Leseprobe Salzige Küsse und Meeresliebe

1. Kapitel

Sand schmeckt überall anders. Eine Erkenntnis, auf die ich gerne verzichtet hätte. Dieses Mal hängt eine bittere Note in meinem Mund, breitet sich auf meiner Zunge aus und lässt mich schaudern. Lieber nicht daran denken, was diesen ekligen Geschmack verursacht.

Ich reibe mir mit dem Arm über die Lippen, verteile den groben Sand in meinem Gesicht und spucke aus in der Hoffnung, die Körnchen aus meinem Mund zu befördern. Wie naiv! Kaum bewege ich den Kiefer, knirscht es unangenehm zwischen meinen Zähnen.

Mir bleibt keine Zeit, mich weiter dem Kampf gegen den Sand zu widmen. Eine erneute Windböe erfasst mein Haar, peitscht mir Strähnen ins Gesicht. Aus dem Augenwinkel sehe ich etwas Gelbes vorbeifliegen. Verdammter Mist!

Frischer Sand rieselt aus meinem Haar und bleibt an der verschwitzten Stelle zwischen Nase und Sonnenbrille hängen. Eine Welle von Frust rollt hinterher. Schnaubend nehme ich die Herausforderung des Winds an und fange die wildgewordenen Strähnen ein.

Zeit für einen Statuscheck nach meinem gut anderthalb Meter tiefen Sturz vom Plankenweg in die Düne. Haare: Ein einziges blondes Vogelnest, in dem wahrscheinlich mehr Sand zu finden ist, als auf dem Steg, auf den ich mich wieder hochgezogen und aus den Dünen gerettet habe. Kleidung: Ein ehemals süßes Sommerkleid, das jetzt wie ein durchgeschwitzter Lappen an meinem Körper klebt. Eine meiner Sandalen liegt etwa zwei Meter neben dem Steg in den Dünen. Sie ist fröhlich hinabgekullert, während ich mich auf meinen Rucksack konzentriert habe. Darin befindet sich mein heiß geliebtes iPad. Einige schnelle Handgriffe versichern mir, dass der Rucksackinhalt von negativen Folgen meines Sturzes verschont geblieben ist. Ganz anders als mein Koffer und die darin befindlichen Habseligkeiten. Dieser grüne Schuft stellt das eigentliche Problem dar: Ein Großteil des Inhalts verteilt sich weit über die Düne, ein geblümter Slip hängt im nächsten Büschel Strandhafer und mein schwarzer Lieblings-BH folgt meinen T-Shirts und dem Wind über den sanften Hügel Richtung Strand. Dazwischen ein Mosaik aus Shorts und anderen Kleidungsstücken.

Für einige Herzschläge spiele ich mit dem Gedanken, alles zurückzulassen und mich geschlagen zu geben. Wenn ich das Chaos ignoriere, existiert es dann wirklich? Oder kann ich mir einreden, dass mein Start in den Urlaub nicht mit einer Vollkatastrophe begonnen hat?

Die Antwort lautet: Niemals.

Beim Klang einer tiefen Stimme schrecke ich zusammen und wirble herum. Mit meinen Händen am Kopf, die das blonde Vogelnest zähmen, sehe ich vermutlich aus, als würde ich albern für ein Urlaubsfoto posieren. Eilig ziehe ich mir die Sonnenbrille von der Nase und stecke sie in meinen Ausschnitt. Verwirrt mustere ich mein Gegenüber, einen Mann, der wie für diese Kulisse gemacht scheint. Das dunkle Haar ist lang genug, dass es vom Wind erfasst wird, hängt ihm aber nicht störend im Gesicht. Die blauen Augen passen zu dem rauen Farbton der Nordsee. Vor mir steht ein Kerl, der wie der Protagonist einer Urlaubs-RomCom aussieht.

»W-was?«

Er deutet auf die Düne hinter mich. Den Schauplatz des aktuellen Koffermords. »Du sahst aus, als würdest du ausrechnen, wann deine Kleidung von allein zurückkommt. Bei dem Wind heute – vermutlich niemals.« Er verzieht die Lippen zu einem schiefen Grinsen. Dieses typisch perfekte Flirt-Grinsen, das in Hollywoodfilmen perfektioniert wurde.

»Ach das.« Ich lasse mein Haar los und bereue es umgehend. Sofort übernimmt der Wind die Kontrolle und befördert Strähnen überall dorthin, wo ich sie nicht haben will. Ich puste, um meinen Mund von der feindlichen Übernahme zu befreien. »Ich habe überlegt, ob es auffällt, wenn ich einfach davonrenne.«

Er lacht. Es klingt wie ein tiefes, kurzes Brummen. »Jetzt hast du leider einen Zeugen.«

»Eine Kofferexplosion kann auch nie so laufen, wie man sie sich wünscht.«

Mit einem Satz springt er vom Steg und hält mir eine Hand hin, damit ich ihm folge. »Komm, bevor du deine Sachen nicht mehr wiederfindest.«

Ich gebe mich geschlagen und versuche, die angebotene Geste zwischen meinen wild peitschenden Strähnen auszumachen. Sein Griff ist fest und warm. Vorsichtig steige ich von dem Steg, der zuerst Stolperfalle, dann Rettungsanker gewesen ist, und begebe mich zurück auf feindliches Terrain: Sand. Als hätte ich davon nicht bereits genug an meinem Körper.

»Wie ist das überhaupt passiert?« Er lässt mich los und wedelt im nächsten Moment mit einem T-Shirt vor meiner Nase.

Ich nehme ihm das Teil aus der Hand und stolpere zu meinem Koffer. »Ich habe auf mein Smartphone geguckt.« Statt ihn anzusehen, vergrabe ich die Unterwäsche tief in meinem aufgeklappten Koffer. Nach kurzer Inspektion scheint der Wind mir doch nicht alle Kleidungsstücke entrissen zu haben. Immerhin halten die Gurte einen Großteil davon im Innern. Das Gehäuse ist jedoch am Rand, direkt neben dem Reißverschluss gebrochen. Ich klappe den Koffer so vorsichtig wie möglich zu, um weitere flüchtige Kleidungsstücke zu verhindern. Das Gepäckstück sieht wie eine verwundete Schildkröte aus, hält dem Angriff der nordischen Windgötter jedoch stand. Ha! Ein erster Erfolg.

»Du hast nicht hingeschaut und dann war dein Koffer eifersüchtig und ist explodiert?«

Der neckische Unterton in seiner Stimme zaubert ein Lächeln auf mein Gesicht. Ich verdrehe gespielt genervt die Augen.

Er klaubt ein paar weitere Kleidungsstücke zusammen, darunter auch mein Spitzen-BH. Im Gegensatz zum Blümchenslip, den ich schnell aus dem Strandhafer rette, kann sich dieser sehen lassen. Der Fremde setzt eine höflich neutrale Miene auf und reicht mir die Sachen. Ich nehme sie mit einem genuschelten »Danke« an und hebe zwei weitere T-Shirts auf, die mir am nächsten liegen. »Vielleicht …«. Ich räuspere mich und folge einem Kleid, das fröhlich davonflattern will. »Vielleicht bin ich vom Steg gefallen.«

Mit wenigen Handgriffen holt er die letzten Sachen, stopft sie in meine verwundete Schildkröte und … macht etwas Überraschendes. Er legt seine warmen Hände an meine Oberarme und sieht mich direkt an.

»Hast du dich verletzt?« Vorsichtig dreht er mich zur Seite, mustert mich mit durchdringendem Blick. »Tut dir der Nacken weh? Handgelenke? Knöchel?«

»Nein, alles okay.« Ich winde mich aus seinem Griff und bin zum ersten Mal dankbar für den heftigen Wind. Hinter meinem Haar kann er nicht sehen, wie heiß meine Wangen werden: Ich bin mindestens so rot wie eine Tomate.

»Der Steg ist hier über einen Meter hoch, vielleicht sogar eins fünfzig.«

»Im Gegensatz zu meinem Koffer bin ich hart im Nehmen.«

Zur Antwort grinst er nur und ich bereue sofort meine Wortwahl. Das klang wie ein schlechter Anmachspruch.

Um Himmels willen, warum hat mir die Nordsee gerade diesen Kerl vor die Füße gespuckt? Das trifft mich genau an meinem wunden Punkt: meiner Unfähigkeit, besonders witzig oder schlagfertig zu sein. Zumindest komme ich mir selbst nicht einfallsreich oder redegewandt vor. In der Großstadt schwimme ich in der Anonymität der Masse. Natürlich gibt es dort genug Möglichkeiten, Leute kennenzulernen. Dates sind nur einen Wisch auf einer App entfernt. In Bars und Clubs reicht es aus, sich allein an die Theke zu stellen und länger als drei Sekunden Blickkontakt mit einem Fremden zu halten. Wahrscheinlich brauche ich nicht zu erwähnen, dass ich weder geübt im Swipen noch darin bin, Blickkontakt zu halten.

Ich öffne den Mund, um den vermeintlich schlechten Anmachspruch zurückzunehmen, entscheide mich stattdessen um. Stolz wird überbewertet, genauso wie Schlagfertigkeit oder Witz, wenn ein Notfall eintritt. Wozu mein Kofferunfall definitiv zählt. Außerdem habe ich genug von dem Sand auf meiner Haut und dem ermüdenden Wind. »Kann ich dich um einen Gefallen bitten?« Zur Untermalung meiner Worte tippe ich mit der Fußspitze leicht gegen meinen Koffer. »Kannst du mir helfen, das widerspenstige Monster bis zur Bushaltestelle zu tragen? Ich will nicht direkt alles wieder im Sand verteilen.«

»Klar.« Er schaut schnell auf die Uhr an seinem Handgelenk. »Aber der nächste Bus fährt erst in zwei Stunden.«

Ich zucke möglichst lässig mit den Schultern und versuche, mir nicht anmerken zu lassen, dass meine innere Stimme vor Schreck aufschreit.

Zwei Stunden? Wieso glänzt jedes Nahverkehrsnetz außerhalb der Großstadt mit Abwesenheit?

»Ich kann dich fahren.« Bevor ich Anstalten mache, die Überreste meines Koffers aufzuheben, packt er das gute Stück und hievt es auf den Steg.

»Nicht nötig.« Dankbar lächelnd schüttle ich den Kopf. Das Angebot ist freundlich, mehr als ich zu hoffen wagen könnte. Aber ich kenne diesen Kerl nicht, weiß nicht einmal seinen Namen. Vielleicht mag das hier auf dem Land ein Ding sein, doch in der Stadt steigt man nicht zu Fremden ins Auto.

Er dreht sich zu mir und mustert mich. »Wie willst du den Koffer in den Bus bekommen? Und dann wieder dort raus?«

»Das geht schon irgendwie.«

Kopfschüttelnd verschränkt er die Arme. »Es macht mir nichts aus, dich zu fahren.«

»Das ist wirklich nett von dir.« Ich bleibe standhaft, verschränke ebenfalls die Arme und stehe ihm mit durchgedrücktem Rücken gegenüber. »Aber ich kenne dich nicht.«

»Ben.« Er löste einen Arm aus der Verschränkung und hält mir die Hand hin. »Weder gesuchter Schwerverbrecher noch Serienmörder. Ich werde dich nicht verschleppen, sondern fahre dich zu deiner Unterkunft.«

»Sophie.« Ohne zu zögern erwidere ich die Geste und schüttle seine Hand. »Nicht naiv genug, einem Serienmörder freiwillig in die Arme zu laufen. Glaubst du, du bist der Erste, der behauptet, keiner zu sein? Ich lese genug True Crime. Mir ist zum Beispiel nicht entgangen, dass du von ›Unterkunft‹ gesprochen hast. Woher weißt du, dass ich in einer wohne?«

Ben zieht die Augenbrauen hoch. »Das war nicht schwer zu erraten. Ich kenne hier jeden Einheimischen. Außerdem hast du einen Koffer dabei.«

»Stimmt.« Ich betrachte das verräterische Gepäckstück auf dem Steg und sehe anschließend zu Ben. »Du kennst also jeden?«

Völlig überzeugt nickt er.

»Ich wohne in der Krabbe.« Mehr Hinweise gebe ich ihm nicht, mustere ihn stattdessen herausfordernd.

Lässig zieht er sein Smartphone aus der Hosentasche und tippt etwas ein. Kurz darauf hält er mir das Gerät hin. Ich nehme es zögerlich entgegen und sehe auf dem Display einen sich aufbauenden Anruf.

»Hallo?«, ertönt es leise.

Schnell halte ich mir das Telefon ans Ohr.

»Ben, bist das du?«

»Hier ist Sophie …«.

»Oh hallo! Sophie Stahl? Hier ist Hanni Carlsen. Ich bereite gerade alles für deine Ankunft vor. Das Du ist doch in Ordnung, oder?«

»Eh, ja, natürlich.« Völlig überrumpelt sehe ich zu Ben. Der Name der Unterkunft hat tatsächlich ausgereicht, damit er weiß, wer meine Vermieterin ist.

»Kann ich in der nächsten halben Stunde mit dir rechnen? Meine Freundin Rita hat mich zum außerplanmäßigen Häkelabend eingeladen. Ich weiß, es ist spontan und ich hatte dir versichert, ich wäre den ganzen Tag erreichbar. Ich sage sofort ab, falls dir meine Abwesenheit nicht passt!«

Hannelore hat eine Art an sich, die mich völlig aus dem Konzept bringt. Sie redet zu schnell, huscht wie ein Wirbelwind durch meine Pläne.

Gleichzeitig schmunzle ich und bin nicht ansatzweise sauer. »Also, das musst du nicht. Aber ich weiß nicht, ob ich es so schnell schaffe. Ich hatte einen kleinen Unfall mit meinem Koffer und der nächste Bus kommt erst in zwei Stunden.«

»Du rufst doch von Bens Telefon an?«

»Ja.«

»Hat er dir nicht angeboten, dich zu fahren?«

»Doch, aber …«.

Meine Worte gehen in Hannelores wasserfallartig geäußerter Empörung unter: »Also, das kenne ich so ja gar nicht von ihm. Sonst ist er doch auch überall zu finden, wo Hilfe benötigt wird. Da muss er schon einen guten Grund haben, aber trotzdem bin ich ein klein wenig entsetzt. Gibst du ihn mir schnell?«

»Nein, also …«. Ich kneife mir in die Nasenwurzel, erwische dabei eine vom Wind peitschende Haarsträhne und atme tief durch. Sand knirscht unter meinen Fingern. »Er hat mir angeboten, mich zu fahren.«

»Wusste ich doch, dass auf Ben Verlass ist! Aber wenn es dir nicht recht ist mit dem Häkelabend, dann bleibe ich zuhause. Gar kein Problem, Sophie.«

»Nein, bitte. Ich komme so schnell wie möglich.«

»Das ist wundervoll. Ich backe dir auch einen Kuchen – wegen der Umstände. Was magst du lieber, Schokolade oder Banane?«

»Banane.«

Statt sich zu verabschieden, legt Hannelore auf. Irritiert nehme ich das Telefon vom Ohr und betrachte das Logo für das beendete Gespräch.

»Sie sagt nie Tschüss, aber sie dreht den Leuten gerne ihren Kuchen an.«

Sprachlos starrte ich Ben an, der genau ins Schwarze getroffen hat, obwohl er Hannelore nicht gehört haben kann.

Er nimmt mir das Telefon aus der Hand und betrachtet mich lächelnd. »Ich fahre dich also.«

Überrumpelt nicke ich. Nach dem Gespräch mit Hannelore bezweifle ich, dass Ben ein Serienmörder ist. Viel eher glaube ich seinen Worten, dass er jeden aus der Gegend kennt. Außerdem erwartet sie mich und würde misstrauisch werden, wenn ich nicht auftauche. Und wer bin ich, um zwischen einer alten Dame und ihrem Häkelabend zu stehen?

»Wir können sofort los. Ich muss nur kurz jemandem Bescheid geben.«

In einer flüssigen Bewegung schwingt Ben sich auf den Steg und klemmt sich im nächsten Moment das Smartphone zwischen Wange und Schulter. »Hi, Alex.«

Alles andere als elegant krabble ich auf die Holzplanken und kämpfe mich auf die Füße. Ich will mir den Koffer schnappen, doch Ben greift dazwischen und umfasst das Teil mit seinen Armen. »Geht schon«, sagt er in meine Richtung. »Nein, dich meine ich nicht.« Seine Aufmerksamkeit gilt wieder seinem Telefonat. »Klar komme ich vorbei. Wird aber noch eine Weile dauern.«

Er folgt dem Steg in die Richtung, aus der ich von der Bushaltestelle gekommen bin. Ohne mein Smartphone in den Händen und Kleidung, die sich – mit mir – im Sand verteilt, nehme ich zum ersten Mal das Meer wahr. Die Oberfläche schimmert im Licht der Nachmittagssonne. Feine Wellen kräuseln sich, malen eine lebendige Struktur auf das Wasser, das bis zum Horizont reicht. Ich bin völlig verzaubert.

»Dauert nicht lange.« Ben lacht. »Okay, okay.«

Ich brauche einige Herzschläge lang, um mich loszureißen und zu meiner neuen Bekanntschaft aufzuschließen.

»Zur Krabbe. Also maximal zwanzig Minuten. Ja. Mhm. Dann sag Mark, er soll nicht trödeln.« Ben schnaubt und als ich ihn von der Seite mustere, sehe ich, dass er lächelt. »Kannst ihm ruhig mitteilen, dass ich das gesagt hab. Ja. Bis dann.«

Sein Blick richtet sich auf mich. »Würdest du mir das kurz abnehmen?«

Ich verstehe sofort und ziehe das Smartphone aus der Umklammerung. Unschlüssig, was ich damit machen soll, trage ich es in der Hand, als hätte ich noch nie ein Telefon gehalten. Wieso fühlen sich anderer Leute Smartphones immer wie ein Fremdkörper an?

Wir verlassen den Steg und erreichen einen Parkplatz, der fast leer ist. Vier Kombis, ein Kleinwagen und ein Fahrrad verteilen sich auf dem festgetretenen Schotter.

»Du wohnst also bei Hanni?«

Ich folge Ben zu dem roten Kombi in der mittleren Reihe. Während ich nicke, schleicht sich ein Lächeln auf meine Lippen. »Hannelore ist wirklich ein Charakter.«

»Das ›Hannelore‹ kannst du dir direkt abgewöhnen. Niemand nennt sie so.«

Ich nehme ihm den Koffer ab, damit er den Kofferraum öffnen kann. Wenige Handgriffe später hat er eine Werkzeugkiste und einige Kartons zur Seite geschoben, um Platz zu machen. Mit seiner Hilfe verstaue ich meine Habseligkeiten in der Sicherheit des Wagens. Obwohl ich bezweifle, dass dort weniger Sand zu finden ist als auf den Dünen. Vermutlich ein endloses Problem, wenn man in dieser Gegend lebt.

»Hanni, nicht Hannelore. Ist notiert.« An der Beifahrertür angekommen, warte ich darauf, dass er den Wagen öffnet.

»Du lernst schnell.«

»Meine Freunde nennen mich nicht umsonst ›den Blitz‹.«

»Wirklich?« Er streckt sich und sieht mich über das Dach hinweg an.

»Nein.« Dieses Mal lache ich und schüttle den Kopf.

Im Innern des Wagens erwartet mich ein angenehmer Geruch von Zitronen und Orangen. Ein Blick auf die gefüllten Obstkisten auf der Rückbank erklärt dessen Herkunft.

»Tut mir leid, dass mein Kofferunglück deine Pläne durcheinanderbringt.«

»Wie kommst du darauf?«

Ich deute hinter mich. »Dein Kofferraum ist voll mit Kisten und Werkzeug, auf deiner Rückbank stapeln sich Orangen und Zitronen. Wenn ich tippen müsste, würde ich sagen, du wolltest einen Limonadenstand bauen.«

Sein Lachen vermischt sich mit dem Geräusch des aufheulenden Motors. »Knapp daneben.« Während Ben aus dem Parkplatz fährt, schweigt er konzentriert. Sobald er auf die Straße abbiegt, entspannt er sich und wirft mir einen raschen Blick zu. »Das Werkzeug ist für die Vorbereitungen eines lokalen Festes am Strand in ein paar Tagen. Du solltest unbedingt vorbeischauen. Und die Zitrusfrüchte sind für meine Arbeit später.«

»Limonadenverkäufer!«, rufe ich, als wäre das hier eine Quizshow und ich wüsste die richtige Antwort.

Er schnaubt und ich muss eingestehen, dass es ein niedliches Geräusch ist. »Barkeeper.«

»Also, Herr Barkeeper, Sie sind anscheinend kein Serienmörder, helfen in Ihrer Freizeit bei der Vorbereitung von Festen und kennen das Geheimnis um Hannelores wahre Identität als Hanni. Außerdem versorgen Sie die Nachbarschaft am Abend mit Ihrem verdienten Feierabendbier. Habe ich etwa die örtliche Prominenz kennengelernt?«

»Eine Sache hast du in meiner Biografie vergessen, Sophie.«

»Und die wäre?«

»Dass ich mich auch super als Fänger für im Wind zerstreute Kleidung mache.«

»Stimmt.« Ich klopfe mit der Faust in meine Handfläche. »Ehre, wem Ehre gebührt.«

Wir erreichen eine Kreuzung und folgen dem Schild, das Fierstett in drei Kilometern Entfernung auszeichnet.

»Was führt dich in unser bescheidenes Städtchen?«

»Das errätst du nie.«

Angestrengt zieht er die Augenbrauen zusammen und tippt sich ans Kinn. »Du wirst doch keinen Urlaub hier machen?«

»Für so was kommen Menschen hierher?«

»Soll schön sein.«

»Bisher haben sich die Dünen eher als gefährlich erwiesen.«

Er stupst mich mit dem Ellbogen an und senkt die Lautstärke seiner Stimme auf ein Flüstern. »Dafür gibt es einen Geheimtipp.«

Neugierig drehe ich mich im Beifahrersitz in seine Richtung. »Schieß los.«

»Man nimmt seinen Koffer nicht mit an den Strand.«

Gespielt empört boxe ich ihn gegen den Oberarm.

»Und man wirft ihn nicht vom Steg in den Sand.«

»Haha«, antworte ich trocken und wende mich der vorbeiziehenden Landschaft zu. Grüne Hügel zeichnen sanfte Wellen an den Horizont und versperren den Blick auf die Nordsee. »Ich wollte sofort das Meer sehen.«

»Das läuft dir nicht davon. Außer es ist Ebbe.«

»Ich war nur so lange schon nicht mehr … am Wasser.« Fast hätte ich ›im Urlaub‹ gesagt. Irgendetwas hält mich davon ab, da es verbittert klingen würde. Aber bin ich das nicht? Ein verbitterter Workaholic, der den Urlaub fast wieder abgesagt hätte, weil die beste Freundin abgesprungen ist?

»Wie lange bleibst du?«

»Zwei Wochen.«

»Falls du Tipps zur Gegend brauchst …«.

Ich hebe eine Hand und stoppe ihn mitten in seinem Angebot. Er hat mir bereits genug geholfen und in meinem Rucksack steckt mein iPad mit seiner immens langen To-do-Liste, die es abzuarbeiten gilt. »Danke, das ist nicht nötig. Meine Tage sind bereits durchgeplant.«

»Wie du meinst.« Einen Moment später erreichen wir die Ferienwohnung und er lenkt den Wagen auf einen eingezeichneten Parkplatz. »Falls du abends einen Drink gebrauchen kannst, komm vorbei.« Aus der Mittelkonsole fischt er eine Karte. »Das ›Circle‹ ist hier ganz in der Nähe.«

Ich betrachte das Logo, welches aus einer sich ineinander verschlingenden Welle besteht. Sofort erinnert es mich an die berühmte Zeichnung des japanischen Künstlers Hokusai.

»Das ist schön«, nuschle ich, streiche mit dem Daumen über die Grafik und betrachte die vielen Blautöne. Trotz der etwas überladenen Farbpalette gefällt mir das Design sofort.

»Hat ein Freund von mir gemacht.« Auf Bens Züge legt sich ein stolzes Lächeln.

»Aber ein bisschen enttäuscht bin ich.« Überzogen rümpfe ich die Nase. »Ich dachte, die Bar heißt ›Drinks und Meer‹ oder so ähnlich.«

Ben verdreht die Augen. »Glaub mir, dieses ›und Meer‹ wirst du noch zur Genüge finden.«

»Ich kann es kaum erwarten.«

»Du kommst also vorbei?«, lenkt Ben das Gespräch wieder auf seine Einladung.

Ich stecke die Karte ein und verschaffe mir dadurch etwas Bedenkzeit. Dass Ben sympathisch ist, steht außer Frage. Ebenfalls die Tatsache, wie einfach es ist, mit ihm herumzualbern. Ich kann nicht genau benennen, was mich zurückhält. Ist es das Gewicht der Liste auf meinem iPad oder der geheime Punkt darauf, den ich nicht mal meiner besten Freundin Pia verraten habe? Diesen Urlaub wollte ich mich endlich damit befassen. Mich überrollt ein flaues Gefühl, das mich jedes Mal überkommt, wenn ich an mein Vorhaben denke. Schnell schiebe ich es zur Seite. »Ich werde sehen, wie es sich einrichten lässt.«

Bens Blick lässt sich nicht deuten. Ist er amüsiert angesichts meiner Wortwahl oder gekränkt, weil ich die Einladung ausgeschlagen habe?

»Ich freue mich, falls es sich einrichten lässt.«

Offensichtlich Ersteres. Ich verdrehe die Augen und steige aus dem Wagen. Kaum öffnet Ben den Kofferraum, höre ich eine verzückte ältere Dame meinen Namen rufen.

2. Kapitel

Selbst Hannis Erscheinung wirkt wie ein Wirbelsturm. Sie trägt eine weite blaue Tunika, die im Wind flattert und um ihren Hals weht ein gelbes Tuch. Ihr rotgefärbtes Haar hebt sich deutlich von ihrer farbenfrohen Kleidung ab. Über einer Schulter trägt sie einen Jutebeutel, aus dem oben Wolle herausblitzt.

»Du hast es geschafft.« Sie drückt mir einen Schlüssel mit einer hölzernen Krebsschere als Anhänger in die Hand. »Das ist so lieb von dir, dass du dich meinen chaotischen Plänen anpasst.« Hektisch tätschelt sie mir den Arm und eilt im nächsten Moment um das Auto herum.

Ben kümmert sich um meinen Koffer und gibt mir mit einem Nicken in Hannis Richtung zu verstehen, dass ich ihr folgen soll.

»Danke«, nuschle ich und hechte meiner Vermieterin hinterher. Ein schmaler Weg führt zwischen dicht bepflanzten Blumenbeeten und zwei Ferienhäusern, die zusammen mit anderen kreisförmig angeordnet sind, zu den innen liegenden Eingängen.

»Haus Nummer zwei.« Hanni deutet auf die verschnörkelte Ziffer, die in einem Kranz Trockenblumen an einer orangefarbenen Tür hängt.

»Wie hübsch.« Ich sauge die frohen Farben und liebevollen Details förmlich in mich auf, bevor ich die Tür schließlich öffne.

»Nicht doch.« Bescheiden winkt die alte Dame ab. Kaum schwingt die Tür auf, huscht sie an mir vorbei ins Innere. Ihre nächsten Worte gehen dabei fast in ihrem Flüstern unter. »Ohne Ben würde es hier nicht so aussehen.«

Neugierig schiele ich über die Schulter und betrachte den Mann, der mit meinem Koffer zu uns aufholt. Wie es scheint, bin ich wirklich der örtlichen Prominenz in die Arme gelaufen.

Im Schnelldurchlauf führt mich Hanni durch die Diele, das angrenzende Badezimmer, einen gemütlich eingerichteten Raum mit Wohnküche und über eine kleine Terrasse. Vor der letzten Tür bleibt sie stehen. »Das Schlafzimmer ist etwas klein.«

Ich werfe einen schnellen Blick hinein und verliebe mich sofort in den schweren Sessel, der viel zu wuchtig für den Platz zwischen Bett und Fenster ist. Die Lehne wird vom Fensterrahmen eingedrückt und sieht deshalb noch fluffiger aus, als sie wahrscheinlich ist. Davor steht ein kleiner Metalltisch mit Vase und frischen Blumen. Ich sehe mich bereits in diesem Sessel sitzen, die Beine auf die Matratze legend und das iPad auf dem Schoß betrachtend. »Die Unterkunft ist ein Traum. Sie sieht noch viel besser aus als auf den Bildern.«

Ein sonniges Strahlen erleuchtet Hannis Gesicht und sie tätschelt mir die Schulter. »Du bist so ein freundliches Mädchen. So, aber jetzt muss ich los.« Wie eine Sturmböe fegt sie durch die Wohnung und lässt mich mit Ben allein zurück.

Er wuchtet den Koffer auf den Esstisch und lächelt mich etwas aus der Puste an. »Pass auf, dass er nicht wieder davonläuft.«

»Ich werde mich bemühen.«

Er zögert, betrachtet mich unschlüssig und fährt sich durch das Haar. »Also, bis dann.«

»Bis dann. Und danke noch mal.«

Er hebt eine Hand und geht hinaus.

Für einen Moment schaue ich ihm unschlüssig hinterher. Ich bin noch keine zwei Stunden in Fierstett und habe bereits mehr erlebt, als mir lieb ist. Es juckt mich in den Fingern, Ben hinterherzulaufen und um eine Fahrt zum Bahnhof zu bitten: Zuhause wartet der vertraute Alltag mit viel Arbeit und wenig Freizeit auf mich. Bekannte Muster, eintönige Wochen und ein Ablauf, der vorhersehbar ist. Genau die Routine, wonach sich mein wild pochendes Herz sehnt.

Nein, Sophie! Du kannst das. Du gibst nicht am ersten Urlaubstag bereits auf!

Eine schnelle Dusche später, bei der ich mir kiloweise Sand aus dem Haar und vom Körper wasche, sitze ich in einen Bademantel gehüllt in dem Sessel im Schlafzimmer. Er ist mindestens so bequem, wie er aussieht.

Ich drücke die Starttaste meines iPads und warte, dass es sich entsperrt. Das Display leuchtet auf und begrüßt mich mit einem meiner letzten Designs als Hintergrund. Pastellfarbene Sonnenblumen und einfarbige Flächen ohne viel Schattierung. Über den Blumen befindet sich ein blaues Band, in dem der Schriftzug eines Kunden platziert war. Für mich hatte ich den Text auf ›Summer is coming‹ geändert.

Die Blumen hatten mich während der Arbeit daran zu einem neuen Charakter inspiriert. Für einen Herzschlag lang bin ich versucht, die Zeichenapp zu öffnen. Alle meine Illustrationen sind dort in thematisch passenden Stapeln sortiert, wobei lediglich die erste Zeichnung als Voransicht angezeigt wird. Perfekt, um zwischen den ganzen Designs für die Agentur meine privaten Illustrationen in einem unscheinbar wirkenden Stapel zu verstecken. Stattdessen öffne ich mein Notizbuch und betrachte die To-do-Liste für meinen Urlaub. Die Überschrift ist mit Muscheln und Seesternen verziert. Am linken Rand führt eine Welle nach unten. Jeden Punkt hatte ich statt mit einem Bulletpoint mit einer Sonne versehen. Nachdem Pia kurzfristig absagen musste, hatte ich die To-do’s so umgearbeitet, dass sie zu einem Urlaub ohne Begleitung passen. Seitdem sehen die Abstände nicht mehr perfekt aus.

Ich widerstehe dem inneren Drang, die Positionierung anzupassen, und lese stattdessen die ersten Punkte:

 

Souvenirs im ›BlueTides‹ kaufen

ein Buch im Strandkorb lesen

barfuß in den Wellen stehen und das Meer beim Sonnenuntergang zeichnen.

 

Ein Punkt zieht zudem meine Aufmerksamkeit auf sich.

 

An der geheimen Liste arbeiten

 

Ich betrachte ihn einen Moment. Sofort schlägt mein Herz schneller, mir wird schwindelig und ich sperre das iPad. Der Bildschirm verdunkelt sich, trotzdem lässt die aufsteigende Panik nicht nach. Ich schüttle mich und springe auf.

Später.

Später beschäftige ich mich damit. Jetzt kümmere ich mich um die ersten Aufgaben. Ein sofortiger Abstecher ins ›BlueTides‹ klingt verlockend. Dabei handelt es sich um eine leer stehende Fabrik, die zu einer Art Einkaufscenter umgebaut worden ist. Das Besondere daran: Das ›BlueTides‹ folgt dem Konzept der Nachhaltigkeit und beachtet den Schutz des Meeres. Laut der – leider etwas spärlich informativen – Webseite gibt es dort Secondhand-Shops, einen Unverpackt-Laden, einen Reparaturdienst, ein Fahrradgeschäft und diverse Imbissbuden. Eine kurze Suche in der Karten-App zeigt mir, dass das ›BlueTides‹ nur zwei Kilometer entfernt am südlichen Rand des Strands liegt. Von dort erstreckt sich die Badebucht gut sieben Kilometer in den Norden, an der Bushaltestelle vorbei, wo mein Kofferunglück passiert ist, und letztlich bis nach Husum. Eine Runde spazieren gehen, am Strand ein Buch lesen und zeichnen, das klingt nach einem perfekten Abendprogramm – und umfasst direkt die ersten Punkte meiner To-do-Liste.

Wenn ich jetzt losgehe, bleiben mir fast zwei Stunden, bis das ›BlueTides‹ schließt. Genug Zeit also für einen ersten Blick.

Ich verteile den Inhalt meines Koffers auf dem Tisch, greife mir eine gemütliche Jeans und ein gelbes Oversize-Shirt, das ich im Bund verknote. Meinen Rucksack fülle ich mit dem Nötigsten, darunter natürlich mein iPad, sowie mit einem Pulli, falls es abkühlt und schließlich binde ich mir das Haar zu einem lockeren Dutt, aus dem ein paar Strähnen ragen. Zu Sicherheit fixiere ich ihn mit zwei Haarklammern. Egal, mit welchen Kräften der Wind versucht, mich zu bezwingen, meine Frisur wird aussehen, als wäre sie gewollt.

Mit Triumphgefühl in der Brust und einem beginnenden Lächeln auf den Lippen zücke ich mein Smartphone und schieße ein schnelles Foto. Kurz darauf schaut mir im Chat mit Pia eine Miniaturversion von mir selbst entgegen. Ich drücke das Symbol für die Sprachnachricht und schiebe es nach oben, damit die Aufnahme von allein weiterläuft. Wie ein Knäckebrot halte ich das Gerät vor meinen Mund und schlüpfe parallel dazu in meine leichten Turnschuhe.

Ich: »Eins zu Null für die Natur, aber ich hole auf.«

Schnaubend schüttle ich den Kopf und weiß schon jetzt, dass Pia schmunzeln wird, wenn sie diese Worte hört. Ich erzähle ihr von dem Unglück mit meinem Koffer und schildere meine Begegnung mit Ben in allen Einzelheiten. Nach sieben Minuten seufze ich und lehne mich – bereits völlig ausgestattet mit beiden Schuhen und Rucksack – gegen die kleine Kommode unter dem Spiegel im Flur.

Ich: »Ach, Pia. Ich hoffe, du landest gut und lässt dich direkt von Seoul mitreißen. Wenn du nicht zuerst zum Karaoke gehst, bin ich sogar etwas enttäuscht.«

Für einen Herzschlag lasse ich das Smartphone sinken und verharre mit dem Daumen über dem Pfeil, bereit, die Nachricht abzuschicken. Kurzentschlossen hebe ich das Smartphone wieder näher an meinen Mund.

Ich: »Du fehlst mir. Hab dich lieb und genieß die Geschäftsreise. Denk dran, dich auch mal zu amüsieren.«

Die Worte schmecken schal in meinem Mund. Gerade ich muss etwas über Work-Life-Balance erzählen, wo ich in den letzten Jahren doch nichts außer Arbeit im Kopf hatte.

Das kleine Symbol neben der Nachricht zeigt für einen Moment einen sich drehenden Kreis, bevor ein Haken erscheint. Die Nachricht reiht sich in das einheitliche Bild von sich stetig abwechselnden Sprachnachrichten und kurzen Fotoeindrücken ein. Mit meinen insgesamt acht Minuten liege ich genau im Durchschnitt. Manchmal gibt es von beiden Seiten Ausreißer von fast einer halben Stunde. Meisten driften wir in diesen zur Arbeit ab und teilen Gedanken zu anstehenden Projekten und Designaufträgen. Dann ist keine von uns zu stoppen.

Ich sperre den Bildschirm und stecke das Smartphone in meine Tasche.

Immer noch mit dem triumphierenden Lächeln auf den Lippen mache ich mich mit Buch und iPad bewaffnet auf den Weg.

Vor der Tür begrüßt mich direkt der salzige Meerwind. Ohne die peitschenden Strähnen im Gesicht genieße ich ihn sogar. Tief sauge ich die würzige Frische in mich auf. Die Startschwierigkeiten dank meines Kofferunglücks vergesse ich fast und bin mir sicher, dass jetzt der eigentliche Urlaub beginnt.

Ich checke die geplante Route in der Navigationsapp und setzte mich in Bewegung. Hannis kleine Ferienanlage umfasst zwei weitere Gebäude. Dahinter führt mich der Weg an einem Bäcker vorbei und zu einem Deich. Stapfend kämpfe ich mich auf dessen Krone. Hier oben bläst der Wind sofort stärker und reißt an meiner Kleidung. Ich umklammere meinen Rucksack fester und lasse den Blick schweifen.

Innerlich hatte ich mich auf einen atemberaubenden Anblick gefasst gemacht. Stattdessen glitzert kein Wasser, sondern lediglich feuchter Sand am Horizont. Sonst nichts. Nada. Keine rauschenden Wellen und endloses Wasser, das mich in seinen Bann zieht. Hier ist einfach nichts außer Sand.

Seit meinem Aufbruch mit Ben vom Strand dürfte keine Stunde vergangen sein. Trotzdem ist das Bild jetzt ein völlig anderes. Ich hatte gelesen, dass der Abstand zwischen Ebbe und Flut sechs Stunden dauert und der Wasserstand sich um zwei bis drei Meter verändert. In Gedanken hatte ich damit gerechnet, dass sich die brandenden Wellen ein bisschen zurückziehen würden und der Strand einfach etwas breiter wird. Doch er scheint sich Hunderte Meter entfernt zum Horizont zu erstrecken. Wasserpfützen glänzen zwischen sich endlos ausdehnenden Sandbänken.

»Nach meinem Abstecher zum ›BlueTides‹ sieht das bestimmt wieder anders aus«, murmele ich zu mir selbst und wickle eine Haarsträhne, die mich an der Schläfe kitzelt, um meinen Dutt.

Nach der Hälfte der Strecke zu meinem Ziel wird der Deich schließlich von Sanddünen abgelöst. Auf den Holzplanken läuft es sich deutlich angenehmer und auch wenn sich das Meer nach wie vor versteckt, gewinne ich Zuversicht zurück. Zumindest so lange, bis ich das ›BlueTides‹ erreiche. Oder eben die verschlossenen Türen davon.

Auf einem kleinen Holzschild tummeln sich die Namen der darin enthaltenen Shops, eines Cafés und einer Bar. Das Logo des ›Circle‹ fällt mir sofort auf. Das meinte Ben also, als er sagte, die Bar läge in der Nähe. Die Dynamik der Welle führt meinen Blick in einem Bogen vom Wortende wieder zurück zum Wortanfang. Entweder wusste Bens Freund ganz genau, was er mit der Grafik bewirkte oder es war reiner Zufall, dass er etwas geschaffen hat, das die Betrachter in seinen Bann zieht.

Das Ernüchternde an der ganzen Sache steht auf einer Nachricht, die auf das Schild geklebt wurde und bei der sich eine Ecke gelöst hatte. Sie flattert im Wind, ganz so, als würde sie mich verhöhnen. ›Wegen Vorbereitung geänderte Öffnungszeiten.‹ Das Kleingedruckte erwähnt ein anstehendes Strandfest, weswegen das ›BlueTides‹ meistens schon gegen Mittag schließt und erst wieder abends für das ›Circle‹ öffnet.

Ich atme tief ein, drücke damit den Knoten aus Frustration tiefer, bevor er sich als wütendes Schnauben manifestiert.

Nicht aufregen, Sophie. Dann streichst du das ›BlueTides‹ eben morgen von deiner To-do-Liste. Du kannst immer noch an den Strand gehen, ein Buch lesen und zeichnen.

Fest entschlossen rücke ich meinen Rucksack auf der Schulter zurecht und stapfe an dem verlassenen Gebäude vorbei. Ab hier beginnt der für Hunde zugängliche Teil des Strandes. Meinen Recherchen zufolge gibt es wenige Gebiete an der Nordsee, wo Hunde frei laufen dürfen. Ein Umstand, den ich für äußerst fragwürdig halte! Für mich klingt ein Hundestrand nach dem Paradies: Was ist besser, als glücklich umherhüpfende Hunde zu beobachten? Eben! Nichts.

Ich folge dem Steg und öffne eine kleine Holztür in der Absperrung. Ein junges Paar in meiner Nähe packt ein Frisbee aus. Kurze Zeit später jagt ein Labrador in irrsinnigem Tempo über die Sandbänke. Weiter hinten bellt ein kleiner Pinscher und hüpft um die Beine seines Besitzers herum. Ich schüttele die Enttäuschung über das geschlossene ›BlueTides‹ ab und konzentriere mich auf die Vierbeiner, die über den Sand tollen. Ihre treuen Blicke und das freudige Gebell lassen meinen Serotoninspiegel direkt wieder in die Höhe schnellen.

Fast eine halbe Stunde schlendere ich den Strand entlang Richtung Norden. Der Himmel ist verhangen, nur einzelne Sonnenstrahlen schaffen es durch die Wolkendecke und bringen die von der Ebbe zurückgelassenen Pfützen zum Leuchten. Der neckische Wind scheitert weiterhin an der Zerstörung meiner Frisur.

Entschieden, heute wenigstens einen Punkt meiner To-do-Liste zu erledigen, steuere ich auf einen der gestreiften Strandkörbe zu, die hin und wieder am Fuß der Dünen aufgestellt sind. Mit schnellen Bewegungen befreie ich das Sitzpolster von Sand und lasse mich in den muschelartigen Sessel sinken. Hier drin ist es windstiller, auch wenn ich trotzdem noch das leichte Zupfen an meiner Kleidung und meinem Dutt spüre, so fühle ich mich doch wohlig geborgen. Ich ziehe ein Knie an und lehne Sekunden später das iPad gegen meinen Oberschenkel. Um mich aufzuwärmen, starte ich mit ein paar schnellen Skizzen. Eine Möwe, die durch eine Pfütze schreitet. Ein Hund, der sich im Sand wälzt und der glitzernde Horizont, der sich an dichte Wolken schmiegt.

Für die Farbpalette nehme ich ein Foto auf und lasse die Landschaft von der App in eine ganze Schar aus Grau-, Blau- und Brauntönen verwandeln. Es juckt mich in den Fingern, bis zur Abenddämmerung zu warten. Wahrscheinlich würde es bis dahin nicht mehr lange dauern. Ein oder zwei Stunden. Doch die Vorstellung, den Weg bis zu Hannis Ferienwohnung in der Finsternis zurückzulegen, behagt mir gar nicht. Mir sind heute bereits einige Pannen passiert; da fordere ich mein Glück besser an einem anderen Tag heraus.

Mit dem Blick folge ich den verschiedenen Formen, die ich im Sand, dem entfernten Wasser und der zerrissenen Wolkendecke entdecken kann. Klare Wellenlinien, durchbrochene Zacken und auslaufende Formen. Überall gibt es etwas Interessantes zu sehen. Als ich mich wieder meinem iPad zuwende, ist der Bildschirm dunkel. Erschrocken stelle ich in der Spiegelung fest, dass der Wind inzwischen alles andere als gnädig mit meinem Dutt umgegangen ist. Hastig fummle ich in dem Vogelnest auf meinem Kopf herum und ziehe das Haargummi heraus. Ein leises Reißen und ein brennender Schmerz auf meinem Handrücken kündigen die Misere an: Mein gerissenes Haargummi hängt traurig zwischen meinen Fingern.

»Das darf doch nicht wahr sein!« Ich knote die Enden zusammen und versuche, mir wieder einen anständigen Dutt zu binden. Vergeblich. Die Länge des Bands reicht nicht mehr aus, um die letzte, feste Schlaufe über mein Haar zu stülpen. Ich nehme das Gummi wieder heraus, knote es noch etwas fester zusammen und frisiere einen Pferdeschwanz. Die Strähnen an meinem Kopf wirken gebändigt, doch der Wind weht mir nun ständig welche in die Augen.

Brummend stopfe ich das iPad zurück in meine Tasche und ramme die Füße in den Sand.

Erst der Koffer, dann die geänderten Öffnungszeiten des ›BlueTides‹ und das fehlende Meer wegen der Ebbe. Selbst das Zeichnen am Meer ist nun unmöglich. Wie soll ich, wenn der Urlaub so weitergeht, nur irgendeins meiner To-do’s erledigen?

Der Frust der Niederlage nagt an meinen Eingeweiden und ich springe auf. Kaum habe ich den Schutz des Strandkorbs verlassen, reißt der Wind meine Haare an sich und macht mit ihnen, was er will. Das bedeutet, mir peitschen ständig Strähnen ins Gesicht. Sofort sehne ich mich nach einem gemütlichen Bett, einer Tasse Tee und einer Folge ›Gilmore Girls‹. Das steht zwar nicht auf meiner To-do-Liste, scheint mir jedoch gerade wie der Himmel auf Erden.

Gepeinigt und geschlagen ziehe ich mich zurück, laufe den Strand entlang und selbst ein vorbeihuschender Golden Retriever-Mischling kann meine Stimmung nicht heben.

Erst als ich das Törchen erreiche und auf der Höhe der Dünen das ›BlueTides‹ entdecke, überkommt mich eine andere Idee.

Was, wenn ich Bens Einladung annehme? Ein schneller Drink erscheint mir gerade genau das Richtige zu sein.