1
Er wehrte sich, aber es half nichts. Diese Kraft, die ihn von hinten fixierte, war stärker. Er ruderte mit den Händen wild durch die Luft, bekam aber nichts und niemanden zu fassen. Je verzweifelter er sich zu befreien versuchte, desto mehr erlag er der Umklammerung. Hals und Genick wie in einem Schraubstock gefangen. Es gelang ihm nicht, die Hand wegzuzerren, die ihm etwas auf den Mund presste, das süß und nach Chemie roch.
Er spürte seine Sinne schwinden, sein Blick trübte sich. Die erstickten Schreie rückten in weite Ferne, so als kämen sie gar nicht von ihm selbst, sondern aus einer Zukunft, die ihm verschlossen blieb. Seine Arme und Beine erschlafften. Es blieb ihm nur noch, sich mit einem Ächzen zu ergeben. Er spürte, wie die Hand sich von ihm löste und Blut aus seiner Nase tropfte.
Dann fiel er und tauchte ein in ein Schwarz, wie er es noch nicht gekannt hatte.
Das gleißende Licht, das seine Lider durchdrang, brachte Blitze zur Entladung, die ihn aus wirren Träumen rissen. Er vergewisserte sich seiner selbst, wer er war. Aber wo zum Teufel war er und was war passiert? Als er die Augen öffnete, konnte er nichts sehen. Eine ungeheure Helligkeit blendete ihn. Die Sonne stach schmerzhaft. Er konnte sich zwar bewegen, aber nur die Füße, die Hände und den Hals. Arme und Beine waren offenbar gefesselt.
Als er an sich hinuntersah, stellte er fest, dass er nackt war. Ein Schweißfilm bedeckte seinen Körper. Er lag da wie aufgebahrt, Schweißtropfen liefen ihm in die Augen. Er ruhte auf etwas, das weich und warm war. Und es war schwarz, erkannte er, als er mühsam den Kopf hob. Lag er auf dem Fell jenes Jaguars, den er vor ein paar Jahren selbst in Costa Rica erlegt hatte? Eine Trophäe, die er irgendwann verschenkt hatte, damit die Geschäfte in Gang kämen. Er zwinkerte, um den Blick scharf zu stellen und sich ein Bild von seiner Lage machen zu können. „Beruhige dich!“ Er sagte es sich immer wieder. Er musste sich beruhigen, um hier rauszukommen!
Er lag da, unter dem Glassturz, irgendwo in einer gottverlassenen Gegend, der sengenden Mittagshitze der Sonne ausgesetzt. Es wurde von Minute zu Minute heißer. Das Sonnenlicht brannte, wie durch eine Linse gebündelt, auf seinen Körper hinab. Die Hitze in seinem Körper würde immer weiter ansteigen, wenn es ihm nicht gelingen würde, sich zu befreien. Sein Blut würde irgendwann zu kochen beginnen und sein Hirn anschwellen, bis es nicht mehr in den Schädel passte.
Was konnte er tun? Er war gefangen in diesem Treibhaus. Hier war auf Dauer kein Leben möglich.
2
Chefinspektor Anders hatte sich von seiner Tochter überzeugen lassen, dieses Mal weder zu fliegen noch mit dem Dienstwagen zu reisen, sondern den Zug zu nehmen. Zählte er alles zusammen, die An- und Abfahrten zu und von den Flughäfen, Check-in, Check-out, Wege und Wartezeiten, war er mit dem Zug kaum länger unterwegs als mit dem Flugzeug.
Anders schlenderte, mit seinem Handy mit dem E-Ticket in der Hand, auf der Suche nach seinem Platz durch den Zug. Die Nummer auf dem Ticket führte ihn nach vorne in die Erste Klasse. Seine Kollegin Clara hatte die Reise gebucht, er sollte offenbar erholt ankommen. In seinem Abteil saß niemand. Hier konnte er, was bislang über den Fall bekannt war, in Ruhe durchgehen, bevor er die Frankfurter Kollegen traf.
Er machte es sich mit den Unterlagen bequem, konnte sich jedoch nicht konzentrieren. Der Streit mit Marie spukte immer noch in seinem Kopf herum.
Wenn er mal wieder wegmusste, gab es in letzter Zeit immer öfter Streit. Ein weiteres Mal war es um ihre Kinder gegangen, die gerade in einer heiklen Phase ihres Lebens steckten. Leonie war kaum noch zu Hause, seit sie mit Fridays for Future die Welt rettete. Wenn er sie mal antraf und ansprach, war sie stets übel gelaunt und schnippisch, und Lukas zog sich, je mehr sie sich um ihn stritten, immer öfter in den Panikraum seiner Krankheit zurück.
Und Marie? Für seine Frau führte eine Spur von den Problemen mit den Kindern immer direkt zu ihm!
Als der Zug übers Land fuhr, blieben die dunklen Gedanken zum Glück in der Stadt zurück. Die Gegend war braun von der Hitze dieses Sommers. Der Mais, soweit er es sah, war verdorrt.
Das Bundeskriminalamt war offiziell von Kollegen aus der BRD um Amtshilfe gebeten worden. Lore Kranebitter, die Chefin der Abteilung für Zielfahndung im BK, sowie Vizedirektor Oberst Viktor Grabowski hatten sich nach einigen internen Querelen darauf verständigt, ihn dafür abzustellen.
Es hatte allerdings gedauert, bis er im BK diesen Platz hatte einnehmen dürfen, auf dem er sich, trotz seines Handicaps, längst besser bewährt hatte als jeder vor ihm. Mit dieser Diagnose als Polizist zu arbeiten, sei mehr als fragwürdig, hatte es geheißen. Er sollte niemals eine Waffe führen und, mehr oder weniger auf sich allein gestellt, Kriminelle um die halbe Welt jagen. Er tauge eigentlich nur für den Innendienst!
Seine Epilepsie war die Folge eines Fouls an ihm als Torwart der U18 vor bald sechsundzwanzig Jahren. So tückisch diese Krankheit auch war, sie führte nur sehr selten zu einem Grand mal-Anfall, der ihn niederstreckte. Hin und wieder überfielen ihn von Experten Aura genannte Wahrnehmungen. Auf einer Woge trug es ihn von allem fort, was ihm vertraut war. Dann funktionierte die Welt auf einmal anders. Sie roch anders, sah anders aus und klang anders. Anders, als es einen die Erfahrung des Alltags lehrte.
Irgendwann hatte er damit begonnen, diese Kraft nicht mehr zu unterdrücken, wenn sie von ihm Besitz ergriff, sondern sie zu nutzen. Er nahm sie an und spielte mit ihr. Manchmal brachte sie ihn sogar auf eine Idee und anschließend auf eine Spur.
Bevor er aufgebrochen war, hatte er Nadja Berg um Unterstützung gebeten, mit der ihn mehr verband als nur eine alte Freundschaft. Auch sie recherchierte in diesem Fall. In ihrem Blog Untersuchungen an der Wahrheit deckte sie stets alles auf, was dem Herausgeber ihrer Zeitung zu brisant war. Wenn jemand mehr wusste als die Polizei, dann Nadja. Er beneidete sie um die Quellen, die einer Person wie ihm verschlossen blieben. Whistleblower wandten sich nun mal an die Presse und nicht an die Polizei.
An diesem Nachmittag sollte er Markus Pfeffer vernehmen. Ein Landsmann, der wegen Betrugs ins Visier der Behörden geraten war. Ihn einfach nur auf freiem Fuß anzuzeigen, war zu riskant, wenn er bedachte, dass das Geld noch nicht wieder aufgetaucht war.
Über einige Handelsfirmen waren weltweit, ohne Umsatzsteuer zu bezahlen, CO2-Zertifikate aufgekauft und zu Schnäppchenpreisen an die Broker Bank weiterverkauft worden, für die Pfeffer arbeitete. Anschließend hatte er sich von den Finanzbehörden die nie bezahlten Steuern zurückgeholt. Bis zu einer Razzia durch die Steuerbehörde hatten ihm diese Steuertricks Einnahmen in mehr als dreistelliger Millionenhöhe beschert. Die Broker Bank hatte Pfeffer zwar fallen gelassen, aber zu spät, um endlich aus den Schlagzeilen zu kommen.
Anders war verblüfft, als er erfuhr, wie viel sich auf internationalen Märkten mit CO2-Zertifikaten verdienen ließ. Sie wurden an den Börsen gehandelt wie Kaffee, Rohöl und Fleisch.
Abgashandel im globalen Maßstab war das Instrument, um ein aus dem Ruder laufendes Klima zu begrenzen. Mittlerweile geriet es aber außer Kontrolle und, da damit Unsummen an Steuern hinterzogen wurden, stand es nicht nur auf der Agenda von Umweltschützern ganz oben. Kohlendioxid! Treibhauseffekt! Gift für die Erde und das Klima. Der CO2-Handel, der Emissionen senken sollte, durfte nicht in Misskredit geraten. Um keine Zweifel an den Methoden aufkommen zu lassen, hatte Nadja publiziert, wurde Greenwashing erst gar nicht an die große Glocke gehängt.
Seine Tochter wusste über all diese Dinge besser Bescheid als er.
Wie er den Unterlagen entnahm, versuchte Pfeffer seine Schuld jetzt zu relativieren. Er hatte etwas von einem Drahtzieher zu Protokoll gegeben, über den er aber nichts wusste. Einen Hintermann, der alles eingefädelt haben sollte. Emission Sales. Den er aber angeblich persönlich nicht kannte und der nun spurlos verschwunden war.
Was für eine Farce!
Er blickte von den Papieren auf. Ein rollendes Buffet war neben ihm zum Stehen gekommen. Ein alter Mann in einer roten Uniform lächelte ihn an. Anders kaufte sich einen Kaffee, der zwar nach Kaffee duftete, aber kaum danach schmeckte.
Die Frankfurter Ermittler zweifelten an der Existenz des ominösen Hintermanns, den Markus Pfeffer vorgab, nicht zu kennen, und der ihn angeblich nur telefonisch kontaktiert hatte, um ihn in Geschäfte zu verwickeln, die er nicht durchschaut habe. Pfeffer könnte ihn vorgeschoben haben, um am Ende nur als Mitläufer dazustehen. Von Telefonnachweisen fehlte jedenfalls jede Spur. Er hatte ausgesagt, der Mann habe ihn immer nur mit unterdrückter Nummer angerufen und ihm dann Anweisungen erteilt. Nur aus Neugierde, um mit den Möglichkeiten zu spielen, habe er sie schließlich ausgeführt. Im Grunde habe er nur sehen wollen, ob es tatsächlich funktioniere, was dieser Mann vorschlug, und dann, als es plötzlich ernst wurde, sei es schon zu spät gewesen.
Anders wusste von Nadja, dass dieses Umsatzsteuer-Karussell sich an anderen Orten auf dem Globus weiterdrehte. Dass man Pfeffer aus dem Verkehr gezogen hatte, war also noch nicht der große Durchbruch. Aber er würde erst mal sehen, was in Frankfurt wirklich los war. Er würde sich jetzt ein wenig ausruhen. Der Streit mit Marie hatte ihn in der letzten Nacht nämlich um den Schlaf gebracht.
Anfangs war der Oberst skeptisch gewesen, was seinen Einsatz als Zielfahnder betraf. Erst die ersten Fahndungserfolge hatten einige zum Verstummen gebracht. Dann war es Anders nach und nach gelungen, den Oberst und die Chefin seiner Abteilung davon zu überzeugen, ihm eine Chance zu geben. Doch die Mehrheit im BK stand ihm wegen seines Handicaps weiterhin skeptisch gegenüber.
In Wirklichkeit wohl aber nur deshalb, weil er zum Zielfahnder aufgestiegen war, und kein anderer. Wieso ausgerechnet ihn der Oberst auf den so begehrten Posten gehievt hatte, war ihm bis heute nicht ganz klar. Hatte er eine Art Reibebaum gebraucht, weil es im siebten Stock zu langweilig war? Womöglich war er es auch nur geworden, weil eine Kollegin es nicht werden durfte, die schließlich bei der Sitte gelandet war. Vielleicht glaubte aber sogar der Oberst längst an ihn und konnte es einfach nur nicht zugeben. Denn das hieße auch zuzugeben, dass er danebengelegen hatte, und dann hätte er ein Vorurteil revidieren müssen. Das wiederum verlangte eine Größe, die Anders dem Oberst nur ungern unterstellte.
Von Erinnerungen bedrängt, die seit fast sechsundzwanzig Jahren wiederkehrten, döste er eine Weile vor sich hin. Immer wieder, kurz vor dem Einschlafen oder Aufwachen, spielte sein ramponierter Kopf die alte Szene durch: Er steht im Tor, es ist die Nachspielzeit, und es steht eins zu eins zwischen den U-18 Teams des SK Rapid Wien und des SK Sturm Graz. Ein letzter Angriff der Gäste in der sogenannten Gruabn, ein Pass in die Spitze, ein langer Ball hinter seinen Libero. Kein Abseits! Er sieht den Stürmer von Rapid in seine Richtung sprinten. Er löst sich von der Grundlinie, macht ein paar schnelle Schritte hinaus und hebt ab, ausgestreckt zu seiner ganzen Länge, um den Ball ins Abseits zu fausten, bevor der Stürmer, der aus dem Lauf hochsteigt, mit seinem Kopf rankommt.
Peng!
Aus.
Er erwachte unter weißen Laken in einem Bett der Unfallchirurgie, vollgepumpt mit Drogen. Er spürte keine Schmerzen, doch er wusste, dass etwas anders war. Anders als vorher. Anders als bisher. Da war etwas in seinem Kopf, von dem er noch nicht sagen konnte, was es genau war. Er wusste nur, dass es da war und vielleicht nicht mehr weggehen würde. Bis heute fragte er sich, ob er diesen Crash irgendwie hätte verhindern können.
Er kam wieder zu sich, als der Zug Nürnberg verließ. Inzwischen hatte er Gesellschaft bekommen. In der Nähe saß eine Frau, fast ganz verdeckt von einer Zeitung. Während ihre Zeitung raschelte, flog die Landschaft vor dem Fenster im Cinemascope an ihm vorüber. Vom klimatisierten Abteil aus erschien ihm das Land draußen, auf dem die drückende Hitze lastete, wie eine Fata Morgana.
Er griff nach den Unterlagen, zögerte dann aber. Nahm die Erinnerungen zur Hand, die er sich noch vor der Abreise am Buchstand Capriccio auf dem Karmelitermarkt gekauft hatte. Dort deckte er sich gewöhnlich immer mit alten Büchern ein. Mein letzter Seufzer. Er war wirklich sehr angetan von Luis Buñuel, von seiner Art, die Dinge zu sehen, und dem vergilbten Buch, in das etwas hineingekritzelt war, das er nicht entziffern konnte.
3
Ein Schwall heißer Luft schlug ihm entgegen, als er aus dem Zug stieg. Am Ausgang der Bahnhofshalle wurde er bereits erwartet. Ein Kollege von der Polizeiinspektion 60 reichte ihm die Hand. Auf dessen Handydisplay konnte Anders ein Foto von sich sehen. Er schob die Sonnenbrille ins Haar hoch und begrüßte den Mann. Dieser Hendrick erinnerte ihn an einen trickreichen Stürmer, der einen ehemaligen Torwart wie ihn rasch in Bedrängnis bringen konnte.
Auf der Fahrt ins Polizeipräsidium in die Adickesallee, wo Anders Pfeffer vernehmen sollte, klärte ihn Kriminaloberkommissar Hendrick über den Stand der Dinge auf. Auch darüber, dass er Pfeffers Geschichte vom unbekannten Hintermann mittlerweile nicht mehr so recht ernst nahm.
„Warum ist er auf freien Fuß gesetzt worden? Besteht denn keine Verdunkelungsgefahr?“
„Weiß der Teufel, wie es ihm gelungen ist, die Haftrichterin davon zu überzeugen, die U-Haft auszusetzen. Der Typ ist ein wirklich smarter Bursche. Unbescholtenheit, die Mär vom Hintermann und sein Versprechen, uns jederzeit zur Verfügung zu stehen, haben sie leider davon überzeugt, gelindere Mittel anzuwenden.“
Die Bürotürme des Bankenviertels erschienen ihm von Weitem wie Klötze auf einem Brettspiel. Von den Kindern verlassen, die zum Spielen in den Wald gelaufen waren.
Der Komplex der Polizeidirektion verteilte sich auf ein weites Areal, durchzogen von großzügig geschnittenen Alleen, die von jungen Bäumen gesäumt waren.
Er folgte Hendrick in die Abteilung 60 für Wirtschaftskriminalität, wo man sie bereits erwartete. Der Kriminaloberkommissar stellte ihn vor, während er vorauseilte.
Sein Team bestand aus zwei jungen Männern und einer Frau in seinem Alter, die ihm gleichgestellt zu sein schien. Man tauschte ein paar Sätze aus über die Reise, die Hitze, die Stadt, und das gute, alte Wien, das es so, wie Anders dachte, eigentlich nie gegeben hatte.
Sie wollten, dass er allein mit Pfeffer sprach. Vielleicht gelang es ihm ja, einem Landsmann, mehr zu erfahren. Was sie bisher aus Pfeffer herausgekriegt hatten, war vage und widersprüchlich. Noch war nicht klar, was davon ernst zu nehmen war, und was Pfeffer lediglich behauptete, um falsche Spuren zu legen oder besser dazustehen.
Am Ende des Flurs im ersten Stock hielten sie vor dem Raum an, in dem die Verhöre stattfanden.
„Ich bin mir nicht sicher“, sagte Dorit Uhl, Hendricks Kollegin, „ob er nur dreist behauptet, was ihm gerade so einfällt, ob er sich einen Plan zurechtgelegt hat oder ob er nicht durchblickt und nur seine konfuse Wahrheit wiedergibt.“
„Ich halte die Geschichte mit dem anonymen Hintermann für eine Lüge, die ihn entlasten soll“, sagte Hendrick.
„Und das Geld?“ Anders war der Meinung, dass sie wie so oft in Fällen von schwerem Betrug einfach nur dem Geld folgen mussten, um den Knoten zu lösen. Es war eine nicht zu ignorierende Tatsache, dass Typen wie Pfeffer nicht das Unrechtsbewusstsein von Gewalttätern hatten. Diese ahnten oft, dass sie das, was sie getan hatten, eines Tages würden sühnen müssen. Die Welt der Zahlen funktionierte ohne jede Moral. Ging einer ganz in ihr auf, verlor er bald darauf jedes Bewusstsein dafür, dass Zahlen doch meist nur Platzhalter für etwas Konkretes waren. Die Finanzindustrie war dazu übergegangen, die angewandte Mathematik durch reine Mathematik zu ersetzen, in der es um die Zahlen selbst ging. Aber während die reine Mathematik sich nicht nur der Richtigkeit der Ergebnisse verschrieben hatte, sondern auch der Schönheit, zeigte die Finanzindustrie hässliche Folgen für viele, die sich auf ihr falsches Spiel einließen.
Anders sinnierte, während er den langen Gang auf und ab wanderte, vor sich hin, um die Zeit des Wartens rumzukriegen. Er erinnerte sich noch gut an Bekannte und Kollegen, die bei der letzten Finanzkrise durch ihre Finger geschaut hatten.
„Ich bin mir sicher, dass er mit einem oder zwei Spitzenanwälten hier aufkreuzt“, warf einer der beiden jungen Polizisten ein.
Hendrick schaute immer wieder auf seine Uhr. Eines jener Modelle, die jeden Furz aufzeichneten und in Relation zur Biografie ihres Trägers setzten. „Er ist bereits zehn Minuten zu spät“, seufzte er.
„War keine gute Idee, den Mann gegen eine Kaution auf freien Fuß zu lassen und den Haftbefehl wegen Fluchtgefahr auszusetzen“, meinte Hendricks Kollegin. Man sah ihr an, dass sie nicht viel für die Privilegien derer übrig hatte, die es sich richten konnten.
„Sein Telefon ist ausgeschaltet“, sagte der andere junge Polizist mit dem Handy am Ohr, „und am Festnetz geht niemand ran!“
„Wir fahren in die Altstadt zu seiner Wohnung“, befahl Hendrick. „Falls er die Vorladung ignoriert oder vergessen hat“, er lachte auf, „und gegen seinen Hausarrest verstößt, bekommt er Schwierigkeiten mit der Haftrichterin. Wenn er geflohen ist, bekommt sie Schwierigkeiten mit der Staatsanwaltschaft.“ Mit der ihm eigenen Beweglichkeit stürmte er in Richtung Ausgang, als ginge es aufs gegnerische Tor. Anders und die anderen sahen zu, dass sie hinterherkamen.
Pfeffers Wohnung lag in der Frankfurter Altstadt, zwischen Dom und Römer, wo die Immobilienpreise höher waren als die Bürotürme im Bankenviertel. Hendrick musste an sich halten, um auf das Blaulicht zu verzichten, was ihn nur noch mehr reizte, aufs Gas zu treten. In einem Höllentempo bretterten sie in die Innenstadt hinein.
Vor einem der Fachwerkhäuser, die wie Tortenstücke dastanden, legte er auf dem Kopfsteinpflaster eine Vollbremsung hin. Anders drehte sich der Magen um, der aber zum Glück noch leer war.
Sie stürmten ins Haus, und hinauf in den zweiten Stock, wo Pfeffer eine ganze Etage besaß, die weder zum Haus noch zu diesem Viertel passte. Hendricks Kollegin hatte telefoniert … die Wohnung war von Polizisten aus einer nahe gelegenen Polizeidienststelle bereits geöffnet worden. Sie bezog mit den beiden, die mit Hendrick gekommen waren, vor der Tür Stellung.
Die Wohnung war zu kahl für Anders‘ Geschmack, obwohl er den Bauhausstil durchaus mochte. Es war heiß, die Klimaanlage stand auf Stand-by. So bald würde wohl niemand zurückkommen. Das Einzige, was aus dem stilsicheren Rahmen fiel, waren die Tierfelle, an den Wänden und auf dem Boden. Darunter auch das Fell eines Leoparden. Diese traurigen Trophäen vertrugen sich nicht mit dem Stil einer solchen Wohnung, fand Anders. Es verdarb die ganze Klasse.
Dass Pfeffer nicht da war, versetzte Hendrick einen sichtlichen Dämpfer. Seit sie sich umgeschaut hatten, möglichst ohne irgendwelche Spuren zu zerstören, lehnte er sich nachdenklich in einer Ecke der Wohnküche an. „Diese Haftrichterin! Ich habe schon befürchtet, dass der Vogel ausfliegt, sobald man die Tür seines Käfigs einen Spalt weit öffnet!“
„Noch wissen wir nicht, ob er sich tatsächlich abgesetzt hat“, versuchte ihn die Kollegin Uhl zu beruhigen. „Vielleicht hat er ja den Termin zur Vernehmung vergessen, oder er legt es darauf an, uns zu provozieren. Oder …“
„Oder …“, unterbrach Anders sie und machte ein paar Schritte zur Kücheninsel hin. Dann bückte er sich, untersuchte den marmornen Fußboden und betrachtete etwas, das dort lag. Er kam ächzend wieder hoch. „…Oder es hat ein Kampf stattgefunden.“
Hendrick stieß sich mit dem Fuß von der Ecke ab. Er kam näher, um zu sehen, was es war. „Rasierpinselborsten“, sagte er nur. Es war nicht klar, ob er witzig sein wollte, weil ihnen Pfeffer, so wie es aussah, durch die Lappen gegangen war, oder ob er es wirklich ernst meinte.
Anders entschied sich für Ersteres. „Das glaube ich genauso wenig wie Sie. Ich vermute, dass es sich hierbei um die Haare eines Raubtiers handelt. Auf dem ansonsten so akkurat sauberen Boden befinden sich noch mehr davon.“
„Bestimmt von den Fellen, die hier rumliegen“, schaltete sich Dorit Uhl ein.
Hendrick nahm den Ball an, den ihm der Ex-Torwart aus Wien in den Lauf gerollt hatte. „Er hat recht. Aber es sind wahrscheinlich Haare von einem Fell, das an dieser Stelle lag. Die Haare sind definitiv schwarz“, stellte er fest, als er sie durch die Handylupe begutachtete. „Und sonst ist hier kein schwarzes Fell zu sehen, soweit ich es beurteilen kann.“
„Das Fell ist also verschwunden, so wie unser Mann“, sagte Anders.
Dorit Uhl schien das nicht zu glauben, also kam sie zu ihnen, um sich selbst zu überzeugen. Sie ging in die Hocke und überprüfte, ob noch weitere Haare zu finden waren. Sie entdeckte tatsächlich ein paar, und außerdem kreisrunde, dunkle Flecken, die aussahen wie getrocknetes Blut. „Gut möglich, dass hier ein Kampf stattgefunden hat“, meinte sie. „Es kann aber auch einfach nur jemand Nasenbluten gehabt haben.“
„Und wieso fehlt dann eines der Felle?“ Hendrick wollte sich damit nicht zufriedengeben.
„Vielleicht ist es in der Reinigung?“
Es bereitete ihnen sichtlich Vergnügen, einander aufzuziehen.
„Und Pfeffer hat es höchstpersönlich hingebracht? Noch dazu genau dann, wenn er eigentlich bei uns im Verhörraum sitzen sollte? Do-rit!“
„Ist ja schon gut!“ Sie grinste verstohlen. „Reg dich wieder ab. Ich kann schließlich nichts dafür, dass er abgehauen ist.“ Sie tütete ein paar der Haare ein und auch etwas von dem Blut, das sie mithilfe eines Wattestäbchens vom Boden rieb.
Hendrick leitete nun eine Großfahndung nach Pfeffer ein und bestellte ein Team der Spurensicherung in die Wohnung. Danach fuhren sie Anders in sein Hotel, das ganz in der Nähe lag.
Sie würden sich bei ihm melden, sobald sie mehr wüssten, sagte Hendrick, als er ihm seine Sporttasche aus dem Kofferraum hievte. Und dass ihm echt leidtue, wie das hier alles gelaufen sei. Er steckte seine Visitenkarte in die Brusttasche von Anders‘ Sakko und klopfte ihm auf die Schulter.
So als wolle er ihn trösten, weil es ihnen nicht gelungen war, diesen Gegner zu halten, der mit einer einfachen Finte auf und davon war, so kam es Anders zumindest vor. „Wir kriegen ihn schon noch“, sagte Anders. „Wenn nicht heute, dann ein anderes Mal.“