Kapitel 1 – Cadis
Cornwall, England, vor ca. 20 Jahren
„Da! Sie ist da hinten beim Wald!“
„Aber wie ist sie rausgekommen?“
„Ist doch egal! Los, hinterher!“
Mehr hörte Cadis nicht. Ihr Keuchen und das Pfeifen des Windes in ihren Ohren waren zu laut. Sie rannte über die nicht enden wollende Wiese, so schnell sie ihre jungen Beine trugen. Die kleine Figur in der Hand hielt sie fest umklammert. Darléne und Nigel würden sie bald eingeholt haben. Sie waren älter, schneller und zu zweit. Wenn sie ihnen entkommen wollte, würde ihr das nur im Wald gelingen.
Schweiß rann ihr den Rücken hinab, ihre Lungen brannten. Doch sie hastete weiter, ohne sich umzudrehen. Endlich erreichte sie den schützenden Wald. Das Grün des Blätterdachs schluckte viel des Tageslichts. Der Untergrund wurde weicher, das Laufen mühsamer.
Entsetzt stellte Cadis fest, dass der Wald nicht so dicht war, dass sie sich vor ihren Verfolgern verstecken konnte. Ihr blieb nur eine Wahl: Sie musste die Laufwege verlassen.
Es machte ihr Angst, doch sie stellte sich vor, dass es wie in einer ihrer Geschichten war, in denen sie mutig den Dschungel durchquerte.
Im Unterholz knackte und raschelte es bei jedem Schritt geradezu ohrenbetäubend.
„Schhht“, flehte Cadis verzweifelt, aber es half nichts. Als sie Stimmen hörte, erstarrte sie. Möglichst ruhig duckte sie sich hinter einen Baum und betete. Die Hitze strahlte von ihrem Körper ab, ihre Atmung hatte sich kaum beruhigt, ihr Herzchen pochte wie wild und das Blut rauschte in ihren Ohren.
„Wo ist sie?“, rief Nigel und Cadis zuckte zusammen. Sie waren schon zu nah.
„Sie muss in der Nähe sein. Wie kann man beim Laufen nur so viel Krach machen?“
Plötzlich ertönte ein aufgeschrecktes Rascheln, gefolgt vom Geräusch zerbrechender Äste und einem rhythmischen Klopfen, das rasch näherkam.
Rehe.
Cadis gefror das Blut in den Adern. Es kam selten vor, aber sie wusste aus eigener Erfahrung, dass die sonst so scheuen Tiere unter bestimmten Umständen äußerst aggressiv sein konnten und auch angriffen.
Im selben Moment sprangen ihr die Rehe bereits entgegen. Ein spitzer Schrei entschlüpfte ihrer Kehle, ehe sie herumfuhr und um ihr Leben rannte.
In Panik kletterte sie eine Böschung hinauf, geriet ins Stolpern und fiel auf der anderen Seite hinunter. Die Blätter federten ihren Sturz ab. Doch die morschen Äste auf dem Boden verdroschen sie wie mit einem Knüppel. Schmerzen bohrten sich stechend in Arme, Rippen, Hüfte und Beine. Die kleine Figur aus ihrer Hand hatte sie verloren, aber das war gerade nicht mehr wichtig. Cadis biss die Zähne zusammen, rappelte sich auf und rannte weiter, quer durch den Wald, durch Dornenbüsche und über umgestürzte Bäume.
Immer wieder vertrat sie sich und fiel hin, doch kein Schmerz und keine Wunde hinderte sie am Weiterlaufen. Sie floh, bis sie nach einem erneuten Sturz nicht mehr aufstehen konnte und um Luft ringend liegenblieb. Es hatte keinen Sinn mehr. Wenn sie nun überrannt werden würde, wäre das ihr Schicksal. Sie lauschte angestrengt, aber das Getrappel der Rehhufe war verklungen. Erleichtert betrachtete sie die Kronen der mächtigen Bäume, die sie umgaben. Kleine Punkte flirrten über ihr Sichtfeld.
Je weiter sich ihr Atem verlangsamte, desto deutlicher spürte sie die Schmerzen in ihrem Körper, das Brennen von Schürfwunden und Rissen. Sie wollte nicht wissen, wie ihre Kleidung aussah. Sollte sie je wieder nach Hause finden, würde ihre Mutter sie gehörig schelten.
Nach Hause. Schwerfällig setzte sie sich auf und sah sich um. Wie kam sie nach Hause? Langsam stellte sie sich auf ihre zitternden Beine. Gerade, als sie den ersten Schritt wagte, trat sie gegen etwas ungewöhnlich Hartes. Es war definitiv nichts, was sich normalerweise auf dem Waldboden befand. Cadis bückte sich, um genauer zu erkennen, was sich unter den vermodernden Blättern verbarg.
Schienen.
„Was hat das zu bedeuten?“ Ihr Herz machte einen aufgeregten Hüpfer. Sie nahm einen langen Stock, mit dem sie die Schienen ertasten konnte, und folgte ihnen. Sowohl ihre Erholung als auch die Suche nach dem Heimweg mussten vor ihrer Abenteuerlust kapitulieren.
Schon sehr bald verlor der Wald an Dichte. Immer breiter öffnete sich das Blätterdach und gab den Blick auf den grauen Himmel preis. Die Blätter, die die Schienen bedeckten, wurden ebenfalls weniger, bis das rostig-rote Metall schließlich frei lag.
Ein gleichmäßiges Rauschen, das zwischen den Baumstämmen hindurch glitt, ließ sie wissen, dass sie sich in unmittelbarer Nähe der Küste befand. In diesem Teil des Waldes war sie noch nie gewesen. Sie hatte nicht einmal gewusst, dass der Wald bis ans Meer reichte. Ehrfürchtig schritt sie weiter voran, bis sie in der Ferne etwas entdeckte. Es sah aus wie eine Wand oder eine Mauer. War es vielleicht ein Gebäude? Ihr Puls beschleunigte sich, als sie zum erneuten Spurt ansetzte.
Was sie jedoch vorfand, war kein Gebäude. Es war ein Zaun. Ein riesiger Bauzaun, bestimmt dreimal so hoch wie sie selbst. Seine metallenen Füße steckten in immensen Betonschuhen und er war eingewickelt in den bodenlangen anthrazitfarbenen Mantel einer gewaltigen Plane. Grünspan bedeckte den oberen Teil.
Was mochte sich dahinter verbergen? Niemand stellte einen Bauzaun grundlos in einen Wald. Neugierig krabbelte Cadis auf allen vieren und versuchte, einen Blick darunter zu erhaschen. Doch die Plane blieb unnachgiebig und gab nichts von dem Preis, was sie verbarg.
Entmutigen ließ sich Cadis davon jedoch noch lange nicht. Als nächstes lief sie komplett um den Bauzaun herum, der ein erstaunlich weitläufiges Areal umfasste. Möglicherweise gab es irgendwo einen Durchgang oder wenigstens ein Loch, durch das sie schauen konnte. Im Gehen strich sie über das dicke Material. Etwas Außergewöhnliches befand sich hinter dieser Absperrung, das fühlte sie in jeder Faser ihres Körpers.
Doch egal, wie gründlich sie suchte und abtastete, gab es nicht eine Schwachstelle. An beiden Seiten endete der Zaun jeweils an einem Steilhang, beziehungsweise ragte ein Stück über diesen hinaus. Das war zu gefährlich. So sehr Cadis das Abenteuer auch liebte, war das sogar für sie zu waghalsig.
Für den Moment gab sie sich geschlagen. Die Dämmerung würde bald einsetzen und wenn sie den Weg nach Hause finden wollte, musste sie aufbrechen.
„Das ist noch nicht vorbei. Ich komme wieder, versprochen“, flüsterte sie mit einem letzten Blick auf das undurchdringliche Hindernis. Dann nahm sie ihren Stock und folgte den Schienen zurück in den Wald.
Tatsächlich war der Heimweg unerwartet einfach. Die Gleise brachten sie quer durch den Wald, vorbei an der Stelle, an der sie die Figur verloren hatte, vorbei an dem Ort, an dem die Rehe aus ihrer Deckung gesprungen waren. Die Schienen waren die ganze Zeit da gewesen, hatten sie begleitet und Cadis hatte es nicht bemerkt.
Schließlich bogen die Schienen ab, wollten Richtung Straße. Cadis verabschiedete sich. Sie hatte ihre Orientierung zurück.
„Wo bist du gewesen? Und wie siehst du überhaupt aus?“, fuhr ihre Mum sie an, als sich Cadis durch die große Eingangshalle geschlichen hatte und gerade die breite Marmortreppe zu ihrem Zimmer hinaufwollte. Damit war der Plan, sich unbemerkt umzuziehen, zunichtegemacht.
Zarte Geigenklänge schwebten durch die Halle.
„Ich … ähm, ich war im Wald und bin … gestürzt.“ Cadis sah auf ihre dreckigen Schuhe. Es hatte keinen Sinn, ihrer Mutter die Wahrheit zu sagen, ihr zu erzählen, was ihre Geschwister ihr wieder angetan hatten. Viele der blauen Flecken, mit denen ihr Körper mittlerweile übersäht war, kamen von den Stürzen gerade – aber längst nicht alle.
„Du siehst aus, als hättest du mit einem Aktenvernichter Tango getanzt.“
Cadis wusste nicht, was das bedeutete.
Ihre Mutter seufzte. „Liebling, ihr sollt nicht in den Wald gehen. Was sagt euer Vater immer?“
„Der Wald ist gefährlich“, antwortete sie monoton. „Ich weiß, Mum. Es kommt nicht wieder vor.“
„Das will ich hoffen. Denn so, wie du aussiehst, hat er recht. Louisa deckt gerade den Tisch. Dinner ist gleich fertig. Wasch dich und zieh dir etwas Anständiges an.“
„Ja, Mum.“
„Der Geschäftspartner deines Vaters wird heute mit uns zu Abend essen. Ich erwarte, dass du dich bei Tisch benimmst.“
„Ja, Mum.“
Ihre Mutter warf ihr einen letzten eindringlichen Blick zu, dann drehte sie sich so schwungvoll um, dass ihre blonden Haare galant durch die Luft flogen, und lief gleichmäßig klackernd davon.
Cadis sah ihr nach. Sie liebte ihre Mutter wirklich, aber manchmal machte sie ihr Angst. Ihre Stimmungen schlugen schneller um, als das Pendel der großen Uhr im Wohnzimmer. In einem Moment war sie wütend, im nächsten liebenswert, dann plötzlich streng oder unsäglich traurig. Hüh und Hopp, Zuckerbrot und Peitsche. Das war so, seit Cadis denken konnte. Warum ihre Mum so war, wusste sie nicht. Ebenso wenig, wie sie verhindern konnte, dass ihre Mutter wütend oder traurig wurde. Cadis war sich sicher, dass es an ihr lag. Sie machte immer alles falsch und verärgerte ihre Mutter unentwegt.
Für einen Augenblick lauschte sie den Klängen der Geigen. Sie hatte es auch versucht. Stundenlang, jahrelang. Wie ihre Geschwister. Doch es war hoffnungslos gewesen. Egal, wie sehr sie sich bemüht hatte, es quietschte unsäglich und irgendwann hatte Mum ihre Geige zerbrochen und aus dem Fenster geworfen. Sie war eben kein Wunderkind wie ihre Geschwister. Für Cadis war das in Ordnung, aber sie fürchtete, dass es das für ihre Mum nicht war.
Niedergeschlagen ging sie nach oben. Im Bad bändigte sie ihr dunkles, lockiges Haar bestmöglich mit einem Zopfgummi. Es musste nur reichen, bis sie sich gewaschen hatte. Sie zog sich die Kleider aus und wusch sich, ohne ihren Körper anzusehen. Das machte sie schon lange nicht mehr.
„Cadi pielen?“ David kam ins Bad getapst. Drei Jahre war der kleine Knuffel alt und er vergötterte sie. So oft war er der Einzige, der sie gut fand. Bei allen anderen schien die Liebe an Bedingungen geknüpft zu sein oder schlichtweg nicht zu existieren.
Bevor Cadis antworten konnte, läutete Louisa das Glöckchen. „Wir haben keine Zeit mehr zum Spielen, Davi. Wir müssen zum Essen.“ Hastig rubbelte sie sich notdürftig trocken, rupfte willkürlich Klamotten aus ihrem Schrank und zog sich diese über. Dann nahm sie David an die Hand und ging mit ihm vorsichtig die Treppe hinunter.
Im Esszimmer saßen bereits vier Personen an dem langen Mahagonitisch, der festlich in Weiß eingedeckt war. Ihre Mutter huschte wie ein aufgeschrecktes Vögelchen zwischen Tisch, Küche und Louisa hin und her. Eigentlich gehörte es zu Louisas Aufgaben, für das Dinner und die Bewirtung zu sorgen, aber bei hohem Besuch vertraute ihre Mutter niemandem. Trotz der Hektik blieb ihre Mum abrupt stehen, als sie Cadis erblickte und zog eine Augenbraue hoch. Darléne und Nigel schnaubten und kicherten ungeniert.
„Bist du in ein Bonbonglas gefallen?“, fragte Darléne belustigt.
Cadis sah an sich hinunter. Pinkfarbene Hose, orangefarbener Pullover mit einem großen blauen Kreis darauf. Sie sah wirklich albern aus. Warum besaß sie überhaupt solche Klamotten?
Dennoch reckte sie das Kinn und setzte sich.
Cadis’ Vater räusperte sich. „Gut, da nun alle sitzen, möchte ich euch Kindern meinen geschätzten Anwalt und Kollegen Roger Carswell vorstellen.“ Damit deutete er auf den stattlichen Mann mit glänzender Kopfhaut, der in einem eselgrauen, viel zu engen Anzug steckte. Cadis verstand nicht, warum ihr vorgeworfen wurde, wie ein Bonbon auszusehen. Er war zwar gänzlich farblos, aber von der Form her glich Roger Carswell der Süßigkeit mehr.
Der graue Bonbonmann nickte.
„Roger, das sind meine Ältesten, die Zwillinge Nigel und Darléne“, begann Cadis’ Vater und zeigte mit unverhohlenem Stolz auf seine Vorzeigebrut. „Bereits mit ihren zehn Jahren sind sie wahre Virtuosen an der Geige und Landesbeste in sämtlichen Schultests – der Unterricht zu Hause zahlt sich bei den beiden wirklich aus.“
Roger nickte erwartungsgemäß anerkennend. „Dann dürfen wir ja Großes von euch erwarten.“
„O ja“, bestätigte ihr Vater.
Die Zwillinge waren äußerst geschickt darin, einen unschuldig liebevollen Blick aufzulegen, inklusive Heiligenschein und leuchtender Aura. Cadis ballte ihre Händchen. Sie hasste das manipulative Verhalten ihrer Geschwister. Sie war die Einzige, die wusste, was sich für abscheuliche Kreaturen hinter dem hellblonden Schopf, dem liebreizenden Antlitz und den blassblauen Augen verbargen.
„Daneben sitzt unser Jüngster, David“, erklärte der Vater weiter.
Der Kleine unterbrach seine Aktivität des Spuckeblasenmachens irritiert, als sich Rogers Mundwinkel schwerfällig in dessen fleischige Wangen schoben – ein Lächeln? Cadis jagte es prompt einen Schauer über den Rücken.
„Und das ist Cadis.“
Rogers träger Blick ruhte abwartend auf ihr. Sollte sie etwas sagen? Unsicher winkte sie.
„Deine Haare“, zischte ihre Mutter von hinten. Erst jetzt fiel ihr ein, dass sie noch immer den Zopf trug. Eilig zog sie das Zopfgummi trotz einigem Widerstand hinaus. Ihre Locken schnellten nach vorn und feiner Sand, Blätterreste und ein Stöckchen fielen auf ihren Teller. Darléne und Nigel brachen in gehässiges Gelächter aus.
„Oh, Verzeihung.“ Cadis wischte den Unrat unbedacht neben sich.
„Auf den Boden?“, fauchte die Mutter. „Hast du denn überhaupt kein Benehmen?“
Cadis war überfordert.
„Was kommt da als Nächstes raus? Ein Eichhörnchen?“, flüstere Darléne ihr zu.
„Genug Platz hätte es allemal“, bestätigte Nigel.
Cadis ignorierte diese Kommentare. Unter den Argusaugen von Roger Carswell wollte sie sich mit dem haarumrankten Gummi wieder einen Zopf machen, bevor noch mehr Waldboden von ihrem Kopf rieselte. Eilig löste sie die Haare von dem Band, wusste aber nicht, wo sie diese lassen sollte, und sah sich unsicher um. Ihr Vater hatte seine Augen hinter einer Hand verborgen und schüttelte den Kopf.
„Ich würde sagen, sie ist genau, wie du sie beschrieben hast, Lewis“, sagte Roger mit seiner froschgleichen Stimme zu Cadis’ Vater, der resigniert nickte.
Cadis senkte den Kopf und verknotete unter dem Tisch ihre Finger samt Zopfgummi und Haaren ineinander. Auf ihrem Stuhl sitzend, der für sie viel zu groß war, schlug sie lautlos ihre baumelnden Füße gegeneinander.
Das war der Moment, in dem ihr klar wurde, dass sie endlich auf die Suche gehen musste. Dass sie kein Teil dieser Familie sein konnte, war ihr längst klar. Jetzt war es Zeit, herauszufinden, wer sie war und zu wem sie wirklich gehörte.
Und sie wusste auch schon genau, wo sie Antworten finden würde.
Am nächsten Tag bewaffnete sich Cadis mit einer Bastelschere und einer von Louisas Stricknadeln und stahl sich nach dem Mittagessen in den Wald. Sie würde es ihnen zeigen. Ihnen allen. Vielleicht verbarg sich hinter dem Bauzaun eine weniger grausame Parallelwelt oder ein Kinderheim, aus dem sie möglicherweise einst entführt worden war. Oder aber – dieser Gedanke ängstigte sie ebenso sehr, wie er sie berauschte – hinter diesem Zaun würde sie ein verlassenes Haus finden. Diese Tyrannen, bei denen sie lebte, konnten unmöglich ihre leibliche Familie sein. Bestimmt war sie als Baby von einer anderen Familie gestohlen worden, um Laborversuche mit ihr zu machen. Ihre echten Eltern waren brutal ermordet worden und nun vertuschten die neuen Eltern alles und taten, als würde Cadis zu ihrer Familie gehören. Doch ihre Tarnung war zu schlecht. Vielleicht befanden sich in diesem Haus sogar noch die sterblichen Überreste ihrer leiblichen Eltern. Das wäre ein Schock. Dennoch würde sie nichts davon abhalten, ihre Geschichte herausfinden. Und wenn es sie ihr Leben kostete.
Düstere Gedanken dieser Art gehörten leider ebenso zu Cadis wie ihre dunklen Locken.
Der Weg zu dem Zaun war heute viel einfacher, da die Eisenbahnschienen teilweise noch freigelegt und damit gut zu sehen waren.
Kaum hatte sie ihr Ziel erreicht, suchte Cadis eine Stelle in der Plane, die sie für geeignet hielt. Zunächst versuchte sie, die Nadel in den dicken Polyesterstoff zu bohren, ohne Erfolg. Er war zu fest und absolut unnachgiebig. Anschließend war die Schere an der Reihe, jedoch musste sie schnell feststellen, dass diese zu stumpf war. Sie versuchte es noch an drei weiteren Stellen, mit demselben Ergebnis. Frustriert, wenngleich nicht entmutigt, ging sie zurück und schmiedete einen neuen Plan.
Den Tag darauf hatte sie eine Rosenschere dabei und ein Messer aus der Küche, das sie in einem unbeobachteten Moment stibitzt und sicherheitshalber in ein Geschirrtuch gewickelt hatte. Doch auch mit der Schere gelang es ihr lediglich, den Planenstoff zwischen den Scherenblättern einzuklemmen. Das Messer war noch nutzloser. Wahrscheinlich fehlte es ihr an Kraft.
Kurzzeitig fragte sich Cadis, ob die Plane brennbar war, doch mit den umliegenden Bäumen war das Risiko eines Waldbrandes zu hoch.
Am nächsten Tag nahm sie ihre Prickelnadel und die extrem spitze Nagelschere ihrer Mutter mit. Mit dieser hatte sie schon Löcher in Gurkenglasdeckel gepikt. Wenn es mit der nicht funktionierte, dann mit keiner.
Gerade, als der Wald sie in sich aufgenommen hatte, traten Darléne und Nigel plötzlich hinter einem Baum hervor und versperrten ihr den Weg. Cadis’ Körper versteifte sich.
„Na, wohin des Wegs, Rotkäppchen?“, fragte Nigel mit diesem gefährlich lauernden Unterton.
Cadis wusste, dass es am schlausten war, nichts zu sagen. Sie würden alles, was sie sagte, erbarmungslos gegen sie verwenden.
Nigel war über einen Kopf größer als sie und wirkte extrem einschüchternd. Das teuflische Genie, die Gedankenleserin, die Puppenspielerin, war jedoch Darléne. Nicht, dass Nigel ohne seine Schwester nett gewesen wäre, ganz und gar nicht. In ihm schlummerte ebenso viel Serienkillerpotenzial. Er hatte nur häufiger keine Ahnung, was er tat und warum. Dafür riss er seine Klappe umso weiter auf.
„Lasst mich in Ruhe. Ich möchte nur spazieren gehen“, brummte Cadis. Sie mied den direkten Blickkontakt.
„Du und spazieren gehen?“ Darléne lachte glockenhell auf. „Eine lahmere Ausrede ist dir nicht eingefallen?“ Sie schüttelte mitleidig den Kopf. „So klein und so unglaubwürdig. Du bist wirklich zu bedauern.“
„Was wollt ihr?“
„Die Figur, die du uns vorgestern geklaut hast!“
„Das war meine! Und ihr habt sie mir gestohlen!“
Darléne ging einen Schritt auf Cadis zu. „Die Arme leidet unter einer völlig verzerrten Wahrnehmung.“
„Tue ich nicht!“, protestierte Cadis. Ihre Augen brannten, ihr Körper bebte. „Grandma hat mir diese Figur geschenkt.“
Den Zwillingen verrutschten ihre Mienen um keinen Inch. „Du hast sie dir einfach genommen. Das ist kein Schenken.“
„Grandma Calandra hat sie für mich geschnitzt.“
„Lügnerin!“, rief Nigel. Sein Gesicht färbte sich puterrot ein.
Darléne legte einen Finger an die Lippen. „Was machen wir denn jetzt nur mit ihr?“
„Ihr könntet mich in Ruhe lassen“, schlug Cadis vor trotz des Wissens, dass die beiden niemals darauf eingehen würden. „Ich bin hier im Wald, damit habt ihr zu Hause eure Ruhe.“
„Das interessiert uns nicht, du kleine Made… was ist?“ Verwirrt sah Nigel zu seiner Schwester, die ihn am Arm zurückhielt.
„Sie hat recht.“
„Was?!“, kam es von Nigel und Cadis wie aus einem Mund.
„Überleg doch mal, Nigel, wir können die Zeit nutzen, uns einzuschmeicheln. Mum und Dad zeigen, dass die Familienplanung nach uns hätte enden sollen. Und wenn Cadis so gerne Bäume umarmt, können wir endlich eine Familie zu viert sein.“
„Was ist mit David?“, erkundigte sich Nigel.
Sie zuckte mit ihren schmalen Schultern. „Jede Familie braucht ein Haustier. Komm.“ Damit gingen sie beide zurück über die riesige gepflegte Grünfläche zu dem auf einem kleinen Hügel thronenden Herrenhaus.
Cadis wartete, bis sie im Haus verschwunden waren, ehe sie ihren Weg fortsetzte. Ein mulmiges Gefühl blieb dennoch.
Doch in dem Moment, als sie den Zaun erreichte, waren ihre Geschwister vergessen. Die Euphorie war zu groß. Ohne zu zögern, machte sie sich ans Werk. Und tatsächlich. Nach einigem beherzten Bohren mit der Prickelnadel und vollem Körpereinsatz war die Barrikade endlich durchbrochen. Ein winziges Loch zierte die starke Plane.
Zitternd vor Freude und Anspannung zog sie nun die Nagelschere hervor und schob sie kraftvoll in das Löchlein. Sie musste die Schere einige Male drehen, und immer wieder neu ansetzen, doch es gelang ihr, den Durchbruch Stück für Stück zu vergrößern. Zielstrebig machte sie weiter, bis ihr Arm derart schmerzte, dass sie die Schere kaum mehr festhalten konnte. Das Loch hatte nun einen Durchmesser von etwa einem Daumennagel – groß genug, um hindurchspähen zu können.
Zunächst erkannte Cadis nichts, außer einer Menge Grün: Sträucher, Bäumchen, mannshohes Gras. Auch hier lag viel altes Laub. Es dauerte, bis sie begriff, dass dieses Grün nicht einfach da war, es überwucherte etwas. Jetzt erkannte sie vereinzelt einen Untergrund aus Beton, kleine Häuschen und Gerüste. Was war das nur?
Cadis rieb sich über die bereits erschöpften Augen und die Wangen, bevor sie die fremde Landschaft weiter erkundete.
Ihr Blick blieb schließlich an etwas hängen, das aussah wie ein Pferdekopf.
Erschrocken taumelte sie zurück, stolperte und fiel hin. Lag hinter diesem Zaun etwa eine alte Schlachterei? Ihr wurde übel, doch sie zwang sich, aufzustehen und wieder durch das Loch zu sehen. Sie musste wissen, was auf der anderen Seite war. Jeder Hinweis, den sie fand, war eine Erklärung für ihr ganzes Leben. Waren ihre sogenannten Eltern Schlachter gewesen, die ihren leiblichen Eltern ihr Anwesen weggenommen hatten?
Angestrengt schaute sie sich den Bereich rund um den Pferdekopf an. Da waren noch mehr von denen. Sie wirkten gespenstisch, mit starrem Blick. Erst bei genauerem Hinsehen erkannte Cadis verblasste und abgeplatzte Farbe. Es waren nur Figuren. Die meisten von ihnen an Stäben, die hinauf zu einem überwucherten Rondell führten.
Konnte das sein? War es möglich, dass …?
Erst jetzt fiel ihr die verblasste Farbe zwischen dem ganzen Grün auf. An den Giebeln der kleinen Häuser waren vereinzelt Glühbirnen zu erkennen. Das waren keine Häuschen, das waren Buden. Und die Gerüste waren … Karussells! Mit weit aufgerissenen Augen schreckte Cadis hoch. Dahinter. Hinter diesem Zaun, hinter dieser Plane lag …
„Ein Jahrmarkt“, flüsterte sie.
Das warf allerdings mehr Fragen auf, als es beantwortete.
Ehe sie weiterdenken konnte, raschelte es hinter ihr. Als sie herumfuhr, sah sie ihre Geschwister davonrennen.
„O nein, so ein Mist.“ Das würde zu Hause ein gewaltiges Donnerwetter geben.
Eilig stopfte sie Schere und Nadel in ihre Tasche und rannte ebenfalls zurück. Je eher sie dort ankam, desto weniger Zeit würden die Zwillinge haben, Lügengeschichten über sie zu erzählen, oder, wie in diesem Fall, ausnahmsweise die Wahrheit.
Völlig außer Atem erreichte Cadis das Haus. Sie lief direkt hintenrum über die Veranda ins Wohnzimmer, wo sie abrupt stehenblieb.
In dem großen dunkelgrünen Ohrensessel in der Mitte des Raumes saß eine ältere Dame, die grau-melierten Haare in einen ordentlichen Dutt gebunden. Herzensgute dunkle Augen funkelten ihr über den Rand einer Halbbrille entgegen.
„Hallo, Liebes“, begrüßte die Dame sie mit sanfter Stimme. Sie schlug das Buch auf ihrem Schoß zu und nahm die goldgerahmte Brille ab. Ein wenig wirkte sie auf Cadis wie ein Zauberwesen. „Du bist ja ganz aus der Puste. Hast du einen Geist gesehen?“ Um ihre Augen herum bildeten sich viele schöne Fältchen. „Weißt du, als du kleiner warst, sind wir oft auf Geisterjagd gegangen – was wir dabei alles gefunden haben … Erinnerst du dich noch?“
„Hallo Grandma“, keuchte Cadis. „Ich wusste nicht, dass du … uns heute besuchst.“
„Ja, es war eine spontane Idee, meine Lieblingsenkelin mal wieder zu besuchen.“ Sie zwinkerte Cadis zu. „Ich habe mir nämlich heute etwas besonderes für uns beide ausgedacht. Eine kleine Schnitzeljagd. Aber sag du zuerst, was liegt dir so schwer auf dem Herzen?“
„Ich wollte nur … Sind Nigel und Darléne schon da?“
„Hm, gesehen habe ich sie nicht, allerdings gab es irgendwo Radau. Ich nehme an, das waren sie.“ Gutmütig lächelnd sah sie zu ihr hinüber. „Was ist denn passiert, mein Liebes?“
Da Cadis’ Atem ihr langsam wieder gehorchte, plapperte sie direkt los, solange sie noch die Chance dazu hatte. „Granny, ich war in unserem Wald und es war so unglaublich. Hinten, an der Bucht steht ein Zaun mit einer Plane. Und weißt du, was dahinter ist? Ein Jahrmarkt! Ich glaube, da ist ein Jahrmarkt! Ich habe Buden gesehen und Karussells!“ Die Worte sprudelten nur so aus ihr hervor. In ihrer Euphorie entging ihr, dass sämtliche Wärme aus den Augen ihrer Großmutter verschwunden war. Blass starrte diese sie an. Cadis wollte gerade mit ihrer Erzählung fortfahren, als die Wohnzimmertür aufflog und die Zwillinge mit ihrem Vater hineingestürmt kamen. Sein Gesicht glühte hochrot.
„Cadis! Bist du von allen guten Geistern verlassen? Was hast du dir dabei gedacht?“, brüllte er. „Du bist wirklich eine Schande für die Familie! Du gehörst übers Knie gelegt!“
Die Zwillinge blieben zufrieden grinsend bei der Tür stehen.
Cadis zog den Kopf ein. Bevor sie sich verteidigen konnte, ließ sie ein lauter Knall zusammenzucken. Erschrocken und aus dem Konzept gebracht, liefen alle zum Wohnzimmerfenster.
Auf der Veranda lag der leblose Körper eines Vogels. Cadis brach es das Herz. Ein kleiner, dunkler Vogel, etwa so groß wie eine Amsel lag in der höhnenden Sonne, den Kopf unmöglich verdreht.
Saure Galle kroch ihre Speiseröhre hinauf.
Wieder vernahmen sie ein dumpfes Geräusch und drehten sich um. Der Anblick, der sich Cadis nun bot, fraß sich geradezu auf ihre Netzhaut.
Ihre Grandma saß noch immer in dem Sessel, doch das Buch auf ihrem Schoß war zu Boden gefallen. Ihr Körper zitterte, sie japste nach Luft, griff sich an die Brust, bog und krümmte sich.
Ihr Vater reagierte sofort. „Fiona, ruf einen Notarzt“, wies er ihre Mutter an, die gerade das Wohnzimmer betreten hatte. Sie nickte und nahm Cadis und die Zwillinge mit aus dem Zimmer. Bevor sie die Tür schloss, erhaschte Cadis noch einen Blick auf die Szenerie in der ihr Vater ihre Großmutter vorsichtig aus dem Sessel hob und auf den Boden legte. Die sonst so liebevolle und ruhige Frau ruderte mit den Armen, wimmerte und röchelte. Für Cadis war das zu viel. Sie konnte nicht mehr atmen, ihr Inneres brannte, ihr wurde schwindelig und in ihren Ohren rauschte es. Sie konnte immer weniger erkennen, als würden dunkle Wände ihr Sehfeld nach und nach verkleinern. Schließlich gaben ihre Beine unter ihrem Gewicht nach. Der Marmorboden war kalt und hart. Bevor sie den Schmerz jedoch richtig wahrnehmen konnte, breitete sich Dunkelheit über ihr aus.
„Cadis? He, Cadis. Wach auf. Jetzt ist keine Schlafenszeit“, vernahm sie zunächst dumpf, dann immer deutlicher die Stimme ihrer Schwester. Hatte sie alles nur geträumt?
Langsam öffnete sie ihre Lider. Der Geschmack von Erbrochenem lag penetrant auf ihrer Zunge und ließ sie erneut würgen. Kein Traum. Der Jahrmarkt, die wütenden Eltern, der tote Vogel, die kollabierende Granny.
„Okay, wie ich sehe, bist du wieder zurück, Schwesterchen“, sagte Darléne. „Die Kotze machst du selbst weg und bitte bevor der Notarzt hier eintrifft. Das ist wirklich ekelig.“ Sie zog ihre feine Nase kraus. Dann erhob sie sich und reichte Cadis die Hand. „Na, komm schon, hoch mit dir.“
„Warum hilfst du mir?“
„Tu ich nicht. Und jetzt frag nicht so viel, und mach das weg, von dem Gestank wird mir übel.“
Zögernd ergriff Cadis die Hand ihrer Schwester und ließ sich von ihr hochziehen. Danach ging sie willenlos ins Bad, holte Toilettenpapier und einen Eimer mit Wasser und Seife und machte sich ans Werk.
Keine Minute zu früh wurde sie fertig. Die Eingangstür flog auf und Nigel rannte herein, zwei stämmige Sanitäter im Schlepptau. Der eine schob eine Fahrtrage, während der andere mit einer dunklen Ledertasche bewaffnet war. Nigel brachte sie ins Wohnzimmer. Noch immer hörten sie ihre Granny wimmern. Eine Träne nach der anderen löste sich aus Cadis´ Augen.
„Das habe ich nicht gewollt“, flüsterte sie.
Darléne schwieg. Eine der nettesten Gesten, die sie je für Cadis übriggehabt hatte.
Nur wenig später öffnete sich die Wohnzimmertür erneut. Auf der Trage wurde ihre Granny hinausgebracht. In ihrem Arm verschwand ein dünner Schlauch, an dessen anderem Ende sich eine Flasche mit einer durchsichtigen Flüssigkeit befand. Das Zittern schien nachgelassen zu haben. Spuren von Tränen zierten ihre zarten Wangen. Sie atmete schwer. Wollte sie etwas sagen?
„Ganz ruhig“, sagte einer der Sanitäter. „Wir nehmen Sie jetzt mit ins Krankenhaus. Dort wird man sich um Sie kümmern. Es ist alles in Ordnung.“
Doch Cadis erkannte genau, dass dem nicht so war. Der Kiefer ihrer Granny klappte unentwegt auf und zu. Schließlich waren einzelne Laute zu vernehmen. „G … son“, hauchte sie. Cadis konnte es nicht ganz verstehen. Ihre Großmutter wiederholte es immer wieder: „Gray … son. Grayson. Grayson.“
Dann verschwanden sie.
Wer war Grayson?
Kapitel 2 – Calandra
Cornwall, England, 1950
„Fang mich doch!“ Lachend stieß Calandra die Tür zum Teesalon auf.
„Nein, Calandra! Nicht darein!“, rief Cybill panisch. Ihre Nanny versuchte, sie am Arm zu packen, aber wie so oft war Calandra schneller und entwischte ihr.
Fröhlich rannte sie in den lichtdurchfluteten Raum, der erfüllt war von leisem Raunen, dezenten Klängen von Geige und Klavier und dem Duft von frisch gebrühtem Schwarztee. Die Stehtische waren in demselben Rosenmuster eingekleidet, das auch die Vorhänge und das Tafelservice trugen. Alles war herzallerliebst. Bei den Teepartys ihrer Mum fühlte sie sich immer wie die Prinzessin in ihrem Puppenschloss. Der Teesalon war hübsch hergerichtet und es gab stets das perfekte Essen: Häppchen, die in eine Hand passten, schnell in den Mund gesteckt waren und himmlisch schmeckten.
Leider sah ihre Mum Calandra nicht gern auf ihren Veranstaltungen. Angeblich benahm sie sich nicht anständig, redete zu laut und zu viel. Zudem monierte ihre Mutter, dass sie mit dem Essen krümelte oder kleckerte und sich ständig vollschmierte.
Dennoch war die Verlockung zu groß. Auch jetzt nahm Calandra als erstes Kurs auf das Buffet. Auf Etageren und Servierplatten mit Goldrand lagen Scones, kleine Sandwiches und Muffins. Es gab sogar Kuchen. Allein beim Anblick der hübsch hergerichteten Snacks lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Sie würde nicht lange stören, nur ein paar der Leckereien stibitzen und dann wieder verschwinden.
Hier und dort stieß sie versehentlich gegen einige Menschen, doch niemand kam zu Fall. Das war gut.
In ihre Hände passten mit etwas Mühe genau vier Scones. Gerade, als sich Calandra mit ihrer Beute davonstehlen wollte, stellten sich ihr zwei Beine in den Weg, die sie nur allzu gut kannte. Langsam wanderte ihr Blick über in die Hüfte gestemmte Arme hinauf. Eng zusammengeschobene Augenbrauen gehörten ebenso zu dem Gesicht ihrer Mutter wie die dunkelrot geschminkten schmalen Lippen. Calandra wusste, was dieser Ausdruck bedeutete, und zog den Kopf zwischen die Schultern. Ohne dass ihre Mum etwas sagen musste, legte Calandra die Gebäckstücke zurück auf den Tisch und ging ohne ein weiteres Wort in ihr Zimmer. Mit einem schweren Gefühl im Magen setzte sie sich auf ihr übergroßes Bett und zog die Beine eng an ihren Körper. Es war ihre Schuld. Aus Erfahrung wusste sie genau, was nun folgen würde. Sie würde Cybill nicht mehr wiedersehen. Ihre Eltern waren sehr streng, wenn es um ihre Erziehung ging, und ließen den Kinderfrauen keine Fehler durchgehen. Der kleinste Ungehorsam von Calandra führte zur sofortigen Entlassung. Ihre Mum sprach gegenüber den Kindermädchen immer davon, dass Calandra besondere Betreuung brauchte.
Cybill … Sie würde die etwas dickliche Nanny vermissen. Zwar war sie ebenso streng gewesen wie ihre Vorgängerinnen, aber sie konnte die besten Schokoladenplätzchen backen, die Calandra je gegessen hatte.
Die Schuldgefühle drückten ihre Schultern hinunter. Sie ließ sich nach hinten fallen und betrachtete das Sternenmuster ihres Betthimmels. Wie oft hatte sie sich gewünscht, genau so sein wie alle anderen? Doch das war sie nicht. Sie war mehr ein regenbogenfarbenes Einhorn mit Flügeln als ein Stern. Zumindest fühlte sie sich oft so.
Und sie war allein.
Viola, Beatrice, Annilee, Ostara, Heather, Deena, Miranda, Ruth – so viele Namen. Sie konnte sich nicht einmal mehr an alle erinnern. Und nun auch Cybill.
Warum konnte sie nicht sein wie andere Kinder, oder wie ihre Eltern es sich wünschten? Warum schaffte sie es nicht, die Regeln zu befolgen? Sie dürfte auf Mums Teepartys gehen und die leckeren Scones essen, wenn sie tat, was man ihr sagte. Wenn sie auf ihre Mum und die Nannys hören würde.
Warum gelang ihr das nicht?
Warum war das so schwer?
Langsam drehte sie sich auf die Seite, rollte sich ein und kaute auf ihrem Daumen, bis ihre Lider so schwer wurden, dass sie zufielen.
Am nächsten Morgen kitzelte ein vorwitziger Sonnenstrahl ihre Nase. Mit einem herzhaften Niesen erwachte Calandra und musste direkt lachen.
Sie blinzelte in den neuen Tag.
„Guten Morgen, du Lieber. Was bringst du denn heute Schönes?“ Lächelnd lauschte sie in die Stille hinein. „Ach so, heute ist ein besonderer Tag? Na, wenn du das sagst, so will ich dir glauben.“
Fröhlich sprang sie auf. „Ein neues Abenteuer beginnt! Yo-Ho Piraten und verstecktes Gold, heute komme ich euch suchen. Seht her, wie ich auf der Planke dieses Schiffes balancieren kann!“ Leichtfüßig hüpfte sie auf das hölzerne Fußteil ihres Bettes und setzte behutsam einen Fuß vor den anderen. Auf der linken Seite angekommen sprang sie mit einem Satz an den Pfosten und kletterte diesen hinauf. Hier und da gab er ein gequältes Knarzen von sich – zu oft schon war Calandra an ihm emporgestiegen.
„Report vom Ausguck.“ Sie legte sie flache Hand an ihre Stirn und scannte das Zimmer. „Melde, heute ist freie Sicht. Die Schatzsuche kann ungehindert und wie geplant starten. Aber zunächst …“ Sie ließ den Pfosten los und sprang zurück auf das Bett. „Gibt es Frühstück!“ Damit ging sie in die Knie und sprang so hoch, dass sie mit der Hand gegen den Stoffhimmel ihres Bettes schlagen konnte. Es folgte vereinzelt dumpfes Klopfen auf dem Teppichboden. Zufrieden betrachtete Calandra die bunte Pracht auf dem Boden: Einzelne Wine Gums lagen nun dort verteilt – ihr heimlicher Vorrat.
Sie hüpfte hinunter und griff unter das Bett. An dem Lattenrost hatte sie mit zwei Gürteln eine kleine Aufhängung gebaut, damit von außen nicht erkennbar war, was sie versteckte. Gezielt öffnete sie eine der Gürtelschlaufen und zog einen kunterbunt bemalten Pappkarton hervor. Darin befanden sich selbstgemalte Bilder, gepresste Blätter und Blüten, ein Stein, der aussah wie Frida Kahlo, und ihre erste Schnitzerei. Es hatte eine Holzfigur werden sollen, jedoch war nicht mehr herausgekommen als verkorkstes Stück Ast ohne Rinde. Mit viel Fantasie eine der Figuren von den Osterinseln. Unentwegt hatte sie sich in die Finger geschnitten. Doch sie würde nicht aufgeben, ehe es ihr gelungen war, ein Pferd zu schnitzen.
Unter all den Sachen befand sich ein selbstgebautes Holzschwert, das sie bedächtig herauszog. Ihre Eltern durften nie erfahren, dass sie in der Werkstatt gewesen war und Nägel und einen kleinen Hammer entwendet hatte, der ebenfalls in dem Karton war. Die Werkstatt war schließlich kein Ort für eine junge Dame.
Beim Anblick ihres hölzernen Excaliburs schlich sich ein Grinsen auf ihre Lippen. „Schatz gefunden“, flüsterte sie. „Jetzt kann ich frühstücken.“
Mit dem Holzschwert in der Hand sammelte sie die ersten Wine Gums ein und stopfte sie sich direkt in den Mund, als sie überraschend Stimmen im Flur vernahm, sie sich rasch näherten. Es gelang ihr gerade noch, das Schwert in den Karton zu werfen und diesen unter das Bett zu kicken, bevor ihre Zimmertür geöffnet wurde. Hart schluckte sie das halbgekaute Weingummi hinunter. „Guten Morgen, Mutter.“
„Dein Rumpeln ist im ganzen Haus zu hören. Du kannst nicht einmal leise aus dem Bett aufstehen“, sagte sie und holte gerade Luft, als sie Calandras Frühstück bemerkte. „Darüber werden wir noch sprechen.“ Ihre Kiefermuskeln zuckten. „Zunächst zu gestern: Dein Verhalten war absolut inakzeptabel. Mr. Vandal wäre beinahe gestürzt, weil du ihm ins Knie gerannt bist.“
„Das tut mir sehr leid, Mum.“ Sie sah auf ihre Füße.
„Du hast auf diesen Veranstaltungen nichts zu suchen.“
„Ich weiß, Mum.“
„Wo du auftauchst, herrscht das reinste Chaos.“
„Ich weiß, Mum.“
„Warum begreifst du das nicht? Dein Vater arbeitet schwer für die Mine und ich organisiere die gesellschaftlichen Events. Das ist ebenso harte Arbeit.“
Kurz sah Calandra auf. Die Augenbrauen ihrer Mutter waren jetzt so weit zusammengezogen, dass sich eine tiefe Falte in deren Mitte bildete. Schnell richtete sie den Blick wieder auf den Boden.
„Das ist wichtig für uns. Das ist wichtig für diese Familie!“
„Ich weiß, Mum.“ Ihr Stimmchen wurde schwächer. Diese Rede kannte sie mittlerweile beinahe auswendig.
„Für dich ist das alles nur ein Spiel, aber hier geht es um unser Ansehen und um unseren Stand in der Gesellschaft.“
So oft hatte ihre Mutter diesen Satz gesagt, doch Calandra hatte nie begriffen, was das eigentlich bedeutete.
Ihre Mum seufzte. „Cybill haben wir gehen lassen müssen. Sie war unfähig.“
Schuldbewusst nickte Calandra. Sie hatte es geahnt.
„Dein Vater und ich haben beschlossen, dass wir noch einen letzten Versuch wagen. Solltest du dich weiterhin nicht benehmen können, werden wir dich aufs Internat schicken.“
Auch das war ihr nicht neu. „Ja, Mum.“
„Gut. Den Rest überlasse ich deiner neuen Kinderfrau.“ Damit wandte sie sich zum Gehen. „Lorraine, Sie sind dran.“
„Ja, Ma’am“, erklang eine feine Stimme. Fein, nicht bestimmend oder streng.
Gleichermaßen verwundert wie interessiert sah Calandra auf. In der Tür, der davonstürmenden Mutter Platz machend, stand eine zierliche junge Frau mit langen dunklen Haaren. Die Sonne schien ihr geradewegs ins Gesicht, doch sie verzog es nicht, als wäre es ihr unangenehm. Sie ließ die Sonne einfach scheinen.
Und auf ihren Wangen, war das etwa …? Calandra riss die Augen auf. Ein Hauch von Glitzer? In diesem Augenblick war sie sich sicher, dass diese Frau ein Zauberwesen war. Es musste so sein.
Kaum waren die energischen Schritte im Flur verhallt, öffnete sie den Mund. „Hallo, ich bin Lorraine. Ich darf ab jetzt Zeit mit dir verbringen und bin überzeugt, dass wir viel Spaß zusammen haben werden.“ Ein Lächeln, freundlich und offenherzig, zauberte kleine Grübchen in ihre Wangen.
Calandra legte den Kopf schief. Hatte sie gerade Spaß gesagt? So hatte sie noch keine Nanny begrüßt.
„Als erstes wollen wir uns mal um die Süßigkeiten kümmern, oder was meinst du? Schließlich sind die zum Essen da, nicht dafür, sie im Zimmer zu verstreuen.“
„Ja, ich weiß“, murmelte Calandra automatisch und senkte erneut den Kopf. Enttäuschung begann sich in ihr breitzumachen.
„Dann lass sie uns essen.“ Mit diesen Worten hüpfte sie ins Zimmer und sammelte ein Wine Gum nach dem nächsten ein und steckte sie sich in den Mund. „Die sind wirklich lecker!“, rief sie mit vollen Backen. „Du solltest auch mitmachen, sonst habe ich alle vor dir aufgegessen.“
Ein Strahlen entspannte Calandras Gesichtszüge. Ihr Herz machte einen kleinen Satz. In Windeseile tat sie es ihrer neuen Nanny gleich und hopste Süßigkeiten essend durch das Kinderzimmer.
„Na, und wo ist der Rest?“, fragte Lorraine, als der Boden süßigkeitenfrei war.
Ehe Calandra es verhindern konnte, war ihr Blick zu ihrem Betthimmel gehuscht. O nein, das wäre ihr Ende.
Lorraine nickte anerkennend. „Nicht schlecht. Da hätte ich sie auch versteckt.“
Staunend sah Calandra dabei zu, wie Lorraine ihre Schuhe in hohem Bogen durch den Raum fliegen ließ, auf das Bett stieg und einen erneuten Wine-Gum-Regen über sie brachte. Ja, sie musste ein Zauberwesen sein!
Ihr Spiel ging in eine ausgelassene nächste Runde, bis Lorraine sich unbedarft bückte, um ein Gum aufzuheben, das unter das Bett gefallen war.
„Nein, nicht da schauen“, rief Calandra sofort. Der Gedanke, ihre Mutter könnte von ihrem Schatz erfahren und ihn wegwerfen, schnürte ihr die Brust zu.
Doch es war zu spät.
„Was ist das?“ Lorraine zog den offenen Karton bereits hervor. Ihre Miene erhellte sich. „Das ist ja ein tolles Holzschwert!“ Sie nahm Calandras stümperhaft zu einem Schwert zusammengenagelte Holzlatten in die Hand und hielt es in die Höhe.
Calandra wusste nicht, was sie sagen sollte.
„Hast du das selbstgemacht?“ Ihre Augen leuchteten förmlich.
„Ähm, ja.“
„Alleine?“
„Mhm.“ Sie nickte.
Mit fachkundigem Blick betrachtete Lorraine das Schwert. Dann sah sie Calandra entschlossen an. „Das bekommen wir besser hin.“
Calandra glaubte, ihren Ohren nicht zu trauen. „Wie … wie meinst du das?“
„Hat dein Vater Werkzeug?“
„Ja, draußen.“
„Ich bin bei meinem Dad aufgewachsen. Wir haben viel aus Holz gebaut. Wenn du möchtest, zeige ich es dir.“
Calandra verschlug es die Sprache. Der neue Tag hatte nicht zu viel versprochen. Dies war schon jetzt der schönste ihres Lebens. Und er schien immer besser zu werden.
Sie strahlte, dass ihre Wangen schmerzten. „Ja, bitte. Zeig mir, wie man ein richtiges Holzschwert baut.“
„Yo-Ho, Piratin Calandra, seid Ihr bereit für eine neue abenteuerliche Schatzsuche?“ Mit verstellter Stimme kam Lorraine in das noch dunkle Zimmer.
Während sie die Vorhänge vor den bodentiefen Rundbogenfenstern aufzog, riss Calandra grinsend die Augen auf und sprang aus dem Bett.
„Selbstverständlich, Captain Lorry! Ich habe gestern bereits eine Karte angefertigt.“ Sie lief zu ihrem Schreibtisch und kramte zwischen den darauf liegenden Zetteln ein Bild hervor. Triumphierend hielt sie es in die Höhe. Neben vielen Punkten und Strichen prangte in der Mitte ein großes rotes Kreuz.
Lorraine klatschte in die Hände. „Perfekt. Dann lass uns sofort loslegen. Morgendstund hat Gold im Mund. Ich habe auch schon die ideale Idee, wo wir mit unserer Suche beginnen können.“
„Aber was ist mit Frühstück?“
Lorraine stemmte einen Arm in die Hüfte und neigte den Kopf. „Bekommen echte Piraten morgens ihr Frühstück? Womöglich noch ans Bett? Nein, sie müssen es sich erst erbeuten, so wie wir.“
Lachend rannte Calandra zu ihrer Nanny. Drei Monate war sie nun schon da und es hatte noch keine einzige Standpauke ihrer Mutter gegeben. Mit Lorraine war alles einfach. Sie musste sich ihre Abenteuer nicht mehr selbst suchen, nun gingen sie gemeinsam. Oft waren sie draußen im Wald. Und wenn der Regen an die Scheiben klopfte wie heute, blieben sie drinnen, wandelten durch die Räume des Hauses und suchten nach verborgenen Schätzen.
Zwar war Calandra noch immer nicht wie einer der Sterne auf ihrem Betthimmel, doch fühlte sie sich auch nicht mehr als das einzige bunte Einhorn mit Flügeln auf dieser Welt. Sie war nicht mehr allein.
Auf Zehenspitzen schlichen sie über den langgezogenen Korridor im Erdgeschoss.
„Wo lang müssen wir jetzt?“, flüsterte Lorraine.
Calandra studierte die Zeichnungen auf ihrer Karte. „Noch etwa zehn Schritte, dann links.“
„Mhm, okay. Das ist das Lesezimmer. Eine ausgezeichnete Wahl. Da werden wir bestimmt fündig. Das Bücherregal ist für Verstecke ein echter Klassiker.“
Wie immer, bevor sie einen neuen Raum und damit eine neue Welt betraten, stellten sie sich zunächst an die Tür und lauschten. Lorraine legte den Zeigefinger auf ihren Mund, ehe sie langsam die geschwungene Messingklinge hinunterdrückte und die Tür einen Spaltbreit öffnete. Vorsichtig spähten sie hinein. Der Lesesaal war einer von Calandras Lieblingsräumen im ganzen Haus. Sie liebte die Ruhe und den Frieden, den die Bücher ausstrahlten, das viele Licht, das durch die großen Fenster hereinfiel, die Gemütlichkeit und den Geruch der Lesesessel.
Doch dieses Mal war es anders.
„Was ist hier los?“, flüsterte Calandra.
Überrascht und fassungslos betraten sie den Raum. Die Sessel, die kleinen Beistelltische für den Tee und die Stehlampen waren verschwunden. Sogar die Teppiche waren fort. Nackt und kalt erstreckte sich der Parkettboden durch den gesamten Raum.
Calandra sah sich weiter um. In den ewig langen deckenhohen Regalen stand kein Buch mehr. Hohl, wie mit offenen Mündern, standen die leeren Regale an der Wand – ihres Zwecks beraubt.
Alles war weg.
Einzig der goldene Kronleuchter hing in gänzlichem Kontrast zur Kahlheit des Raums von der Decke.
„Was ist hier passiert?“, fragte Calandra und klammerte sich Schutz suchend an Lorraine.
„Ich weiß es auch nicht.“ Sie legte ihre Hand auf Calandras Rücken. Es beruhigte sie, dennoch konnte sie den besorgten Unterton in Lorraines Stimme hören.
Das verhieß nichts Gutes.
Genau so war es. Welche Krankheit auch immer es war, die das Haus befallen hatte, sie breitete sich weiter aus. Einen Raum nach dem nächsten erwischte die Leere. Den Polstern, die blieben, wurden Laken übergeworfen.
Nach dem Teezimmer, dem Jagdzimmer, dem Billardraum und dem Grünen Salon hatte es nun auch das Wohnzimmer erwischt. Auch hier bot sich derselbe gespenstische Anblick: Regale und Vitrinen ohne Inhalt, fehlende Möbel und Teppiche, kahle Wände. Lediglich die kleine Bar mit den Getränken, die mit ihren sonderbaren Flaschen, Gläsern und Flüssigkeiten an eine Hexenküche erinnerten, stand unangerührt an ihrem Platz.
Ungläubig stand Calandra an diesem Morgen mitten in dem Raum, der zwar nie viel familiäre Atmosphäre geboten hatte, jedoch immer behaglich gewesen war.
Ihre Mum saß auf einer Zweisitzercouch, eine von der unbequemen Sorte mit dem harten Polster. Doch das Polster konnte man nicht sehen, da auch dieses Sofa von einem Tuch bedeckt war. Unter dem Bademantel ihrer Mutter schaute ihr Schlafanzug hervor. In der Hand hielt sie ein Glas mit einem durchsichtigen Getränk, den Blick hatte sie ins Leere gerichtet. Ihre Haare waren nicht gekämmt und Make-up aufgelegt hatte sie ebenfalls nicht. Der Anblick war für Calandra derart fremd, dass sie sich nicht sicher war, ob diese Frau tatsächlich ihre Mutter war.
„Ähm“, versuchte sie sich dezent, bemerkbar zu machen. Doch zeigte ihre Mutter keine Reaktion. „Lorraine hat mich heute Morgen nicht geweckt.“
Sie verharrte weiter regungslos.
„Ist alles in Ordnung mit ihr?“
„Begrüßt man so seine Mutter?“, lautete schließlich ihre Antwort.
Calandra senkte den Blick. „Entschuldige, Mum. Ich meinte natürlich: Guten Morgen, Mutter.“
Noch immer blickte sie Calandra nicht an. „Dein Vater und ich haben andere Sorgen als deine Nanny.“
„Wo ist sie denn?“
„Sie hat uns verlassen.“ Die Stimme ihrer Mutter war ohne Emotion.
Calandras Brust schnürte sich zusammen. Sie versuchte zu verstehen oder zu atmen. Beides wollte ihr nicht gelingen. „Aber warum?“, japste sie. „Es ist nichts vorgefallen. Wir haben uns immer an die Regeln gehalten.“
Zugegeben, der zweite Punkt entsprach nicht der Wahrheit. Wir sind nie erwischt worden, wäre die treffendere Aussage gewesen. Doch Calandra war sich sicher, dass ihre Mutter nie etwas von ihren heimlichen Ausflügen in Vaters Werkstatt mitbekommen hatte. Auch nicht, dass Lorraine für ihr Alibi an Calandras Stelle Kissen geknüpft und Tücher bestickt hatte.
Oder hatte Lorraine sie etwa freiwillig verlassen? Hatte sie genug von ihr gehabt und war gegangen, ohne sich zu verabschieden? Tränen schossen ihr in die Augen.
Ein Mundwinkel ihrer Mutter hob sich vage an. „Es geht hierbei um viel mehr als die albernen Regeln für dich. Sieh dich doch nur im Haus um. Alles haben sie uns genommen. Lediglich das Arbeitszimmer deines Vaters haben sie verschont. Und dieses Sofa. Durch den Fleck, den du mit dem Fisch gemacht hast, ist es wertlos geworden.“ Sie nahm einen Schluck. Noch immer hatte sich ihr Blick nicht verändert.
Calandra schluckte hart. „Was … was ist denn hier los, Mutter? Wer sind sie? Wer nimmt uns unsere Möbel weg?“
„Die Menschen, denen wir Geld schulden. Wir sind bankrott, Calandra. Außer diesem Haus besitzen wir nichts mehr.“
„Oh.“ Fragen rauschten wie Schnellzüge durch ihren Kopf. Sie wusste nicht, was all das zu bedeuten hatte. „Wo ist Dad?“
„Im Bett.“
Sie nickte, obwohl sie sich auch darauf keinen Reim machen konnte. Eine Weile verharrten sie in der Situation. Calandra, die mitten im Raum stand und nicht wusste, wohin mit ihren Händen und Armen, und ihre Mutter, die schweigend auf dem Sofa saß und hin und wieder an ihrem Glas nippte.
Schließlich gab sich Calandra einen Ruck und setzte sich neben ihre Mum auf die unbequeme Couch. Keine von beiden sagte etwas. Calandra wusste, dass es nichts gab, was sie sagen oder tun konnte, um ihre Mutter aufzuheitern. Zaghaft legte sie ihren Arm auf den Rücken ihrer Mum, ganz so, wie Lorraine es bei ihr immer gemacht hatte. Es war ein eigenartiges und ungewohntes Gefühl.
Sie dachte an Lorraine, die sie jetzt schon vermisste. In den wenigen Monaten, in denen sie in ihrem Leben gewesen war, hatte Calandra so viel Fürsorglichkeit, Nächstenliebe und Verständnis erlebt wie in all den Jahren davor nicht.
„Was trinkst du da?“, fragte sie in die Stille hinein, um die Traurigkeit zu überspielen.
„Gin.“