Prolog
Eine wohlklingende Melodie erfüllte den Raum. Die wirbelnden Schwaden würzig duftenden Zigarrenrauches dämpften die leisen Klänge des Violoncellos. Die Musiker spielten Haydns Streichquartett Opus 20 Nummer 4, eines der Lieblingsstücke des Gastgebers, und die gewundenen Töne der Violine tänzelten zwischen den Hintergrundgeräuschen der Kameraderie vornehmer Herrschaften hindurch. Klirrendes Glas. Sprudelnder Champagner. Das tiefe Summen männlicher Konversation begleitet von manierlichem Gelächter.
„Inmitten all der Unruhen des Krieges und der Grausamkeiten des Menschen gegenüber seinesgleichen ist es erbaulich zu sehen, dass es doch noch möglich ist, sich in zivilisierter Manier zu amüsieren und wissenschaftliche Errungenschaften zu zelebrieren“, merkte Graf Rumford vor dem halben Dutzend Gentlemen an, das um ihn herum versammelt war. Hoch über ihnen sahen die klassischen Gottheiten des Freskogemäldes an der Decke mit herrschaftlicher Güte auf sie herab. „Die Abendveranstaltungen unseres königlichen Herzogs bieten stets angenehme Stunden der geistigen Konversation für unsere Gelehrtengesellschaft.“ Ein Lächeln. „Sowie ausgezeichneten Wein.“
„Anders als sein verkommener Bruder, der Prinzregent, hat Sussex durchaus einige lobenswerte Eigenschaften“, erwiderte Sir Joseph Banks, der betagte Präsident der Royal Society, während er das adlige Publikum aus der Enge seines Rollstuhls beobachtete. „Sein Interesse an der Wissenschaft und der Kunst geht zurück auf den aufgeklärten Hof seiner Urgroßmutter, Caroline von Ansbach“, fügte er etwas verdrossen hinzu. „Ach, das waren noch Zeiten.“
„Kommen Sie, kommen Sie, Sie können nun wirklich nicht behaupten, aus Erfahrung zu sprechen“, tadelte Rumford. „Sie sind noch nicht ganz so alt wie Methusalem, Sir Joseph.“
Die Bemerkung erntete ein widerwilliges Lachen. „Nein. Und doch geben mir meine Gicht und all die anderen unangenehmen Begleiterscheinungen des fortschreitenden Alters oft das Gefühl, neunhundert Jahre alt zu sein.“ Banks nahm einen Schluck von seinem Brandy, was einen mahnenden Blick seines Leibarztes nach sich zog. „Während die Klinge des Sensenmannes unaufhaltsam näher rückt, denke ich immer häufiger darüber nach, dass ich all die neuen wissenschaftlichen Entdeckungen verpassen werde, die am Horizont warten.“
„Genau wie ich“, entgegnete Rumford schwermütig. „Unsere Schiffe werden schon bald ihre Segel einholen, bevor sie in den Wellen versinken und das Forschen und die Abenteuer der Jugend überlassen.“
„Ein Klagelied, das jeder von uns Normalsterblichen früher oder später anstimmen wird.“ Justinian DeVere, ein vornehmer Gentleman, dessen dichte Haarmähne großzügig mit silbernen Strähnen durchsetzt war, hielt im Vorbeigehen inne und hob sein Glas, um die Gruppe zu begrüßen. „Für diejenigen von uns, die wissenschaftlichen Vereinen wie diesem angehören, ist der Reiz der Entdeckung verführerisch. Wir wollen ihn nicht einfach dem Tod überlassen.“
„Und dennoch müssen wir.“ Banks schnaufte spöttisch. „Wir leben und wir sterben.“ Er hielt einen Moment inne, um dabei zuzusehen, wie einer der geliebten Ziervögel des Herzogs in den Raum geflogen kam und sich auf einer Marmorbüste von Sir Robert Boyle niederließ. „Es ist die natürliche Ordnung der Welt, von den winzigsten Organismen, die wir unter unseren Mikroskopen sehen, bis hin zu uns, den höchsten Wesen.“
„So scheint es“, stimmte DeVere zu. „Und doch würden alle von uns zustimmen, dass es vieles gibt, das wir nicht über die Funktionsweisen des Universums wissen. Womöglich befindet sich das Geheimnis des Lebens dort draußen und wartet darauf, von einer unserer jungen Koryphäen gelüftet zu werden.“
„Hört, hört“, murmelte Banks. „Anschauungen, die vor einem Jahrhundert noch von vielen für wahnsinniges Geschwätz gehalten wurden, stehen heute an der Spitze der Wissenschaft.“
„Ja, wie Humboldt so wortgewandt sagt, Verstand und Fantasie führen uns auf neue Wege, den Kosmos zu betrachten“, antwortete DeVere. „Es gibt diejenigen, die glauben, man entreiße der Natur jegliche Magie, indem man all ihre Geheimnisse offenbart. Doch ich glaube, dass Wissen niemals die kreative Kraft der Fantasie zerstören wird. Vielmehr erweckt sie Spannung, Neugier und Staunen.“
Banks nickte nachdenklich. „Ein interessanter Punkt.“
„Denken Sie doch nur einmal an die neuen Entdeckungen von Volta und seine Voltasche Batterie. Die Möglichkeiten sind aufregend. Sollte …“, begann DeVere, doch dann wurde er von Rumford unterbrochen, der abrupt zwei junge Männer herbeirief, die soeben den Hauptsaal aus einem der Nebenzimmer betraten.
„Ah, da wir gerade von unseren jungen Koryphäen sprechen – hier sind die Goldenen Zwillinge, unsere hellen Flammen für die Zukunft! Kommen Sie her, meine lieben Burschen, und erlauben Sie mir, Ihnen Sir Joseph vorzustellen“, rief er mit dröhnender Stimme. Zu Banks fügte er hinzu: „Genug von uns alten Männern. Lord Chittenden und sein jüngerer Bruder repräsentieren die neue Generation der Intellektuellen unseres Landes.“
Als ihm klar wurde, dass seine eigene Beobachtung im Keim erstickt worden war, kniff DeVere irritiert die Augen zusammen und entfernte sich, um sich zu einer anderen Gruppe Gelehrter zu gesellen.
Die jungen Männer drängten sich an der Menschenmenge vor den Tischen mit Erfrischungen vorbei und eilten herüber, um der Aufforderung Rumfords Folge zu leisten.
„Es ist eine große Ehre, einen derart legendären Mann der Wissenschaft kennenzulernen, Sir Joseph“, sagte Cedric, Lord Chittenden, und verbeugte sich ehrerbietig vor Banks, nachdem er die anderen begrüßt hatte. „Graf Rumford ist allerdings zu freundlich. Mein Bruder und ich sind lediglich unbedarfte Dilettanten …“
„Ganz im Gegenteil, Chittenden. Sicher, Sie haben noch viel zu lernen, nichtsdestominder verkörpern Sie beide die Zukunft“, sagte Rumford. „Ihre Beiträge zu unseren wöchentlichen Diskussionen an der Royal Institution zeugen von großer Vorstellungskraft und Neugier. Ich spüre großes Potenzial in Ihren Fähigkeiten. Tatsächlich bin ich mir sicher, dass Sie bedeutsame Beiträge zur Verbesserung unserer Gesellschaft leisten werden.“
„Das ist in der Tat ein hohes Lob, Mylord.“ Mit geröteten Wangen und einem selbstironischen Lächeln auf den Lippen erkannte er das Kompliment an. „Aber …“
„Aber seien Sie versichert, dass mein Bruder und ich unser Bestes tun werden, um Ihren Erwartungen gerecht zu werden“, warf sein jüngerer Bruder mit entschlossener Zuversicht ein.
„Ja, selbstverständlich. Genau mein Gedanke.“ Wieder ein Lächeln, doch seine Augen schienen seinem Begleiter einen warnenden Blick zuwerfen zu wollen. „Wie Sie sehen, neigen Nicholas und ich dazu, dasselbe zu denken.“
Die gescheite Bemerkung sorgte für ein anerkennendes Glucksen unter den älteren Herrschaften. Die Brüder waren Zwillinge, die sich so ähnlich sahen, dass Bekannte nicht selten Schwierigkeiten hatten, sie auseinanderzuhalten. Groß, goldenes Haar und mit Gesichtern, die die zierliche maskuline Schönheit eines Botticelli-Gemäldes widerspiegelten, wurden sie sowohl wegen ihres jungenhaften Charmes als auch ihres wissenschaftlichen Scharfsinns allmählich zu den Lieblingen der Royal Institution, seit sie vor einigen Monaten aus dem Norden angereist waren, um sich in London niederzulassen.
„Lassen Sie uns auf große Gedanken und große Erwartungen anstoßen“, sagte Rumford und gab ein leises besorgtes Japsen von sich, als er sah, dass ihre Gläser leer waren. „Ah, wie ich sehe, benötigen Sie mehr Champagner.“ Er eilte los, bevor die jungen Männer widersprechen konnten, und kam mit zwei spitz zulaufenden Gläsern, die mit sprudelndem Wein gefüllt waren, zurück.
„Die erste Lektion, die Sie jungen Tunichtgute lernen sollten, ist, dass man sein Glas bei solchen Veranstaltungen niemals leer werden lässt“, sagte Rumford affektiert. „Alkoholische Erfrischungen sorgen dafür, dass die Konversationen wie geschmiert laufen.“
„Also gut, wenn Sie darauf bestehen.“ Nicholas grinste schief und nahm die Getränke entgegen. „Cedric und ich möchten Sie schließlich unter keinen Umständen enttäuschen“, sagte er und wandte sich mit einer überschwänglichen Drehung seinem Bruder zu.
Cedric zögerte, nahm dann jedoch pflichtbewusst eines der Gläser.
„Auf das Erforschen jenseits der derzeitigen Grenzen der Wissenschaft“, sagte Nicholas mit überschäumendem Enthusiasmus.
„Nicky“, murmelte Cedric leise, der ein wenig beschämt wirkte über den überheblichen Ausbruch seines Bruders vor Londons führenden Männern der Wissenschaft.
„Das ist die richtige Einstellung!“, lobte Graf Rumford.
„Ja, auf die Forschung“, sagte Banks und starrte nachdenklich auf den letzten Schluck Brandy in seinem Kelch, bevor er ihn feierlich hob, „und die niemals endende Entdeckung neuen Wissens.“
„Es ist schon spät, Sir Joseph“, sagte Banks Leibarzt und legte seine Hände diskret um die Griffe des Rollstuhls, sobald dieser den letzten Schluck hinuntergekippt hatte. „Es wird Zeit, Sie heimzubringen.“
„Es ist ein verfluchtes Ärgernis, alt zu werden“, brummte der alte Gelehrte und ließ seinen leeren Kelch mit einem finsteren Blick zurück. „Wie es scheint, werde ich mich von Ihnen verabschieden müssen“, fügte er hinzu und winkte kurz in Richtung der Gruppe, als er weggefahren wurde.
Nachdem er einen Blick auf die große Standuhr in der Ecke des Raumes geworfen hatte, zuckte Cedric entschuldigend mit den Schultern. „Mein Bruder und ich müssen Sie ebenfalls verlassen.“
„Ich wage zu behaupten, dass die Aussicht auf angenehmere Gesellschaft als eine Schar alternder Intellektueller vor Ihnen liegt“, sagte Rumford mit einem Zwinkern.
„Für Nicholas vielleicht, doch nicht für mich“, antwortete Cedric höflich. „Leider habe ich für den morgigen Tag einige wichtige Nachlassangelegenheiten zu prüfen, daher werde ich mich zurück zu meinem Stadthaus begeben.“
„Armer Cedric … Ich werde es auf mich nehmen, deine Sorgen zu ertränken.“ Nicholas, der etwas unsicher auf den Beinen wirkte, lachte über seinen eigenen Witz und legte seinem Bruder einen Arm um die Schulter. „Da wir jüngeren Söhne keine offiziellen Pflichten haben, müssen wir andere Wege finden, um die Langeweile in Schach zu halten.“ Ein weiteres zittriges Lachen. „Komm, wir sollten uns vom Herzog verabschieden und uns auf den Weg machen.“
Nachdem sie die üblichen Höflichkeitsfloskeln ausgetauscht hatten, eilten die beiden davon, um sich bei dem Herzog von Sussex zu bedanken und sich auf den Weg in die Nacht zu machen.
Die Luft war kühler geworden und die Feuchtigkeit bildete schlangenartige Nebelschwaden. Die Brise trug den gespenstischen Dunst hinauf, wo er durch die blättrigen Schatten der Formschnittbäume hindurchschwebte, die die Schotterwege säumten.
Sie blieben stehen und ließen sich beide einen Moment Zeit, um zu den Sternen hinaufzusehen, die zwischen den wandernden Wolken Versteck spielten.
„Nicky“, murmelte Cedric. „Wenn ich mir einen gutgemeinten Rat erlauben dürfte, ich befürchte, dass Brandy und Wein dir allmählich ein wenig zu sehr munden. Es macht dir keine Ehre, vor allem nicht in Gesellschaft gelehrter Gentlemen. Der Ruf ungezügelt zu sein …“
„Gütiger Gott, was für ein steifer Musterknabe du geworden bist“, unterbrach ihn Nicholas. „Seit Vater gestorben ist und du seinen Titel geerbt hast, bist du furchtbar langweilig geworden mit deinem pompösen Gehabe.“ Seine Augen verdunkelten sich. „Oder bist womöglich du es, der die feindseligen Einflüsterungen über meine Zügellosigkeit schürt, um von deiner eigenen abzulenken.“
Starr vor Schock sah Cedric ihn einen Moment lang an. „W-wie kannst du es wagen, mir so etwas vorzuwerfen? Es ist verdammt ungerecht von dir …“
„Ha! Gerade du solltest nicht von Gerechtigkeit reden“, spottete sein jüngerer Bruder. „Du wurdest lächerliche drei Minuten vor mir aus dem Mutterleib gepresst und hast alles bekommen. Sag schon, wo ist da die Gerechtigkeit?“ Nicholas atmete scharf ein und wedelte mahnend mit dem Zeigefinger. „Und was die Zügellosigkeit betrifft, solltest du besser Acht geben, mein lieber Zwilling. Ich glaube, du bewegst dich auf weitaus dünnerem Eis als ich es tue.“
Cedric biss die Zähne zusammen und schwieg. Es hatte keinen Sinn, zu versuchen, eine gesittete Diskussion mit Nicholas zu führen, wenn er sich im Bann solch blinder Wut befand. Abgesehen davon kochte sein eigenes Blut jetzt ebenfalls. Er hatte alles geteilt – alles – was er nur teilen konnte. Hätte er den Titel in zwei Stücke schneiden können, hätte er auch den mit ihm geteilt! Sein Bruder hatte keinen Grund sich zu beschweren.
Was seine eigenen Aktivitäten hier in London anging …
„Nichts mehr zu sagen?“ Nicholas antwortete mit einer derben Geste und wandte sich ab. „Dann kannst du dir deinen herrschaftlichen Vortrag zurück in den Schlund schieben.“
„Verdammter Hund“, murrte Cedric, während er zusah, wie sein Bruder davonstolzierte. Nickys Trinken wurde immer besorgniserregender und löste heftige Stimmungsschwankungen aus. Ein gutmütiger Tadel – die Pflicht eines älteren Bruders, sagte er sich – war kein Grund, für solch bissige Bemerkungen darüber, wie er den hochmütigen Gebieter spielte. Das Amt des Lord Chittenden und die damit einhergehende Verantwortung waren eine Last, die er seit noch nicht allzu langer Zeit auf seinen Schultern tragen musste. Und um die Wahrheit zu sagen, war sie noch immer keinen Deut leichter geworden.
Teufel noch eins – Nicky hat keine Vorstellung davon, wie schwer sie ist!
Zugegeben, er hatte sich in letzter Zeit zu einigen unklugen Entscheidungen hinreißen lassen, doch er unternahm Schritte, um die Ausrutscher rückgängig zu machen …
Cedric zuckte zusammen und presste seine Handflächen an seine pochenden Schläfen. Was den Alkohol anbelangte, so hatte er mehr getrunken, als er es gewohnt war, und fühlte sich etwas benommen. Er atmete tief durch und wanderte tiefer in die Palastgärten hinein, wo er versuchte, sich zu sammeln. Vielleicht würde ein kurzer Spaziergang über die berühmten, gewundenen Wege helfen, einen klaren Kopf zu bekommen, bevor er sich zur Straße begeben und eine Droschke herbeirufen würde.
Er erinnerte sich noch vage daran, dass sich Queen Annes Alcove, ein architektonisches Juwel von Christopher Wren, ganz in der Nähe befand. Gepriesen als ein Heiligtum des Friedens und der Schönheit barg es einen entzückenden überdachten Sitzbereich zum stillen Nachdenken …
Aus einem Impuls heraus schlug er einen der geschwungenen Seitenwege ein.
Knirsch-knirsch. Es dauerte einen Moment, bis sein benebeltes Gehirn realisierte, dass er nicht der Einzige war, der über die sorgfältig geharkten Steine schritt.
Kommt Nicky etwa zurück, um sich zu entschuldigen?
Cedric drehte sich langsam um. Wolken verdeckten den Mond und obgleich in der oberen Fensterreihe des Palastes helles Licht brannte, waren die Gärten in Schatten gehüllt, schwarz auf schwarz verschwammen die abstrakten Formen mit den Silhouetten der Sträucher. Er kniff die Augen zusammen und versuchte, in der amorphen Finsternis irgendein Lebenszeichen zu erkennen.
Nichts.
Ein Gespinst seiner alkoholgetränkten Fantasie, entschied er. Der Champagner in seinem Magen war zu einer galligen Säure geworden, die ihm bis in die Schläfen sprudelte, wo sie zu einem pochenden Schmerz wurde.
Er ging weiter, seine Schritte wurden immer erratischer.
Knirsch-knirsch. Vor sich entdeckte Cedric ein Marmorgebilde von umwerfender Schönheit, das sich aus der nebligen Dunkelheit erhob. Klassische Säulen flankierten eine gebogene Öffnung in der Mitte. Unter der gewölbten Decke des halbrunden Raums befand sich eine gebogene Holzbank, die in die dekorative dunkle Eichenvertäfelung eingelassen war.
„Wren verstand die exquisite Schönheit der Symmetrie“, murmelte er und hielt einen Moment inne, um bewundernd nach oben zu blicken, bevor er die Stufen hinaufstolperte und sich setzte.
Die Beine ausgestreckt, ließ Cedric seinen angestauten Atem entweichen und beobachtete, wie das Mondlicht auf seinen Stiefelspitzen schimmerte. Efeu raschelte gegen Stein. Grillen zirpten. In der Silhouette einer nahegelegenen Buchsbaumhecke zwitscherte ein Vogel ein leises, müdes Nachtlied.
Der Kosmos war ein wundersamer Ort voll unendlicher Möglichkeiten und Vernetzungen, erinnerte er sich selbst und spürte, wie seine vorherige Irritation auf beschwichtigende Weise von dem Wein und den Ideen, die durch die wissenschaftliche Soiree angeregt wurden, verdrängt wurde.
Es war berauschend, solch gebildeten Männern dabei zuzuhören, wie sie sich über den Gedanken austauschten, dass wissenschaftliche Entdeckungen nicht nur die bloße Aufzeichnung von Informationen, sondern auch Leidenschaft erforderten. Dass es Poesie ebenso bedurfte wie Fakten …
Logik und Fantasie. Cedric schloss die Augen und spürte eine Woge der Wärme durch ihn hindurch pulsieren, während er darüber nachdachte. Das war es, wofür er nach London gekommen war. Um sich von den großartigen Köpfen der wissenschaftlichen Welt des Landes inspirieren zu lassen, um an neuen Entdeckungen teilzuhaben …
Eine plötzliche Bewegung und das Rauschen von Wolle rissen ihn aus seinen Träumereien, als sich jemand neben ihn setzte.
„Nicky?“, murmelte er und schüttelte seine Lethargie ab.
Statt einer Antwort kam eine in einen Handschuh gehüllte Hand hervorgeschossen und presste sich auf seinen Mund. Cedric versuchte, sich loszureißen, doch er bemerkte, dass sein Widersacher ihn in einem eisernen Griff gefangen hatte. Seine Augen weiteten sich ungläubig, als er versuchte, zu schreien, doch der Atem wurde aus seinen Lungen gequetscht, als der Angreifer ihn gegen die Eichenvertäfelung schleuderte.
Nein, nein, nein! Das kann nicht sein!
Er trat zu – doch es war zu spät. Die stählerne Messerklinge glitt zwischen seine Rippen und durchbohrte sein Herz.
Die verhüllte Gestalt hielt ihr Opfer zärtlich und ließ die warme Schwere des regungslosen Körpers gegen ihre Schulter sacken, während sie sich vorstellte, wie das Herz ihres Opfers noch einmal kurz zitterte, bevor es für immer stehen blieb und das Blut durch seine Venen zu fließen aufhörte.
„Ruhe sanft, mein lieber Cedric. Du wirst nicht umsonst gestorben sein. Es wird alles für das höhere Gut sein, das schwöre ich dir.“
Sie wartete noch einen Moment und atmete die neblig-kalten Düfte der Nacht ein. Die Wolken hatten sich verzogen und den schwarzen Samt des Himmels mit dem Glitzern diamantenheller Sterne zum Leben erwachen lassen.
Ein gutes Omen, wenn man an solche Zeichen glaubt.
Die Gestalt holte ein großes, schwarzes Seidentuch aus ihrer Tasche und wickelte es in aller Ruhe um den Ärmel ihres Mantels. Dann zog sie langsam die Klinge aus Cedrics Brust. Sternenlicht schimmerte entlang der scharfen Klinge, als sie erneut durch die Nachtluft stach.
Die Hiebe, die durch Stoff und Fleisch schnitten, waren blitzschnell. Mit der Grazie eines Tänzers wich die Gestalt den weinroten Blutspritzern aus.
Nachdem sie die schützende Seide von ihrem Mantel entfernt und ihre Beute sorgfältig darin eingewickelt hatte, nahm sie sich noch einige Augenblicke Zeit, um die Schönheit der Nacht zu würdigen, bevor sie aufstand und leise pfeifend davonschlenderte.
Knirsch-knirsch. Während der bevorstehende Regen die Nacht zusätzlich verdunkelte, verschluckte das Lied der Nachtigall die abklingenden Noten von Beethovens dritter Symphonie.
Sinfonia Eroica – die Heroische Symphonie.
Denn diese Nacht, war eine Nacht der epischen Helden.
Kapitel 1
„M’lady, M’lady!“
Charlotte Sloane sah von ihrer Zeichnung auf, als zwei schlammverkrustete Jungen die Treppe hinaufgepoltert kamen und in ihr Arbeitszimmer platzten.
„Es hat schon wieder einen Mord durch den Blutigen Schlächter gegeben!“, verkündete der ältere Junge namens Raven atemlos.
„Aye, und dieses Mal ist das Opfer ein Adliger!“, mischte sich sein jüngerer Bruder, der Hawk genannt wurde, ein. „Und …“
„Und es ist eklig“, fiel ihm Raven ins Wort. „Lilly, das Blumenmädchen, sagt …“
„Sagt, es ist so scheußlich, dass der Bow Street Läufer seinen Mageninhalt auf seinen Stiefeln verteilt hat“, rief Hawk, der sich verhaspelte, um als Erster die grässlichen Einzelheiten zu verraten. „Weil …“
„Weil der Blutige Schlächter dem Gentleman eines seiner Eier abgeschnitten hat!“, beendete Raven den Satz.
Teufel noch eins. Obwohl sie nur selten von der Bösartigkeit des Menschen gegenüber seinesgleichen schockiert war, spürte Charlotte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. Zu überrascht von den grausamen Neuigkeiten, um die Jungen für ihre schmutzigen Gesichter zu tadeln, legte sie ihre Feder nieder und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück.
Diese Verstümmelungsmorde schienen eine schrecklich finstere Wendung zu nehmen. Bei den ersten beiden Opfern hatte es sich um namenlose Landstreicher gehandelt, gefolgt von einem angesehenen Geschäftsmann.
Und jetzt ein Adliger.
Was für ein Verrückter lief hier frei herum?
„Wer ist das Opfer?“, fragte sie und zwang sich dazu, die grausamen Neuigkeiten mit der notwendigen Sachlichkeit zu betrachten.
Ihr Lebensunterhalt als Londons berühmteste Karikaturistin hing von dem unersättlichen Appetit der Öffentlichkeit nach Skandal und Sittenlosigkeit ab. Und man blickte erwartungsvoll auf A.J. Quill, der für gewöhnlich als Erstes die pikanten Einzelheiten der Schandtaten hinausposaunte, die die Menschen sich gegenseitig antaten – die Tatsache, dass es eine Frau war, die diese vernichtenden Kommentare verfasste, war allerdings ein gut gehütetes Geheimnis. Sie würde noch heute Abend eine Zeichnung des Verbrechens anfertigen müssen, sodass die Kupferstecher dafür sorgen konnten, dass der Druck schon morgen früh in Fores Druckerei zum Verkauf angeboten würde.
„Das weiß Lilly nicht“, antwortete Hawk. „Sie hat die Nachrichten von einem der Gärtner gehört, der den Kerl gefunden hat.“
„Wo?“, drängte Charlotte.
„Kensington Gardens“, erwiderte Raven. „Der Herzog von Sussex hat letzte Nacht eine schicke Fete für einige preußische Gäste der Wissenschaft im Palast veranstaltet.“
Wissenschaft. Das Wort erzeugte ein Kribbeln in ihrem Nacken.
„Man erzählt sich“, fuhr der Junge fort, „dass das Opfer einer der Gäste sei. Lilly sagt jedoch, die Bow Street ist schweigsamer als ‘ne Leiche …“ Er hielt inne und grinste schuldbewusst. „Ich meine, die Läufer halten sich mit weiteren Einzelheiten zurück.“
Mit gerunzelter Stirn dachte Charlotte einen Moment lang über das nach, was sie gerade gehört hatte. Augustus Frederick, der Herzog von Sussex und der sechste Sohn von King George III., interessierte sich sehr für akademische Themen und war Mitglied der Royal Society, die neben der Royal Institution die führende Bastion der Londoner Wissenschaftler war. In seinen Gemächern im Kensington Palace hielt er oft üppige Empfänge für ihre Mitglieder und Gäste ab.
In Anbetracht der Tatsache, dass derartige Soireen in der Regel diejenigen miteinschlossen, die sich in den höchsten Kreisen der Gesellschaft bewegten, konnte sie nicht anders, als sich zu fragen …
„Wenn Lord Wrexford da gewesen ist, wird er sicher mehr darüber wissen“, grübelte Charlotte laut.
„Möchten Sie, dass wir zum Berkeley Square laufen und fragen?“, warf Hawk erwartungsvoll ein. Der Koch des Grafen war stets sehr großzügig mit seinen Süßigkeiten.
Charlotte zögerte. Doch Pragmatismus siegte bald darauf über Emotionen. Sie brauchte Informationen und wenn die Lippen der Bow Street versiegelt waren, weil das Opfer des Verbrechens ein Adliger war, würden ihre üblichen Quellen keine große Hilfe sein.
„Ja“, antwortete sie und verfasste schnell eine kurze Nachricht. „Falls er noch nicht aus seinem herrschaftlichen Schlummer erwacht sein sollte …“, ein Blick auf die Standuhr verriet ihr, dass es noch deutlich vor Mittag war, „fragt, ob ihr auf eine Antwort warten dürft.“
Beide Jungen nickten kurz und polterten im Anschluss mit unverhohlenem Enthusiasmus davon.
Ihre eigenen Gefühle waren hingegen etwas weniger leicht zu deuten. Wrexford. Ein Mann der frustrierenden Komplexitäten und Widersprüche. Obgleich Charlotte einräumen musste, dass sie genauso schwierig war.
Ein Seufzen. Sie und der Graf von Wrexford waren erstmals zusammengetroffen, als er der Hauptverdächtige in einem grausamen Mordfall gewesen war. Durch ihr Netzwerk aus Informanten hatte sie Grund zu der Annahme, dass er unschuldig war, und so hatten sie sich widerwillig darauf geeinigt, zusammenzuarbeiten, um den wahren Mörder zu finden. Eine argwöhnische Freundschaft hatte sich entwickelt … obwohl das eine viel zu einfache Beschreibung ihres Verhältnisses war.
Kürzlich hatten sie gemeinsam einen weiteren komplizierten Mord aufgeklärt, wobei Wrexford selbst dem Tod nur um Haaresbreite von der Schippe gesprungen war. Sie hatte dabei geholfen, ihn zu retten, und im Eifer des Gefechts hatten beide persönliche Geheimnisse offenbart und gewisse Emotionen preisgegeben …
Was sie möglicherweise beide bereuten.
Es waren zwei Wochen vergangen, seit er sie das letzte Mal besucht hatte, und sie konnte nicht anders, als sich zu fragen, ob er sich, genau wie sie, ein wenig verunsichert fühlte, weil er – wenn auch verblümt - aus dem Herzen gesprochen hatte.
„Was sind wir doch für ein Gespann“, murrte sie. „Kampfeslustig, reserviert und ängstlich, sich angreifbar zu machen.“
Charlotte nahm ihre Feder zur Hand und entfernte die getrocknete Tinte mithilfe eines feuchten Lappens von ihrer Spitze. In der Regel versuchte sie, nicht über eine bereits getroffene Entscheidung zu grübeln. Noli respicere – Blicke nicht zurück. Doch so sehr sie auch versuchte, ihre Gedanken auf ihre unvollendete Zeichnung des jüngsten Skandals des Prinzregenten zu fokussieren, konnte sie sich nicht davon abbringen, sich zu fragen, ob es klug war, sich gemeinsam mit dem Grafen eines neuen Mordfalls anzunehmen.
Ein Schauer, stechend wie Dolchspitzen, rauschte ihr die Wirbelsäule hinab, als Charlotte sich daran erinnerte, wie der Gedanke daran, Wrexford zu verlieren, sie bis ins Mark erschüttert hatte. Die Tiefe ihrer Emotionen hatte sie erschreckt.
Schwäche jeglicher Art war gefährlich. Nur die Starken überlebten.
„Ich bin stark. Das war ich schon immer“, flüsterte sie und versuchte, ihrem Atem etwas mehr Kraft zu verleihen.
Oder?
In letzter Zeit kam es ihr so vor, als würden viele ihrer Abwehrmechanismen belagert. Sich zu sehr um jemanden zu sorgen, machte einen verwundbar. Raven und Hawk, die beiden heimatlosen, halbverwilderten Gassenkinder, die sie gefunden hatte, als sie Obdach im Eingang ihres alten Hauses gesucht hatten, waren ihr so sehr ans Herz gewachsen, wie sie es niemals erwartet hätte. Charlotte konnte nicht genau sagen, wie es dazu gekommen war. Sie hatten angefangen, Botengänge zu ihren Informanten für sie zu erledigen, und im Gegenzug Essensreste bekommen und jetzt …
Und jetzt hatten sie ihr eigenes, gemütliches Nest auf ihrem Dachboden, ansehnliche Kleidung und einen in Oxford ausgebildeten Tutor, der ihnen mehrmals in der Woche Unterricht gab. Gütiger Gott, sie hatten sogar vornehme neue Namen, die zu ihren aviären Spitznamen passten! Thomas Ravenwood Sloane und Alexander Hawksley Sloane. Ein Lächeln breitete sich in ihrem Gesicht aus. So unkonventionell sie auch sein mochte, sie waren eine Familie geworden, die nicht durch Blut, sondern durch Liebe verbunden war.
Liebe. In diesem Wort lag der Kern ihres Dilemmas. Es rief ein Wirrwarr widersprüchlicher Emotionen hervor, und Charlotte war nicht sicher, wie sie es entwirren sollte. Über die Jahre hatten Widrigkeiten sie dazu gebracht, zu glauben, dass man, um zu überleben, seine eigene innere Stärke aus sich selbst schöpfen musste. Man konnte sich nicht auf andere verlassen.
Mittlerweile war sie sich dessen nicht mehr ganz so sicher. Und das war beängstigend.
Womit sich der Kreis schloss und sie wieder bei Wrexford ankam.
„Teufel noch eins, ich frage ihn bloß nach Informationen“, murrte sie. „Keiner von uns beiden läuft Gefahr, in diesen Mord hineingezogen zu werden.“ Charlotte verdrängte alle weiteren Gedanken an den Grafen und tauchte ihre jetzt makellose Federspitze in das Tintenfass. Die Zeichnung des Prinzregenten fertigzustellen war etwas, das sie kontrollieren konnte.
Abgesehen davon war es ihre Kunst, mit der sie ihre Unabhängigkeit finanzierte. Trotz all der Ängste und Ungewissheiten, die in ihrem Kopf umherschwirrten, war das etwas, das sie niemals aufgeben wollte.
Auf ihre Arbeit konzentriert, verlor Charlotte jegliches Zeitgefühl. Erst das laute Knallen der Eingangstür und der gemeinsame Ruf der Jungen, der ihre Rückkehr ankündigte, holten sie in die Gegenwart zurück.
„Hervorragend“, murmelte sie, gespannt darauf, zu erfahren, was Wrexford ihnen über die wissenschaftliche Abendveranstaltung erzählt hatte. Das Gefühl ließ jedoch schnell wieder nach, als Raven verkündete: „Seine Lordschaft ist mit uns gekommen.“
Einen Fluch unterdrückend, starrte Charlotte auf ihre mit Farbe beschmierten Manschetten hinunter, bevor sie ein paar vereinzelte Haarsträhnen hinter ihr Ohr steckte.
„Ich dachte, ich könnte genauso gut vorbeikommen und mich persönlich von Ihnen befragen lassen“, sagte der Graf von Wrexford affektiert, als er den Salon im Erdgeschoss betrat. „In Anbetracht Ihrer höllischen Liebe zum Detail haben Sie sicherlich so viele Fragen, für die die Wiesel zwischen unseren Domizilen hin und herlaufen müssten, dass ihre Stiefel am Ende keine Sohlen mehr hätten.“
„Wiesel“ nannte Wrexford die Jungen sehr zu ihrer Erheiterung. Sie wussten, dass er Raven längst verziehen hatte, ein Messer in sein Bein gerammt zu haben, als sie sich das erste Mal begegnet waren.
„Wie aufmerksam von Ihnen, Mylord“, erwiderte Charlotte in demselben sarkastischen Ton. „Hätten Sie gern etwas …“
„Tee?“, sagte die Frau mittleren Alters mit dem unscheinbaren Gesicht, die aus der Küche geeilt kam. „Ich habe gerade den Kessel auf den Herd gestellt, Mrs. Sloane. Und ein Blech mit Ingwerkeksen kommt gleich aus dem Ofen.“
Den hungrigen Blick der Jungen ignorierend, sah Charlotte den Grafen mit fragend hochgezogener Augenbraue an. Da McClellan genau genommen noch immer in seinen Diensten stand, überließ sie die Entscheidung ihm.
„Hallo, McClellan“, sagte Wrexford mit einem erfreuten Lächeln. „Ich hoffe, Mrs. Sloane erweist sich als nicht allzu schreckliche Zuchtmeisterin.“ Er hatte die Frau – zu deren besonderen Fähigkeiten offenbar die tödliche Präzision mit einer Handfeuerwaffe gehörte - zu Charlotte entsandt, um bei ihr zu wohnen, nachdem jemand während der Ermittlungen zu dem Mord an Elihu Ashton in das Haus eingebrochen war. Das Arrangement hatte sich in vielerlei Hinsichten als vorteilhaft erwiesen und so war sie geblieben und Mitglied dieses unkonventionellen Haushaltes geworden. Zu ihren Pflichten gehörte es, hin und wieder die Zofe zu spielen, wenn Charlotte sich unter die Schönen und Reichen mischen musste. Vor allem jedoch ermöglichte ihre Anwesenheit dem Grafen, das Haus aufzusuchen, ohne gegen die Regeln des Anstands zu verstoßen.
„Ich habe keinen Grund, mich zu beklagen, Mylord“, antwortete McClellan trocken. „In letzter Zeit hat niemand versucht uns umzubringen.“ Eine Pause. „Allerdings scheinen die Jungen ihr Bestes zu tun, um jeglichen Anflug von Sauberkeit auf den Böden und ihrer Kleidung im Keim zu ersticken.“
„Tss, tss“, rügte der Graf. „Das heißt dann wohl keine Kekse für die unartigen Bälger.“
Hawks schmutziges Gesicht zog sich vor Entsetzen zusammen.
„Ich bin allerdings am Verhungern“, fügte er hinzu.
„Da wir nun die Höflichkeiten hinter uns gebracht hätten“, sagte Charlotte zu McClellan, „wären Sie so freundlich, die Erfrischungen zu bringen, sodass Seine Lordschaft und ich zum Geschäftlichen übergehen können?“
Mit unschuldigen Mienen folgten Raven und Hawk der Frau auf dem Weg in die Küche.
Mit seinen breiten Schultern und seinen langen Beinen, die ihm eine gewisse Eleganz verliehen, ließ sich der Graf auf dem Sofa nieder. Der Raum fühlte sich mit einem Mal deutlich kleiner an, als Charlotte in dem Sessel gegenüber von ihm Platz nahm. Er schien alles andere zu verdrängen.
„Ein sehr angenehmes Zimmer“, merkte er an, während er einen anerkennenden Blick über die simple, aber geschmackvolle Einrichtung wandern ließ. „Es war klug von Ihnen, Ihren alten Wohnsitz zu verlassen.“ Es war ein winziges, baufälliges Gespenst von einem Haus gewesen, das in einer weitaus ungemütlicheren Gegend Londons gelegen hatte. „Ich hoffe doch, dass Sie es nicht bereuen?“
„Nein“, entgegnete sie etwas gereizt, da sie lieber direkt auf den Punkt gekommen wäre. In ihrem Beruf war Zeit Geld. Sie würde so schnell wie möglich eine Zeichnung des Mordes bei Mr. Fores einreichen müssen, um der Konkurrenz voraus zu sein. „Könnten wir die häuslichen Angelegenheiten jetzt vielleicht beiseitelassen und uns dem widmen, was Sie über das jüngste Opfer des Blutigen Schlächters wissen?“
Er lächelte amüsiert. „Höchstwahrscheinlich nicht genug, um Ihre künstlerische Sensibilität zu befriedigen, aber ich werde es versuchen.“ Er wand sich auf seinem Platz und schlug die gestiefelten Beine übereinander. „Um die Frage in Ihrer Nachricht zu beantworten, ja, ich war bei der Versammlung des Herzogs anwesend. Allerdings bin ich früher gegangen, da Tyler und ich ein komplexes Experiment durchgeführt haben, welches absolute zeitliche Präzision erfordert hat.“
Der Graf war einer der führenden Chemiker des Landes, obgleich seine Nach-mir-die-Sintflut-Attitüde und sein aufbrausendes Temperament seine intellektuellen Errungenschaften oft in den Schatten stellten. Tyler, sein nomineller Kammerdiener, verfügte über fortgeschrittenes wissenschaftliches Wissen und diente als sein Laborassistent.
Charlotte seufzte. „Wie bedauerlich, ich hatte gehofft, Sie könnten die abscheulichen Details bestätigen. Raven und Hawk haben gehört, dass man dem Opfer die …“
„Sie haben richtig gehört“, unterbrach Wrexford. „Mr. Griffin ist dieselbe Idee wie Ihnen gekommen. Er hat mich heute Morgen aufgesucht, um herauszufinden, ob ich bei der Veranstaltung gewesen bin und etwas Verdächtiges gesehen habe.“
Griffin, der als der Beste unter den Bow Street Läufern galt, war an den Ermittlungen beteiligt gewesen, als der Graf der Hauptverdächtige in einem Mordfall gewesen war. Trotz ihres wenig verheißungsvollen Starts hatten sie einen widerwilligen Respekt voreinander entwickelt.
„Und? Haben Sie das?“, drängte sie.
„Leider nein. Ich konnte jedoch einige der etwas intimeren Einzelheiten des Verbrechens aus ihm herausquetschen.“ Ein schiefes Grinsen. „Wenn er wüsste, dass ich sie mit dem berüchtigten A.J. Quill teile, würde er mir aller Wahrscheinlichkeit nach eines meiner Kronjuwelen abschneiden.“
Charlotte zuckte zusammen. „Es ist also wahr.“ Sie pausierte, als McClellan hereinkam, das Teetablett auf dem Beistelltisch abstellte und sich anschließend unauffällig zurückzog. „Es, ähm, fehlt also nur eins?“
Der Graf nickte.
Sie holte ein kleines Notizbuch und einen Bleistift aus der Tasche in ihrem Arbeitskleid und sah erwartungsvoll auf. „Hat Mr. Griffin beschrieben, wie das Opfer gelegen hat, als es gefunden worden ist, und in welchem Zustand sich seine Kleidung befunden hat?“
„Ich habe mir bereits gedacht, dass Sie das fragen werden. Der arme Kerl hat zusammengesackt, aber noch immer aufrecht, auf der Bank im Queens Alcove gesessen. Der Tod ist durch einen einzigen Messerstich ins Herz herbeigeführt worden. Im Anschluss hat die Klinge die Verschlüsse an der linken Seite seiner Hose durchgeschnitten …“ Wrexford gab eine kurze, prägnante Beschreibung des Zustands der Leiche ab.
So scheußlich die Verstümmelung durch den Mörder auch war, es klang, als hätte er die Tat mit einem gewissen Maß an Anstand durchgeführt. Es gab ansonsten keine weiteren Schäden.
Demnach zu urteilen, was Charlotte über die vorausgegangenen Morde gehört hatte, war es derselbe Modus Operandi. Auch wenn das nicht bedeuten musste, dass es sich um denselben Mörder handelte, rief sie sich ins Gedächtnis, während sie die letzten Notizen vermerkte. Über die Jahre hatte sie gelernt, dass Täter teuflisch gerissen sein konnten. Jemand könnte den Blutigen Schlächter nachahmen, um seine eigenen Motive, das Opfer tot sehen zu wollen, zu vertuschen.
Und was auch immer das Motiv gewesen sein mochte – vorausgesetzt, man konnte von einem Wahnsinnigen behaupten, er sei in der Lage, rationale Gedanken zu fassen -, Charlotte hatte das Gefühl, dass dieser Mordfall alles andere als leicht zu lösen sein würde.
Die Tatsache, dass das Opfer dem höchsten gesellschaftlichen Kreis angehörte, könnte die Ermittler schon bald in einen Sumpf aus Lügen und Intrigen führen. Unter den schimmernden Lächeln und polierten Manieren der Reichen verbargen sich unzählige Sünden.
„Was für ein Chaos“, murmelte Charlotte, als sie sich erhob, um ihm Tee einzuschenken, bevor er kalt wurde.
„In der Tat“, stimmte Wrexford zu. „Allerdings werden Sie wahrscheinlich ein Vermögen machen, angesichts der sensationellen Art seiner Verletzungen.“ Er verzog das Gesicht. „Gott sei Dank kann man mir keinerlei Verbindung mit dem Kerl vorwerfen. Ich habe ihn nie kennengelernt.“
Sie fing an, Zucker in seine Tasse zu geben. „Ist die Identität des Opfers bekannt?“
„Ja. Er ist ein junger Gentleman aus dem Norden namens Lord Chittenden.“
Der Löffel rutschte ihr aus der Hand und der heiße Tee schwappte über ihre Finger.
„Ein Baron aus dem Lake District“, fuhr der Graf fort. „Scheinbar ist er erst kürzlich zu seinem Titel gekommen …“
Ein eigenartiges Summen dröhnte in Charlottes Ohren und verschluckte den Rest seiner Worte.
Dann begann sich der Raum zu drehen.