Prolog
Alizée
Es ist kalt und düster um mich herum, als ich benommen die Augen aufschlage. Mir dröhnt der Kopf und mein Sichtfeld ist leicht verschwommen. Durch meine Ohren dringt ein dumpfes Rauschen, das sich, je mehr ich zu mir komme, wie Bass anhört. Eine Strähne meiner Haare kitzelt meine Nase. Ich will sie wegstreichen, doch ich spüre einen Widerstand, als ich die Hände, die ich hinter dem Rücken halte, nach vorne holen will. Etwas Hartes wie Plastik schneidet mir dabei in die Handgelenke. Ich schnappe nach Luft und spüre Stoff über meinen Lippen, der an den Seiten in meinen halb geöffneten Mund einschneidet. Er schmeckt nach kaltem Zigarettenqualm und die kratzigen Fussel auf meiner Zunge bringen mich zum Würgen. Meine Beine habe ich angezogen und der raue Epoxidboden unter mir ist glatt und kalt. Doch die Wand hinter meinem Rücken scheint noch kälter zu sein. Da hilft auch meine Jacke nichts, da die Kälte hindurchdringt und mich bis ins Mark erschauern lässt. Kurzzeitig entgleitet mir mein Sichtfeld, denn meine Lider sind so schwer, dass ich immer wieder in eine Art Sekundenschlaf falle.
Ein lautes Krachen in der Ferne lässt mich hochschrecken. Unter einer Tür dringt plötzlich ein schmaler Lichtstreifen hervor und bietet mir immerhin eine kleine Lichtquelle. Hektisch atmend sehe ich mich in dem kleinen Raum um und versuche, mir alles ganz genau einzuprägen. An der Wand gegenüber hängt ein Kalender, der ein leicht bekleidetes Mädchen zeigt, das sich lasziv an einem Sportwagen räkelt.
Als mein Blick nach unten wandert, entdecke ich einen Stapel Autoreifen, einen alten Schreibtisch, auf dem ein riesiger Papierberg und geöffnete Briefumschläge liegen. Auf dem Boden steht ein Aktenvernichter und am Rand des Tisches mache ich eine weiße, mit Kugelschreibern gefüllte Tasse aus, auf der mir Homer Simpson entgegengrinst, was mich eher verstört, statt meine Stimmung aufzuhellen. Wo zum Teufel bin ich?
Je mehr ich zu mir komme, desto deutlicher nehme ich die Fremdkörper wahr, die in meinen Ohren stecken. Vorsichtig neige ich meinen Kopf seitlich zur Wand und reibe mit dem Ohr über die raue Oberfläche, um das Ding herauszukriegen. Leider scheuere ich mir dabei die Wange wund; kurz darauf ist der verfluchte Stöpsel endlich draußen. Sofort dröhnt mir elektronische Musik in die Ohren. Der Stöpsel auf der anderen Seite muss ebenfalls raus. Das gelingt mir nur, indem ich auch die andere Wange wund reibe. Wenigstens sieht es jetzt symmetrisch scheiße aus. Aber das ist mein geringstes Problem. Ich muss diese verdammten Fesseln loswerden. Der Kabelbinder ist so festgezurrt, dass meine Hände keinerlei Spielraum haben.
Mein Blick wandert zum Schreibtisch, in der Hoffnung, einen Brieföffner oder etwas anderes zu entdecken, das mir aus diesen Fesseln hilft. Da ich aus meiner Position den Schreibtisch nicht vollständig überblicken kann, schiebe ich mich an der Wand hoch. Meine Jacke gibt scheuernde Geräusche von sich. Ich halte inne und recke meinen Kopf ein kleines Stück nach oben, doch es ist zu düster, als dass ich mehr erkennen könnte. Ich überlege, was ich tun soll. Ob ich es wagen kann, mich näher im Raum umzusehen – sofern das bei dem geringen Lichteinfall möglich ist? Bevor ich meine Gedanken vertiefen kann, höre ich ein nahes lautes Knacken.
Ein Schloss wird aufgeschlossen.
Nur einen Wimpernschlag später fliegt die Tür auf. Mein Herz macht einen Sprung und ich lasse mich sofort auf den Po fallen, als hätte ich es nie gewagt aufzustehen. Mit aufgerissenen Augen starre ich auf die geöffnete Tür, in deren Rahmen ein Mann lehnt.
Er ist groß und breitschultrig, hat stämmige Beine und mittelkurzes Haar. Das Licht, das hinter ihm vorbei zu mir in den Raum gleitet, lässt ihn für ein paar Sekunden wie einen Engel erscheinen. Ich kann nur seine Silhouette und nicht sein Gesicht sehen, doch seine Präsenz, die den ganzen Raum einnimmt, erfasst mich wie eine Welle. Eine Welle von etwas Geheimnisvollem, Dunklem und dennoch Anziehendem. Ein holzig-herber und zugleich balsamisch-süßer Mix aus Eichenmoos, Patschuli und Zypressen dringt mir dezent entgegen. Der „Engel“, der höchstwahrscheinlich der Teufel in Person ist und wie ein Gott duftet, tritt einen Schritt auf mich zu, sagt jedoch nichts.
Ich bin verstummt. Meine benebelten Sinne scheinen einen Kurzschluss in meinem Gehirn ausgelöst zu haben. Wie kann ein Mensch, der mich offenbar in eine ziemlich bedrohliche Situation gebracht hat, so gut riechen, dass alles in mir nach Fortpflanzung schreit?
Die dunkle Männergestalt greift in die Tasche seines beigen Wollmantels und holt einen dunklen Stoff hervor. „Augen zumachen“, befiehlt er mir knapp in Englisch, aus dem ich sofort einen russischen Akzent heraushöre.
Mit klopfendem Herzen befolge ich seine Anweisung. Ich werde besser tun, was er sagt und kein Wort sprechen. Ich hoffe, dass mich das noch ein wenig am Leben hält. Wenn ich an die Person geraten bin, die ich befürchte, wird Widerstand mein Todesurteil sein.
Seine Schritte werden lauter, verhallen und plötzlich ist sein betörender Duft ganz nah an mir. Kurz darauf spüre ich, wie er mir die Augen verbindet, was mein Herz weiter zum Rasen bringt. Seine großen Hände mit den langen Fingern berühren meinen Kopf.
Ich zittere am ganzen Körper und versuche ruhig zu atmen, bevor ich in Panik verfalle und hyperventiliere. Ich muss bei klarem Verstand bleiben, mir alles einprägen, was ich höre und meine Sinne schärfen. Aber dieser Duft treibt meinen ohnehin benebelten Verstand an den Rand des Wahnsinns. Was ist das hier? Ein Engel zu Besuch in der Hölle? Verbissen versuche ich, mich daran zu erinnern, wie ich hierhergekommen bin, doch eine Blockade meiner Amygdala verhindert das Durchsickern von Informationen und lässt nichts als einen riesigen Schatten zurück.
„Wo bringen Sie mich hin?“, platzt es in Englisch aus mir heraus, obwohl ich mir geschworen hatte, die Klappe zu halten.
„Keine Fragen“, brummt der Mann, der garantiert kein Engel ist. „Los. Aufstehen.“
Zitternd schiebe ich mich an der Wand hoch, so wie ich es wenige Minuten zuvor getan habe. Scheinbar zu langsam, denn mit einem Ruck wird mir unter die Arme gegriffen und schon stehe ich.
„Komm“, befiehlt der Teufel und zieht mich am Arm.
Doch meine Beine tragen mich keinen Meter vorwärts. „Wo bringen Sie mich hin?“
„Keine Fragen!“ Die dunkle, aber klare Stimme klingt missmutig.
Plötzlich umgreift etwas meine Beine, ich werde hochgehoben und baumle kurz darauf kopfüber über einer harten und breiten Schulter. Ich spüre den weichen Stoff seines Mantels an meinem Gesicht. Sein Duft ist überall und erweckt meine Libido in diesem unpassenden Moment zu neuem Leben. Ich muss völlig irre sein, denn obwohl ich gerade verschleppt und in Kürze den sicheren Tod finden werde, bin ich erregt. Bevor ich hier aufgewacht bin, muss ich einen kräftigen Schlag auf den Kopf bekommen haben, durch den sich die Synapsen in meinem Gehirn gelöst und falsch neuverkabelt haben. Anders kann ich mir das humide Klima zwischen meinen Schenkeln nicht erklären.
1. Kapitel
Alizée
Frankreich: Côte d’Azur, Anwesen der Les Rois Noirs
Zwei Wochen zuvor
Die schweren Samtvorhänge sind halb zugezogen und Anspannung liegt in der Luft. Zusammen mit Emilian sitze ich im Konferenzraum und warte darauf, dass die russischen Gäste eintreffen, die er als neue Geschäftspartner anwerben will, um den Waffenhandel zugunsten der Les Rois Noirs global weiter auszudehnen. Von Zoé habe ich erfahren, dass die Russen mächtige Männer sind, mit denen man es sich nicht verscherzen sollte. Ich hoffe, Emilian ist das bewusst.
Nervös spielt er mit dem Siegelring an seinem Finger, den Mario früher getragen hat, wie Emilian stets gern und stolz erzählt. Ich glaube, er sieht sich ziemlich gern in der Rolle seines Nachfolgers, obwohl diese eigentlich Lion zugeschrieben ist.
Das monotone Ticken der alten Standuhr macht mich langsam unruhig, denn es ist in dieser Situation kein einschläferndes Geräusch.
Dimitri Barkow und Artjon Solokow müssten längst hier sein.
Zoé hat mich dringend dazu angehalten, mich unauffällig zu verhalten und mit keiner Silbe in irgendein Gespräch einzumischen, weil die beiden schwierige, aber lukrative Geschäftspartner sind.
„Bist du nervös?“ Ich richte mich an Emilian, der immer noch seinen Ring hin- und herdreht.
„Ich?“, fragt er augenrollend, als wäre meine Frage unangebracht und schnalzt dann verneinend mit der Zunge. „Blödsinn. Ich doch nicht. Das sind die gleichen Ganoven wie die Boullards oder die anderen Clans hier. Nur, dass sie russisch, beziehungsweise mit uns Englisch sprechen.“
Schulterzuckend nehme ich Emilians Aussage hin, aber die kleinen Fältchen, die sich auf seiner Stirn bilden, wenn er sich unbeobachtet fühlt, verraten ihn. Er würde niemals zugeben, dass er nervös ist. In ihm steckt ein guter Schauspieler. Allerdings kennen wir uns langsam ziemlich gut, daher weiß ich es besser. Er ist total aufgeregt. Bevor ich mich dazu entschließe, ihn mit seiner Nervosität aufzuziehen, öffnet sich die große Tür zum Konferenzraum unter einem Klopfen.
Zoé tritt vor. „Die Herren Barkow und Solokow sind nun da.“
Emilian und ich schlucken gleichzeitig und erheben uns von unseren Plätzen.
„Lass mich nur machen, okay? Du brauchst nichts weiter zu tun, als brav zu nicken und zu lächeln.“
Sofort nicke ich, damit er sieht, dass ich verstanden habe und streiche mein feines Kostüm glatt, zu dem ich meine platinblonden Haare heute ausnahmsweise hochgesteckt trage.
Kurz darauf sind schwere Schritte zu hören.
Ich stelle mir die beiden im Geiste ganz genau vor, bevor sie überhaupt den Raum betreten haben. Sie tragen wahrscheinlich sündhaft teure Anzüge, Schmuck und dicke Uhren. Doch als die beiden den Konferenzraum betreten, staune ich.
Der Ältere von beiden trägt Adidas-Schuhe und einen Jogginganzug – ebenfalls von Adidas. Die Initialen DB sind auf Brusthöhe seiner Sportjacke aufgestickt, was mir die Vermutung nahelegt, dass es sich um den Clanchef handeln muss. Dimitri Barkow ist ein hochgewachsener Mann von ungefähr sechzig Jahren mit kleinen, eng beieinanderstehenden Augen und einer langen Knollennase über dem rasierten Kinn. Ich wette, das sportliche und ziemlich großzügig aufgetragene Parfüm ist ebenfalls von Adidas. Mit schweren Schritten hält er auf Emilian und mich zu, mustert erst ihn und dann mich aus seinen trüb-graublauen Augen.
„Dimitri Barkow, es ist mir eine außerordentliche Freude“, begrüßt Emilian ihn ein wenig zu überschwänglich.
„Gleichfalls“, antwortet der Russe nüchtern und sieht Emilian an, als frage er sich, aus welchem Zirkus der wohl entlaufen ist. Barkow zieht eine Zigarre aus der Hosentasche und zündet sie an. Dabei entsteht eine riesige Qualmwolke, die mich husten lässt.
„Das ist meine Lebensgefährtin Alizée Roux“, stellt Emilian mich vor.
Höflich nicke ich dem Russenboss zu, und spüre meine eigene Unsicherheit, denn von Barkow geht eine gefährliche Energie aus. Ich habe schon als kleines Mädchen ein Gespür dafür gehabt.
Wenn mein Vater Messen hielt, war in der Kirche jedes Mal ganz deutlich zu spüren, wenn Ex-Häftlinge anwesend waren, die sich im Knast plötzlich Gott zugewandt hatten und seitdem jeder Messe frönten. Drei von ihnen waren jeden Sonntag da. Sie saßen stets in einer der mittleren Kirchenbänke und ohne hinzusehen, wusste ich genau, wo.
„Und Sie müssen Artjon sein“, reißt mich Emilians Stimme aus meinen Gedanken und ich richte meine Aufmerksamkeit auf den Mann, der aus Dimitris Schatten tritt.
Er ist deutlich jünger als Barkow und ein wenig kleiner, aber garantiert auch über eins achtzig. Artjon hat kurzes, mittelblondes Haar und ein zugegeben hübsches Gesicht mit markanten Zügen und ozeanblauen Augen, aus denen er Emilian und mich kritisch mustert. Zwischen seinen Lippen, die ein akkurat getrimmter Dreitagebart umspielt, steckt eine Zigarette, deren Glut hell aufleuchtet.
Ich frage mich, ob sie immer ungefragt alles vollqualmen, wenn sie irgendwo zu Besuch sind.
Dieser Artjon ist mir auf den ersten Blick unsympathischer als Barkow. Und dass, obwohl Artjon Solokow weitaus stilsicherer gekleidet ist als sein Chef, was bei mir als ehemaliger Modestudentin immer Pluspunkte bringt. Artjon trägt seinen feinen, beigen Wollmantel halb offen über dem dunklen Anzug. Als Barkow einen Schritt zur Seite geht, stolziert Artjon gemächlich an ihm vorbei und schüttelt Emilian die Hand. Dabei dringt mir der eigenwillige und zugleich wahnsinnig fesselnde Geruch aus einem Mix von Eichenmoos, Patschuli und Zypressen in die Nase. Mein Körper reagiert mit einem Anstieg meiner Körpertemperatur und meines Pulses.
„Das ist mein Neffe. Artjon Solokow“, stellt Dimitri ihn vor.
„Hallo.“ Artjon, der mich bisher keines Blickes gewürdigt und Emilian nur mürrisch die Hand geschüttelt hat, dreht sich in meine Richtung. Unsere Blicke treffen sich. Erst rümpft er überheblich die Nase, hält jedoch einen Augenblick inne. „Hm“, brummt er feststellend und kneift die Augen ein wenig zusammen.
Hm? Was für eine rhetorische Höchstleistung. Dich habe ich jetzt schon gefressen, mein Freund.
Artjon mustert mich. Das tiefe Blau seiner Iriden scheint in mein Innerstes vorzudringen und versetzt mir einen pulsierenden Schlag zwischen die Schenkel. Moment mal. Was war das denn, bitte? Drehe ich jetzt völlig am Rad? Mein Freund steht neben mir und dieser arrogante und unsympathische Gangster macht mich unfreiwillig an? Das habe ich wohl geträumt! Sofort wende ich den Blick von ihm ab, bevor ich noch rot werde. Aus dem Augenwinkel heraus sehe ich, dass Artjon sich Emilian und seinem Onkel zuwendet.
„Dimitri.“ Der Chef hält mir seine große Hand mit den fleischigen, dicken Fingern hin.
Ich zucke leicht zusammen und starre auf seine Pranke, die so stark scheint, dass er meine Hand mit Leichtigkeit zermalmen könnte. Höflich halte ich ihm meine zierliche Hand hin und bin froh, dass er sie behutsam schüttelt.
„So kleine Hände. Wie die eines Kindes“, bemerkt er belustigt und auf eine bizarre Art bewundernd, als er sie loslässt und mit seinen rauen Fingern über meinen Handrücken streicht.
Ein unangenehmer Schauer überkommt mich. Dieser Dimitri löst Ekel, Artjon Abneigung und – verdammt noch mal! – Erregung in mir aus. Ich sollte besser auf Zoé hören und mich im Hintergrund halten. Und mich was schämen. Bin ich schon so untervögelt? Seit dem halben Jahr, in dem Emilian Lions Geschäfte übernommen hat, sind wir nicht mehr so oft im Bett wie vorher. Wenn es einmal in der Woche ist, bin ich glücklich.
„Nun, besprechen wir, warum ich Sie eingeladen habe. Wollen wir uns nicht setzen?“ Emilians Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. Er weist mit der Hand auf den runden Tisch.
Dimitri nickt und macht einen Schritt auf die Stühle vor dem Tisch zu, doch sein Neffe regt sich nicht.
„Ohne die Frau“, knurrt das arrogante, nach Sex-Gott duftende Arschloch.
Bitte? Ich habe mich wohl verhört! Irritiert sehe ich zu Emilian, der mir zunickt und dann mit dem Kopf auf die Tür deutet. Ist das sein Ernst? Bisher durfte ich bei allen Geschäftsgesprächen dabei sein und nun werde ich vor die Tür gesetzt, nur weil dieser Lackaffe mich nicht dabeihaben will?
Zoés mahnende Worte kreisen durch meinen Kopf und bewegen mich zum Nachgeben. Ohne zu murren, trete ich vor. „Meine Herren.“ Ich nicke erst Dimitri zu, doch als mein Kopf in Artjons Richtung wandert, vergesse ich für einen Augenblick meine guten Manieren und werfe ihm einen missbilligenden Blick zu, den ich eine Sekunde später mit einem Lächeln untermale. Der Penner soll wissen, woran er bei mir ist. Da kann er noch so verführerisch riechen. Er ist ein Arschloch.
Wie von einem Lackaffen zu erwarten, reagiert er nicht auf mich, also marschiere ich auf die Tür zu. Kurz bevor ich sie öffne, drehe ich mich um und sehe, dass die Herrschaften bereits am Tisch Platz genommen haben. Pah, das muss ich mir nicht geben. Ich habe schließlich auch meinen Stolz, tröste ich gedanklich mein gekränktes Ego und verlasse den Konferenzraum.
2. Kapitel
Artjon
Moskau
Zwei Tage später
Lauter Bass dringt aus dem Club, als Dimitri, der französische Lackaffe und sein Blondchen mit uns aus der Limousine steigen. Wir haben sie kurz zuvor aus ihrem Hotel in der Moskauer City abgeholt, in das Dimitri sie eingeladen hat.
Er liebt es, neue Geschäftsleute kennenzulernen.
Die Türsteher machen uns ehrfürchtig Platz und scheuchen das Partypublikum ein Stück beiseite. Wir treten über einen roten Teppich durch den VIP-Eingang, direkt neben einer großen Menschenschlange, von denen kaum die Hälfte eintreten darf. In Dimitris Club Nochnoy blesk darf nur ausgewähltes, reiches Publikum.
Wir geben unsere Jacken an der Garderobe ab und bahnen uns den Weg durch die tanzende Menge.
Dimitri geht voraus, unsere Gäste dicht hinter uns. Ich persönlich halte es für eine sinnlose Idee, diesen Croissant-Fresser und seine kleine Freundin einzuladen, aber mich fragt ja keiner und was mein Onkel sagt, wird gemacht.
Mein Onkel. Nach dem tödlichen Autounfall meiner Eltern, als ich fünf war, hat es sich dieser sadistische Wichser zur Aufgabe gemacht, mich großzuziehen. Wobei das Wort in diesem Bezug nichts mit erziehen, sondern mit verziehen zu tun hat. Zunächst hat mein Onkel mich meiner Identität beraubt, denn ich heiße Artjom. Das M, so hat er gesagt, klinge nach Muschi, würde mich weich machen – das N höre sich viel härter an. Also nannte er mich nach meinem Einzug bei ihm Artjon. Der einzige Grund, aus dem ich meinen Namen Solokow nicht gegen Barkow eintauschen musste, war, dass ich für Dimitri eine Last dargestellt habe. Er hat mich einzig und allein deshalb aufgezogen, weil mein Großvater es von ihm erwartet hat. Dieser war in den Augen des Jugendamtes bereits zu alt gewesen, sonst wäre ich viel lieber bei ihm aufgewachsen. Großvater war stets gut gelaunt und hat sich gefreut, wenn ich ihn besuchen durfte.
Bei meinem Onkel war schlechte Laune an der Tagesordnung. Um sich den Platz als Nachfolger meines Großvaters zu sichern, hat er mich, wenn auch widerwillig, bei sich aufgenommen. Dimitri hat mich geduldet, aber nicht geliebt oder gar gemocht. Mit den Jahren haben wir allerdings gelernt, miteinander auszukommen.
Der schwer bewachte Kleinpalast meines Onkels, kam mir anfangs wie ein Paradies, aber später wie ein Gefängnis vor. Dimitri lebte im Luxus, während meine Eltern zu Lebzeiten ein eher bescheidenes Dasein bestritten.
Eine Art Vater ist Dimitri mir nie gewesen und ein gutes Vorbild schon gar nicht. Die Liebe und Zuwendung, die ich bis zu meinem fünften Lebensjahr durch meine Eltern erfuhr, hat er mir zu keiner Zeit gegeben – nicht einmal auf deren Beerdigung. Bei ihm waren Strenge, Konsequenz und Bestrafung an der Tagesordnung. Dimitri hat seine ganz eigene Lebensphilosophie: Alle sind Abschaum, außer den Barkows. Die einzige Ausnahme waren meine Eltern. Meine Mutter hat ihren Mädchennamen nach der Heirat abgegeben, was meinen Onkel sehr verärgert hat, doch die Liebe zu ihr hat ihn in dieser Sache nachgiebig werden lassen. Das war allerdings ein Einzelfall, denn Dimitri ist kein nachgiebiger Mensch. Er ist herrschsüchtig, arrogant und stellt sich über alles und jeden. Niemand aus unserer Organisation würde es wagen, ihm zu widersprechen. Denn wer das tut, bekommt die dunkle Seite meines Onkels zu Gesicht. Die blutrünstige, gnadenlose Seite, vor der selbst der Teufel in der Hölle Angst hätte.
Im Alter von zehn Jahren wurde ich zum ersten Mal Zeuge dieser dunklen Seite. Ich war bei einer Exekution dabei, die mein Onkel an einem ehemaligen Mitglied unserer Organisation durchgeführt hat. Ich rieche noch den Angstschweiß und den Eisengeruch in dem kleinen, dunklen Raum, in den mein Onkel mich mitgenommen hatte. Dimitri wollte, dass ich mich seitlich an die Wand stelle und ganz genau hinsehe. „Wenn du kotzt, gibt es zehn Schläge mit dem Gürtel!“, hatte er mir gedroht. Also habe ich mich an die Wand gestellt und versucht, an etwas Schönes zu denken, um Herr meines Mageninhaltes zu bleiben und keine Schläge zu kassieren.
Der Kerl, dem die Exekution bevorstand, hatte unsere Leute an einen verfeindeten Clan verraten. Das ließ ein Dimitri Barkow nicht auf sich sitzen. Er hat den miesen Verräter so eingeschüchtert, dass dieser sich in die Hosen geschissen hat. Die Furcht in seinen Augen habe ich nie vergessen können. Noch weniger den Augenblick, in dem mein Onkel eine Machete gezogen und dem Mann den Kopf abgeschlagen hat. Zunächst war ich so erschrocken, dass ich in eine Art Schockstarre gefallen bin. Doch als mein Onkel mich anwies, den Kopf aufzuheben und mit aus dem Raum zu nehmen, rebellierte alles in mir. Natürlich habe ich gekotzt und daraufhin Schläge kassiert. Aber mein Onkel hat auch seine großzügigen Seiten – wenn auch nicht sehr viele. Dann ist er freundlich und zuvorkommend, wie heute. Mit den Jahren habe ich mich ihm bewiesen, Aufträge ausgeführt und stieg so zu Dimitris engstem Verbündeten auf. Mach dir deinen Feind zum Freund und dir kann nichts passieren. Ich erledigte meine Aufgaben so präzise und scharfsinnig, dass ich innerhalb unserer Organisation zu John, dem Falken wurde. John, weil es die letzten drei Buchstaben meines Namens enthält und weil es mir meine Herkunft gänzlich entzieht. Genau, wie Dimitri es wollte. Trotzdem nennt er mich ständig Artjon.
„Wir setzen uns in die Black Lounge“, spricht Dimitri vor mir, ohne dass er sich zu mir umdreht, als wir uns durch die Partygäste drängen.
Die Black Lounge. War ja klar. Das ist der besondere Bereich unseres Clubs, wo sich die Gäste nicht nur zurückziehen können; hier warten leicht bekleidete Schönheiten darauf, den Gästen jeden Wunsch von den Lippen abzulesen. Jeden. Ohne Ausnahme. Egal ob Blowjob oder Massagen.
Die Black Lounge ist von den anderen Lounges abgeschirmt und trägt ihren Namen nicht nur wegen des Sitzbereiches mit den schwarzen Bezügen. Sie heißt so, weil die Mädchen dort rattenscharfe Korsetts tragen, die ihre Brüste hervorpressen und schwarze Röcke, die so knapp sind, dass man genau sieht, dass sie nichts darunter tragen. Ich glaube, das wird unserem Croissant-Fresser gefallen. Seiner Freundin wahrscheinlich nicht, aber die hat ihren Mund zu halten. Dieses kleine Blondchen kann froh sein, dass Dimitri sie dabeihaben wollte. Aber nur, weil sie zu dem Typen gehört und ganz hübsch ist. Keine Ahnung, vielleicht fickt Dimitri sie auch einfach, wenn Emilian und ich uns mit den Weibern beschäftigen.
Wenn meinem Onkel eine Frau gefällt, nimmt er sie sich. Wobei ich bei dieser Barbie nicht ganz sicher bin, ob sie seinem Typ entspricht. Ist mir auch egal. Hauptsache, die Kleine hängt uns nicht den ganzen Abend am Bein. Frauen haben bei unseren Geschäftstreffen einfach nichts zu suchen.