Leseprobe Schatten über dem Moor

Kapitel 1

Als Detective Inspector Nikki Galena die Tür ihres Hauses in den Fenlands schloss, überkam sie ein Gefühl der Vorfreude. Sie ließ ihren Blick über die weitläufige Marsch schweifen, atmete die frische, salzige Luft tief ein und lächelte. Es fühlte sich gut an, wieder da zu sein, wo sie hingehörte.

Sie konnte sehen, wie sich der Dunst über Cloud Fen lichtete, und ein grüngoldener Morgen die Salzmarsch langsam mit seinem hellen, klaren Licht weckte. Sie ging in den Garten und fragte sich, was dieser neue Morgen wohl mit sich brächte, abgesehen von der Ankunft ihres neuen Sergeant. Ihr Lächeln wurde breiter. Sie hatte eine Weile auf diesen Moment gewartet und freute sich darauf, während sie ihn gleichzeitig auch fürchtete.

Detective Sergeant Joseph Easter würde fortan zu ihrem Kriminalteam gehören. Heute war sein erster Tag auf dem Revier, nachdem er im Dienst verletzt worden war. Sie machte sich keine Illusionen darüber, dass seine neue Position ein Kinderspiel für sie werden würde, denn so war es nicht. Es würde für sie beide eine herausfordernde Zeit werden.

Sie hoffte nur, dass er wieder so fit war, wie er behauptete.

Nikki ging über den gekiesten Parkplatz zu ihrem Auto und murmelte ein kleines Dankgebet, weil es auf dem Revier ausnahmsweise gerade außergewöhnlich ruhig war. So würden sie den armen Kerl nicht gleich wieder ins kalte Wasser werfen müssen.

„Endlich! Nikki! Ich dachte schon, ich würde Sie überhaupt nie wiedersehen!“ Ein großer Mann mit zerfurchtem Gesicht in einer schwarzen Jogginghose, einem leuchtend roten Rugby-Shirt und mit einem schwarzen Rucksack hielt sein Fahrrad an, stieg eilig ab und grinste sie warmherzig an.

„Martin! Wie geht es Ihnen?“ Nikki erwiderte die freundliche Umarmung, schob ihn dann von sich und sah ihn an. „Hey, Sie sehen gut aus!“ Sie kannte ihn länger, als sie sich erinnern konnte. Er war ihr nächster Nachbar, obwohl er eine halbe Meile entfernt an einem schmalen Weg wohnte, der in die Marsch führte.

Der Mann strahlte sie an. „Mir geht es gut, aber noch besser, seit ich die Neuigkeiten von Ihnen gehört habe. Vor ein paar Wochen habe ich die Arbeiter hier bemerkt. Sie sagten mir, Sie hätten vor zurückzukommen.“

„Es war Zeit, nach Hause zu kommen, Martin.“ Als Nikki diese Worte sagte, wusste sie, dass sie wahr waren. Sie war zu lange fort gewesen. Hatte in der Stadt festgesteckt und jede wache Stunde damit zugebracht, irgendwelche Dealer dingfest zu machen. Sie hatte sich immer weiter getrieben, bis sie sich kaum noch erinnern konnte, wie das Leben gewesen war, bevor sich ihr drogenvernichtender Kreuzzug in jeden Teil ihrer Existenz gefressen hatte.

„Freut mich zu hören.“ Martin Durham schob sich eine Strähne seines eisengrauen Haars aus dem Gesicht und sah anerkennend zu ihrem alten Farmhaus hinauf. Die frische Farbe leuchtete im Morgenlicht. „Tolle Arbeit! Das Wetter hier draußen macht keine Gefangenen. Ich habe mich schon gefragt, ob der Ostwind sich das Haus schnappen würde, bevor Sie zurückkommen.“

„Es war ein wenig heruntergekommen, nicht wahr?“ Plötzlich fühlte sie sich schrecklich schuldig, weil sie das alte Zuhause ihrer Familie so lange vernachlässigt hatte. „Aber ich verspreche, dass Sie diesen Winter wieder Rauch aus dem Schornstein kommen sehen.“ Sie blickte auf ihre Uhr. „Herrje! Es tut mir leid, dass ich Sie stehenlassen muss, aber das Fenland Constabulary ruft. Warum kommen Sie am Wochenende nicht auf einen Kaffee vorbei? Dann können wir weiterreden.“

„Danke, das werde ich. Ich habe tatsächlich ein paar interessante Neuigkeiten für Sie, aber das kann warten. Oh, und …“ Er musterte ihr vom Wetter gezeichnetes Tor. „Wie ich sehe, sind Ihre Arbeiter noch nicht dazu gekommen. Ich habe vor, morgen meine Zäune mit Holzschutz zu streichen, da kann ich das hier gleich mitmachen, wenn das hilft?“

„Toll! Wenn es keine Umstände macht?“ Nikki entriegelte ihr Auto. „Sagen Sie mir, was ich Ihnen schulde. Dieses Zeug kostet ein Vermögen.“

„Ich glaube nicht, dass ein Tor ausschlaggebend ist. Betrachten Sie es als Willkommensgeschenk.“ Mit einem Winken stieg er wieder auf sein Fahrrad, schulterte seinen Rucksack und radelte in Richtung seines Cottage davon.

Nikki stieg ins Auto und gestattete sich einen langen Seufzer der Erleichterung.

Es war keine einfache Entscheidung gewesen, nach Hause zurückzukehren, doch ihr letzter Fall hatte eine Menge in ihrem Leben verändert. Nun, da sie Zeit gehabt hatte, darüber nachzudenken, war ihr klar, dass sie einen Rettungsring zugeworfen bekommen hatte. Ihre Eine-Frau-Bürgerwehr, um Greenborough von Drogen zu reinigen, hätte sie beinahe ihre Karriere gekostet und sie zum engstirnigsten und unbeliebtesten Officer in der Gegend gemacht. Und so hatte sie nicht sein wollen. Dass sie Martin gerade wiedergetroffen hatte, hatte ihr klargemacht, wie rücksichtsvoll Menschen sein konnten. Vielleicht war die Welt doch nicht nur von gemeinen Bösewichten bevölkert.

Als die große Gestalt in dem roten Shirt langsam verschwand, spürte sie, wie sie eine Art Frieden überkam. Es war wirklich gut, zurück zu sein. Sie gehörte hierher, in diese seltsame, abgelegene Wasserwelt mit ihren weitläufigen Marschen, die vor Leben sprühten, und dem riesigen Himmel über allem.

Mit einem letzten Blick zu dem alten Haus hinauf drehte sie den Zündschlüssel und fuhr auf die Straße hinaus. Sie war nun bereit für alles, was das Polizeirevier von Greenborough ihr vor die Füße werfen mochte. Es würde ein guter Tag werden.

***

Während Nikki in Cloud Fen losfuhr, stieß Joseph Easter mit seinen Fingerspitzen gegen die türkisfarbenen Kacheln des Pools und durchbrach die glitzernde Wasseroberfläche.

Fünfzig Bahnen. Nicht annähernd die Strecke, die er früher geschwommen war, aber er wurde besser. Einen Moment lang stand er da und schöpfte Atem. Jeder Tag war ein kleiner Fortschritt. Er konnte bereits ziemlich beeindruckende zehn Meilen im schwersten Programm auf dem Fahrrad zurücklegen, ohne dabei zu viele Schmerzen zu haben. Er legte sich auf den Rücken und ließ sich eine Weile treiben. Und so schlimm waren die Schmerzen nicht mehr. Nichts im Vergleich zu kurz nach der Operation.

Er blickte auf die Uhr. An seinem ersten Tag auf dem neuen Revier wollte er nicht zu spät kommen. Ruhig schwamm er zur Leiter zurück und zog sich widerstrebend aus dem warmen Pool. Bis heute hatte er jeden Morgen zwei Stunden im Fitnessstudio und dem kleinen Pool verbracht und tat alles, um stark genug zu werden, damit er die Untersuchung bestand, die die Voraussetzung für seine Rückkehr zur Arbeit war.

Er tappte in die Umkleidekabine, nahm sein Handtuch und seine Waschtasche aus dem Spind und ging zur Dusche. Zähneknirschend hatte der Betriebsarzt ihm erlaubt, in den Dienst zurückzukehren, hatte ihm jedoch ein paar Auflagen gemacht, was er vorerst meiden sollte. Alles in allem war es jedoch sehr gut gelaufen. Sein Körper erholte sich zwar, doch er sorgte sich dennoch, weil er nicht wusste, wie sein Verstand auf eine unerwartete Situation reagieren würde. Und das würde er erst herausfinden, wenn die Kacke das nächste Mal am Dampfen war. Er konnte seine Muskeln und seine Ausdauer testen, aber soweit er wusste, gab es keinen Test für seinen mentalen Zustand. Was wiederum bedeutete, dass er sich darum auch keine Sorgen zu machen brauchte. Endlich durfte er DI Galenas Team beitreten, also beeilte er sich nun besser. Er grinste, als das schaumige Wasser seinen Rücken hinabrann. In die Höhle des Löwen.

Während er Shampoo in sein dichtes hellbraunes Haar massierte, erinnerte er sich an seine erste Begegnung mit seiner neuen Chefin. Statt ihn in seiner vorübergehenden Stelle willkommen zu heißen, war sie scharfzüngig, übellaunig und verdammt unhöflich gewesen. Joseph lachte laut und hielt dann seinen Kopf unter das warme Wasser. Weil er sie trotz alldem gemocht hatte. Nun, vielleicht war „mögen“ nicht ganz das richtige Wort, aber er hatte sehr wohl eine leidenschaftliche, ehrliche Polizistin unter ihrer harten Schale erkannt. Er hätte sich nicht mehr freuen können, als sie ihn fragte, ob er sein altes Revier verlassen und dauerhaft mit ihr in Greenborough arbeiten wollte.

Er trocknete sich ab und zog sich an. Irgendwann während dieses letzten Falls, an dem sie gemeinsam gearbeitet hatten, hatten sie eine Art unbenannte Verbindung geschmiedet. Er hatte sie gespürt und war sich sicher, dass sie das ebenfalls hatte. Warum hätte sie sonst fragen sollen, ob er von Fenchester herüberkam?

Joseph trocknete sein Haar und betrachtete sich im Spiegel. Er sah nicht anders aus, aber er wusste, dass er sich tief in seinem Innern verändert hatte. In seinen Augen sah er dieselbe alte Leidenschaft, obwohl da jetzt vielleicht noch mehr war? Er zwang sich zu einem Grinsen, um die düstere Stimmung zu vertreiben, die sich seiner zu bemächtigen drohte. Vielleicht lag es daran, dass der Spiegel in der Umkleidekabine eine Reinigung hätte vertragen können.

Joseph nahm seine Waschtasche, stopfte sie in seinen Rucksack und ging den Flur hinunter zum Foyer, wobei er über seine neue Stelle nachdachte. Er war nicht so dumm, dass er annahm, es würde leicht werden, mit DI Galena zu arbeiten. Als Menschen waren sie sehr gegensätzlich, aber irgendwie brachten ihre unterschiedlichen Ansätze sie über andere Wege zu denselben Schlüssen. Und dadurch würden sie die Bösewichte kriegen.

Als sich die automatischen Türen öffneten, lächelte er vor sich hin. Sie hatten alles, was ein verdammt gutes Team brauchte. Seine Miene verdüsterte sich. Solange sie beide ihre Vergangenheit ruhen ließen und nicht gestatteten, dass sie in die Gegenwart schlich.

Sonnenlicht erwärmte sein Gesicht, als Joseph hinaustrat, und sein Lächeln kehrte zurück. Jetzt war nicht die Zeit, alten Müll hervorzukramen. Heute ging es um einen Neuanfang, und wenn er sich nicht beeilte, wären die ersten Worte, die seine neue Chefin an ihn richtete, eine Gardinenpredigt, weil er zu spät war. Er lief über den Parkplatz, öffnete seinen Kofferraum und warf seinen Rucksack hinein. Als er ihn wieder schloss, bemerkte er, dass jemand ihm freundlich zuwinkte. Automatisch winkte er zurück und setzte sich auf den Fahrersitz.

Die andere frühmorgendliche Schwimmerin war eine dunkelhaarige Frau, die er ein paarmal kurz gesehen hatte. Sie war dünn, aber nicht mager, sondern eher schlank und trainiert wie eine Sportlerin. Er wartete und sah ihr zu, wie sie zum Eingang hinüberlief. Ihr Schritt zeugte von Selbstvertrauen, und ihre Gliedmaßen bewegten sich anmutig fließend. Joseph starrte sie schamlos durch die Windschutzscheibe an. Für einen Mann, der immer geglaubt hatte, Aussehen sei nicht alles, war es wie ein Schock. Die Erscheinung dieser Frau hatte definitiv etwas sehr Attraktives an sich. Joseph schüttelte sich. Noch nie in seinem Leben war er zu spät zur Arbeit gekommen, und heute wollte er damit nicht anfangen. Mit einem ärgerlichen Schnauben startete er den Motor, löste die Handbremse und verließ geräuschvoll den Parkplatz, jedoch nicht ohne einen letzten Blick in seinen Rückspiegel, um die dunkelhaarige Frau im Gebäude verschwinden zu sehen.

***

Er war sich nicht sicher gewesen, was er von seinem Team erwarten sollte, aber sein Erscheinen im Kriminalbüro wurde begleitet von lautem Jubel und einer Mischung aus Händeschütteln und Schulterklopfen.

„Toll, Sie wiederzusehen, Sarge!“ DC Cat Cullens Grinsen spaltete beinahe ihr Gesicht entzwei.

„Mega Frisur!“ Joseph starrte mit großen Augen auf die kurzen blonden Stacheln und den smaragdgrünen Irokesen-Streifen, der sich von ihrer Stirn bis in ihren Nacken zog.

„Ja, cool, oder? Die Chefin wollte, dass ich mich unter die Jugendlichen in Greenborough mische. Im Rahmen einer verdeckten Überwachung, verstehen Sie.“

„Bei Ihnen kann man nie wissen, Cat. Ihre Verkleidungen stehen Ihnen ein bisschen zu gut.“

„Sarge! Wie geht es Ihnen?“ Die große Gestalt von Dave Harris schob sich zwischen sie, ergriff seine Hand und schüttelte sie mit wilder Begeisterung auf und ab.

„Sehr gut, mein Freund. Und ich freue mich, hier zu sein, das kann ich Ihnen sagen. Es gibt nur eine begrenzte Anzahl alter Filme, die man immer wieder gucken kann.“

„Also haben Sie sich doch entschieden, zu uns zu kommen, Detective Sergeant.“ Nikki Galenas Stimme brachte sofort alle zum Schweigen.

Joseph hatte nicht einmal bemerkt, dass sie hereingekommen war. „Ja, Ma’am. Aber nur unter der Bedingung, dass unser nächster Fall nicht so gefährlich ist wie der letzte.“

Ein Ausdruck des Schmerzes huschte schnell über ihr Gesicht, dann zuckte sie die Achseln. „Bei dieser Arbeit gibt es keine Garantien, Joseph. Hoffen wir einfach, dass der Blitz nicht zweimal einschlägt, ja?“ Sie schenkte ihm ein seltenes Lächeln und streckte ihm die Hand hin. „Willkommen im Team. Wir freuen uns, Sie an Bord zu haben.“

Zustimmende Worte wallten auf, und als Joseph ihre Hand nahm, spürte er einen Kloß im Hals. Mit dieser kleinen Gruppe von Menschen hatte er nur wenige Wochen zusammengearbeitet, doch sie waren bereits seine vertrauten Kameraden. Das war es, was diese Fälle mit einem machten: Sie brachten die Menschen zusammen und schmiedeten ein Band zwischen ihnen. Er versuchte, eine Antwort zu formulieren, fand aber keine Worte.

„Okay, liebe Leute!“ Die Chefin kam ihm zur Hilfe. „Der Spaß ist vorbei! Verdrücken Sie sich und fangen Sie mir ein paar Kriminelle!“ Sie betrachtete ihn sorgsam, und er fragte sich, was sie denken mochte. „Kaffee und eine Plauderei in meinem Büro klingt gut für mich. Sie holen die Getränke.“

DI Galena drehte sich um und verließ das Kriminalbüro. Joseph lächelte. Er hatte gehört, dass sie weicher geworden sei, und fragte sich, wie eine solche Metamorphose geschehen sein konnte. Nun wusste er es. Es war unauffällig. Sie brüllte immer noch jeden an, doch nun war da der Anflug eines Funkelns in ihren Augen. Die Eiskönigin war immer noch präsent, aber sie begann zu schmelzen. Nur an den Kanten, aber es stand ihr gut. Er lächelte immer noch, als er gehorsam zum Kaffeeautomaten trottete.

***

Als die Bürotür geschlossen war, gestattete sich Nikki, die Fassade fallenzulassen. „Gut, Sie wiederzuhaben, Joseph. Es gab da ein paar Momente, in denen ich mich fragte …“ Der Rest blieb ungesagt.

„Das haben wir beide, Ma’am.“ Joseph holte tief Luft und hielt eine Weile den Atem an. Dann stieß er ihn langsam wieder aus und sagte: „Aber hier sind wir wieder.“

„Und diesmal sind Sie ein voll bezahltes Mitglied unseres Teams.“ Nikki nahm einen Schluck Kaffee. „Werden Sie in die Stadt ziehen?“

„Ich weiß noch nicht, Ma’am. Ich möchte es richtig machen und nicht einfach das Erstbeste nehmen.“ Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare und lehnte sich in seinem Sessel zurück. „Seit ich aus dem Krankenhaus heraus bin, fühle ich mich irgendwie anders. Ich denke, ich werde noch eine Weile im Bed & Breakfast bleiben. Mein Zimmer dort ist nicht schlecht, und ich gewöhne mich gerade an Mrs Blakelys Sechzigerjahre-Retro-Style.“

Nikki nickte. „Wahrscheinlich ist es weise, die Dinge nicht zu überstürzen.“

„Ja. Ich denke, ich werde meine Wohnung in Fenchester annoncieren. Wenn ich sie verkauft habe, bleibe ich auf dem Geld sitzen, bis ich für den nächsten Schritt bereit bin.“

„Nun, falls es eine Weile dauert, können Sie, was immer Sie möchten, draußen auf der Cloud Cottage Farm lagern. Abgesehen vom Haus selbst habe ich ein paar sehr nützliche Außengebäude. Sie sind alle trocken und sicher.“

„Danke, Ma’am. Vielleicht komme ich darauf zurück.“ Er sah sie hoffnungsvoll an. „Also, gibt es etwas Interessantes im Kriminalbüro?“

„Bevor wir zur Arbeit kommen, muss ich noch eines sagen.“ Sie beugte sich vor. „Ich spreche dieses Thema nur einmal an, dann gehen wir zum normalen Arbeitsalltag über, okay?“ Sie ließ ihm keine Möglichkeit zu antworten, sondern fuhr schnell fort. „Wenn irgendetwas Sie belastet oder zu anstrengend ist, möchte ich, dass Sie ehrlich zu mir sind. Wir werden dann einen Weg finden. Ich möchte kein Heldenzeugs und auch kein Märtyrertum, verstanden?“

Joseph nickte widerwillig. „Laut und deutlich, Guv. Aber ehrlich, ich habe nicht Wochen mit Physiotherapie und im Fitnessstudio verbracht und trainiert, um in meiner ersten Woche hier wieder alles zunichtezumachen.“ Er richtete seine unglaublich ehrlichen Augen auf sie, und Nikki konnte nicht anders, als ihm zu glauben.

„Gut. Die Belehrung ist vorbei. Irgendwelche Fragen?“

„Mir fallen keine ein. Aber es freut mich, dass Dave Harris nun auch zur Kripo gehört.“

„Er hat die Prüfung zum Glück spielend geschafft. Seine Erfahrung und seine Ortskenntnis sind ein großer Zugewinn.“

Joseph nickte. „Und er ist ein echt netter Kerl. Also, woran arbeiten wir im Moment, Ma’am?“

„Nichts Besonderes, außer Sie zählen den Berg an Papierkram dazu, der letzten Monat entstanden ist.“ Sie zog eine Grimasse und zog dann eine dünne Mappe zu sich heran. „Um ehrlich zu sein, ist es hier so ruhig wie schon lange nicht mehr.“ Sie öffnete die Mappe. „Ein paar kleine Feuer. Vermutlich Brandstiftung.“

„Kinder?“

„Dachten wir zuerst, aber nun sind wir nicht mehr so sicher. Das letzte hat einen Lagerraum am Ende der großen Autowerkstatt in der Monk Street zerstört. Es war ein Glück, dass Trumpton recht schnell dort war. Sonst hätte es ein größerer Zwischenfall werden können, mit den Dutzenden Autos und den Benzinreserven.“

Joseph runzelte die Stirn. „Warum denken Sie, dass es keine Kids waren?“

„Der erste Feuerwehrmann sagte, dass ein Brandbeschleuniger benutzt wurde. Und er schwört darauf, dass es nicht nur gelangweilte Kids waren. Er sagte, er habe dabei ein ‚Gefühl von Professionalität‘.“

„Ein professioneller Brandstifter bedeutet nichts Gutes, Ma’am.“

Nikki nickte. „Ich weiß. Aber das war vor zwei Wochen. Drei Brände in ebenso vielen Nächten, und nun ist alles ruhig. Ich weiß nicht, ob ich erleichtert oder besorgt sein soll.“ Sie klappte die Mappe zu. „Davon abgesehen arbeiten Cat und Dave an einer Cannabis-Farm-Geschichte, stehen aber kurz vor dem Abschluss. Dann haben wir noch das Übliche: Autodiebstahl, Einbrüche, der immerwährende Drogenhandel und ein bisschen Betrug. Aber nichts Erwähnenswertes.“

„Also dieselbe alte Leier, abgesehen von den Bränden.“ Joseph streckte sich. „Und welche dieser Köstlichkeiten haben Sie für mich vorgesehen, Ma’am?“

„Keines davon.“ Sie seufzte. „Nun, zumindest noch nicht. Ein paar Tage werden Sie mit mir zusammenarbeiten.“

„Welche Art von Ermittlung?“

„Es gibt keine.“ Sie stieß die Luft aus und fragte sich, wie sie ihr jüngstes Problem erklären sollte.

„Der Super möchte, dass wir ihm helfen. Die Prüfer sind da, und abgesehen davon, dass wir in einem Meer von Papierkram ertrinken, hat ein gesichtsloser Zivilist in einem bequemen Büro entschieden, dass unser Gebiet weit über dem nationalen Durchschnitt für plötzliche Todesfälle liegt.“ Sie beugte sich vor und stützte ihre Ellbogen auf den Tisch. „Sie haben eine Heidenangst, dass die Medien die Statistiken in die Finger kriegen und damit einen großen Tag haben. Der Super möchte, dass diese Fälle überprüft werden, und zwar schnell.“

Joseph sah sie erstaunt an. „Aber was hat das mit uns zu tun? Das hat doch sicher medizinische Gründe, oder?“

„Ich dachte, das wäre ein guter Anfang, aber als ich tiefer grub, stellte ich fest, dass es nicht nur um ‚plötzliche‘ Todesfälle geht, bei denen ein Arzt eine Urkunde unterschreibt und dann war’s das. Es gibt eine schrecklich große Anzahl, die wir als ‚verdächtig‘ eingestuft und die Gerichtsmedizin hinzugezogen haben.“

„Mit welchem Ergebnis?“

„Die meisten haben sich als Selbstmorde herausgestellt. Obwohl die Anzahl nicht so hoch ist, wie sie vor kurzem in Wales war, ist es beunruhigend.“

„Ich dachte, die Selbstmordrate im Vereinigten Königreich sei rückläufig?“

„Das sagt zumindest die Regierungsstatistik. Vor ein paar Jahren hieß es, Ostengland habe eine der niedrigsten Raten in England und Wales. Ich nehme an, deshalb stechen unsere Zahlen nun heraus wie ein verdammter Leuchtturm.“

Joseph runzelte die Stirn. „Ist in dieser Statistik eine besondere Altersgruppe oder ein Geschlecht präsenter?“

Langsam schüttelte Nikki den Kopf. „Nein. Und ich finde einfach keinen gemeinsamen Nenner darin.“ Sie trank ihren Kaffee aus und sagte dann: „Sorry, ich weiß, dass das keine Arbeit für die Kripo ist, aber Superintendent Bainbridge braucht wirklich unsere Hilfe, um für diesen kleinen Bürokraten Antworten zu finden.“

Joseph zuckte die Achseln. „Dann machen wir es eben.“

„Es ist nicht zu deprimierend für Sie, oder? So alles in allem?“

Er lächelte sie warmherzig an, und sie verstand, warum so viele kuhäugige Frauen sich heute auf dem Revier herumdrückten.

„Ich mache es gern, Ma’am. Ich bin so froh, dass ich am Leben bin, dass es vielleicht sogar eine ziemlich gute Aufgabe für mich ist. Wenn ich depressiv wäre, dann vielleicht nicht, aber …“

Ihr Telefon klingelte und unterbrach Joseph. Es war ein genervter Rick Bainbridge. Sie hörte sich an, was er zu sagen hatte, murmelte ihre Zustimmung und legte auf. „Ich muss los. Der Super möchte ein Update über meine bisherigen Ergebnisse.“ Sie lächelte ihn reumütig an. „Soweit es denn welche gibt. Oh, und ich soll Ihnen seine Grüße ausrichten und ihn entschuldigen, weil er nicht heruntergekommen ist, um Sie zu begrüßen. Ich nehme an, einer der Prüfer hat ihn an seinem Schreibtisch festgenagelt.“ Sie reichte Joseph einen Stapel Papier. „Kopien von allem, was ich herausfinden konnte. Sehen Sie es sich an. Wir können ein kleines Brainstorming machen, wenn ich zurück bin.“

***

Über eine Stunde blätterte Joseph durch die Berichte, und währenddessen verflog seine Hochstimmung. In seinem Leben war er an ein paar sehr finsteren Orten gewesen, vielleicht an mehreren als die meisten anderen, doch er hatte nie in Erwägung gezogen, sich selbst das Leben zu nehmen. Nun, da er Berichte über unzählige Agenturen und Hilfsorganisationen las, wurde ihm schlecht, als ihm klarwurde, wie viele Menschen es tatsächlich taten.

Die Zahlen waren erschütternd. Ein Selbstmord im Vereinigten Königreich alle zweiundachtzig Minuten? Das konnte doch nicht stimmen, oder? Er legte das Papier nieder und starrte darauf hinab. Und warum sollte es in der Gegend von Greenborough schlimmer sein als anderswo? Er runzelte die Stirn. Vielleicht war es das gar nicht. Statistiken konnten manipuliert werden, um sie an jegliche Situationen anzupassen. Und obwohl es nicht seine Lieblingsbeschäftigung war, konnte Joseph sehr gut mit Statistiken umgehen. Also sollte er, da ja keine richtige Polizeiarbeit zu tun war, vielleicht auf die Suche nach irgendwelchen Anomalien oder Grauzonen gehen, die geändert worden waren, um etwas anderes darzustellen, als wirklich vorhanden war.

Mit einem kleinen Seufzen öffnete Joseph eine zweite Mappe und nahm die Seiten mit den Statistiken heraus. Plötzlich erschienen ihm diese alten Filme, die ihm in der letzten Zeit so aus dem Hals herausgehangen hatten, ziemlich cool.

Kapitel 2

Charles Cavendish-Small deutete theatralisch nach oben. „Und das, Ladys, Gentlemen und Kinder, ist der Höhepunkt unserer Tour.“ Er machte eine Pause und hoffte, dass ausnahmsweise einmal jemand das Wortspiel verstünde. Das geschah selten, und er fragte sich, warum er sich überhaupt die Mühe machte. „Der Turm. Er wurde in drei Etappen gebaut, von denen die erste die frühe englische Gotik war und die letzte die Spätgotik. Historisch gesehen repräsentiert jede Etappe den wachsenden Reichtum unserer Stadt. Von der Aussichtsplattform aus werden Sie einen sehr lohnenswerten und fantastischen Ausblick auf Greenborough, den Fluss, die umliegenden Niedermoore und den Wash haben.“

Der Touristenführer schritt leicht über den Steinboden und achtete darauf, nicht auf die Gedenksteine zu treten. Er deutete auf einen Torbogen. „Wenn Sie die Treppe benutzen wollen, folgen Sie mir bitte. Doch ich warne Sie, die Stufen sind steil, und sie sind der einzige Weg auf den Turm hinauf. Es gibt kleine Ausbuchtungen, in denen man warten kann, wenn jemand entgegenkommt.“ Er überblickte seine kleine Gruppe. Alle sahen ziemlich gesund aus, obwohl zwei der älteren Leute aus dem Geschichtsverein ihre Knie sicher für die nächsten Tage in Schmerzsalbe baden würden. Während seiner Touren war noch nie etwas Schlimmes passiert, doch sein Kollege Arthur hatte letzten Sommer an nur einem Wochenende mit zwei Panikattacken und einem verstauchten Knöchel zu kämpfen gehabt.

„Sollte irgendjemand an seiner Fähigkeit zweifeln, die Stufen zu erklimmen, oder leidet unter zu hohem Blutdruck oder Herzproblemen, warten Sie bitte hier oder trinken Sie etwas im Kirchencafé. Es dauert ungefähr eine halbe Stunde. Danke.“

Mit einer leicht dramatischen Geste geleitete er seine Schützlinge zu dem abgeschirmten Torbogen. „Folgen Sie mir und geben Sie gut acht. Wir möchten doch keine Unfälle.“

Als die Teilnehmer auf die Plattform hinaustraten, schnappten sie wie üblich erstaunt nach Luft und betrachteten die flache Landschaft, die sich unter ihnen ausbreitete. Heute war die Sicht besonders gut. Klarer, hellblauer Himmel, weiße Wattewölkchen und eine goldene Sonne. Manchmal betrachtete Charles seine Besucher nicht gerade mit Freude, aber er liebte seine wunderschöne Pfarrkirche, und er liebte diese magische Aussicht über das Land. An Tagen wie heute konnte man die Küste vom nördlichen Norfolk sehen.

Er zählte seine Schützlinge schnell durch und versicherte sich, dass niemand keuchend auf der Treppe zurückgeblieben war. Dann begann er, verschiedene Landmarken zu benennen.

„Bitte? Was ist das?“, fragte ein ausländischer Tourist mit schwerem deutschem Akzent.

Charles folgte dem ausgestreckten Finger mit seinem Blick und lächelte. „Das ist die Ruine der Fenland-Abtei von St Cecelia. Es ist nur wenig davon übrig außer dem wundervollen Torbogen und den Resten der Kapelle.“

„Und ist das der Hafen?“, fragte jemand aus einer kleinen Gruppe Schulkinder und deutete auf ein paar Kräne.

„Sehr richtig, junger Mann. An diesem Ende liegen die Fischerboote, und der neuere Teil ist der Hafen von Greenborough. Und, oh ja! Wenn Sie zur Flussmündung hinüberschauen, können Sie gerade noch die Masten eines Lastschiffes sehen, das auf dem Weg zum Wayland River ist.“

Die Leute zeigten mit ausgestreckten Fingern, machten Fotos und unterhielten sich untereinander. Alle waren sich einig, dass es die Mühen des Aufstiegs wert war. Charles ließ sie die Aussicht eine Weile lang genießen und begann dann, den Abstieg zu organisieren.

„Gut, wenn nun alle so weit sind, werde ich …“ Er blieb auf der obersten Treppenstufe stehen und blickte nachdenklich hinab. Der Weg sollte frei sein. Heute standen keine Touren mehr auf dem Plan. Wieder lauschte er. Jemand war definitiv auf dem Weg nach oben, und zwar ziemlich schnell.

„Sorry, Leute. Können Sie alle einen Moment warten? Da kommt jemand …“ Bevor er seinen Satz zu Ende sprechen konnte, stieß jemand seinen Ellbogen fest in seinen Solarplexus, und Charles fand sich auf dem Boden wieder und schnappte nach Luft.

„Hey! Sie können nicht …!“

Ein Gesicht, das so verzerrt war, wie Charles noch keines gesehen hatte, schwebte über ihm. Der Mann war aus der Türöffnung am oberen Ende der Treppe hervorgebrochen und hatte die kleine Gruppe auseinandergetrieben. Nun stand er wie ein grässlicher Wasserspeier, der zum Leben erwacht war und sich aus der uralten Architektur befreit hatte, über Charles gebeugt da und drohte, ihn zu verschlingen.

Reine, lähmende Angst hielt Charles gefangen. Dann brach ein panischer Schrei von einem der Schüler den Bann.

Das hier musste eine Panikattacke sein. Aber wenn es das war, war es eine der schlimmsten Art, und wenn er den Mann nicht beruhigen konnte, und zwar verdammt schnell, würde jemand verletzt werden. Das Letzte, was Charles gebrauchen konnte, war ein Ansturm auf die Treppe.

„Bleiben Sie ruhig! Es ist in Ordnung! Wirklich“, keuchte er. „Lassen Sie mich Ihnen helfen.“ Er streckte dem Mann die Hand hin. „Bitte! Setzen Sie sich zu mir. Kommen Sie, Sie schaffen es.“

Eine Sekunde lang glaubte Charles, er wäre zu dem Mann durchgedrungen. Doch dann drehte sich der Mann mit einem erstickten Schrei um, den Charles in den nächsten Jahren jede Nacht hören würde, rannte auf die hohe Steinbalustrade zu, kletterte hinauf und warf sich hinunter, ohne einen Moment zu zögern. Schweigen legte sich über alle, dann begann eines der Kinder zu wimmern. Charles kam stolpernd auf die Füße, eilte zur Mauer und blickte in die Tiefe. Ein Paar aus der Gruppe stellte sich neben ihn, während andere die Kinder zu beruhigen versuchten. Charles konnte nur auf die verrenkte Gestalt unter ihnen hinabsehen.

Der Mann war neun Stockwerke hinabgestürzt und dann auf die Mauer geprallt, die den Wasserlauf einfasste. Zu Charles’ Entsetzen rutschte der leblose Körper vor ihren Augen von der Mauer und fiel wie ein Sack Müll in das träge Brackwasser des Wayland River.