Leseprobe Schatten über Portobello

Prolog

 

 

Die Frau verschmolz mit den Schatten, während sie sich an die Wand drückte und ihre Beute im Blick behielt. Wo könnte er in dieser späten Stunde hingehen?

Sie dachte, sie wäre die Einzige hier. War er dreist genug, seine Geliebte im College zu treffen? Wut breitet sich in ihr aus, trieb eine Welle aus Hass und Verlangen durch sie hindurch. Sie würde ihn für diese Beleidigung bezahlen lassen! Er hatte sie abgestreift, wie Dreck unter den Schuhen. Seitdem wartete sie auf den richtigen Moment.

Es war finster hier im obersten Stock und alles, was sie nutzen konnte, um den Weg zu finden, war das Zügeln der Flamme vor ihr. Wo zum Teufel ging er hin? Er näherte sich nun dem Ende des Flurs. Ihr stockte der Atem, als ihr klar wurde, dass er vielleicht umkehren würde, sie aber inzwischen näher zu ihm aufgerückt war, als sie geplant hatte. Falls er bemerkte, dass sie ihn verfolgte, wäre sie gedemütigt. Sie drehte sich um, wollte fliehen, spürte dann aber einen kühlen Windhauch in ihrem Nacken. Eine Tür fiel ins Schloss, ihr wurde klar, dass er aufs Dach gegangen war und das kleine Bisschen Licht mit sich genommen hatte. Die Finsternis umschloss sie mit einer erstickenden Endgültigkeit. Sie konnte nur noch ihren eigenen Atem hören.

Ich sollte gehen, solange ich es noch kann.

Aber sie musste es mit ihren eigenen Augen sehen. Sie musste sich mit dem Benzin seines Verrats überschütten und all die verbliebenen Gefühle, die sie noch für ihn hegte, in Brand stecken.

Mit neuer Entschlossenheit tastete sie sich an der Wand entlang, bis sie die Tür erreicht hatte. Sie wappnete sich, öffnete sie und schlich hinaus. Dann eilte sie, so schnell es ging, die letzten Stufen in der Dunkelheit hinauf, nahm die Tür und rannte hinüber zu einer Reihe von Schornsteinen. Sie konnte wütende Stimmen hören, aber verwirrenderweise klangen beide männlich. Das war kein Zwist zwischen Liebhabern. Es dauerte nicht lang, bis sie wusste, wer der zweite Mann war. Beinahe hätte sie laut gestöhnt. Was hatte sie sich nur gedacht? Sie lehnte sich an den hintersten Schornstein und drehte ihr gerötetes Gesicht dem Himmel entgegen. Die Füße fühlten sich taub und kalt an. Konnte sie, ohne gesehen zu werden, das Dach verlassen?

Plötzlich verstummten die Stimmen. Schritte rannten an ihr vorbei und sie sah eine sich entfernende Gestalt. Die Sterne über ihr funkelten hell, ihre Schönheit ermutigte sie.

Mit pochendem Herzen trat sie aus den Schatten hervor …

Kapitel eins

Grace McKenna zog ihren Frotteebademantel aus, stand da und wappnete sich gegen den kühlen Wind an diesem Februarmorgen. Die Wellen tanzten in ihre Richtung, besprühten ihr Gesicht und jagten Kälteschauer durch den Körper. Sie rannte in die tosenden Brandung, bis sie weit genug im Wasser stand, um unter den Wellen durchzutauchen. Während sich die Taubheit in ihrem Körper ausbreitete, arbeiteten sich die Arme effizient synchron durch das Wasser. Nach ein paar Minuten, in denen das Salzwasser in der Nase und den Augen brannte, musste sie innehalten und husten, was ihren Rhythmus unterbrach. Während sie weiter Wasser trat, blickte sie nach hinten, ihr Körper wogte mit den Wellen. Wenn sie nach oben gedrückt wurde, konnte sie die Küste hinten links sehen und Menschen, die mit ihren Hunden spazieren gingen, wie in einem Gemälde des Künstlers L. S. Lowry. Ihr klapperten nun ständig die Zähne vor Kälte. Sie wandte sich wieder von der Küste ab und sah zum Horizont, fühlte den Zug der Gezeiten. Nach einem letzten Blick auf die dicken schiefergrauen Wolken drehte sie sich erneut um, tauchte unter und kämpfte sich ihren Weg zurück. Die kraftvollen Schultern stießen gegen die Flutwellen an, bis ihre Füße den kiesigen Grund des Portobello Beach berührten.

Ihr Bademantel lag immer so, dass man ihn von Espy Pub aus sehen konnte. Grace bückte sich, hob ihn auf und stieg in ihre wartenden Sportsandalen. Obwohl es sich hier um einen Außenbezirk der schottischen Stadt Edinburgh handelte, fühlte sich Portobello wie eine eigene Stadt an. An dem weitläufigen goldenen Strand, der parallel zur Esplanade verlief, gab es jede Menge schicker Restaurants, Bars und andere Geschäfte, die alle der See zugewandt lagen, über den meisten davon befanden sich Wohnungen. Diese waren besonders bei Hundebesitzern beliebt und wenn es warm war, dann mochte Grace nichts mehr, als draußen zu sitzen, das Meer zu betrachten und die Eigenheiten der verschiedenen Hunde und ihrer Herrchen, die vorbeiliefen, zu beobachten.

Nun, da sie diagonal den Strand hochlief, fühlte sie eine ruhige Zufriedenheit, als sie das neueste Schild an der Esplanade musterte. Sie hatte es aus einem Stück Treibholz hergestellt, welches sie selbst gefunden hatte. Es war blau angemalt und in silbernen Buchstaben stand Die Portobello Detektei darauf. Obwohl sie erst zu Beginn des Jahres geöffnet hatte, nahmen die Geschäfte bereits zu.

Trotz des sehr frischen Februarmorgens fühlte sich ihr Körper an, als stünde er in Flammen, während das Gefühl in die kalten Extremitäten zurückkehrte. Als sie die Tür zu ihrer gemütlichen Wohnung über dem Büro öffnete, wurde sie von einem empörten Bellen begrüßt. Sie sank in die Knie und vergrub die Nase im Fell ihres Golden Retrievers Harvey.

„Werde ja nicht anspruchsvoll, du kleiner Racker. Du warst heute Morgen schon draußen!“

Er wedelte mit dem Schwanz und starrte sie unbeeindruckt an. Während einer der schlimmsten Zeiten hatte er ihr einen Grund zum Leben gegeben, wofür sie ihm immer dankbar bliebe.

Nachdem sie Harvey gefüttert hatte, ging Grace duschen. Hinterher bereitete sie sich eine Tasse Kaffee zu. Während ihr blondes kurzes Haar bereits trocknete, sah sie sich die Nachrichtenüberschriften auf ihrem iPad an. Ihren seriösen blauen Hosenanzug hatte sie auch schon während ihrer Zeit bei der Polizei getragen. Während sie aus ihrem tiefen Erkerfenster auf das aufgewühlte Meer sah, blies sie die Kerze im Windlicht auf dem Fenstersims aus. Der Geruch nach Wachs erfüllte die Luft. Obwohl es inzwischen zwei Jahre her war, dass man erklärt hatte, dass ihr Sohn Connor ertrunken sei, konnte sie den Gedanken nicht ertragen, das Licht aufzugeben, falls ein Teil von ihm dort draußen verblieben war und in tiefster Nacht im Meer schwamm. Es war beinahe wie ein Gebet.

„Komm schon, Junge“, murmelte sie und kraulte den Hund hinter den Ohren. „Es wird Zeit, an die Arbeit zu gehen.“

 

Fünf Minuten später betraten Grace und Harvey das vollgestopfte Vorzimmer der Portobello Detektei. Sie freute sich, zu sehen, dass ihre Assistentin Jean, eine mollige, mütterliche Frau in ihren frühen 50ern, bereits da war und sich um die Post kümmerte.

Sie begrüßte sie und nahm sich das dicke Bündel Briefe.

„Da sind einige Schecks drin“, freute sich Jean. „So gefällt mir das.“

Grace legte die Briefe beiseite, sah auf die Uhr und legte die Stirn in Falten, bevor sie jedoch etwas sagen konnte, schwang die Tür weit auf, die junge Hannah kam mit etwas Sand hereingerauscht und schlug die Tür hinter sich zu.

Harvey rannte zu ihr, um sie auf seine übliche enthusiastische Art zu begrüßen.

„Tut mir leid, dass ich zu spät bin“, murmelte Hannah und hielt den Blick gesenkt, während sie seinen Kopf tätschelte. „Der Bus …“ Sie ließ den Rest des Satzes in der Luft hängen, als ob sie nicht genug Energie für eine Lüge hätte.

Die beiden anderen Frauen warfen sich einen Blick zu, aber Jean schüttelte nur sachte den Kopf, als Grace den Mund öffnete, um etwas zu sagen. Während Grace sich ihren Kommentar verkniff, studierte sie die junge Frau genauer. Sie war kreidebleich abgesehen von den dunklen Ringen unter den Augen.

„Ist schon in Ordnung“, meinte Grace mit einem Lächeln. „Hol dir erst einmal einen Kaffee. Ich werde dir ein paar Hintergrundberichte mailen, die du dann abtippen kannst. Ziemlich selbsterklärend alles.“

„Die Arbeit nimmt definitiv zu”, stellte Jean fest und verzog das Gesicht.

„Aber …?“

„So habe ich mir das nicht vorgestellt. All diese Kreditauskünfte, Mitarbeiterüberprüfungen und untreue Ehemänner. Es ist nicht sonderlich … aufregend, oder?“

In letzter Zeit hatte Grace genau dasselbe gedacht, aber das würde sie um keinen Preis zugeben. Von einer Kriminalinspektorin einer großen Ermittlergruppe zu einer glorifizierten Verwaltungsfachangestellten zu werden, hatte sie nicht im Kopf gehabt, als sie dieses Unternehmen gründete.

„Es ist vielleicht nicht spannend, Jean, aber es bringt Essen auf den Tisch.“ Grace ging in ihr Büro, da sie sich angespannt fühlte, und merkte, dass Kopfschmerzen drohten, während sie sich in der Arbeit vergrub.

Eine Stunde später klopfte es vorsichtig an der Tür und Jean steckte den Kopf herein.

„Eine Frau steht am Empfang. Sie will mir ihren Namen oder den Grund ihres Besuches nicht verraten, meint aber, dass sie dringend einen diskreten Ermittler braucht.“

Grace seufzte. Es klang nach einem weiteren Fall eines untreuen Ehemanns, aber sie konnte nicht wählerisch sein.

„Schick sie rein“, sagte sie und setzte ein Lächeln auf, das ihre Augen nicht erreichte.

Kapitel zwei

Die Frau, die in ihr innerstes Heiligtum hereinschneite, war vermutlich Anfang vierzig, könnte aber auch als jünger durchgehen. Sie schützte sich mit einem langen schwarzen Mantel vor der Kälte und auf den dunklen Locken thronte ein violettes Barett. Die Haut war makellos.

„Grace McKenna“, stellte Grace sich vor, stand auf und bot der Dame die Hand an. Diese zog zögerlich einen Handschuh von den Fingern, um sie zu schütteln, und Grace verstand augenblicklich, weshalb. Ihre Nägel waren vollständig herunter gebissen. Diese Frau wollte eindeutig immer Eindruck schinden.

„Sylvia Gordon“, antwortet sie, die Stimme tief und rau. „Vielleicht haben Sie ja davon gehört, was meinem Ehemann Paul Gordon vor ein paar Monaten zugestoßen ist? Die Zeitungen waren voll davon.“

„Was kann ich für Sie tun?“, fragte Grace verständnisvoll. Sie erinnerte sich daran, davon gelesen zu haben, dass Sylvias Ehemann, Paul Gordon, ein prominenter Hellseher, vom Dach seines Bürogebäudes gesprungen war. Vielleicht wollte sie, dass Grace einen vermissten Erben ausfindig machte?

„Sie müssen herausfinden, wer meinen Ehemann getötet hat.”

Grace ließ sich überrascht auf ihren Stuhl zurückfallen und betrachtete die Frau, die ihr gegenüberstand. „Aber hat er nicht …?“

„… Selbstmord begangen? Nein, das hat er nicht. Paul hätte so etwas niemals getan. Sie müssen beweisen, dass er ermordet wurde. Jemand stieß ihn von diesem Dach.“

„Mein herzlichstes Beileid“, entgegnete Grace. „Aber ich erinnere mich daran, über den Fall gelesen zu haben. Die Untersuchung ergab, dass es sich dabei um Suizid gehandelt hat. Es gab nie irgendwelche Zweifel.“

„Das mag sein, aber ich weiß, dass er ermordet wurde.“

„Wissen Sie, wer seinen Tod gewollte hätte?“

Die Frau lachte freudlos. „Die Liste an Kandidaten ist lang.“

„Stehen Sie auch darauf?“

Sylvia verzog das Gesicht. „Ja, das tue ich, aber ich kann Ihnen versichern, dass ich nicht daran beteiligt war.“

Dann ist ja gut, ging es Grace durch den Kopf. Sie musste zugeben, dass ihre Neugier geweckt war. Ihre Intuition sagte ihr jedoch, dass dieser Fall jede Menge Probleme mit sich bringen würde. Aber ihre neugegründete Agentur könnte dadurch an Bekanntheit gewinnen. Natürlich nur, wenn sie das Rätsel lösen konnte. Sie bat über die Gegensprechanlage um Kaffee.

„Ich werde Ihnen zuhören”, erklärte sie ihrer potenziellen Kundin. „Sollte ich dann entscheiden, den Fall zu übernehmen, maile ich Ihnen meine Geschäftsbedingungen und Konditionen sowie ein Angebot. Sollte ich mich gegen den Fall entscheiden, wäre das heutige Gespräch kostenlos.“

„Einverstanden“, sagte Sylvia mit einem kleinen angespannten Lächeln.

Grace fiel auf, dass Sylvias Augen förmlich Löcher in die Rückseite des gerahmten Fotos auf ihrem Schreibtisch brannten und unterdrückte den Zwang, es zu nehmen und in der Schublade zu verstauen. Sie schob ihr wachsendes Unbehagen gegenüber dieser Dame beiseite. Wenn sie das Überleben ihrer Agentur und die Jobs ihrer Angestellten sichern wollte, dann konnte sie es sich, verdammt noch mal, nicht erlauben, wählerisch zu sein.

Es klopfte sanft an der Tür und Hannah trat mit einem Tablett ein. Die Tassen klirrten, als sie es auf dem Tisch hinter den Frauen abstellte. Was war mit dem Mädchen heute nur los?

Grace dankte ihr lächelnd, aber Hannah sah sie nicht an und eilte schnell davon. Grace ging hinüber und schenkte Sylvia sowie sich selbst je eine Tasse ein. Dann reichte sie diese weiter. Nachdem sie sich wieder gesetzt hatte, zog sie ihr Notizbuch hervor und lehnte sich Sylvia entgegen.

„Wie kommen Sie darauf, dass ihr Ehemann ermordet wurde?“

„Er hat es mir gesagt.”

„Wie bitte?“, fragte Grace überrascht.

„Sie wissen schon, aus dem Grab heraus. Hören Sie, ich weiß, wie das klingt.“ Sylvia seufzte.

„Lassen Sie es uns eine Eingebung nennen, wenn Sie sich damit wohler fühlen. Ist es denn wichtig?“

„Ähm … In Ordnung, wenn er Ihnen erzählt hat, dass er ermordet wurde, dann hat er doch gewiss auch erwähnt, von wem, oder?“ Grace gab ihr Bestes, nicht sarkastisch zu klingen.

„Er kann sich nicht erinnern.“

„Sie trauern. Da kann einem der Verstand einiges vorspielen.“

„Das ist es nicht. Paul war nicht der Einzige mit hellseherischen Fähigkeiten.“

„Okay …“ Graces Herz hatte begonnen, wild in der Brust zu schlagen. Die Frau starrte wieder auf die Rückseite der Fotografie. Grace wollte sie anschreien, damit aufzuhören.

„Warum ist es Ihnen so wichtig, herauszufinden, wer Ihren Mann getötet hat?“, fragte Grace.

„Sechs Monate, bevor er starb, schloss er eine enorm hohe Lebensversicherung ab. Diese kommt nicht zur Auszahlung, denn es wurde entschieden, dass es sich bei seinem Tod um Selbstmord handelt.“

„Aber das …“

„Macht mich zur Hauptverdächtigen? Ja, dessen bin ich mir bewusst“, entgegnete Sylvia.

„Warum sind Sie zu mir gekommen?“ Graces Stimme war härter geworden. Hatte diese Frau sie aufgrund ihrer Vergangenheit ausgewählt? Glaubte Sylvia, dass Grace leicht zu manipulieren sei?

Die Frau wandte den Blick ab und biss sich auf die Lippen. Es herrschte eine seltsame Stille.

Grace stand auf. „Ich glaube nicht, dass das funktioniert, wenn Sie nicht einmal ehrlich mit mir sein können.“

Immer noch Schweigen. Grace ging zur Tür und griff nach dem Knauf.

„Warten Sie! Ich werde es Ihnen sagen. Ich kam zu Ihnen wegen Ihres Sohnes.“

Grace erstarrte. Langsam drehte sie sich um. „Was …?“

Sylvia kam auf sie zu. „Ich wollte es nicht so herausplaudern. Ich weiß, dass Sie früher bei der Polizei Morde untersucht haben. Es stand in den Artikeln über Ihren Sohn. Ich dachte mir, dass Sie dadurch vielleicht empfänglicher sind. Das ist alles, das schwöre ich!“

Grace merkte, wie sich das Adrenalin zurückzog und eine Welle der Erschöpfung sie stattdessen überkam. Vielleicht war Sylvia bei klarem Verstand. Und dieser Fall könnte ihr Bekanntheit verschaffen. Sie war es sich selbst schuldig, ihn sich genauer anzusehen.

Grace kehrte zu ihrem Stuhl zurück, setzte sich und nahm einen Stift. „Fangen wir noch mal von vorne an“, sagte sie.

Kapitel drei

„Ich heiratete Paul Gordon, bevor er berühmt wurde. Damals, als er noch als Pfleger gearbeitet hat und alles für jeden tat. Nebenher hat er spiritistische Sitzungen abgehalten. Wirklich nur nebenbei. Er hat kaum etwas dafür verlangt, tat es hauptsächlich, um Trost zu spenden.“

„Also, was hat sich geändert?“

„Vor zehn Jahren hatte er einen Zusammenbruch und, na ja, …“

„Wurde er eingewiesen?“

Sie biss sich auf die Lippen. „Ja, ich musste es tun. Ich hatte keine andere Wahl. In meinem tiefsten Inneren weiß ich, dass er mir das niemals verziehen hat. Er verlor seinen Job. Eine Zeit lang war es wirklich hart, dann erfand er sich neu als Vollzeit-Hellseher. Über Nacht schien sich seine ganze Persönlichkeit verändert zu haben. Ich war mir nicht sicher, was ich davon halten sollte … Ich dachte, er sei verrückt geworden. Ich hatte das Gefühl, mit einem Fremden zusammenzuleben. Aber dann bekam er Unterstützung von Berühmtheiten und von da an hat es sich ausgezahlt. Endlich schien sich alles zu beruhigen und er war bis zu seinem Verkehrsunfall wirklich glücklich.“

„Was ist passiert?“

„Er fuhr auf seinem Motorrad nach Hause, als ein Autofahrer eine rote Ampel übersah und in ihn gekracht ist. Eine Weile war sein Zustand kritisch. Scheinbar starb er auf dem OP-Tisch, aber es gelang den Ärzten, ihn zurückzuholen. Danach war er nie wieder derselbe – er war launisch und leicht reizbar, weigerte sich, darüber zu sprechen.“

„Wie lange vor seinem Tod geschah das?“

„Weniger als ein Jahr.”

„Wer denken Sie, wollte ihn töten?“

„Vor fünf Jahren eröffnete er gemeinsam mit seiner Geschäftspartnerin Regan Bradley und einem anderen Hellseher namens Xander Croft ein neues College für übersinnliche Entwicklung in Edinburgh. In den letzten paar Wochen vor seinem Tod haben sie sich alle wegen irgendetwas gestritten. Ich fragte Paul immer wieder, was los sei, aber er erzählte mir nichts. Ich weiß nicht, ob sie sich über Geld oder etwas anderes uneinig waren, aber die Arbeitsatmosphäre war schrecklich.“

„Sie haben dort ebenfalls gearbeitet?“

„Ja, aber nicht als Hellseherin. Ich habe nicht einmal Paul etwas von meiner wachsenden Fähigkeit erzählt. Das ist ein Teil von mir, den ich mich entschied zu unterdrücken. Nach allem, was ihm passiert war, macht es mir Angst. Aber ich war oft genug im College – habe mich dort um den administrativen Teil gekümmert.“

„Gab es finanzielle Probleme?“

„Ja, aber das wusste ich zu der Zeit nicht.“

„Existiert das College noch?“

„Ja. Aber sie haben mich gefeuert. Sie meinten, dass es ihnen meine Anwesenheit schwer machen würde, über Pauls Tod hinwegzukommen.“

„Fies.“

„Ich glaube, dass da mehr war. Ich denke, dass sie ihre Spuren verwischen wollten. Vor Pauls Tod ist ein investigativer Journalist dort herumgeschlichen.“

„Wissen Sie seinen Namen noch?“

„Tobias Sloan. Er ist selbstständig. Ich habe seine Karte.“ Sie wühlte in ihrer Tasche herum und zog sie schließlich heraus. „Und der neue Dekan für Übersinnliches, Xander Croft? Ich traue ihm nicht. Er hat ein enormes Ego und zählt die Berühmtheiten, mit denen er arbeitet. Ich weiß bis heute nicht, ob er wirklich eine Gabe besitzt oder einfach nur ein gewiefter Hochstapler ist. Auf jeden Fall war er auf Paul eifersüchtig. Sie stritten um alle lukrativen TV-Auftritten und auch, wenn es um Fördermittel von Prominenten ging.“

Grace biss sich auf die Zunge.

„Hören Sie, ich weiß, dass Sie eine Ungläubige sind. Ich bin nicht hier, um Sie zu bekehren. Die Polizei wollte mir nicht zuhören, als ich da war. Man gab sich dort verdammt herablassend und abweisend, um ehrlich zu sein. Alles, was ich von Ihnen erwarte, ist, offen zu sein, und dass Sie Ihre investigativen Fähigkeiten nutzen. Ihre persönliche Einstellung ist mir egal, solange sie nicht im Weg steht.“

„Lohnt es sich, sonst noch jemanden unter die Lupe zu nehmen?”, fragte Grace.

„Es gibt eine Protestgruppe, die von einer Frau namens Beverley Thomson geleitet wird. Sie steht jeden Tag vor dem College und wedelt mit ihren Plakaten herum. Egal, ob es regnet oder die Sonne scheint. Diese Leute sind der festen Überzeugung, dass wir die Arbeit des Teufels verrichten.“

„Sonst noch jemand?“, erkundigte sich Grace. Diese Untersuchung würde mit ihrer beschränkten Ausrüstung und ohne genaue Anhaltspunkte knifflig werden.

„Sonst weiß ich von niemandem“, meinte Sylvia. „Hören Sie, ich habe genug Ihrer Zeit genutzt. Hier sind all die Papiere, die ich in die Finger bekommen konnte. Lassen Sie mich wissen, ob Sie den Fall übernehmen.“

Sie stand abrupt auf, schwankte etwas und stütze sich mit einer Hand auf der Stuhllehne ab, um sich abzufangen.

Grace wurde etwas freundlicher, als ihr klarwurde, unter welchem Druck diese Frau stand, das starke Erscheinungsbild, das sie der Welt zeigte, aufrecht zu erhalten.

Vielleicht waren sie ja doch nicht so verschieden.

Kapitel vier

Grace sah von den Papieren auf, die überall auf ihrem Schreibtisch verteilt lagen, als sie Lachen aus dem Zimmer nebenan hörte. Sie ging zur Tür und steckte den Kopf hinaus, wünschte aber sofort, dass sie das nicht getan hätte: Ihr Ex-Ehemann Brodie McKenna hielt einem erfreuten Publikum im Foyer einen Vortrag. Sie runzelte die Stirn. Jedes Mal, wenn sie ihn sah, wusste sie nicht, ob sie in seine Arme rennen oder ihm mit einem Schürhaken eins über den Kopf ziehen sollte.

„Was führt dich denn her?“, fragte sie in einem bemüht neutralen Ton.

Er drehte sich zu ihr und die braunen Augen funkelten amüsiert. „Wenn du nicht aufpasst, dann wird dein Gesicht so bleiben“, konterte er anstelle einer Begrüßung.

Sie verdrehte die Augen.

„Die liebe Jean hier hat mir erzählt, dass du vielleicht einen großen Auftrag an Land gezogen hast?“

„Hat sie das?“

Jean fing geschäftig an, zu tippen, während sich ein sanftes Pink auf ihren Wangen ausbreitete. Ein unterdrücktes Kichern entwich Hannah.

„Ich schätze mal, du kommst besser in mein Büro, bevor du meinen Angestellten noch weitere Geheimnisse entlockst.“

Grace hielt die Tür offen und er ging an ihr vorbei.

Seinen Geruch einzuatmen, gab ihr das Gefühl eines schwachen Verlustes. Sie bot ihm einen Platz an und ging dann um den Schreibtisch herum, dankbar für die Barriere zwischen ihnen.

Brodie betrachtete sie nun mit einem ersten Gesichtsausdruck. „Wie geht es dir?“, wollte er wissen. „Das neue Umfeld, hilft es?“

Sie lachte spröde. „Es ist eine gute Ablenkung, schätze ich mal. Wie geht es deiner Freundin?“

„Sie hat einen Namen“, fuhr er sie an. „Tu das nicht, Grace. Du hast mich weggeschickt, schon vergessen? Ich weigere mich, mich schuldig zu fühlen, weil ich mich in einer neuen Beziehung befinde.“

Er hatte recht. Grace wusste, dass sie keinen Grund hatte, sich aufzuregen. Es tat nur einfach weh. Sehr sogar.

Sie hielt ergeben die Hände hoch. „Tut mir leid, mein Temperament ist wohl mit mir durchgegangen. Wie geht es Julie?“

„Ihr geht es gut. Es ist einfacher, mit jemandem zusammenzusein, der nicht das Gewicht eines Verlustes mit sich trägt. Es hilft … etwas.“

„Wir wollen ja nicht, dass der Tod deines Sohnes schwierig für dich ist.“

Er sah aus, als hätte sie ihn geschlagen. „Musst du so unglaublich empfindlich sein? Ich versuche, hier eine ernsthafte Unterhaltung zu führen. Es ist ganz schön erschöpfend, jedes Wort zu überdenken, das ich sage.“

„Ich weiß“, flüsterte sie und fühlte einen Kloß in der Kehle.

Brodie schüttelte den Kopf, aber griff über den Tisch nach ihrer Hand. Er nahm das gerahmte Bild von ihrem Schreibtisch und berührte es sanft, als er es sich ansah. Das Lächeln ihres Sohnes zeigte keinen Hinweis auf die Tragödie, die sich ereignen würde.

„Also“, meinte er schließlich, indem er das Bild zurückstellte, seine Stimme klang rau, als er versuchte, die Fassung wieder zu erlangen. „Erzählst du mir von deinem neuen Fall?“

Grace war dankbar, dass er das Thema wechselte. „Erinnerst du dich noch an den Tod des Hellsehers Paul Gordon?“

„Vage. Ist er nicht von einem Dach gesprungen?“

„Laut seiner Frau war es Mord.“

„Warum glaubt sie das?“

„Sie … hat eine starke, … ähm … Intuition, wenn es um solche Dinge geht.“

„Sag mir bitte, dass es nicht auf das rauslaufen wird, was ich annehme?“

Grace seufzte. „Hör zu, ich glaube genauso wenig an so etwas wie du. Aber ich muss Geld verdienen, weißt du?“, entgegnete sie mit einem leicht gereizten Unterton.

Brodies Gesicht spannte sich an. „Pass auf, ich will nicht streiten. Deshalb bin ich nicht hier.“

„Ich weiß. Mach dir keine Sorgen. Ich stelle einfach ein paar Nachforschungen an und zeige ihr die Ergebnisse. Ich werde sie nicht ausnutzen, wenn ich der Meinung bin, dass es nichts zu untersuchen gibt.“

„Ich werde nach der Akte schauen“, versprach er. „Mal abwarten, ob wir etwas übersehen haben.“

„Das wäre toll“, antwortet sie überrascht und etwas gerührt. Es freute sie, zu sehen, dass Brodie seinen Platz fand, nun, da sie die Polizei verlassen hatte. Er war direkt von der Schule aus beigetreten, als sie schwanger wurde, bevor sie ihren Abschluss hatten. Sie heirateten im Rahmen einer einfachen Zeremonie; dank ihrer Eltern, die babysitteten, war es ihr schließlich möglich, auf die Uni zu gehen und einen Abschluss in Psychologie zu machen. Als Uniabsolventin mit vorzeitigem Abschluss hatte sie ihn im Rang schnell überholt und eine Stelle bei der Mordkommission erhalten, während er bei der Kripo festsaß. Seine kürzliche Beförderung zum Kommissar führte dazu, dass er endlich dem Team zugeteilt worden war, auf das er schon lange ein Auge geworfen hatte.

Er stand auf, um zu gehen. „Ich mach mich dann mal auf den Weg. Julie wartet im Auto.“

„Du hättest sie mit reinbringen sollen“, meinte sie mit einem Augenzwinkern.

Brodie lachte. „Vielleicht ein anderes Mal. Pass auf dich auf, Grace.“

„Du auch.“

Nachdem er gegangen war, wirkte das Zimmer verlassener. Grace strich sanft mit dem Finger über das Gesicht ihres Sohnes und vergrub sich dann wieder in den Papieren.

Kapitel fünf

Grace schob den Stuhl zurück und streckte die angespannten Muskeln. Sie war nicht dafür geschaffen, den ganzen Tag am Schreibtisch zu sitzen. Sie sah aus dem Fenster und bemerkte, dass es bereits dunkel wurde. Inzwischen hatte sie vom Winter die Schnauze gestrichen voll und sehnte sich danach, die Sonne wieder auf dem Gesicht zu fühlen. Eine Sonne, die niemals wieder für ihren Sohn scheinen würde. Grace zwang sich dazu, an etwas anderes zu denken. Etwas, zu dem sie sich mehrmals täglich zwingen musste.

Sie öffnete die Tür zur Rezeption, konnte das Meer durch das große Fenster sehen. Der Wind wühlte eindeutig die Wellen auf; schaumig weiß tanzte die Gischt in Richtung des Portobello Strandes und bis hinter die niedrige Mauer, die die Promenade abtrennte. Harvey wedelte mit dem Schwanz.

„Nicht mehr lange, Junge“, versprach sie und streichelte ihm über das Fell.

Hannah brachte ihr ein paar Verträge zum Unterschreiben und setzte sich an den Tisch, während Grace sich darum kümmerte. Ihre Angestellten dachten, sie wäre verrückt, da sie das Hinterzimmer als Büro gewählt hatte und sich dadurch die wunderschöne Aussicht entgehen ließ. Aber die Kehrseite daran, vorne zu arbeiten, bestand darin, dass die Leute einen sehen konnten, und Grace schätze nun einmal ihre Privatsphäre.

„Und, wirst du den Fall übernehmen?“, fragte Jean neugierig.

„Ja. Es wird jede Menge Arbeit auf uns zukommen, aber so ein prominenter Fall könnte uns jede Menge neuer, lukrativer Kunden bringen. Ich habe mir die Papiere von Sylvia bereits angesehen. Die Polizei hat zwar ermittelt, aber den Vorfall recht schnell als Selbstmord abgetan, daher ist es kein Fehler, sich das Ganze noch einmal anzusehen. Ich werde zunächst darüber schlafen, mir dann einen Plan überlegen und die Aufgaben verteilen. Hannah, wenn du kurz in mein Büro komme könntest, es gibt etwas, das ich mit dir besprechen möchte.“

Als Grace sie zu der gemütlichen Sitzecke führte, dachte sie darüber nach, wie wenig sie eigentlich über ihre jüngste Angestellte wusste. Hannah war als Schulabgängerin nach der zwölften Klasse zu ihr gekommen und hatte den Wunsch zu lernen gezeigtzu lernen. In vielen Punkten schien sie perfekt zu passen, sie liebte es, zu schauspielern, und besaß ein natürliches Talent für Zahlen. Diese Fähigkeiten würden ihr zu Gute kommen, wenn sie Verdächtige befragte oder mit Buchführungsbetrug zu tun hatte. Das waren jedoch nicht die Gründe gewesen, weshalb Grace sie eingestellt hatte. Es war der Ausdruck purer Verzweiflung in den Augen der jungen Frau gewesen: Sie wirkte wie eine Jugendliche, die in Schwierigkeiten steckte und Hilfe benötigte. Da sie bei ihrem eigenen Sohn die Zeichen übersehen hatte, würde Grace denselben Fehler nicht noch einmal begehen. Ein kleiner, hungriger Teil in ihr war auch darauf angesprungen, dass sie dieselbe Highschool besucht hatte wie Connor. Sehr wahrscheinlich hatte Hannah ihn gekannt. Da gab es jedoch eine Unterhaltung, die sie noch führen mussten.

„Ich wollte nur nach dir sehen, Hannah. Wie geht es dir hier in der Agentur?“

„Ich liebe es hier. Wirklich!“ Sie hielt inne. „Habe ich etwas falsch gemacht?“

„Nein, ganz und gar nicht“, versicherte ihr Grace. „Ich wollte dir einfach nur sagen, dass du mit mir über alles reden kannst. Wir sind eine neu gegründete Detektei und da wird es Probleme geben.“

„Also … Es gibt da tatsächlich etwas, über das ich mit dir reden wollte.“

„Okay – und was?“

„Also, auch wenn ich gern diese Bürotätigkeiten lerne – Bonitätsprüfungen, Hintergrundchecks von Angestellten und diese Dinge –, habe ich mich gefragt, ob du mich vielleicht auch anderweitig einsetzen könntest?“

„Wie zum Beispiel?“

„Na ja, du weißt doch, wie gern ich Theater mag.“

„Ja“, meinte Grace, unsicher, wohin das führen würde.

„Ich dachte, ich könnte vielleicht bei den Fällen, wo der Partner fremdgeht, den Lockvogel spielen.“

„Auf gar keinen Fall!“, antwortet Grace sofort. „Du bist gerade mal 18 Jahre alt. Das ist viel zu gefährlich.“

Hannah lief rot an und senkte den Blick. „Ich kann auf mich aufpassen“, stellte sie ruhig, aber entschlossen fest.

„Hannah … In deinem Alter denkst du nur, dass du das kannst.“

„Wir brauchen jemand für diese Art von Job. Die Kunden werden das erwarten.“

„Das mag schon sein, aber ich kann das übernehmen, wenn es nötig ist.“

„Du?“, fragte Hannah ehrlich überrascht. „Aber …?“

„Aber was? Bin ich zu alt?“, gab Grace zurück. „Zu schnöde?“

„Natürlich nicht.“ Hannah klang alles andere als überzeugend.

„Pass auf, ich werde darüber nachdenken“, meinte Grace und lächelte, um zu zeigen, dass sie ihr nicht böse war. „Bei diesem neuen Fall brauche ich vielleicht einfache Undercover-Arbeit. Damit könntest du anfangen.“

Hannah begann zu strahlen. „Das ist toll. Ich werde dich nicht enttäuschen.“

***

Später am Abend in der Wohnung dachte Grace über Hannahs überraschten Gesichtsausdruck bei der Vorstellung, dass ein Mann – oder auch eine Frau – Grace tatsächlich attraktiv finden könnte, nach. Das hatte wehgetan. Sie war gerade erst 35. Auch wenn sie nie die Art von Frau gewesen war, die ihr Aussehen einsetzte, hatte Grace immer geglaubt, dass sie sich, je nach Situation, entsprechend verkaufen könnte. Sie betrachtete ihre Reflexion im Spiel, konnte die Spuren sehen, die die Trauer auf ihrem Gesicht hinterlassen hatte. Die dunklen Augenringe verliehen ihr ein abgenutztes Aussehen. Ihre Haut spannte über den Wangen, da sie in den letzten zwei Jahren kaum gegessen hatte.

Kein Wunder, dass Brodie nicht mehr um dich gekämpft hat, flüsterte eine tückische Stimme in ihrem Kopf.

„Hör auf damit!“, befahl sie sich laut. Brodie hatte sie nicht verlassen. Sie selbst hatte in jeder Hinsicht den Schlussstrich gezogen. Sie hatte sich in ihrer Trauer verloren, sich wegen jedes Streits mit ihrem jugendlichen Sohn fertiggemacht. Brodie hatte versucht, die zerrüttete Familie zusammenzuhalten und weiterzumachen, aber wie hätte sie das tun können, da es doch ihre Schuld war, dass Connor nur noch einen Ausweg sah? Nämlich, nachts ins Meer zu gehen. Das musste es gewesen sein. Sie war seine Mutter und hatte ihn im Stich gelassen.

Das hier passierte, wenn Grace sich erlaubte, zu sehr über alles nachzudenken. Sie würde spazieren gehen. Das würde helfen. Sie drehte sich um und sah Harvey an der Tür liegen und sie besorgt ansehen.

„Entspann dich, Junge“, murmelte sie und streichelte seinen Kopf. „Ich habe mit mir selbst geredet, nicht mir dir.“

Er wedelte hoffnungsvoll mit dem Schwanz. „Komm schon. Zeit, das alles hinter uns zu lassen.“

Sie legte ihm die Leine an und ging nach draußen in die Dunkelheit, während sie sich fragte, was der Morgen wohl bringen würde.

Kapitel sechs

Grace hielt vor der modernen Glasfront des Mechiston College für übersinnliche Entwicklung an. Egal was es sie kosten würde, Grace hatte erkannt, dass es ihr nur möglich war, sich dem College zu nähern, wenn sie zu einem Event dort als sie selbst ging. Sie hätte sich liebend gern hinter einer falschen Identität versteckt, aber wegen der medialen Aufmerksamkeit bezüglich des Todes ihres Sohnes und ihres arbeitsrechtlichen Vorgehens gegen die Polizei wegen ungerechtfertigter Kündigung, hatte sie das Gefühl, dass jemand sie aufgrund der enormen Medienpräsenz erkennen würde.

Rechts vom Eingang hatte sich eine unübersichtliche Gruppe Protestierender mittleren Alters mit selbst gemachten Schildern versammelt.

Jeder braucht ein Hobby, dachte Grace sich.

Das musste die Gruppe sein, die ihre Klientin erwähnt hatte.

Minuten später stand sie in einem lebhaften Café und beobachtete College-Angestellte, die im Raum arbeiteten. Sie versuchte, sich ihren Zynismus nicht anmerken zu lassen, denn sie hatte die Vermutung, dass diese fleißigen Helferlein unter Hinterbliebenen nach Informationen suchten, die ihnen später noch nützlich sein könnten. Sekunden später war sie an der Reihe, als eine Frau mittleren Alters mit verwaschenen blauen Augen vor ihr auftauchte.

„Guten Tag, mein Name ist Matilda Swain, es freut mich, Sie kennenzulernen.“ Sie strahlte Grace an.

„Grace McKenna, gleichfalls.”

„Was bringt Sie heute zu uns, meine Liebe?”, fragte Matilda.

„Meine Neugier, schätze ich mal. Eine Freundin in meiner Hinterblieben-Unterstützungsgruppe hat so begeistert von Ihrem Dekan, Herrn Xander Croft, gesprochen.“

„Er ist ein ganz wundervoller Mann. Wir können uns wirklich glücklich schätzen, ihn zu haben. Sie meinten, dass Sie eine Hinterbliebene wären? Mein herzliches Beileid. Darf ich fragen, wen Sie verloren haben?“

„Meinen Sohn.“ Grace lächelte gezwungen.

Die Frau nahm ihre Hand und hielt sie um einiges länger, als es Grace lieb war, zwischen ihren eigenen staubtrockenen Fingern. „Ihr Verlust tut mir sehr leid, meine Liebe, aber ich bin mir sicher, dass er jetzt im Geiste an einem besseren Ort ist.“

Was für ein Quatsch, zischte Grace gedanklich. Er wäre lieber hier bei mir.

Nachdem sich die Frau mit einem sanften Händedruck verabschiedet hatte, nahm Grace einen Schluck von ihrem Tee und sah sich um. Sie konnte leicht die ausgelaugt wirkenden Hinterbliebenen erkennen. Sie konnte die verzweifelte Hoffnung einiger sehen, die sich nach dem Kontakt zu ihren Liebsten sehnten. Andere wirkten zurückgezogener, kamen hierher, obwohl sie sich nichts davon erhofften. Auch ihr selbst stand die Trauer ins Gesicht geschrieben. Das Ganze bereitete ihr ein mulmiges Gefühl. Was zum Teufel hatte sie sich dabei gedacht, diesen Fall anzunehmen? Sie verspürte das starke Bedürfnis, aus dieser Tür zu gehen – nein, zu rennen – und nie wieder zurückzukommen.

Nach ein paar Minuten merkte sie, wie sich ihr warnend die Haare im Nacken aufstellten. Sie schnellte herum und fand sich abschätzenden grünen Augen gegenüber. Er sah sofort weg, aber Grace wusste, dass sie es sich nicht eingebildet und er sie beobachtet hatte. Genervt warf sie ihm einen bösen Blick zu und drehte sich um. Sein Auftreten vermittelte ihr das Gefühl, dass er keiner der Hinterbliebenen war. Vielleicht arbeitete er hier? Unwahrscheinlich. Kein anderer Angestellter schien sich mit ihm auszutauschen.

Eine Glocke klingelte diskret.

Showtime, dachte sie sich und versuchte, ihre schlechte Laune beiseitezuschieben. Sie folgte den anderen in einen wunderschön proportionierten Raum. Anstatt sich nach vorne zu setzen, entschied sie sich für den mittleren Bereich. Zu allem Überfluss setzte sich der Mann neben sie. Was für ein Spinner kam zu solch einer Veranstaltung, um Frauen aufzureißen?

Eine Spannung erfüllte den Raum. Auf einer Seite lag eine Bühne mit einem exquistien Samtvorhang.

„Ich weiß, wer Sie sind“, flüsterte ihr der Mann neben ihr ins Ohr.

„Ist das so? Denn ich habe keine Ahnung, wer zum Teufel Sie sind oder was Sie von mir wollen.“

„Mein Name ist Tobias Sloan, investigativer Journalist“, erwiderte er und reichte ihr seine Karte. „Ich schlage vor, wir treffen uns nach der Veranstaltung.“

Grace hielt inne. „Okay, im Espy Pub in Portobello zur Mittagszeit“, murmelte sie, bevor sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Bühne verlagerte. Xander Croft war plötzlich hinter dem Vorhang aufgetaucht. Sie erkannte in von seinem Profil auf der Webseite des Colleges. Er war ein hervorragend aussehender Mann, vermutlich Anfang Vierzig, glattrasiert und trug einen gut geschnittenen marineblauen Anzug. Er trat an die Vorderseite der Bühne und hielt die Hände nach oben, um das Publikum um Ruhe zu bitten. Eine erwartungsvolle Stille breitete sich im Raum aus.

„Willkommen.“ Er besaß eine unglaublich melodische Stimme.

Grace spürte die Macht seiner Anziehungskraft. Es schien, als sähe er sie direkt an, spräche nur zu ihr und sie nahm an, dass alle in diesem Raum dasselbe fühlten. Wahres Charisma fand man nicht häufig, aber dieser Mann hatte es im Überfluss. Sie fühlte sich von dem, was er sagte, angezogen. Eine überzeugte Ungläubige in Bezug auf das Nachleben und dennoch hatte sie nun das Gefühl, dass ihr Glaube ins Wanken geriet. Wie schön es wäre, wenn sie eines Tages wieder mit Connor vereint würde …

Reiß dich zusammen!, schimpfte sie sich selbst. Du bist nur wegen eines Auftrags hier und aus keinem anderen Grund.

Sie sah sich um und erkannte, dass das Publikum an jedem seiner Worte hing. Die Sonne schien durch die Buntglasfenster, ihre warmen wundervollen Strahlen schenkten den Leidenden Erlösung. Sie wappnete sich gegen das kollektive Elend.

Xander Croft ließ sich auf der Kanzel nach vorne sinken. Sein Gesicht fiel zusammen, als hätte seine Seele seinen Körper verlassen. Eine Welle der Aufregung ging durch die Zuschauer. Hinter ihr ertönte ein kollektives Einatmen, sobald Crofts Kopf sich hob und seine stechend blauen Augen die Mitte fixierten.

„Sie, die Dame in dem lila Mantel.“ Er zeigte ins Publikum. „Ein wunderschönes kleines Mädchen kam zu mir. Sie sagt, ihr Name sei Molly. Sagt Ihnen das etwas, meine Liebe?“

Die Frau mittleren Alters nickte fanatisch, ihr Gesicht verzog sich durch Tränen des Glücks.

„Antworte mir laut und klar“, befahl er. „Ich benötige den Klang deiner Stimme, um die Verbindung aufrecht zu halten.“

„Ja!“ Die arme Frau schrie nun beinahe. „Sie war meine Tochter. Molly starb, als sie fünf war. Bitte sagen Sie ihr, dass ich sie liebe.“

Croft hielt inne, neigte den Kopf, als höre er zu.

„Das weiß sie bereits. Molly sieht, wie Sie jeden Abend ihr Foto küssen. Sie bedankt sich bei Ihnen, dass sie Blue Ted mit ihr beerdigt haben … Das ist jetzt vielleicht schwer für Sie, aber sie hat ihre Schwester im Jenseits gefunden. Ich sehe sie mit einem anderen Mädchen im Arm. Sie sagt mir, dass Sie sie Katy nannten?“

Die Frau weinte nun ganz offen und Grace verengte die Augen, als sie von Croft zu der Frau und wieder zurückblickte. Das ging einen Schritt zu weit. Ihre Gedanken rasten, versuchten, einen Sinn zu finden.

„Ein paar Jahre nach Mollys Tod hatte ich eine Fehlgeburt. Ich habe ihr den Namen Katy gegeben. Ich dachte mir, dass sie einen eigenen Namen verdient hat …“

„Sie können sich nun mit dem Wissen ausruhen, dass es den beiden im Jenseits gut geht und sie glücklich sind.“

„Ich danke Ihnen“, flüsterte sie, ihr Gesicht verzerrt vor lauter Emotionen.

Grace runzelte die Stirn. Entweder hatte die Frau ihre Geschichte zuvor einem von Crofts kleinen Helferlein erzählt oder das Ganze war ein geplanter Fake. Das war alles viel zu spezifisch, als dass man es glauben konnte. War sie als Einzige im Raum fähig, das zu erkennen? Grace fühlte Crofts Blick auf sich und versuchte schnell, einen neutralen Gesichtsausdruck aufzusetzen.

Der Rest der Veranstaltung war recht langweilig und vorhersehbar, aber das Publikum hing an jedem Wort von Xander Croft.

Wenn ich aus dem Nachleben zurückkehren würde, dann hätte ich mehr über die Geisterwelt zu sagen und weniger über ungefähre Daten und simple Oberflächlichkeiten, dachte sich Grace. Sie vermutete, dass das extrem konkrete Beispiel zu Beginn so überzeugen musste, da man Croft nun mit weniger davonkommen ließ. Alle aus dem Publikum kehrten jede Woche zurück in der Hoffnung, dass dies der Tag sei, an dem sie eine Nachricht von ihren Liebsten erhielten.

Das Ganze hinterließ ein ungutes Gefühl bei Grace. Sie wurde unaufmerksam. Es war unglaublich heiß und sie fühlte eine Welle der Erschöpfung über sich hereinbrechen. Plötzlich kehrte ihre Aufmerksamkeit zurück.

„Ich habe hier einen netten junge Mann, der uns zu früh genommen wurde. Sagt das jemandem etwas?“, fragte Croft nun hoch konzentriert.

Grace erstarrte auf ihrem Platz.

„Er will, dass Sie wissen, dass es nicht Ihre Schuld war. Es gab nichts, dass Sie hätten tun können.“

Grace überkam eine Welle der Übelkeit und sie musste schwer schlucken.

Er weiß es nicht, redete sie sich selbst verbissen ein. Keiner weiß es.

Sie hatte einen Job zu erledigen und konnte sich nicht von ihren persönlichen Gefühlen einnehmen lassen. Der Mann auf der Bühne tastete sich vor, versuchte, ihre Schwachstelle zu finden.

 

Nachdem alle den Saal verließen, hielt Grace ihren Blick auf die Frau im lila Mantel fixiert. Sie vermutete, dass sie eine Schauspielerin war, die für diese Veranstaltung gebucht worden war. Grace ließ sich in der Menge zurückfallen und sah, wie einige Leute die Hand der Frau oder ihren Arm drückten und ihr unterstützende Worte zumurmelten. Die Frau ließ das alles stoisch über sich ergehen und Grace fragte sich allmählich, ob sie doch falschlag. Langsam folgte sie der Dame nach draußen und auf den kleinen Parkplatz. Grace schloss ihr Auto auf und stieg ein, stellte die Spiegel so ein, dass sie die Frau weiter beobachten konnte, während sie so tat, als sähe sie etwas auf dem Handy nach.

Am hinteren Teil des Gebäudes öffnete sich eine Holztür zum Parkplatz und eine Hand, die einen braunen Umschlag hielt, erschien. Die Frau in Lila nahm ihn schnell entgegen, sah sich verstohlen um, stieg in ihr kleines Auto und fuhr davon.

Grace notierte die Spezifika des Autos und fuhr dann ebenfalls los, stinksauer wegen der Dinge, die sie gerade beobachtet hatte.