen. Aber dann musst du jetzt gleich mit zu uns kommen und uns dabei helfen, die Kleider zusammenzupacken. Kannst du sie entbehren, Molly?“

„Natürlich, geht nur.“ Ich legte Bridie eine Hand auf die Schulter. „Ich werde mich darum kümmern, Liam ausgehfertig zu machen.“

„Ausgehen? Bei diesem eisigen Wetter?“ Daniels Mutter tauchte mit einem missbilligenden Blick hinter mir auf. „Da wirst du den Jungen doch gewiss nicht mitnehmen, oder?“

Ich wollte sie gerne daran erinnern, dass sie mich am Vortag erst dafür getadelt hatte, nicht einkaufen gewesen zu sein, obwohl das Wetter eindeutig schlimmer gewesen war. „Ich habe Daniel versprochen, Liam heute im Schnee spielen zu lassen, und wollte fragen, ob du am Nachmittag für mich auf ihn aufpassen könntest.“ Es fiel mir schwer, einen freundlichen Ton beizubehalten. „Ich habe etwas mit Miss Walcott und Miss Goldfarb zu erledigen.“

„Was ist denn geplant?“ Ihr Gesichtsausdruck verriet, dass sie nicht davon ausging, ich würde mit Sid und Gus vernünftige Unternehmungen planen.

„Tatsächlich wird uns Mrs. Sage – du weißt schon, eine der Ehefrauen der oberen Vierhundert, über die regelmäßig in den Gesellschaftsseiten berichtet wird – einen Chauffeur schicken.“ Ich versuchte eigentlich stets, gelassen zu bleiben, doch ich muss gestehen, dass ich ihren Gesichtsausdruck genoss.

Insbesondere, als Gus hinzufügte: „Ich gehe davon aus, dass die Frau des Police Commissioners ebenfalls dort sein wird, Molly. Sie ist Mitglied in unserem Vassar-Wohltätigkeitsverein.“ Sie zwinkerte mir zu. Sid und Gus hatten mitbekommen, wie schwer es mir fiel, gegenüber Daniels Mutter die Beherrschung zu bewahren – bei vielen Tassen zu starken Kaffees, den ich immer trank, wenn ich vor ihren kritischen Blicken und Kommentaren zu ihnen floh. Gus wusste, dass Mrs. Sullivan große Pläne für Daniel hatte, von denen ich nicht allzu begeistert war. „Es ist wichtig, dass Molly Zeit mit den richtigen Menschen verbringt, Mrs. Sullivan“, sagte sie, während sie sich mit ernstem Blick zu meiner Schwiegermutter drehte. „Um Daniels willen, meine ich. Für uns alle ist Daniels Karriere von höchster Wichtigkeit.“

Ich biss mir auf die Lippe, um einen ernsten Gesichtsausdruck zu wahren. „Vielleicht sollte ich Liam doch nicht alleinlassen.“ Ich erwiderte Gus’ Zwinkern. „Das ist viel Arbeit für dich, Mutter Sullivan.“

„Nein, gar nicht, es ist doch keine Arbeit, auf den kleinen Schatz aufzupassen. „Keine geringere als Mrs. Sage. Sieh mal einer an. Wo ist diese Veranstaltung? Werden Sie Mrs. Sage zu Hause besuchen? Wohnt sie nicht in der 5th Avenue?“

„Leider ist es kein so gemütliches Ereignis. Wir fahren nach Ellis Island, um warme Kleidung auszugeben. Das ist Teil der Wohltätigkeitsarbeit unseres Vereins. Aber wir werden neben den edelsten Gestalten New Yorks frieren. Ich hörte, dass mehrere Töchter aus den Vierhundert dort sein werden.“ Sid führte Bridie zur Tür hinaus.

Mrs. Sullivan ging recht freundlich mit mir um, als ich Liam in seine Leggins und sein Mäntelchen steckte, und ihn dann in Decken gehüllt in seinen Kinderwagen setzte. „Ich werde etwas Fleisch für Daniels Abendessen mitbringen“, sagte ich. Daniel hatte sich am vergangenen Abend überhaupt nicht über das Gemüsecurry beschwert, doch er hatte es als „interessant“ bezeichnet. Seine Mutter war nicht ganz so höflich gewesen. „Nun, ich denke, für die Menschen in heidnischen Ländern, die nichts Besseres haben, ist es gut genug.“ So hatte ihr Kommentar gelautet. Mir hatte es eigentlich recht gut geschmeckt.

Wir machten uns auf den Weg und Liams Kinderwagen ruckelte über die Hügel aus Eis und Schnee. Das Vorankommen war mühsam und ich wünschte, ich hätte ihn zu Hause gelassen, denn Sie müssen wissen, dass es eigentlich nicht meine Mission war, Liam auf dem Platz spielen zu lassen. Ich würde diesem Schulrektor die Meinung sagen. Ich wusste, dass Daniel mir gesagt hatte, ich sollte die Sache auf sich beruhen lassen, doch ich war noch nie gut darin gewesen, das zu tun, was andere mir sagen.

Während wir den Platz überquerten, hielt ich nach den Jungs Ausschau. Sie waren nirgends zu sehen, was bedeutete, dass sie bereits in der Schule sein mussten. Als ich vom Platz aus die McDougals Street hinunterlief, blieb mein Blick am Postamt hängen. Ich erinnerte mich an den Rausch, der mich jedes Mal überkommen hatte, wenn ich die Treppe emporgestiegen war, um herauszufinden, ob Briefe für mich eingegangen waren – beziehungsweise für die Detektei, die ich geerbt hatte. Ein neuer Fall in den ich mich hatte verbeißen können! Das kam mir mittlerweile wie ferne Vergangenheit vor. Beinahe, als wäre es ein anderes Leben gewesen. Jetzt war ich Molly Sullivan, Ehefrau und Mutter, und musste lernen, damit zufrieden zu sein.

Doch die Erinnerungen an alte Erfolge hatten meinen Kampfgeist geweckt. Ich hob Liam aus seinem Kinderwagen und marschierte ins Büro des Rektors.

„Ich bin Mrs. Sullivan. Ich bin wegen meines Mündels hier, Bridie O’Connor“, sagte ich. „Sie wurde gestern von einer Bande von Jungs Ihrer Schule angegangen, und ist entsprechend ganz außer sich. Ich hoffe, Sie werden etwas gegen dieses inakzeptable Verhalten unternehmen.“

„Angegangen?“, der Mann wirkte besorgt. „Sie meinen, angegriffen?“

„Mit Schneebällen eingedeckt“, sagte ich.

Er brach in Gelächter aus. „Sie sind hier, weil Ihr Kind an einer Schneeballschlacht beteiligt war? Meine gute Frau …“

„Ich bin nicht Ihre gute Frau.“ Ich starrte ihn eiskalt an. „Eine Schneeballschlacht würde bedeuten, dass beide Seiten willentlich beteiligt waren. Eine Bande von Jungs, die Schneebälle auf ein einzelnes, kleines Mädchen einprasseln lässt, das ist Schikane. Und Bridie sagt, die Jungs hätten sie nur angegriffen, weil sie Irin ist, und klug.“

Sein Lächeln wirkte herablassend. „Ich kenne das Mädchen, von dem Sie sprechen. Wenn sie weniger Zeit damit verbringen würde, die Nase in Büchern zu vergraben, würde sie vielleicht lernen, mit ihren Mitschülern auszukommen.“

„Nun, darum werden wir uns keine Sorgen mehr machen müssen, da ich sie mit dem heutigen Tag von der Schule nehmen werde“, sagte ich.

Er kam hinter seinem Schreibtisch hervor, und stellte sich in einer Pose vor mir auf, die wohl bedrohlich wirken sollte. „Lassen Sie uns keine voreiligen Entscheidungen treffen, kleine Lady. Ich sehe, dass Sie aufgebracht sind, aber Sie wollen doch gewiss, dass das Kind seinen Bildungsweg abschließt. Sie scheint so viel Spaß daran zu haben. Warum sprechen Sie nicht erst mit Mr. Sullivan darüber? Holen Sie sich die Perspektive eines Mannes ein. Weniger Gefühle und mehr Vernunft, ja?“

Zum Glück hatte ich Liam im Arm, sonst hätte ich ihm einen Schlag auf die Nase verpasst. „Zunächst einmal ist er Captain Sullivan, von der New Yorker Polizei, und wenn Sie es nicht schaffen, diesen Jungen Disziplin und Mitgefühl beizubringen, wird mein Mann seine Untergebenen anweisen, ein Auge auf sie zu haben. Guten Tag, Sir.“ Damit stürmte ich hinaus. Liam warf einen Blick in mein Gesicht und brach in Tränen aus, was mir ein schlechtes Gewissen bereitetet.

„Nein, du hast nichts falsch gemacht, Süßer“, sagte ich. „Komm, wir gehen spielen, ja?“

Nachdem wir eine halbe Stunde lang einen Schneemann gebaut, Schneebälle geworfen und sogar Schneeengel gemacht hatten, machten wir uns auf den Heimweg. Wir hielten noch beim Metzger, um Schweinekoteletts zu kaufen. Dann fütterte ich Liam mit etwas Suppe und legte ihn für sein Mittagsschläfchen hin, bevor ich meinen besten Umhang und meinen Fellmuff anzog, um meine Freundinnen zu treffen.

„Mach dir keine Sorgen“, sagte Daniels Mutter. Sie bot sogar an, für Liam und Daniel Abendessen zu kochen, falls ich mich verspäten sollte. Ich glaube, die Information, dass für mich ein Automobil samt Chauffeur kommen würde, hatte ihre Einstellung grundlegend verändert. Andere Menschen würden sehen, dass ich in Mrs. Sages Automobil stieg. Endlich benahm ich mich wie eine vorzeigbare Schwiegertochter!

„Ich wünschte, die Jungs könnten mich so sehen“, sagte Bridie, als wir auf der Rückbank des Automobils Platz nahmen, im Rückwärtsgang den Patchin Place verließen und dann den Washington Square umrundeten. Sie Straßen waren vereist, doch wir hatten es warm, da das Automobil bis oben hin mit Mänteln, Umhängen und Schals vollgestopft war. Bridie legte sich ein besonders edles violettes Tuch um den Kopf. „Es tut mir wirklich leid, euch im Schnee zu sehen“, sagte sie, während sie draußen den imaginären Jungs zuwinkte und so sprach, wie Gus in ihren vornehmsten Momenten. „Ich lasse mich von meinem Chauffeur herumfahren.“

Sie drehte sich mit einem niederträchtigen Grinsen zu mir um. Ich betrachtete sie überrascht und mir wurde bewusst, wie schnell sie erwachsen wurde. Ich war der Meinung, dass sie sich in dem Moment verändert hatte, als sie sich weigerte, mit ihrem Vater und seiner neuen Ehefrau nach Irland zurückzukehren. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie für etwas gekämpft, dass ihr wichtig war, und hatte gewonnen. Sie hatte verstanden, dass sie eine gewisse Macht besaß. Ich erwiderte ihr Grinsen.

Wir fuhren auf der Christopher Street zwischen Bergen aus Schnee und Eis hindurch. Die Räder rutschten auf der glatten Straße, bis wir das Hudsonufer erreichten, nach Norden auf die West Street einbogen und an all den Anlegern vorbeifuhren. Hier waren wir der ganzen Kraft des eisigen Windes ausgeliefert und ich freute mich nicht auf die Überfahrt nach Ellis Island – in mehr als einer Hinsicht. Um die Wahrheit zu sagen, war ich mir nicht sicher, ob ich überhaupt dorthin zurückkehren wollte – alle meine Erinnerungen an diesen Ort waren so düster. Doch ich würde jetzt keinen Rückzieher mehr machen.

Das Automobil hielt schließlich neben einem enormen Dampfschiff. Es hatte offensichtlich gerade erst angelegt, da Menschen an Land gingen. Viele Menschen kamen in Pelzmänteln aus ihren Kabinen und stiegen in bereitstehende Droschken oder Automobile, während am anderen Ende des Schiffes eine zerlumpte Menschenmenge über die Gangway aus dem Zwischendeck ausstieg und in eine Fähre gelenkt wurde, die neben dem Ozeandampfer winzig wirkte.

Ich lehnte mich vor, um mit dem Chauffeur zu sprechen. „Wissen Sie, wo wir Miss Goldfarb und Miss Walcott treffen sollen?“, fragte ich.

„Nein, Ma’am“, antwortete er. „Man sagte mir nur, ich solle zum Fähranleger nach Ellis Island fahren, und der ist hier.“

Ich fragte mich, was in aller Welt ich mit einem Automobil voller Kleidung anstellen sollte, und ob wir uns mit den Passagierinnen und Passagieren aus dem Zwischendeck auf die Fähre zwängen sollten. Doch in diesem Augenblick fuhren Sid und Gus neben uns vor und winkten uns wild aus ihrer Droschke zu. „Einen Pier weiter“, rief Sid. „Man hat uns ein Privatboot geschickt. Fahrt uns hinterher.“

Unser Chauffeur tat, wie ihm geheißen, und wir schlängelten uns zwischen Gepäckhaufen, Ladung und Menschen hindurch, bis wir an einem Vergnügungsboot ankamen, das an einem kleineren Pier festgemacht hatte. An Land standen mehrere Automobile und Chauffeure oder Lakaien strauchelten, schwer beladen mit Kleidung, während modisch gekleidete, junge Damen neben ihnen herliefen und ihren neu eintreffenden Freundinnen zuwinkten. Gus und Sid wurden herzlich empfangen und einige Lakaien wurden rekrutiert, um die Mengen an Kleidung zu verladen, die wir mitgebracht hatten.

„Du lieber Himmel“, sagte Gus, als wir uns der Gangway des Schiffes näherten. „Wir können von Glück sprechen, wenn an Bord noch genug Platz für uns ist. Du wirst vielleicht schwimmen müssen, Bridie.“

Bridie lachte, während sie Gus’ Hand ergriff.

„Na, wenn das nicht Augusta Walcott ist“, sagte eine junge Frau in einem weißen Fuchsfellmantel und passendem Hut, die auf uns zukam. „Legen Sie das Bündel dort ab, Jackson, und dann können Sie gehen“, sagte sie. „Aber stellen Sie sicher, dass Tompkins mit dem Automobil in der Nähe bleibt. Ich weiß nicht, wie lange das hier dauern wird.“

Sie drehte sich wieder zu uns. Das Lächeln, mit dem sie Sid und Gus begrüßt hatte, verblasste, als sie Bridie und mich musterte. „Und ihr habt eure eigenen kleinen Helferinnen mitgebracht. Sehr vorausschauend.“

„Das ist unsere Nachbarin und gute Freundin Mrs. Molly Sullivan und ihr Mündel Bridie“, sagte Gus. „Molly, das hier ist Cordelia Ransom. Sie war auf dem College unsere Kommilitonin.“

„Vielleicht nicht mehr lange Cordelia Ransom“, entgegnete die Frau mit einem koketten Lächeln. „Ich bin gerade von einer langen Reise nach Europa zurückgekehrt und es könnte sein, dass ich mir einen englischen Aristokraten geschnappt habe, wenn alles gutgeht. Einen Viscount. Wir sind uns vergangenen Monat in London begegnet. Er müsste bald in Amerika eintreffen, um mich zu besuchen und meine Familie kennenzulernen. Ich werde also bald eine Lady sein und ihr müsst vor mir knicksen. Wäre das nicht ein Spaß?“

„Glückwunsch“, sagte Sid mit einem Ton, bei dem ich beinahe grinsen musste.

Die Frau kniff die Augen zusammen, während sie sich auf Sid konzentrierte. „Noch immer nicht verheiratet, Elena?“

„Nicht so ganz“, entgegnete Sid. „Aber trotzdem recht glücklich, danke der Nachfrage.“

„Warst du in London im Theater?“, fragte Gus, um die Unterhaltung in ungefährlichere Gefilde zu lenken.

„Ist dir zufällig eines der neusten Stücke von unserem Freund Ryan O’Hare untergekommen?“, fuhr Gus fort. „Er war das Stadtgespräch, wie man hört. Queen of Diamonds. Sehr geistreich und ein wenig unanständig, sagte man uns.“

„Oh ja, ich habe davon gelesen“, sagte Cordelia und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Die Kritiker schienen das Stück zu lieben, aber die Menschen im Hotel meinten, es sei nicht angemessen für eine junge, unverheiratete Frau wie mich.“

Ob dieser Selbstbeschreibung von Cordelia unterdrückte Sid ein Kichern. „Nun, falls du es dir anders überlegt haben solltest, er ist mittlerweile auf der Heimreise und bringt das Stück nach New York. Ich kann es gar nicht erwarten, ihn wiederzusehen. Du nicht auch, Molly?“

„Ich freue mich sehr auf ihn. Und auf sein Stück.“ Ich schenkte Cordelia ein wissendes Grinsen.

Es wurde verhindert, dass diese recht unhöfliche Unterhaltung ausarten konnte, da jemand rief: „Am besten schnappt sich jeder ein Bündel und wir setzen uns in Bewegung. Das Schiff wartet auf uns.“

Wir taten, wie uns geheißen, und folgten der modischen Miss Ransom aufs Schiff. Eisschollen hatten sich gegen den Pier geschoben und das Boot knarrte und ächzte, während es sich einen Weg hindurch suchte und ins offene Wasser des Hudson hinaussteuerte. Dann waren wir aus dem Eis raus und fuhren in den Strom. Das schwarze Wasser wirbelte vorbei und wirkte düster und bedrohlich. Die Luft, die vom Atlantik hereinströmte, war eiskalt. Ich lehnte mich über die Reling und betrachtete die Insel, die mitsamt ihren Backsteingebäuden immer näherkam. „Es sieht aus wie ein Märchenschloss.“ Bridie kam zu mir und stellte sich neben mich. Ich konnte sehen, was sie meinte. Die Kuppeln und Spitzen waren mit Schnee und Eis bedeckt, und glitzerten im Licht der Wintersonne. „Ich erinnere mich nicht daran, dass es so schön war.“

„Nun, du warst noch sehr klein.“ Ich versuchte, sie anzulächeln, doch meine Wangen waren starr vor Kälte. „Ich bezweifle, dass du außer Schuhen viel zu sehen bekommen hast.“

Arbeiter eilten herbei, um das Schiff festzumachen, als wir uns dem Dock näherten. Ein uniformierter Beamter schob eine Gangway herüber und salutierte.

„Jeder nimmt sich ein Bündel“, sagte Gus mit strenger Stimme und junge Frauen sprangen auf, um dem Folge zu leisten.“ „Willkommen, die Damen“, rief der Beamte. „Commissioner Watchcorn hat mich gebeten, dafür zu sorgen, dass Sie alles haben, was Sie brauchen. Folgen Sie mir bitte. Es ist gerade eine neue Fähre eingetroffen und wir wollen sicherstellen, dass Sie zu den Tischen gelangen, die wir für sie aufgestellt haben, bevor sie bedrängt werden.“

Die Fähre musste von dem Ozeandampfer gekommen sein, den wir gerade gesehen hatten. Sie hatte neben uns festgemacht und ich betrachtete die Männer, Frauen und Kinder, die in einer langen Schlange vom Schiff strömten. Diese Menschen sahen aus, als könnten sie aus Ballykillin stammen. Wenn man fern der Heimat ist und Landsleute trifft, sieht jedes Gesicht wie das eines Familienmitgliedes aus. Diese Gesichter und die Kleidung, teils abgetragen und zerfetzt, teils die beste Sonntagskleidung, und selbst die Körbe und Kleiderbündel – das alles erinnerte mich an meine Kindheit. Und meine Kindheit als irisches Bauernmädchen, die mit Neid auf die herrschenden Engländer geblickt hatte, war nicht glücklich gewesen. Mein Herz pochte schneller. Ich erwartete beinahe, dass jemand in der Schlange den Blick heben und sagen würde: „Schaut euch Molly Murphy mit ihren Allüren an. Sie hält sich für etwas Besseres. Stell dich wieder in die Schlange, wo du hingehörst!“

„Ich bin jetzt Molly Sullivan“, rief ich mir ins Gedächtnis. „Keine mittellose, junge Frau aus Ballykillin, sondern die Ehefrau eines respektablen Polizisten.“ Dennoch blieb ich dicht bei Sid und Gus, als ich mit Mänteln und Schals im Arm das Schiff verließ. Obwohl ich wusste, wie lächerlich der Gedanke war, wurde ich das Gefühl mich los, dass man mich nie wieder aus diesem Gebäude lassen würde, wenn ich aus Versehen in die Schlange der Einwandernden geriet. Oder, was noch lächerlicher war, dass man mich nach Irland zurückschicken würde, wo aufgrund einiger Verbrechen, die ich begangen hatte, ein Kopfgeld auf mich ausgesetzt sein könnte. Als wir uns dem Haupteingang näherten, musste sich unsere Gruppe durch die Schlange derjenigen bewegen, die darauf warteten, in den Gepäcksaal im Erdgeschoss eingelassen zu werden. Die Männer traten höflich zurück und fassten sich an die Hüte oder Mützen.

„Wir haben auf der anderen Seite des Raums, in der Nähe der Wechselstuben einige Tische für Sie aufgestellt“, sagte der Beamte, der uns durch die Menge führte. „Dann können sich die Frauen dort warme Kleidung suchen, während die Männer anstehen, um ihr Geld wechseln zu lassen. Und draußen am Kissing Post stehen noch weitere Tische.“

„Wie bitte?“, fragte eine Frau aus unserer Gruppe erstaunt.

Der Mann grinste. „So heißt der Bereich an den Docks, wo die Einwanderer Fähren nach Manhattan oder zum Bahnhof am Jersey-Ufer besteigen“, sagte er. „Dort können Verwandte auf sie warten, von denen sie lange getrennt waren. Dabei wird immer reichlich geküsst, umarmt und geweint.“

Miss Ransom drehte sich zu Bridie und mir um. „Warum übernehmen Sie beide nicht den Tisch draußen an den Docks?“, fragte sie. „Ich glaube nicht, dass ich für die Kälte gut genug gewappnet bin. Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich die Skikleidung angezogen, die ich mir in der Schweiz zugelegt habe.“ Sie zeigte uns ein liebliches Lächeln.

Sie hätte sich kaum eindeutiger ausgedrückt, hätte sie gesagt: „weil Sie so aussehen wie die Bauern, die hier eintreffen.“

„Wir übernehmen gern den Bereich an den Docks“, sagte Gus. „Wir sind aus härterem Holz geschnitzt, nicht wahr, Bridie?“ Und sie eilte mit ihrem Bündel voraus.

Wir umrundeten das Gebäude und erreichten mehrere Tische, die man für uns aufgestellt hatte. Es strömten stetig Einwandernde aus dem Gebäude, auf dem Weg zu den Fähren nach New York oder New Jersey. Die meisten von ihnen, besonders die Menschen aus Südeuropa, waren erschreckend schlecht für das kalte Wetter ausgestattet. Manche Frauen trugen Baumwollkleider und auch die leichten Jacken oder Westen der Männer konnten wohl kaum die Kälte abhalten.

Ich wollte keine einzige dieser Personen ohne wärmere Kleidung weiterziehen lassen, und den anderen Frauen in der Gruppe schien es nicht anders zu ergehen. Wir verteilten schon Mäntel und Umhänge, bevor wir überhaupt die Tische erreichten, was Gus ärgerte.

„Meine Damen, bitte legen Sie die Sachen hier ab. Und alle, die warme Kleidung brauchen, stellen sich bitte in einer ordentlichen Reihe auf.“ Gus’ Stimme hallte durch die kalte Luft. Sie ließ uns die Kleider in Haufen auf den Tischen ablegen und sorgte dafür, dass die Menschen, die aus dem Hauptgebäude kamen, eine ordentliche Reihe bildeten. Manche von ihnen schleppten Körbe oder Koffer mit sich herum, die Frauen hielten ihre Kinder fest an der Hand, doch manche der jüngeren Männer schienen nichts als die Kleider an ihrem Leib zu haben. Da sie das Gebäude hinter sich gelassen hatten, lächelten sie, klopften sich gegenseitig auf den Rücken oder umarmten sich.

Ich knotete mein Bündel auf und machte mich daran, Mäntel, Schals und Schultertücher zu verteilen, die mir begierig aus den Händen gerissen wurden. Mir blieb kein Moment, um Luft zu holen, doch als ich zum ersten Mal den Blick hob, entdeckte ich eine junge Frau, die an den Docks in die Arme eines Mannes stürmte. Der Anblick rührte mich zu Tränen.

„Erinnerst du dich daran, wie überrascht dein Vater war, als er mich zu sehen bekam? Ich hatte große Angst davor, dass er mich verraten und laut rufen würde, dass ich nicht seine Frau bin.“ Ich drehte mich zu Bridie um, doch sie war nicht da. Ich sah mich rasch in dem Bereich der Docks um und blickte die aufgereihten Tische hinunter, doch ich konnte sie in dem Gedränge nicht ausmachen. „Sid, hast du Bridie gesehen?“

„Nein.“ Sid rief zu Gus, die weiter unten an den Tischen stand: „Hast du Bridie irgendwo gesehen?“ Gus hob den Blick und schüttelte den Kopf „Wann hast du sie zuletzt gesehen?“ Panik stieg in mir auf, während ich die Menge absuchte, die aus dem Gebäude strömte. Sie musste hier sein. Ich entdeckte eine Eisentreppe, die an der Seite des Gebäudes hinaufführte und stieg darauf, um eine bessere Sicht zu bekommen. Doch ich blickte auf die wogende See aus Menschen hinab und konnte Bridie nirgends ausmachen!

Drei

Ich lief auf dem Weg, den wir gekommen waren, um das Gebäude, während ich versuchte, mich daran zu erinnern, wann ich sie zuletzt gesehen hatte. Sie hatte neben mir gestanden, als Miss Random ihre spitze Bemerkung gemacht hatte, da war ich mir sicher. Die Fähre war voller Menschen, die nach Manhattan übersetzen wollten. Ich sah zu, wie sie sich vom Dock entfernte. Bridie wäre gewiss nicht irrtümlich an Bord gegangen oder von der Menge mitgerissen worden. Unser kleines Schiff lag immer noch am Kai, doch niemand war an Deck. Sie war direkt bei mir gewesen, als wir an Land gegangen und zum Gebäude geführt worden waren. Ich war Gus gefolgt und Bridie mir. Doch dann waren die Menschen auf uns eingestürmt, als wir angefangen hatten, Kleider zu verteilen, und ich hatte keine Zeit mehr gehabt, um nach ihr zu sehen.

Die Panik in mir wallte auf und ich versuchte, mich zu beruhigen. Sie war kein kleines Mädchen mehr, das ich nicht aus den Augen lassen durfte. Gerade als ich beschloss, zum Eingang des Gepäckraumes zu gehen und dort zu fragen, ob jemand Bridie gesehen hatte, tauchte sich aus dem dunklen Inneren auf, schob sich an der Schlange der wartenden Menschen vorbei und rannte mit ihrem großen Bündel von Mänteln auf mich zu. „Oh, Molly“, sagte sie. „Da bist du ja!“

Meine Erleichterung äußerte sich in Wut. „Was hast du da drinnen gewollt? Ich war krank vor Sorge. Ich dachte, du wärst mir gefolgt, doch als ich mich umsah, warst du nirgends zu sehen.“ Die Panik ließ meine Stimme barsch klingen und ein wenig zittern.

„Ich bin dir gefolgt!“, protestierte sie. „Zumindest dachte ich das. Ich sah dein leuchtend rotes Haar im Gebäude verschwinden und bin hinterhergelaufen. Ich konnte wegen der ganzen Mäntel vermutlich nicht genug sehen. Ich bin der Frau durch den Gepäckraum gefolgt und dann eine breite Treppe hinauf, zu den Ärzten, die dort alle untersuchen. Da dachte ich mir, dass das nicht richtig sein kann und als sie sich umdrehte, sah ich, dass das nicht du warst. Aber sie ähnelte dir wirklich: leuchtend rotes Haar, helle Haut und Sommersprossen. Und sie war auch ungefähr so groß wie du. Ich lief die Treppe wieder hinunter und versuchte, zur Tür hinauszugelangen, doch der Mann dort wollte mich nicht durchlassen. Er sagte, ich müsse warten, bis ich an der Reihe bin, und die Registrierung im Gebäude abschließen. Da verstand ich, dass er glaubte, ich sei mit den anderen Einwandernden von der Fähre gekommen.“

Sie unterbrach sich, als wir um die Ecke des Gebäudes kamen und uns der eisige Wind mit all seiner Kraft entgegenblies. Schließlich erreichten wir die Tische, an denen wir gearbeitet hatten. Sid kam zu uns. „Das ging schnell“, sagte sie und deutete zu den schrumpfenden Kleiderhaufen. „Viele dieser armen Leute haben nichts als die Kleider, in denen sie die Reise angetreten haben. Bridie, wohin bist du denn verschwunden? Ich glaube, Molly hat sich Sorgen gemacht.“

Sie wandte sich an mich. „Ich bin froh, dass du sie gefunden hast, Molly, auch wenn ich nicht glaube, dass ihr hier auf der Insel etwas hätte zustoßen können. Sie kann ja nirgends hin.“

„Dann solltest du wissen, dass ich beinahe entführt worden wäre!“, sagte Bridie theatralisch.

„Entführt?“ Sid warf mir einen besorgten Blick zu.

„Sie ist irrtümlicherweise ins Gebäude für die Registrierung geraten, weil sie einer Frau gefolgt ist, die sie für mich gehalten hatte“, erklärte ich. „Und dann hielt man sie für eine Immigrantin und wollte sie nicht wieder gehen lassen.“ Ich nahm Bridie das Kleiderbündel ah. „Wie hast du es denn am Ende rausgeschafft?“ Mir ging auf, dass Bridie beinahe der Alptraum widerfahren wäre, den ich mir für mich selbst ausgemalt hatte.

„Ich sagte ihnen, ich sei die Patentochter der Präsidentin des Vassar-Wohltätigkeitsvereins, und wenn sie mich nicht auf der Stelle zu den anderen Damen gehen lassen würden, müsse ich schreien und Commissioner Watchcorn davon berichten.“

„Das ist mein Vassar-Mädchen!“ Sid legte einen Arm um Bridie. Ich konnte sehen, dass sie Sids Aufmerksamkeit genoss, jetzt, da sie wieder bei uns in Sicherheit war. Und wenn ich so darüber nachdachte, war ich auch froh, dass Bridie für sich selbst einstehen konnte. Ihr war nichts zugestoßen und sie hatte bewiesen, dass sie auf sich aufpassen konnte. Vielleicht färbte mein Wesen in wenig auf sie ab. Das hätte auch ich sein können, die in Schwierigkeiten geriet und dann irgendwie einen Ausweg fand!

Als sie Gus auf der Rückfahrt mit dem Schiff davon erzählte, hatte sie noch einige Ausschmückungen hinzugefügt, um die Geschichte aufregender zu machen. Die Frau, der sie gefolgt war, sah mittlerweile aus wie meine eineiige Zwillingsschwester und der uniformierte Beamte, war zwei Meter zehn groß und sagte, er würde sie verhaften, wenn sie sich nicht wieder in die Reihe stelle.

„Du bist eine Schwätzerin, meine Liebe.“ Ich lachte und Sid fiel mit ein: „Ist das das schüchterne kleine Mädchen, das sich weigert, auch nur mit einem Wort für sich einzustehen?“

„Das ist wohl unserem guten Einfluss geschuldet. Wir haben ihr in jüngster Zeit Abenteuerromane zu lesen gegeben“, fügte Gus hinzu.

„Das war also der Grund?“, fragte ich kichernd. „Sie ist zu sehr mit ihrer Fantasie beschäftigt, um darauf zu achten, wo sie hingeht. Sah mir diese Frau wirklich ähnlich, oder hast du dir das auch nur ausgedacht?“

„Nein, das stimmt, Molly, ihr Haar sah von hinten genau wie deines aus.“ Bridie nickte ernst. „Und ihr Gesicht wirkte auch sehr ähnlich, als sie sich herumdrehte.“

„Nun, das werden wir Daniel erzählen müssen. Die Geschichte wiederholt sich auf Ellis Island.“

„Ich schätze, es ist nicht ungewöhnlich, dass eine Irin mit rotem Haar unter den Einwandernden ist, oder?“, fragte Gus.

Ich sah mich um. „Was ist aus der Frau mit den Allüren geworden? Ransom hieß sie, oder?“

„Oh, die!“ Sid warf Gus einen wissenden Blick zu. „Sie war schon immer anstrengend, selbst im College. Wir mussten uns ständig anhören, wie viel Geld ihr Vater verdient und wie viele Zimmer ihr Cottage in Newport, Rhode Island hat.“

„Sie war nicht sehr nett“, steuerte Bridie bei. „Sie hat Molly und mich angesehen, als hätten wir kein Recht, Teil ihrer Gruppe zu sein.“

„Das ist reine Verunsicherung“, sagte Gus. „Ich bin froh, bei Professor Freud studiert zu haben. Jetzt weiß ich alles über Komplexe, und sie hat definitiv einige.“

Ich war froh, dass wir zusammen darüber lachen konnten, und dass die anderen sie ebenso lästig fanden wie ich. „Und wohin ist sie verschwunden?“, fragte ich.

„Sie ist früher gegangen. Sie meinte, sie habe sich mit einem schweren Bündel den Rücken verhoben und müsse sich ausruhen“, sagte Gus. „Ich nehme an, dass sie eine Verabredung zum Abendessen hatte, für die sie sich zurechtmachen musste.“

Das Schiff schob sich knirschend durch die Eisschollen in der Nähe der Piers. Unser treuer Chauffeur wartete und da wir kein zusätzliches Gepäck mehr bei uns hatten, stiegen wir alle zusammen ins Automobil.

„Wie ist es gelaufen?“, fragte Mrs. Sullivan, als wir nach Hause kamen. „War Mrs. Sage persönlich vor Ort? Und die Frau des Police Commissioners? Hattest du Gelegenheit dazu, fruchtbare Unterhaltungen mit ihnen zu führen und Daniel zu erwähnen?“

„Mrs. Sage ist nicht persönlich gekommen“, sagte ich, während ich zum Herd ging, um mir eine Tasse Tee einzuschenken. „Sie war so gut, uns ihr Automobil zu schicken und ihr armer Chauffeur hat stundenlang auf unsere Rückkehr warten müssen.“

„Das ist eben die Aufgabe eines Chauffeurs“, kommentierte Mrs. Sullivan. „Kommt her und setzt euch, ihr beiden. Ich habe Scones gebacken. Der Kleine war wirklich ein Goldjunge. Nachdem er von seinem Mittagsschlaf erwacht ist, wollte er noch einmal im Schnee spielen, deshalb bin ich ein paar Minuten mit ihm nach hinten in den Garten gegangen und wir haben einen Schneemann gebaut. Nicht sehr beeindruckend, aber für Liam schien er gut genug zu sein.“

„Das ist wirklich sehr lieb, Mutter Sullivan“, sagte ich und nahm mir ein Scone. „Ich weiß, dass du die Kälte nicht magst.“

„Und hattest du auch Spaß, junge Frau“, fragte sie Bridie, die sich gerade neben mich gesetzt hatte.

„Sie hat sich ein wenig verirrt und wurde für eine Immigrantin gehalten.“ Ich warf Bridie ein wissendes Lächeln zu.

„In dem Gedränge bin ich einer Frau hinterhergelaufen, die wie Molly aussah, und dann wollte man mich nicht wieder aus dem großen Raum rauslassen“, sagte Bridie schüchtern.

„Aber diese junge Frau war schlau genug, den Beamten mitzuteilen, dass sie zu den Vassar Damen gehört, und dass sie nach der Frau des Commissioners rufen würde, wenn man sie nicht gehen ließe.“ Ich betrachtete sie mit Stolz.

„Ach, wirklich? Dann wurde eure Mission also gut aufgenommen?“

„Oh, Mutter Sullivan, du machst dir keine Vorstellung. Viele der Einwandernden kamen aus Italien oder anderen warmen Ländern. Sie hatten so dünne Sachen an. Alle waren sehr dankbar. Und es war ein guter Tag, nicht wahr, Bridie?“

Sie nickte. „Ja. Es ist schön, anderen Menschen helfen zu können. Ich glaube, das möchte ich auch tun, wenn ich irgendwann die Schule abgeschlossen habe. Vielleicht als Lehrerin oder gar als Ärztin?“

„Das sind große Träume“, sagte Daniels Mutter.

„Halt daran fest“, konnte ich mir nicht verkneifen.

Nachdem wir uns mit Tee und Mutter Sullivans Scones gestärkt hatten, machte ich mich an die Vorbereitung des Abendessens: Schweinekoteletts mit Kohl und Kartoffeln, dazu als Nachtisch einen Sponge Pudding mit Marmeladensoße. Um halb sieben war alles zum Auftischen bereit. Um halb acht war ich ein wenig verärgert und verkündete, dass wir essen würden, während ich Daniels Kottelet, das größte der vier, in den Ofen schob. Wir aßen, ich brachte Liam ins Bett und setzte mich dann ins hintere Wohnzimmer, wo Bridie ein Buch las, und meine Schwiegermutter häkelte, doch Daniel ließ sich immer noch nicht blicken. Um neun Uhr fing ich an, mir Sorgen zu machen. Ich rief mir ins Gedächtnis, dass die Arbeit eines Polizisten nie ganz ungefährlich war. Er war in der Vergangenheit bereits angeschossen worden und war mehrfach in Lebensgefahr gewesen. Jetzt da er der Kopf der Mordkommission war, sollte er sich in der Theorie nicht mehr in Gefahr begeben, indem er sich auf der Straße Kriminellen stellte, sondern nur noch ermitteln, nachdem das Verbrechen geschehen war. Wo blieb er also?

Ich schickte Bridie ins Bett. Mrs. Sullivan verkündete, dass sie müde sei und ebenfalls schlafen gehen würde. Ich füllte ihre Wärmflaschen mit heißem Wasser und setzte mich wieder ans Feuer. Es war mittlerweile heruntergebrannt und es kam mir nicht richtig vor, so spät am Abend noch Kohlen nachzulegen, daher rückte ich meinen Sessel näher heran und wickelte mich in mein Schultertuch ein. Verflixt noch mal, wo steckte der Mann? Und warum hielt ich es für eine schlechte Idee, dass er in die Politik gehen sollte, wo niemand auf ihn schießen würde? Dann fiel mir allerdings wieder ein, dass bereits mehrere Präsidenten erschossen worden waren. Das war also auch alles andere als ein ungefährlicher Beruf!

Um halb elf war ich bereits halb weggedämmert, als ich die Haustür hörte. Ich sprang aus meinem Sessel und stürmte in den Flur. „Da bist du ja endlich“, sagte ich, während er die Tür hinter sich schloss. „Ich war krank vor Sorge um dich. Warum hast du mir keine Nachricht zukommen lassen, als du wusstest, dass du dich verspäten würdest? Du hättest jemanden schicken können.“

Er wickelte sich den Schal vom Hals und hängte seinen Mantel an den Haken im Flur. „Es tut mir leid, Molly. Ich wusste, dass du dir Sorgen machen würdest, aber ich konnte nichts tun. Du musst wissen, dass ich auf Ellis Island festhing, ohne Zugang zu einem Telefon.“

„Ellis Island?“ Ich kreischte die Worte beinahe. „Und was in Gottes Namen hast du dort gemacht?“

Ein schiefes Grinsen schlich sich auf seine Lippen. „Das wirst du mir niemals glauben, Molly, aber heute wurde auf der Insel ein Mann ermordet. Und unsere Hauptverdächtige sieht aus wie du!“