Leseprobe Schatten über Whitechapel

1. Überraschung!

»Scheiße«, murrte jemand, der sich dem Klang nach unter einem Berg Watte befand. Dem Fluch schlossen sich ein Klirren und ein Poltern an, bevor sich die Stimme erneut erhob: »Was für ein Schweinestall!«

Ich war zu müde, um hochzuschrecken. Oder auch nur die Augen zu öffnen. Ungelenk legte ich eine Hand auf das riesige, pochende Ding, das mein Kopf sein musste und stöhnte leise. Wer immer da gerade durch meine Wohnung stolperte, es war mir gleichgültig. Ich besaß nichts, was es sich zu stehlen lohnte und wenn mir jemand die Kehle aufschlitzen wollte, nur zu, dann hörten wenigstens diese bohrenden Kopfschmerzen auf.

»Max!« Die Stimme erklang nun direkt neben meinem Ohr und ich erkannte die leicht nasale Aussprache. Eine große Hand mit kräftigen Fingern umfasste meinen Oberarm und rüttelte grob an mir. »Muss ich denn erst einen Eimer Wasser holen, Maxine?«

»Das machst du nur ein einziges Mal.« Verdammt, was war mit meiner Kehle los? Dieses Krächzen klang nicht sehr überzeugend. Trotzdem: »Und dann rate ich dir, lauf um dein Leben.«

Vorsichtig öffnete ich die Lider. Nur einen Spalt breit vorerst, das war schmerzhaft genug und trieb mir brennende Tränen in die Augen. Im Zimmer war es so hell, als hätte jemand urplötzlich die Sonne angeknipst. Verfluchtes Tageslicht …

Als ich mich allmählich an die Helligkeit gewöhnt hatte, nahm ich verschwommen ein Paar sehr vertraute, eichenholzfarbene Augen hinter einer eckigen Designerbrille wahr. Sie glotzten mich mit einer Mischung aus Abscheu und Mitleid an.

Der schon wieder! Ein Einbrecher wäre mir lieber gewesen. Der hätte nämlich weder die Vorhänge aufgezogen noch eine Moralpredigt gehalten.

»Was willst du hier, Jonas?« Ich versuchte, mich hochzurappeln, wurde aber von einem heftigen Schwindel gepackt, der mich augenblicklich zurückwarf. Jonas griff mir ungefragt unter die Arme und half mir mit hochgezogenen Brauen in eine aufrechte Position. »Wie bist du überhaupt reingekommen?«

»Während du hier im Alkoholkoma lagst, stand deine Tür sperrangelweit offen«, blaffte er und schob seine Brille auf der Nase zurecht. »Herrgott, Max, ausgerechnet zu dieser Zeit. Musst du immer so verantwortungslos sein?«

Diese Leier wieder …

»Ja, ja«, nuschelte ich, massierte mir die Stirn und schaute mich kurz um.

Erleichtert stellte ich fest, dass ich auf meinem eigenen alten, dunkelbraunen Cordsofa saß. Ich war letzte Nacht folglich zuhause angekommen. Und auch wenn ich es offensichtlich nicht ins Bett geschafft hatte, war ich dieses Mal wenigstens vollständig bekleidet.

Vielleicht gab ich heute Morgen – oder war es Mittag? – ein jämmerliches und etwas zerknautschtes Bild ab, aber Jonas hatte mich bereits in sehr viel prekäreren Situationen vorgefunden. Mein heutiger Zustand war bei genauerer Betrachtung fast schon mustergültig. Wieso also die tiefen Sorgenfalten in seiner sonst so von gesundem Lebensstil und teuren Cremes makelloser Gesichtshaut?

Ein herzhafter Hustenanfall überkam mich, bevor ich nachhaken konnte. Ich angelte die verbeulte Zigarettenschachtel vom Fußboden und kramte zwischen den leeren Flaschen und Snackverpackungen auf dem ramponierten Holztischchen nach einem Feuerzeug.

Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich die Kontrolle über meine zitternden Finger wiedererlangt hatte und mir eine Kippe anstecken konnte. Der erste Zug kratzte ekelhaft in meinem Hals. Doch schon beim Ausatmen entfaltete der blaue Rauch seine beruhigende Wirkung. Seufzend lehnte ich mich in die Kissen zurück.

»Wie ich sehe, läuft dein Plan, dich umzubringen, sehr gut«, konstatierte Jonas, ließ sich neben mir auf der Couch nieder, rümpfte die Nase und musterte mich von oben bis unten. »Du siehst richtig beschissen aus.«

Ich tat es ihm gleich. »Und du siehst wie immer wie ein Steuerprüfer aus.« Ich deutete auf das strenge Ensemble aus Stoffhose, Hemd und Wollpullover. Ganz hervorragend passten seine ordentlich gegelten, hellbraunen Haare dazu. Und die Zeitung, die er sich unter den Arm geklemmt hatte, rundete das steife Outfit letztlich ab. Was die Menschen wohl sagen würden, wenn sie wüssten, dass eine solche Strebertype eines der Wesen war, die sie Dämon nannten?

»Schön, dass wir das geklärt haben. Vielen Dank für deinen Besuch.«

Er blinzelte mich an, als hätte ich den Verstand verloren. »Willst du denn gar nicht darüber reden, was passiert ist? Ich hatte angenommen … na ja, dass es dich wenigstens ein bisschen nachdenklich stimmen würde.« Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Aber wie ich sehe, interessiert dich inzwischen überhaupt nichts mehr.«

Was faselte er da? Ich beäugte meinen ehemaligen Assistenten irritiert. Es war nicht ungewöhnlich, dass er vorbeikam, nach mir sah und Moralpredigten hielt. Es war mir zwar schleierhaft weshalb, aber er tat das schon, seit er vor sechs Monaten in ein anderes Detektivbüro gewechselt hatte. Dieser miese Verräter. Gut, ja, ich konnte ihn drei Monate lang nicht bezahlen – vielleicht waren es auch vier – dennoch war das kein Grund, zu Ian McKenzie, diesem arroganten schottischen Fettsack, zu wechseln, der zu allem Überfluss ein Mensch war.

Jedenfalls sollte es per Gesetz verboten sein, Leuten, für die man nicht mehr arbeitete, auf den Wecker zu fallen. Ständig beschwerte er sich über Gin und Zigaretten, über flüchtige Männerbekanntschaften und ›beabsichtigte Geldknappheit‹ – als würde so etwas existieren – und überhaupt war doch eigentlich alles an mir verachtenswert. Diese Tiraden kannte ich auswendig. Dass er nun jedoch ernsthaft mit mir reden, mir sogar zuhören wollte, war neu. Und überforderte mich in meinem derzeitigen Stadium der zögerlichen Aufwachphase, mehr als man annehmen könnte.

»Was soll ich sagen?«, fragte ich deshalb schulterzuckend. »Ich feiere am Wochenende nun einmal gern. Das ist nicht verboten. Und da kann man schon mal mit einem Kater aufwachen.«

Jonas’ Gesichtsausdruck wurde noch ungläubiger, dann lachte er plötzlich auf und warf die Arme in die Luft. »Du hast es gar nicht mitgekriegt. Das glaube ich jetzt nicht … Du bist so selbstbezogen, versoffen und abgewrackt …«

»Jonas …« Mein Augenrollen beeindruckte ihn nicht.

»… dass du die Schlagzeile der letzten Tage verpasst hast.« Er wedelte mit der Zeitung. »Die Presse, die Polizei, einfach alle reden davon.«

Er knallte die London Times mit der Titelseite nach oben auf meinen Schoß und tippte auf das Foto unter dem reißerisch medienwirksamen Titel ›Prostituierte brutal ermordet, Polizei tappt im Dunkeln‹. Meine Nackenhaare stellten sich augenblicklich auf.

»Was zum Teufel …«, entfuhr es mir und ein Hustenanfall schüttelte mich, weil ich mich vor Schreck am Zigarettenrauch verschluckt hatte. Ungläubig blinzelnd riss ich die Zeitung an mich und betrachtete das Bild genauer.

»42 Jahre alt, einen Meter siebzig groß, sechzig Kilo schwer, schwarzes Haar, graue Augen«, zählte Jonas die Details auf. »Na, kommt dir irgendetwas davon bekannt vor?«

Ich fixierte ihn mit erhobener Braue. Ja, das hätte eine Beschreibung von mir sein können, aber … »Willst du mir etwa sagen, ich sehe aus wie zweiundvierzig?«

Er zuckte unbekümmert mit den Schultern. »Wenn du so weitersäufst …«

Ich verkniff mir einen Kommentar und wandte mich wieder dem Foto der lächelnden Frau – oder vielmehr dem Vorher-Foto des Opfers – zu. Ihr Haar war kürzer als meines und reichte nur bis zu ihren Schlüsselbeinen und ihre Nase war länger, außerdem wirkte ihre Haut teigig und aufgequollen, doch von Weitem hätte man sie durchaus mit mir verwechseln können.

Ich spürte ein merkwürdiges Kribbeln in der Magengegend und versuchte, es mit einem kräftigen Zug an der Zigarette zu unterdrücken.

»Und jetzt?« Ich warf die Zeitung verächtlich auf den Couchtisch zu all dem anderen Müll. »Das ist nicht mehr als ein Zufall. Eine Menge Leute sehen so aus.«

Jonas presste die Lippen aufeinander und nickte wie ein Lehrer, der gerade festgestellt hatte, wie einfältig sein Schüler wirklich war. »Gibt es auch eine Menge Leute, die den gleichen Namen tragen wie du?«, fragte er, schnappte sich die Zeitung, fuhr mit dem Zeigefinger an die richtige Stelle und las vor: »Wie ein Sprecher des Metropolitan Police Service gestern verlauten ließ, handelt es sich dabei um die sterblichen Überreste von Maxine Atwood. Die zweifache Mutter und Witwe war eine ortsbekannte Prostituierte und bei der Polizei bereits aufgrund von Diebstahl, Trunkenheit und Erregung öffentlichen Ärgernisses aktenkundig.«

Okay, zugegeben, das war ein merkwürdiger Zufall. Allerdings gab es sicherlich einige Leute, die einen 08/15-Namen wie meinen trugen. Ich ließ mir meine Verwunderung nicht anmerken und versuchte mich stattdessen an einem Grinsen. »Oh, ich bin gar nicht einzigartig? Das macht mich wirklich traurig.«

»Ihre aufs brutalste verstümmelte Leiche wurde am Samstagmorgen in ihrem eigenen Bett in dem von ihr und ihrer kleinen Tochter bewohnten Ein-Zimmer-Appartement in der Brushfield Street von einem Nachbarn entdeckt«, las Jonas weiter, erst dann ließ er die Zeitung mit erschütterter Miene sinken.

»Brushfield Street? Das ist in Whitechapel …«, murmelte ich, bevor ich mich bremsen konnte.

»Kann sein. Worauf willst du hinaus?«, wollte Jonas wissen.

Wieder spürte ich dieses Ziehen. Irgendetwas tief in meinem Inneren brüllte schmerzerfüllt auf und eine sorgfältig weggesperrte Erinnerung rüttelte an ihren Gitterstäben. Aber das war unmöglich. Dieser Mord konnte nichts mit den Geschehnissen von damals zu tun haben. Es war so lange her …

Nein. Ich massierte die schmerzende Stelle, unter der mein Herz gegen die Rippen hämmerte, und ließ die Zigarette in eine halbleere Bierflasche fallen, wo sie zischend erlosch. Diese Erinnerung durfte nicht rauskommen. Sie und all die überflüssigen Gefühle, die mit ihr verbunden waren, mussten umgehend dorthin zurück, wo sie hingehörten: in den finstersten, ginüberfluteten Teil meines Gedächtnisses.

Ich bemerkte, wie stark meine Finger zitterten, als ich nach der Ginflasche griff, weshalb ich nicht den Umweg über ein Glas nahm, sondern mir die klare Flüssigkeit direkt in die Kehle schüttete. Der Alkohol breitete sich angenehm warm in meine Glieder aus, beruhigte mich allerdings wenig.

Jonas’ vorwurfsvollen Blick auf die Flasche ignorierte ich geflissentlich. Normalerweise trank ich morgens ja auch nicht, kein Grund, ein Drama daraus zu machen.

»Ich will auf nichts hinaus«, antwortete ich. »Nur ein Zufall.«

»Du denkst doch an etwas Bestimmtes, Max?« Seine intelligenten Augen waren durchdringend auf mich gerichtet. Jonas suchte in meiner Miene nach Antworten, würde aber wie immer keine finden. »Wieso kommt es mir so vor, als wollte jemand deine Aufmerksamkeit erregen oder dir drohen?« Angst mischte sich unter die Neugier, als ihm eine dritte Möglichkeit einfiel: »Hat dich der Mörder mit dieser Frau verwechselt? Will dich vielleicht einer umlegen?«

»Miss dem Ganzen keine überzogene Bedeutung bei, es ist nur ein …«

»Dein Gesicht ist leichenblass. Gib es zu, du glaubst selbst nicht an einen Zufall.« Er drückte mir freundschaftlich den Arm. »Bitte sag es mir, wenn du in Schwierigkeiten steckst. Ich kann dir helfen.«

Ich schaute ihm einen Herzschlag lang abwägend ins Gesicht. War heute der Tag, an dem ich ihm alles erzählen würde?

Ich war nie das gewesen, was man gemeinhin als ›gute Freundin‹ bezeichnete. Nicht einmal, wenn man das ›gut‹ durch ein ›gerade noch wert, so genannt zu werden‹ ersetzte. Dennoch hatte ich jemanden, der für mich da war und den ich ›Freund‹ nennen durfte – verrückt … Vor allem, weil sich unsere Freundschaft eher wie ein schlechter Scherz anhörte: Eine abgewrackte Gefallene, die wegen Mordes aus der Oberwelt verbannt worden war und ein moralisch mustergültiger Dämon, der sich seit seiner Flucht aus der Unterwelt als vollwertiger Mensch ansah, vertraten das Gesetz in der Menschenwelt …

Ich zeigte es selten und auch wenn er definitiv eine bessere Freundin verdiente: Ich war froh, dass ich zumindest einem Kerl auf der Welt nicht völlig gleichgültig war. Und genau deshalb musste ich Jonas aus meinem Scheiß heraushalten. Er kümmerte sich schon genug um mich, unnötig, ihn zusätzlich mit meiner Vergangenheit zu belasten. Er würde mir ohnehin bloß helfen wollen und wäre danach frustriert, weil er das nicht konnte. Niemand konnte das. Außerdem hatte ich keine Lust darauf, diesen alten Müll aufzurollen …

Also winkte ich betont unbekümmert ab. »Ich bin blass, weil ich – im Gegensatz zu dir – weiß, wie man feiert.« Grinsend zwinkerte ich ihm zu. »Du solltest dich mal wieder volllaufen und flachlegen lassen, dann würdest du verstehen, wie man einen Tag lang die Nachrichten verpassen kann.«

Er hob die Brauen. »Ich bin verlobt, wie du dich vielleicht erinnerst.«

»Und deshalb darfst du keinen Spaß haben?«

Er klopfte mir mit einem süffisanten Grinsen auf die Schulter. »Die Leiche ist am Samstagmorgen gefunden worden. Heute ist Montag.«

»Ach so.« Ich warf einen Blick aus dem Fenster. Die Sonne, die hoch am Himmel stand, deutete darauf hin, dass es bereits nach Mittag war. Mist. Wenn wir heute tatsächlich Montag hatten, war ich verdammt spät dran …

»Seit dieser Sache versuche ich, dich zu erreichen«, fügte Jonas vorwurfsvoll hinzu. »Seit zwei Tagen, Max! Gehst du überhaupt nicht mehr an dein Handy?«

»Nein, eher selten, Mum. Die meisten Leute, die mich anrufen, sind tierische Nervensägen.« Dabei fielen mir spontan zwei solcher Menschen ein: mein Vermieter und meine einzige Klientin. Stöhnend massierte ich mir die pochenden Schläfen. »Ich sollte mich allmählich an die Arbeit machen.« Um mir beide vom Hals zu halten und gleichzeitig Jonas loszuwerden, fügte ich in Gedanken hinzu.

Er hob die Brauen. »Du hast tatsächlich noch Klienten?«

»Verzieh dich endlich, Jonas.«

Als er mich weiterhin nur kopfschüttelnd beäugte, überlegte ich, ob ich schlichtweg aufstehen und ihn sitzenlassen sollte, aber ich traute meinen Beinen nicht. Wenn sie so wacklig waren wie meine Hände zittrig, würde ich wohl eher davonkriechen müssen. Also entschied ich mich zunächst für ein zweites Frühstück, griff nach der Zigarettenschachtel und steckte mir eine Kippe an. Den Rauch blies ich meinem ehemaligen Assistenten provozierend ins Gesicht. Es wirkte.

»Dir ist einfach nicht zu helfen.« Er erhob sich und machte zwei Schritte auf die Tür zu, bevor er erneut stehenblieb, sich umdrehte und vage um sich zeigte. »Du hattest doch mal eine Putzfrau. Wo ist die abgeblieben?«

Eigentlich war Darlene meine Mitbewohnerin gewesen – als ob ich mir das Appartement und dann noch eine Putzfrau leisten könnte! Sie kam über eine Agentur zu mir, kümmerte sich eine Weile um unsere Behausung, die gleichzeitig mein Büro war, hatte aber bald schon die Nase voll davon. Und da die Agentur niemand Neues schickte, hatte sie dort wohl keine besonders gute Bewertung für mich hinterlassen … Das musste Jonas jedoch nicht wissen.

Ich schaute mich in dem Dreckloch, das mein Vermieter als ›Wohnung‹ bezeichnete, kurz um. Es gab Behausungen, in denen mehr Abfall auf dem Fußboden als im Mülleimer liegen musste – das gehörte in derartigen Preislagen nun einmal zum guten Ton. Davon abgesehen wurde heutzutage alles doppelt und dreifach verpackt, sodass ein ordentlicher Haufen Müll gar nicht zu vermeiden war.

»Keine Ahnung«, antwortete ich schulterzuckend. »Vielleicht hat sie im Lotto gewonnen und lebt jetzt in einem Stelzenbungalow auf Borneo.«

»Vielleicht wurde sie von einer Mülllawine begraben und verwest hier irgendwo. Würde den Geruch erklären«, murmelte Jonas.

»Bist du jetzt endlich fertig mit deinen Vorträgen und kümmerst dich um deinen eigenen Kram?« Ich funkelte ihn zornig an. »Du arbeitest nicht mehr hier. Wieso kommst du also immer wieder her?«

»Das weiß ich allerdings auch nicht.« Er drehte sich um und marschierte zum Ausgang. »Schließ ab jetzt gefälligst deine verdammte Tür ab.«

»Vergiss dein Revolverblatt nicht.« Ich griff nach der Zeitung, um sie ihm nachzuwerfen, blieb jedoch an dem Foto meiner Doppelgängerin hängen.

Maxine Atwood – sie hatte das Alter, den Beruf, den Background und wohnte in der Gegend … So gern ich wollte, ich konnte es nicht ignorieren. Ein eisiger Schauer glitt über meinen Rücken und ich zuckte ungewöhnlich schreckhaft zusammen, als die Tür hinter Jonas ins Schloss fiel.

Erneut griff ich nach der Ginflasche, im Versuch die aufkommenden Gefühle zu betäuben und die uralte Erinnerung zurückzudrängen. Hundertdreißig Jahre waren inzwischen vergangen. Es musste ein bizarrer Zufall sein. Oder ein Trittbrettfahrer.

»Reiß dich zusammen«, fauchte ich mich selbst an. »Stell dich nicht an wie ein kleines, ängstliches Schulmädchen!«

Ich pfefferte die Zeitung abfällig in eine Ecke, angelte die Fernbedienung vom Couchtisch und schaltete den Fernseher an, um mich abzulenken.

»Die Frau wurde am Samstagmorgen in ihrem Appartement tot aufgefunden«, berichtete der Nachrichtensprecher, ein junger Mann mit krummer Nase und schütterem Haar. »Aufgrund der entstellenden Verletzungen im Gesicht geht die Polizei davon aus, dass sich der Mörder und sein Opfer gekannt haben …«

Brummend schaltete ich die Glotze ab, warf die Fernbedienung zur Zeitung in die Ecke und ließ die Zigarette in die zum Aschenbecher umfunktionierte Bierflasche fallen. Dann machte ich mich schwankend auf ins Badezimmer. Die Arbeit rief und zum ersten Mal seit langem war das etwas Gutes. Sie würde mich auf andere Gedanken bringen.

Der Wind fegte scharf durch die Straße und wirbelte die vertrockneten Blätter eines Baums am Wegesrand auf. Fröstelnd zupfte ich am Kragen meines Trenchcoats. Herbst in London. Das war nicht anders als Frühling, Sommer oder Winter in London. Wenn es nicht stürmte, schneite es. Wenn es nicht schneite, dann regnete es. Und wenn es nicht regnete, zog Nebel auf.

Immerhin war stets das richtige Wetter für Trenchcoat und Hut, was glücklicherweise auch wieder en vogue war. Nicht, dass ich ein Faible für Mode gehabt hätte, dieses Outfit war nur schon seit über fünfzig Jahren meine Berufskleidung – in dieser Hinsicht war ich altmodisch. Und wie eine Detektivin auszusehen war doch sehr viel unauffälliger, wenn es plötzlich jeder tat.

Meine Finger zitterten, als ich in meinem Kaffee rührte. Ich konnte nicht genau sagen, ob es vom Alkoholentzug oder von der Grübelei kam. Dieser Mord verursachte eine innere Unruhe in mir, wie ich sie lange nicht gespürt hatte, weshalb ich mit aller Kraft versuchte, nicht daran zu denken.

Stattdessen konzentrierte ich mich auf das unbequeme Stahlgestell des Stuhls, auf dem ich saß, den ungenießbaren Kaffee, an dem ich seit einer halben Stunde nippte und die Menschen, die mit gestressten Mienen vorbei an dem kleinen Café, vor dem ich saß, über den Bürgersteig hasteten.

Einige von ihnen waren ganz unterhaltsam. Zum Beispiel dieser Kerl mit der Lederjacke und dem Rattengesicht. Schon als ich ihn um die Ecke biegen sah, wusste ich, was er vorhatte. Gut zu wissen, dass mein Instinkt noch funktionierte, auch wenn ich ihn so gut wie nie gebrauchte. Wie ich nicht anders erwartet hatte, rempelte er eine ältere Frau an und zog das Portemonnaie aus ihrer Handtasche, während er sich wortreich bei ihr entschuldigte. Die Dame nickte lächelnd und zockelte unbeschwert weiter.

Ich schaute dem Kerl nach, bis er um die nächste Ecke gebogen war, wo er vermutlich ein neues Opfer im nachmittäglichen Gewimmel der Shoppingverrückten fand, dann warf ich mal wieder einen Blick auf das hässliche Bürogebäude gegenüber. Schließlich saß ich wegen meiner Zielperson hier. Alles andere war nicht mein Business.

Früher wäre ich aufgesprungen und dem Rattengesicht in bester Superheldenmanier nachgelaufen, um das Portemonnaie zurückzuholen und der Gerechtigkeit Genüge zu tun. Nun ja, die Zeiten änderten sich. Ich war eben nicht mehr die heroische Soldatin wie einst in der Oberwelt, sondern lediglich eine Versagerin, die versuchte, irgendwie in diesem stinkenden Dungepfuhl zu leben, bis mein Körper endlich gegen den Gin aufgab. Und was konnte ich mir schon von solcherlei Aktionen kaufen? Bei der alten Dame wäre nicht mehr drin als ein feuchter Händedruck und ein halbgares Dankeschön. Und dafür hätte ich meinen Posten, für den ich bezahlt wurde, verlassen sollen? Eine unsinnige Rechnung.

Ich nippte noch einmal an dem bitteren Kaffee, verzog das Gesicht und kramte daraufhin mein Smartphone aus der Jackentasche. Welch wunderbare neue Technik – für Fotos von meiner Zielperson musste ich keine Kamera mehr mit mir herumschleppen. Zumal die Ehefrau dieses Idioten den Unterschied ohnehin nicht erkennen würde. Sie merkte schließlich ebenfalls nicht, dass ich sie gehörig über den Tisch zog.

Es brach nun bereits die dritte Woche an, in der ich dem Fettwanst nach Feierabend auflauerte und in den Pub folgte. Es war immer dasselbe: Punkt siebzehn Uhr verließ er den hässlichen grauen Betonklotz von Bürogebäude, schlenderte in den Pub zwei Straßen weiter, genehmigte sich dort vier Pints und wankte daraufhin nach Hause. Ich machte jeden Tag exakt fünf Schnappschüsse – drei auf dem Weg und zwei im Pub. Ich blieb schon gar nicht mehr, bis er sich auf den Nachhauseweg machte, denn es war offensichtlich, dass dieser grässliche Fladen von einem Mann keine Affäre hatte. Ich fragte mich ernsthaft, wie seine Frau auf die absurde Idee kam, eine andere wäre blind und taub genug, sich von ihm besteigen zu lassen.

Wie auch immer, es war mir gleichgültig. Sie hatte mich aus diesem eifersüchtigen Grund engagiert und ich beschwerte mich nicht, denn immerhin konnte ich täglich vier Stunden Arbeit auf die Rechnung setzen. Damit wurden alle Parteien glücklich.

Der Kerl, der sich an das Tischchen nebenan gesetzt hatte, raschelte mit seiner Zeitung. Das Geräusch fuhr regelrecht in all meine Nervenenden, sodass ich mich schmerzerfüllt wand und das Gesicht verzog. Augenblicklich erschien das Foto meiner Doppelgängerin vor meinem inneren Auge und mein Herz begann, schneller zu schlagen.

Anscheinend konnte ich noch so oft versuchen, die Geschichte auszublenden, sie ließ sich nicht vertreiben. So ein Mist. Demnach blieb mir nichts anderes übrig, als in den Angriff überzugehen. Ich würde mich davon überzeugen müssen, dass das eine nichts mit dem anderen zu tun hatte. Ich würde für mich selbst klarstellen müssen, dass meine tödliche Unfähigkeit, die nicht nur Menschenleben gekostet, sondern meine gesamte Zukunft zerstört hatte, nichts weiter als eine ferne Erinnerung war. Ich konnte sie getrost in die dunklen Ecken meines Verstandes zurückdrängen und sie musste nie wieder herauskommen. Vorher ließen mich die Gedanken wohl nicht mehr los.

Seufzend rief ich die Kontakte in meinem Handy auf und scrollte mich zu Brians Nummer durch. Brian Hutchins war Detective Chief Superintendent, mein wichtigster Kontaktmann bei der Metropolitan Police und er stellte keine Fragen. Zumindest so lange wie ich … nun, nennen wir es ›freundlich‹, so lange wie ich freundlich zu ihm war.

Ich fragte mich oft, wieso er sich derart von mir um den Finger wickeln ließ, aber er würde mir bei einem unserer Dates garantiert gern mehr über den Fall erzählen. Und über die andere Maxine Atwood – Mutter und Prostituierte, Alkoholikerin und verlorene Seele …

Mich fröstelte. Ich hatte sehr viel mehr Gemeinsamkeiten mit dem Opfer, als ich zunächst angenommen hatte. Sehr viel mehr, als mir lieb war.

Ich atmete tief durch, als ich Brians Nummer anwählte und zuckte regelrecht zusammen, als er nach drei Mal Klingeln ranging. Was war nur los mit mir? Ich verhielt mich wie ein ängstliches Kind – das musste sofort aufhören.

»Hallo, schöne Frau«, raunte Brian und verfiel in eine übertrieben kehlige Tonlage. »Endlich rufst du zurück.«

Er hatte ebenfalls versucht, mich zu erreichen? Auch seine Versuche waren an mir vorbeigegangen. »Hattest du Sehnsucht nach mir?«

»Jede Nacht«, erwiderte er.

Ich gebe zu, ich konnte diesen Kerl gut leiden. Es war angenehm, Zeit mit ihm zu verbringen. Er war zuvorkommend, lustig und ein weitaus weniger selbstbezogener Liebhaber als die meisten anderen Männer, die ich traf.

»Aber das war dieses Mal nicht der Grund. Sondern Maxine Atwood, das Mordopfer von Samstagmorgen.«

Wenn das kein Zufall war. »Ihretwegen rufe ich an – ich würde gern den Bericht des Rechtsmediziners lesen.«

Brian zögerte. Er zierte sich, wie immer, wenn ich ihn um solcherlei Dinge bat. Aber wir wussten beide, dass er früher oder später einknicken würde. »Das ist nichts für schwache Mägen, Süße.«

Ich rollte mit den Augen. Für den harten Inspector spielte ich oft das hilfsbedürftige Mädchen, weil er irgendwie darauf stand, aber ich hasste es, wenn er mich Süße nannte. Ich war eine zweihunderteinundzwanzigjährige Soldatin aus einer anderen Welt, Himmelherrgott, und dieser Mensch nahm mich einfach nicht für voll.

Ob es das war, was ihn dazu brachte, mir immer wieder so freigiebig Ermittlungsdetails zu verraten? Er glaubte, dass ich Detektivin geworden war, weil ich mich nach ein bisschen Action in meinem trüben Langweilerleben sehnte, und wollte mich deshalb mit seinem spannenden Polizistendasein beeindrucken. Nun ja, wenn es mir half, um an Informationen zu kommen, sollte er das ruhig denken.

»Sag es mir lieber gleich: Hat diese Sache irgendetwas mit dir zu tun?« Seine Stimme nahm den strengen Klang eines Polizisten an. »Ich meine, der gleiche Name, das ähnliche Äußere … Hast du dir Feinde gemacht? Du kannst mit mir reden, Max.«

»Garantiert nicht. Der Name ist purer Zufall, hat mich aber selbst neugierig gemacht. Und du weißt, ich unterstütze die Polizei immer gern bei ihren Ermittlungen.«

»Aha … Nun ja, dafür sind wir natürlich dankbar, aber es geht hier um Mord und …«

Er zögerte erneut und ich konnte es ihm nicht einmal verdenken. Ich war vielleicht eine gute Detektivin gewesen, irgendwann, vor ungefähr hundert Jahren. Heute konnte ich an manchen Tagen nicht einmal meine eigenen Schuhe finden, geschweige denn einen Mörder.

»Ich werde mich nicht einmischen, ich möchte nur ein wenig mehr über die Frau mit meinem Namen erfahren. Du weißt, du kannst mir vertrauen.«

»Das ist keine gute Idee, Süße. Die Sache ist echt übel.«

»Komm schon, Brian«, bettelte ich mit meiner verführerischsten Mädchen-Stimme. »Ich wäre dir wirklich dankbar. Und damit meine ich äußerst und langanhaltend dankbar. Wie lange habe ich eigentlich nicht mehr für dich gekocht?«

Die Antwort lautete: noch nie. Aber wir beide wussten, was der Code bedeutete.

Er sog scharf die Luft ein. »Ich sehe, was ich tun kann. Aber denk nicht mal daran, auf eigene Faust zu ermitteln, Maxine. Wir haben alles im Griff, verstanden? Wir sind die Polizei.«

»Geht klar. Danke, Süßer.« Ich grinste, bis ich bemerkte, wie meine Zielperson gegenüber von mir das Bürogebäude verließ. »Scheiße, ich muss auflegen.«

Ich beendete das Gespräch, schoss einige Fotos von dem untersetzten Kerl mit Schnauzer und folgte meiner Zielperson schließlich in einigem Abstand in den Pub. Das Ecklokal war sehr viel größer, als es von außen den Anschein machte, und die Einrichtung bestand fast ausschließlich aus dunklem Holz und buntem Glas – man fühlte sich beinahe wie in einer Kirche. An der Theke bestellte ich einen Gin Tonic und setzte mich damit in die hinterste Ecke des Raumes, von wo aus ich den Kerl beobachten und zwei weitere Bilder schießen konnte. Damit war die Arbeit für heute erledigt. Zufrieden nippte ich an meinem Drink.

 

***

 

Ungefähr eine Stunde und zwei Gin Tonic später beobachtete ich den Kerl immer noch. Keine Ahnung wieso. Er saß ganz friedlich da und presste sich ein Pint nach dem anderen rein. Der Typ schien ein noch größeres Problem zu haben als ich. Wie es aussah, waren sein Leben und seine Ehe nur im Suff zu ertragen. Aber ich würde mich hüten, meine Meinung kundzutun. Das war schließlich nicht meine Angelegenheit. Ich war Detektivin, keine Eheberaterin, wurde für Fotos bezahlt, nicht für meine Meinung. Und die Zeit, in der mir die Leute nicht gleichgültig gewesen waren, war längst vorbei.

Nach der Verbannung aus meiner Heimat hatte es eine Phase gegeben, da wollte ich den Menschen ernsthaft helfen. Nicht nur aus Nächstenliebe, sondern weil ich darin meine einzige Chance gesehen hatte, nach Hause und zu meiner Familie zurückzukommen. Es wäre meine Strafe und meine Chance, hatte König Edwin gesagt. Wenn ich meine Verfehlung wiedergutmachte, indem ich die Menschen beschützte, ihre Welt von Unheil befreite, dann würde er mich begnadigen.

Und das alles wegen einer Tat, die ich nicht begangen hatte … Dennoch fügte ich mich meinem Schicksal, wollte das Elend in der Menschenwelt aufhalten, aber sie waren nicht mehr zu retten. Genauso wenig wie ich selbst.

Ich hatte versagt, damals, als dieses Monster London terrorisiert hatte. Ich konnte den Menschen nicht helfen. Ich konnte ja nicht einmal mir selbst helfen.

Ich trank eben mein Glas leer, da kündigte mein Handy eine neue E-Mail an. Sie war von Brian. Mit klopfendem Herzen nahm ich das Gerät vom Tisch und las die Nachricht.

Max, ich warne dich, diese Sache ist nichts für schwache Nerven ...

Er schickte mir den Bericht wohl aus dem einfachen Grund, dass dieser mich abschreckte, mich davon abhielt, der Sache weiter nachzugehen, und ich somit der Metropolitan Police nicht mit meinen eigenen Ermittlungen in die Quere kam. Allerdings hatte ich gar nicht vor, in einem Mordfall zu ermitteln. Schließlich hatte ich weder die Möglichkeiten eines Polizeibeamten noch wurde ich dafür bezahlt. Ich wollte lediglich Gewissheit …

Ich tippte auf den ersten der beiden Anhänge, es war ein Auszug des Tatortberichts, und begann zu lesen:

Der Leichnam liegt nackt in der Mitte des Bettes, der linke Arm nah am Körper, Unterarm über dem Unterleib, der rechte Arm leicht abgespreizt und ausgestreckt, Finger verkrampft, Beine gespreizt.

Die gesamte Oberfläche des Unterleibs und der Schenkel wurden entfernt sowie die inneren Organe der Bauchhöhle entnommen. Die Brüste wurden entfernt, die Arme durch mehrere gezackte Wunden verstümmelt und das Gesicht bis zur Unkenntlichkeit zerschnitten. Das Gewebe des Halses wurde bis auf den Knochen rundherum komplett abgetrennt.

Die inneren Organe sind im Raum verteilt: Gebärmutter, Nieren und eine Brust unter dem Kopf, die andere Brust neben dem rechten Fuß, die Leber zwischen den Füßen, die Gedärme auf der rechten und die Milz auf der linken Seite des Körpers, die vom Unterleib und von den Schenkeln entfernten Hautlappen auf einem Tisch.

Der Bettbezug ist in der rechten Ecke mit Blut durchtränkt und auf dem Boden darunter befindet sich eine Blutlache. Die Wand auf der rechten Seite des Bettes, in einer Linie über dem Hals, ist mit einigen Spritzern verschmiert.

Ich legte das Handy mit dem Display nach unten auf den Tisch, schluckte und atmete tief durch, um die aufkommende Übelkeit zu vertreiben. Das Bild, das sich durch diese nüchternen Worte in meinem Kopf geformt hatte, war ein Gemälde des Grauens. Und schlimmer noch: Es befreite eine längst verdrängte Erinnerung, platzierte das Opfer auf einem alten Holzbett, gab ihm blondes, blutverkrustetes Haar …

Ich schüttelte den Kopf, verscheuchte die Gedanken und atmete noch einmal durch, ehe ich die zweite angehängte Datei öffnete. Dabei handelte es sich um die Untersuchung des Gerichtsmediziners.

Das Gesicht weist zahlreiche, tiefe Einschnitte auf. Nase, Wangen, Augenbrauen und Ohren wurden teilweise entfernt. Der Hals wurde bis auf die Rückenwirbel durchtrennt, die Hauteinschnitte an der Vorderseite zeigen ausgeprägte Ekchymose, die Luftröhre ist am unteren Teil des Kehlkopfes eingeschnitten.

Beide Brüste wurden durch kreisförmige Schnitte entfernt. Die Brust- und Bauchwand wurde zwischen vierter, fünfter und sechster Rippe durchtrennt, wodurch der Inhalt des Brustkorbes sichtbar ist. Beim Öffnen desselben stellte sich heraus, dass ein Teil der Lunge zerstört und weggerissen, der Herzbeutel unterhalb geöffnet ist und das Herz fehlt.

Ich konnte nicht weiterlesen. Ich sprang auf, stürzte zu den Toilettenräumen, warf mich vor einem der Klos auf die Knie und würgte. Ich hatte heute nicht viel mehr als eine Handvoll Chips, Kaffee und Gin zu mir genommen, es kam mir also nur saure, brennende Flüssigkeit hoch. Mein Magen krampfte derart, dass ich das Gefühl hatte, er versuchte, sich aus meinem Körper zu winden. Außerdem brach kalter Schweiß auf meiner Stirn aus. Und zu allem Überfluss fühlte ich mich urplötzlich stocknüchtern.

Als nichts mehr hochkommen wollte, ließ ich mich auf die kalten Fliesen sinken, lehnte mich an die Trennwand und konzentrierte mich aufs Atmen. Ich schnaufte, als hätte ich einen Marathon hinter mir. Fühlte mich auch ein wenig so.

Ich besaß keinen schwachen Magen. In meinem langen Dasein hatte ich schon viel erlebt und viel gesehen, vor allem in meiner Zeit als Soldatin.

Die Menschen nannten die Welt, aus der ich stammte und verbannt wurde, Himmel oder Oberwelt. In der festen Überzeugung, dort gäbe es einen Kerl namens Gott und es herrschte ewiger Frieden. Das konnte ich nicht bestätigen. Vielleicht hatten wir manches mit diesen sogenannten Engeln gemeinsam, aber vor allem waren wir unserem Herrscher gegenüber loyal. Auch in meiner Welt gab es mehrere Könige und demnach Kriege. Schlachten, die weitaus grausamer und blutiger waren als diejenigen, die ich seit hundert Jahren in der Menschenwelt beobachtete. Im Grunde sah ich schon mein ganzes Leben lang dabei zu, wie sich Leute die Köpfe einschlugen und zu was sie anderen gegenüber fähig waren. Es waren nicht das verstümmelte Opfer oder die Tat an sich, die mir den Magen umdrehten – es war die Tatsache, dass ich die Vorgehensweise des Täters wiedererkannte.

1888 war schon einmal eine Frau auf die gleiche Weise aufgefunden worden. Ihr Name war Mary Jane Kelly. Sie war das letzte Opfer eines Monsters, das ›Jack the Ripper‹ genannt wurde. Diesem Mistkerl hatte ich es zu verdanken, dass ich nie wieder nach Hause zurückdurfte, geschweige denn meinen Frieden finden würde. Ich hatte kein anderes Wesen jemals derart gehasst wie ihn.

Ich atmete tief ein, tief aus, und versuchte, die Erinnerung fortzuschieben. Wie so oft, wenn ich mit dem Ripper konfrontiert wurde. Das Perverse an der Sache war, dass die Menschen heute noch von ihm fasziniert waren. Er war ein Mysterium, ein Geist – und ihren Leben so fern, wie es nur irgendjemand sein konnte. Ich würde mich nicht wundern, wenn sich ein beliebiger Idiot diesen Geisteskranken zum Vorbild genommen hätte.

Oder konnte es sein …? Nein! Der echte Ripper war nicht wiedergekehrt. Wo sollte er denn die vergangenen einhundertdreißig Jahre gesteckt haben? Es musste ein Trittbrettfahrer sein. Kein Mensch wurde so alt und kein Gefallener oder Dämon konnte sich so lange vor mir verstecken. Dafür hatte ich zu gute Quellen.

Schwankend hievte ich mich hoch, dann torkelte ich zurück zu meinem Platz, um mein Handy einzusammeln, und verließ schließlich den Pub in Richtung meiner Wohnung.

 

***

 

Bereits an der Haustür hörte ich Bonds zornige Stimme und das Geräusch seiner hämmernden Fäuste an meiner Wohnungstür. Anders als der Name vermuten ließ, war Ralph Bond kein schnittiger, gutaussehender Agent im Anzug, sondern vielmehr ein übergewichtiger Mann im schmuddeligen Mantel, der sich vielleicht einmal im Monat rasierte. Was etwas merkwürdig war, wenn man bedachte, wie viele Gebäude er in der Gegend um die U-Bahn-Station Angel in Islington besaß.

Als ich eingezogen war, hatte ich es fast schon poetisch gefunden, hier zu leben. Als Gefallene aus einer Welt, in der die Menschen geflügelte Wesen namens Engel vermuteten … Allerdings spielte die Wohnlage keine Rolle, wenn man nicht mehr fähig war, die Miete rechtzeitig zu bezahlen. Ob man nun ein Engel war oder nicht.

»Ich weiß, dass du da drin bist, Maxine!« Bonds Stimme schallte vom zweiten Stockwerk herab. »Mach die Tür auf!«

Ich hatte definitiv keine Lust, da jetzt hochzugehen.

»Am Freitag hab ich deine Miete, ist das klar? Sonst breche ich die Tür auf und befördere deinen knochigen Arsch höchstpersönlich hier raus, kapiert? Und nimm endlich dieses stinkende Ding von deiner Matte!«

Stinkendes Ding? Mir schwante Böses, allerdings war es zunächst an der Zeit, mich unsichtbar zu machen. Langsam ging ich aus der Tür und huschte auf die andere Straßenseite, wo ich mich an einen Zeitungskiosk stellte, die Mütze in die Stirn zog und so tat, als studierte ich die Cover der Zeitschriften, während ich die Haustür beobachtete.

Es dauerte nicht lange, da stürmte Bond aus der Tür. Ich könnte schwören, er hatte Schaum vorm Mund und seine Augen glühten rot. Allerdings waren der Vermieter und sein Vorhaben, mich zu erwürgen, momentan meine geringste Sorge.

In weiser Voraussicht hatte ich auf dem Heimweg eine Flasche Gin erstanden, in der festen Absicht, den heutigen Tag aus meinem Gedächtnis zu tilgen. Und morgen, wenn ich verkatert erwachte, war das alles nicht passiert. Ich wollte es nicht noch einmal erleben, konnte es einfach nicht.

Mein Blick glitt zu den Zeitungen. Auf drei von fünf Titelseiten stach mir das Foto meiner Namensschwester ins Auge und ließ einen eisigen Schauder über meinen Rücken fahren. Keuchend wandte ich mich ab und marschierte zu dem großen, wenig englisch anmutenden Betonklotz hinüber, in dem ich lebte. Den Briefkasten ließ ich Briefkasten sein, für gewöhnlich erhielt ich ohnehin keine erfreulichen Nachrichten, und stapfte die Treppe in den zweiten Stock hinauf.

Je näher ich kam, desto deutlicher roch ich ›das stinkende Ding‹. Es war ein Geruch, den ich nicht sofort einordnen konnte, der mir aber grauenhaft bekannt vorkam. Unwillkürlich stellten sich die Härchen an meinen Armen auf.

Ich konnte nichts dagegen tun, meine Beine bewegten sich von selbst, obwohl ich mich am liebsten umgedreht und aus dem Staub gemacht hätte. Und nie mehr wiedergekommen wäre. Wie ferngesteuert ging ich zu meiner Wohnungstür und bückte mich zu dem Päckchen aus grauem Papier, das fein säuberlich mit brauner Paketschnur umwickelt war. Ich wollte es eben hochheben, da sah ich es: Ein Wort in ordentlich geschwungener Handschrift befand sich in der oberen rechten Ecke des Pakets. Ich fror vor meiner Wohnungstür förmlich ein.

Die Handschrift erkannte ich nicht, das hatte ich nie, denn sie war verstellt gewesen. Doch stets hatte dieses eine Wort in der oberen rechten Ecke jedes Pakets, jedes Briefs, jeder Postkarte gestanden.

 

Überraschung!

 

Alles in mir wurde kalt und taub. Ich wusste nicht, wie lange ich das Päckchen anstarrte, bis ich es endlich in die Hände nehmen und damit in die Wohnung gehen konnte.

Ich wusste, was sich darin befand. Da konnte ich noch so sehr hoffen, dass ich mich irrte.

2. Spiel mit mir

Ich stellte das Päckchen und die Ginflasche nebeneinander auf den Couchtisch und beäugte beides im Wechsel. Dann beschloss ich, mir ein Glas zu holen.

Ich bewegte mich wie im Nebel, kurzzeitig überlegte ich sogar, ob ich bloß träumte und wie ich mich dazu bringen könnte, aufzuwachen. Ohne recht mitbekommen zu haben, dass ich zum Küchenschrank gegangen war, setzte ich mich auf die Couch, füllte das Wasserglas mit Gin und trank einen kräftigen Schluck. Dann nahm ich meine Schiebermütze ab, streifte den Trenchcoat über meine Schultern und legte beides über die Sofalehne.

Das Päckchen ließ ich dabei keinen Moment aus den Augen. Die Anwesenheit dieses Dings war unangenehm, fast unheimlich. Ich konnte den Blick nicht davon abwenden, als würde es zubeißen, wenn ich wegsah. Wer weiß, vielleicht täte es das sogar.

 

Überraschung!

 

Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, die ordentliche, geschwungene Handschrift gehörte einer Frau. Vor allem nach den Punkten über dem Ü zu urteilen, die aussahen wie kleine Kringel.

 

Überraschung!

 

Das wirklich Überraschende daran war, dass es mich nicht sonderlich überraschte. Es gab keinerlei plausible Gründe für das, was hier geschah, und doch hatte ich das Gefühl, es hatte so kommen müssen. Verrückt …

Ich trank einen weiteren Schluck Gin, atmete tief durch und griff schließlich nach der Schnur. Vorsichtig löste ich den Knoten und wickelte das Paket auf. Ein bestialischer Gestank stach mir in die Nase und ätzte sich in meine Lungen. Metallisch und beißend zugleich – Blut und Alkohol. Eine Kombination, die mir schon damals den Magen umgedreht hatte.

Ich zog das Papier auseinander, blickte ins Innere des Päckchens und war wieder nicht sonderlich überrascht. Angeekelt, aber nicht überrascht. In einer durchsichtigen Plastikbox mit Luftlöchern lag ein blutiges, fleischiges Etwas, das seinem Geruch nach in Alkohol eingelegt gewesen war. Ich musste nicht Sherlock Holmes heißen, um darauf zu kommen, dass dies das Herz war, das im Leichnam der anderen Maxine Atwood fehlte.

Er hatte es aus ihrem Torso gerissen, eingelegt, verpackt und schließlich an mich geschickt. Und ich wusste auch wieso.

Ich spülte die Übelkeit mit einem großen Schluck Gin hinunter, dann nahm ich den Brief aus dem Paket und schob das Herz aus meinem Blickfeld. Ich hasste seine Geschenke. Aber mehr noch hasste ich seine Briefe. Mich fröstelte bei dem Gedanken, die widerlichen Ausgeburten seines kranken Hirns lesen zu müssen.

Das Schreiben war in derselben ordentlichen Handschrift verfasst wie das Wort Überraschung und die Adresse. Die ausladenden Lettern des 19. Jahrhunderts gehörten der Vergangenheit an, dennoch fühlte ich mich in frühere Zeiten versetzt. Denn am Inhalt, an seinen Worten, hatte sich rein gar nichts verändert.

Meine liebe Spielkameradin,

verzeih mir die lange Zeit des Schweigens. Glaub mir, dies war nicht meine Absicht, geschweige denn mein freier Wille.

Zur Wiedergutmachung, auch dafür, dass ich Dir das letzte nicht wie geplant schicken konnte, übersende ich Dir das beiliegende Herz. Es ist nicht dasselbe, ich weiß, ich bin deshalb untröstlich, aber ich hoffe, Du erkennst es als angemessene Entschädigung für meinen unhöflichen Abschied an. Mein erstes Geschenk an Dich, der Paukenschlag, mit dem ich mich zurückgemeldet habe, hat Dich leider erst spät erreicht, wie ich erfuhr. Hat es Dir denn nicht gefallen, liebste Maxine? Es hat eine Weile gedauert und ich habe keine Mühen gescheut, bis ich jemanden fand, der Deinen Namen trägt.

Ich schnaubte. »Und willst du jetzt einen Orden dafür, oder was? Widerlicher Bastard …«

Nun, ich hoffe, es war eine gelungene Überraschung. Es musste etwas Großartiges sein, nachdem unser Spiel derart rüde unterbrochen worden war. Ich gestehe, ich war sehr wütend damals, Maxine. Denn Du hast geschummelt. Du und Mary, ihr habt die Regeln verletzt. Das war so nicht vereinbart, Maxine, das weißt Du. Unser schönes Spiel, es war ruiniert! Ihr habt Saucy Jacky verspottet und damit Angry Jack erweckt. Deshalb konnte ich nicht anders, Maxine, ich musste es tun. Ihr seid slbst Schud. Valetz die Regel nich, das wießt Du dch!

Ich runzelte die Stirn. Die Schrift veränderte sich an dieser Stelle, wurde ausladender, krakeliger, und einige Buchstaben endeten mit dicken Tintenflecken. Außerdem hatte er sich in seiner Hast verschrieben. Nach dieser Passage wurde alles wieder ordentlich, als hätte er sich nur für einen schwachen Moment seiner Wut hingegeben.

Aber jetzt bin ich ja zurück. Es wird Dich freuen zu hören, dass ich mich bester Gesundheit erfreue, besser denn je, um ehrlich zu sein, und dass ich bereit bin. Ich habe einige wundervolle Partien für uns vorbereitet, liebste Maxine. Lange habe ich auf den Tag gewartet, an dem wir unser Spiel fortsetzen können …

Aber ach, was musste ich erfahren, als ich nach Dir sah? Verzeih mir die Ausdrucksweise, doch Du scheinst lediglich ein Abklatsch, eine Karikatur der Frau zu sein, die ich einmal kannte. Ist es die Trauer über den Verlust eines ebenbürtigen Gegenspielers? Darüber, den Sinn Deines hiesigen Daseins verloren zu haben? Es tut mir leid, dass Du derart leiden musstest, meine alte Freundin. Glaub mir, ich verstehe, und wäre es andersherum, es hätte ebenso mich treffen können.

Da Du noch nicht bereit bist, gebe ich Dir ein wenig Zeit, um in Deine alte Form zurückzufinden. Was wäre dieses Spiel sonst unfair! Und kein bisschen amüsant. Trödle jedoch nicht. Du weißt, ich kann es nicht leiden, zu warten.

Endlich wieder vereint.

Hochachtungsvoll, Dein Jack (the Ripper)

P.S.: Ist es nicht unterhaltsam, zu sehen, wie überfordert und planlos die Polizei ist? Wie gut, dass sich manche Dinge niemals ändern.

P.P.S.: Zur Sicherheit schlitze ich trotzdem nur Abschaum und Nutten auf. Dafür interessiert sich die Met nicht genug und wir haben unsere Ruhe, meine liebe Spielkameradin.

P.P.P.S.: Also los, spiel mit mir!

Ich legte den Brief auf den Tisch, lehnte mich in die Sofakissen zurück und starrte gegen die Wand. Am liebsten hätte ich geschrien, getobt, die Wohnung verwüstet, und innerlich tat ich das auch, doch tatsächlich konnte ich mich nicht bewegen.

Es bestand kein Zweifel daran, dass er es war. Niemand könnte seine Worte, sein gestelztes, abartig fröhliches und im nächsten Moment irrsinnig zorniges Gehabe derart perfekt imitieren. Mich fröstelte. Meine Finger fühlten sich plötzlich an wie eingefroren und ich hatte das Gefühl, ein eiskalter Wind fegte durch mein Appartement. Er brachte die Erinnerung an andere Briefe mit sich, die ich längst vergessen geglaubt, vergessen gehofft hatte.

Er hatte mich immer als seine Spielkameradin und die Morde als unser Spiel bezeichnet. Bis heute weiß ich nicht, wieso sich dieser kranke Perverse ausgerechnet mich ausgesucht hatte. Aber die viel wichtigere Frage war im Moment: Wie war es möglich, dass Jack the Ripper, das Original von 1888, urplötzlich hier und heute erschien? Wo hatte er hundertdreißig Jahre lang gesteckt? Unabsichtlich und gegen seinen Willen, wie er schrieb …

Bisher war ich felsenfest davon ausgegangen, dass der Ripper ein Mensch gewesen war. Zum einen, weil er, Großkotz in Person, der er war, nie etwas anderes angedeutet hatte. Stets erhob er sich über alle und jeden, wieso hatte er dann nie erwähnt, dass er ein Wesen aus einer anderen Welt war? Immerhin waren Dämonen und Gefallene stärker und weniger verwundbar als Menschen. Außerdem besaß mancher Dämon besondere Gaben – wie beispielsweise meine Informantin Kali, die andere Wesen identifizieren und kilometerweit lokalisieren konnte. Wieso hatte er das für sich behalten?

Zum anderen wäre mir nie in den Sinn gekommen, dass ein Dämon oder ein Gefallener mit einem Messer durch die Gegend zog und mordete. Dämonen waren, anders als die landläufige Meinung besagte, friedliche Wesen, Flüchtlinge, die in der Menschenwelt Schutz und Anonymität suchten. Aus meiner Heimat kamen dagegen zwar lediglich Verbrecher in diese Welt, doch jeder Gefallene konnte mit hundertprozentiger Genauigkeit feststellen, wo sich ein anderer seiner Art gerade aufhielt, und wenn das auf der anderen Seite der Welt war. Ich hätte ihn gespürt. So wie ich die Handvoll Gefallene spürte, die sich an verschiedenen Zipfeln der Erde befanden. Bisher war ich nie einem von ihnen begegnet.

Nachdem die Mordserie des Rippers abrupt endete, hatte ich angenommen, er wäre gestorben. Ich stellte mir nur zu gern vor, wie dieses miese Schwein vor einen Zug gestolpert oder von einem Ochsengespann niedergetrampelt worden war. Verdammt, jetzt hatte ich die Gewissheit, dass er nach wie vor putzmunter durch die Gegend spazierte. Aber warum diese lange Pause? Er liebte sein ›Spiel‹. Er hätte es nie aufgegeben, wenn es nicht unbedingt nötig gewesen wäre.

Ich schluckte. Meine Kehle war staubtrocken. Endlich schaffte ich es, mich zu bewegen, zumindest bis zu meinem Glas Gin. Trotz des flauen Magens schüttete ich die Hälfte des Inhalts in mich hinein, flutete die Erinnerungen, die an meinem Bewusstsein zupften.

Ich legte eine Hand auf mein heftig klopfendes Herz, presste die Augen zusammen und flehte denjenigen an, den die Menschen Gott nannten und der gerüchteweise in meiner Welt leben sollte, er möge diesen Wahnsinn in einen Traum verwandeln. Und mich schnellstmöglich aufwachen lassen. Natürlich hatte sich rein gar nichts geändert, als ich die Lider wieder öffnete.

Frustriert stöhnend schaute ich mich in meinem Wohnzimmer Schrägstrich Büro um und fragte mich, was ich jetzt tun sollte. Der Raum kam mir mit einem Mal sehr viel chaotischer und unaufgeräumter vor als jemals zuvor. Vielleicht lag das aber auch nur daran, dass es in meinem Kopf momentan genauso aussah. Irgendwo in meinem gedankenüberfluteten Hirn lag die Antwort vergraben, wie ich jetzt vorgehen musste. Aber wie sollte ich da rankommen? Zumal ich Jahrzehnte damit zugebracht hatte, Erinnerungen zu verscharren und ersäufen, und sich mein Gedächtnis aus Gewohnheit wehrte, irgendetwas davon rauszulassen.

Fest stand, dass ich die Sache weder ignorieren noch in Gin ertränken konnte – dadurch löste sich der Ripper nicht in Luft auf. Er mordete weiter und er erwartete, dass ich ihn jagte. Ich musste ihn jagen, sonst würde er sauer werden. Und niemand, am allerwenigsten ich, wollte, dass er wieder sauer wurde.

Er war unberechenbar und – wie ich nur ungern zugab – ziemlich gerissen, unglaublich schnell und mir stets einen Schritt voraus. Außerdem war der Kerl ein Phantom, geradezu unsichtbar. Und trotz aller neuen Technik und Ausrüstung hatte ich wenig Hoffnung, dass ihn die Polizei dieses Mal erwischen würde. Zumal er mit mir spielen wollte. Und er würde dafür sorgen, dass es unser Spiel blieb.

Ich nippte ein letztes Mal an meinem Drink, dann schüttete ich den kläglichen Rest zurück in die Flasche und schraubte den Deckel darauf. Er wollte mir Zeit geben, um zu meiner alten Form zurückzufinden? Dann sollte er lieber ein weiteres Jahr untertauchen. Oder besser zwei.

Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich zuletzt einen kühlen Kopf gehabt und einen schwierigen Fall gelöst hatte. Musste irgendwann in den Dreißigern gewesen sein. Da gab es eine Phase, in der ich mich zusammenreißen und mit meinem Schicksal abfinden wollte, aber sie hielt nicht lange an. Ohne eine reelle Chance, nach Hause und zu meiner Familie zurückzukehren, ergab in dieser Welt einfach nichts genügend Sinn, um dafür lange nüchtern bleiben zu wollen. Daher war aus mir das geworden, was der Ripper so charmant als einen Abklatsch der Frau, die ich einmal gewesen war, bezeichnete. Mir wurde schlecht bei dem Gedanken, dass ich ihm in dieser Sache zustimmen musste.

Ich hatte kaum etwas mit der Person gemein, die ich gewesen war, als ich 1888 auf den Ripper traf. Ich war erst achtzehn Jahre in der Menschenwelt, hatte noch Hoffnung mich hier beweisen zu können und begnadigt zu werden. Damals war ich eine hervorragend trainierte und ausdauernde Soldatin gewesen, mit messerscharfem Verstand und einem unbeugsamen Willen – eine lebende Waffe. Heute hockte ich mit trübem Geist auf der Couch in meiner versifften Wohnung, schaute mit ginverhangenem Blick auf die Vergangenheit und bekam meine zitternden Finger nicht unter Kontrolle. Ich hatte nicht einmal den Hauch einer Idee, was ich jetzt tun sollte. Daher stellte ich mir zunächst eine gedankliche To-do-Liste zusammen:

 

1. Nüchtern werden.

2. Alte Akten studieren.

3. Meine Kontakte abklappern.

4. Den Ripper fangen.

 

Punkt eins war nicht unbedingt schnell in die Tat umzusetzen, außerdem bereitete er mir Kopfzerbrechen. Denn jedes Mal, wenn ich zu nüchtern wurde, kam die heftige Furcht vor den Erinnerungen zurück. Ich wusste, ich brauchte den überfluteten Teil meines Gedächtnisses, um Punkt vier abzuhaken, doch alles in mir wehrte sich dagegen. Daher beschloss ich, mit Punkt zwei zu beginnen.

Ich erhob mich langsam von der Couch und wankte zu meinem Schreibtisch hinüber. Mit einem Stöhnen zog ich ihn von der Wand weg und bückte mich daraufhin zu der Heizrohrverkleidung, unter der, wie ich genau wusste, kein Heizrohr verlief. Sie war vielmehr ein unauffälliges Versteck für Wertsachen, belastende Beweise oder – in meinem Fall – unliebsame Erinnerungen. Ein Ruck, die Holzverkleidung löste sich und Dokumente kamen zum Vorschein.

Zuerst hatte ich meine Aufzeichnungen zum Ripper-Fall verbrennen wollen, doch ich hatte es nicht über mich gebracht. Eine Vorahnung? Konnte sein.

Ich stand auf, wischte alle Unterlagen von meinem Schreibtisch und legte stattdessen die Ripper-Akten darauf. Mein Herz raste, als ich die vergilbten Umschläge betrachtete, einen für jeden Mord, und das Gefühl der Schuld kehrte einem Hammerschlag gleich zurück. Mir wurde schlecht bei dem Gedanken an mein Versagen und Wut kochte in mir hoch, als ich mich an all seine Grausamkeiten erinnerte.

»Was jetzt?«, flüsterte ich und beantwortete mir meine Frage kurz darauf selbst: »Chronologisch.« Sogar in meinen Ohren klang meine Stimme ungewöhnlich leise und weit entfernt, wie durch Watte. »Geh einfach alles noch einmal durch. Vom Anfang … bis zum Ende.«

Trotz meiner Worte bewegte ich mich nicht. Mein Körper wollte nicht auf die Befehle meines Kopfes hören, stattdessen griff ich nach einem Glas, das nicht da war.

»Nüchtern werden«, erinnerte ich mich. »Du brauchst einen klaren Kopf, Maxine.«

Mit mir selbst zu reden, war eine alte Angewohnheit, die länger nicht zum Vorschein gekommen war. Ich hatte es immer dann getan, wenn ich knifflige Fälle zu lösen hatte, auf die ich mich mit voller Aufmerksamkeit konzentrieren musste. Ich merkte manchmal erst, ob ein Gedanke passte oder sich richtig anfühlte, wenn ich ihn laut aussprach.

Jonas hatte, als er noch mein Assistent gewesen war, immer mit Block und Stift neben mir gestanden, notiert, was ich murmelte, und seine eigenen Gedanken dazugeschrieben. Damit war eine Art wesenübergreifendes Mindmapping entstanden, mit dem wir so einige Fälle gelöst hatten.

Seine Hilfe hätte ich momentan gut gebrauchen können, zumal ich nicht einmal wusste, wo in meinem Chaos ein Stift zu finden war. Außerdem hatte ich das Gefühl, dass die Gedanken einfach aus meinem Kopf auf den Boden tropften und dort unaufgeschrieben verdampften. Aber ich würde ihn nicht darum bitten, zurückzukommen.

Sieben Jahre lang hatten wir zusammengearbeitet und in all der Zeit hatte ich ihm nichts von diesem ganzen Mist erzählt. Zum einen, um nicht mehr darüber nachdenken zu müssen, zum anderen, weil Jonas ein ausgeprägtes Helfersyndrom besaß. Es hätte ihn irgendwann zermürbt, dass er in dieser Sache nichts für mich tun konnte. Auch jetzt würde er mir helfen, das wusste ich. Jonas war ein guter Kerl. Und genau deshalb durfte ich ihn nicht mithineinziehen.

Der Ripper würde das Einmischen eines Assistenten sicherlich als Betrug werten und einmal mehr die Nerven verlieren. Dann wurde dieses Monster unberechenbar.

Davon abgesehen war Jonas jetzt Ian McArschlochs Assistent, woran ich selbst die Schuld trug. Ich hatte immer gewusst, dass diese beschissene Sauferei und mein Selbstmitleid alles um mich herum zerstören würden, was auch nur ansatzweise gut war. Jonas hatte recht damit gehabt, die Reißleine zu ziehen, bevor er mit mir in die Tiefe gestürzt wäre.

Natürlich wusste ich, dass ich ein Problem hatte. Ich war süchtig, nicht dämlich. Jeder Süchtige wusste, dass er süchtig war. Einsicht war nämlich entgegen der landläufigen Meinung nicht der erste Schritt zur Besserung, der Wille, etwas zu ändern, war es. Und diesen Willen hatte ich vor langer Zeit verloren. Sogar jetzt stand ich vor meinem Schreibtisch, starrte auf die Akten des Grauens und überlegte, ob ein kalter Entzug nicht noch schlimmer wäre als meine Sauferei, und ich mir stattdessen lieber eine Art kontrolliertes Trinken auferlegen sollte.

Tief durchatmend schloss ich die Augen und trat mir gedanklich in den Hintern. Der Ripper war zurück. Auf meinem Couchtisch lag ein Päckchen mit einem Brief und einem in Alkohol eingelegten menschlichen Herzen. Und ich dachte darüber nach, ob ich mir ein Glas Gin genehmigen sollte?

Bei genauerer Betrachtung passte ich heute besser in sein Beuteschema als jemals zuvor. Er tötete Frauen aus der Unterschicht, Prostituierte, Alkoholikerinnen. Und ich versteckte mich vor meinem Vermieter, weil ich das Geld für die Wohnung nicht aufbringen konnte, tauschte sexuelle Gefälligkeiten gegen polizeiliche Informationen und dachte rund um die Uhr an Gin.

Jonas hatte mir früher schon prophezeit, dass ich mein Hirn auf fatale Weise schädigte, wenn ich so weitersoff, und als Alkoholikerin eine miese Aufmerksamkeitsspanne hätte.

Sei froh, wenn du dich irgendwann überhaupt noch daran erinnerst, wie man sich die Schuhe zubindet, war sein Standardspruch gewesen.

So oft ich ihn wegen seiner Moralpredigten ausgelacht oder angeraunzt hatte, ich musste zugeben, dass er recht hatte. Vor mir lagen die Aufzeichnungen zu sechs ermordeten Frauen und ich war schon damit überfordert, deren Namen auf den Aktendeckeln zu lesen.

»Hör einfach auf zu saufen und konzentrier dich aufs Wesentliche.« Ich schüttelte den Kopf und räusperte mich. »Das kann doch nicht so schwer sein. Reiß dich endlich zusammen!«

Ich setzte mich auf meinen klapprigen Schreibtischstuhl und zog die erste Akte zu mir heran. Martha Tabram, stand in hohen Lettern auf dem Umschlag. Es war so lange her, ich erkannte meine eigene Handschrift kaum. Allerdings wusste ich noch genau, was ich finden würde, wenn ich die Akte aufschlug: eine kurze Notiz, einen Zeitungsartikel und ein verblichenes Foto vom Tatort – nachdem er gereinigt worden war. Aufgeschrieben hatte ich mir lediglich die nüchternen Fakten.

Fund der Leiche: Montag, 7. August 1888, 04:45 Uhr von einem Dockarbeiter in den George Yard Buildings. Das Opfer lag in einer großen Blutlache im Treppenhaus. Die Kleider waren hochgeschoben, enthüllten die untere Körperhälfte. Dem Opfer wurden 39 Messerstiche an verschiedenen Stellen des Körpers beigefügt, die Verletzungen wurden ihm lebend zugeführt. Mit einer zweiten Tatwaffe, vermutlich einem Dolch, wurde dem Opfer ins Herz gestochen, was laut Arzt die Todesursache war.

Mollige Frau, mittleren Alters, dunkle Haarfarbe, dunkler Teint. Geschieden, zwei Söhne. Alkoholsüchtig.

Damals konnte ich mir selbst kaum erklären, wieso ich dem Mordfall überhaupt Beachtung geschenkt hatte. Ich verbrachte meine Zeit damit, Verbrechen zu verhindern – waren sie bereits verübt, gab es nichts mehr für mich zu tun. Ich mischte mich nicht in die Ermittlungsarbeit der Polizei ein, denn schon in diesen Tagen bildete ich mir nicht ein, fähiger als ein Polizist zu sein. Doch irgendetwas war mir an Martha Tabrams Mord seltsam vorgekommen. Es musste wieder eine meiner Vorahnungen gewesen sein. Keiner wusste schließlich zu dem Zeitpunkt, dass sie die erste von sechs Prostituierten sein sollte, die ein völlig Geisteskranker auf bestialische Weise tötete.

Ich hatte damals versucht, mich von der Sache abzuwenden und darauf zu vertrauen, dass die Inspektoren Swanson und Abberline den Mord aufklären würden. Sie waren fähige Männer gewesen, deren Ermittlungsarbeit ich bereits zuvor aus neugierigem Interesse heraus verfolgt hatte. Doch dann kam Polly.

Ich schloss die Akte Tabram und griff nach einem wesentlich dickeren Umschlag mit der Aufschrift Mary Ann »Polly« Nichols. Als meine zitternden Finger die Akte aufschlugen und mein Blick auf den Brief fiel, der ganz oben lag, traf mich die Erinnerung mit voller Wucht. Mir wurde schwummrig und Übelkeit stieg in mir auf. Ich schluckte und schob die bösen Gedanken mit aller Kraft fort. Es war wie ein Reflex, ich konnte nichts dagegen tun. Dennoch zwang ich mich, das Papier aus dem Umschlag zu ziehen.

Es war das erste Schreiben des Rippers an mich. Und obwohl sich alles in mir dagegen sträubte, mich zu erinnern, und die filigranen, roten Buchstaben vor meinen Augen verschwammen, wusste ich plötzlich wieder haargenau jedes einzelne seiner Worte.

Liebe Miss Atwood,

wir kennen uns leider noch nicht, jedoch habe ich das Gefühl, wir sollten es. Der Drang begleitet mich schon lange – seit ich auf Sie aufmerksam geworden bin, um genau zu sein. Auf den ersten Blick konnte ich erkennen, dass Ihnen etwas zutiefst Tugendhaftes und Strahlendes anhaftet. Das macht Sie wohl zu meinem ultimativen Gegenstück, meiner perfekten Gegenspielerin, dem lang ersehnten Sinn in meinem Dasein.

Ich möchte mich nicht länger mit Belanglosigkeiten aufhalten, Miss Atwood. Sie fragen sich sicherlich bereits, was das alles soll. Nun, ich habe Sie als Teilnehmerin meines Spiels auserwählt. Denn ich glaube, dass von allen Menschen auf dieser unseligen Welt Sie die Eine sein könnten, die mir ebenbürtig ist. Anders als diese Einfaltspinsel von Scotland Yard. Es befriedigt mich nicht im Geringsten, mit jenen zu spielen.

Wie ich bemerkt habe, interessierten Sie sich schon vor diesem Schreiben für meine zwei ersten Arbeiten. Wie ich zu meiner Schande gestehen muss, und bitte setzen Sie mich nicht der Schmach aus und verraten mich an die Presse, liebe Miss Atwood, war der Mord an der ersten Bordsteinschwalbe nur zu Übungszwecken gewesen. An der zweiten Unglücklichen erkennen Sie schon eher mein Können. Ich freue mich darauf, Ihnen meine wahren Fähigkeiten alsbald zu präsentieren, Miss Atwood. Ich verspüre bereits jetzt eine tiefe Verbundenheit zu Ihnen.

Nun, was ist ein Spiel ohne Regeln, ohne Plan? Ich werde Ihnen natürlich Hinweise geben, um es auch für Sie spannend zu gestalten. Mein nächster Mord wird am Achten stattfinden, es wird wieder eine Unglückliche sein, eine dralle Nutte, so mag ich sie, und ich werde sie auseinandernehmen wie ein Stück Vieh.

Am liebsten würde ich sofort weitermachen, denn meine Arbeit erfüllt mich weitaus mehr, seit ich Sie kenne. Doch ich möchte fair bleiben und Ihnen Zeit geben, sich vorzubereiten. Diese hatte ich schließlich ebenfalls.

Nun, fangen Sie mich, wenn Sie können, Miss Atwood.

Hochachtungsvoll, Jack the Ripper

P.S.: Ich bin sehr angetan von der neuen Begeisterung des Volkes, was die Presse betrifft. Daher habe ich ein paar lustige Briefe für die Reporter aufgesetzt und mir einen Markennamen gegeben. Ich hoffe, das stört Sie nicht?

P.P.S.: Ich schreibe diesen Brief übrigens mit roter Tinte. Ich wollte Blut verwenden, um der Dramatik willen, doch es ist nach einer gewissen Zeit zu zäh zum Schreiben.

Die saure Galle kam mir hoch. Ich sprang vom Stuhl, hetzte ins Badezimmer, warf mich vor die Toilette und erbrach mich. Wie wollte ich den Ripper fangen, wenn mich jede Erinnerung derart überwältigte, dass ich den gesamten Tag mit Kotzen zubrachte?

In diesem Moment schämte ich mich zum ersten Mal für die Frau, die aus mir geworden war, und ich fragte mich, ob mein Schicksal wirklich seine Schuld gewesen war oder vielleicht doch meine eigene.

So viele Jahre über hatte ich den Ripper für mein Elend verantwortlich gemacht, ihn dafür verflucht, mir die Chance genommen zu haben, zu meiner Familie zurückkehren zu dürfen. Ich hatte mich derart in Schmerz und Selbstmitleid verfangen, dass ich nicht auf die Idee gekommen war, einen Teil der Schuld mitzutragen. Ich hatte mich aufgegeben. Und damit jegliche Chance zunichtegemacht, in meine Heimat zurückzukehren.

Ich spülte, zog mich daraufhin am Waschbecken hoch, stellte das kalte Wasser an und wusch mir das Gesicht. Dann betrachtete ich mich im Spiegel, zog an der laschen Haut einer Trinkerin, fuhr durch die matten, schwarzen Locken, die mein Gesicht umrahmten, und strich über die dunklen Schatten unter meinen grauen Augen.

Was Catherine wohl sagen würde, wenn sie mich heute sah? Sie würde mich kaum wiedererkennen. Mein kleines Mädchen war inzwischen einhundertsechzig Jahre alt, hatte vielleicht selbst eine Tochter, der sie niemals von ihrer verbrecherischen Mom erzählte. Ich hatte alles verpasst, fast ihr halbes Leben – das schmerzte mich von allem am meisten.

Ich sog scharf Luft ein, als mein Herz krampfte. Wir verfluchten Engel wurden rund vierhundert Jahre alt, was bedeutete, ich hatte gerade einmal gut die Hälfte meines nutzlosen Daseins überstanden. Es wurde Zeit, allerhöchste Zeit, dass ich mich aufrappelte und meinem Leben neuen Sinn verlieh.

Auch wenn mir der Gedanke kam, dass das Auftauchen des Rippers eine Chance war, mich zu beweisen und nach Hause zurückzudürfen, glaubte ich nicht wirklich daran. Es war zu spät. Und ich hatte die Forderungen König Edwins nun hundertdreißig Jahre lang ignoriert und meine Begnadigung demnach auch nicht verdient. Aber es war eine Chance auf Rache. Endlich konnte ich ihm heimzahlen, was er diesen armen Frauen, der tapferen Mary und mir angetan hatte.

Es war keine Feuersbrunst, die in mir erwachte und mich antrieb, doch ich spürte, wie irgendwo tief in meinem Inneren ein Funken aufglimmte. Das Wichtigste war nun, diesen Funken zu entzünden. Und nicht wieder in Gin zu ertränken. Ich durfte schlichtweg nicht zulassen, dass sich das Martyrium von 1888 wiederholte.

Ich ging in die Küche, suchte meine Schränke nach Schwarzteebeuteln ab und kochte mir schließlich ein starkes Gebräu auf. In der Hoffnung, damit meine eingeschlafenen Geister zu wecken und das Chaos in meinem Kopf zu entwirren. Irgendwo fand ich sogar ein paar alte Scones, von denen ich mir zwei in den Mund steckte, ehe ich mit Tasse und Keksen zurück zum Schreibtisch ging und mich setzte.

Ich verbrannte mir die Oberlippe am Tee und aß zwei weitere Scones, während ich die Akten anstarrte und darauf wartete, dass mein Verstand ansprang. Da lediglich zusammenhanglose Bilder und Gedankenfragmente durch meinen Kopf zogen und ich eine Unruhe spürte, die mich zu zerreißen drohte, wechselte ich auf die Couch und schaltete den Fernseher ein, um die neuesten Nachrichten nicht zu verpassen. Mir fielen die Augen zu und schließlich holte sich mein Körper, was er brauchte. Völlig erschöpft schlief ich ein.

 

***

 

Whitechapel 1888

Ich schlage den Mantelkragen hoch, ziehe die Melone tiefer in die Stirn und schiele um die Ecke. Nebel wabert über das Kopfsteinpflaster und die Laternen hüllen die Straße in ein so schummriges Licht, dass man kaum die eigene Hand vor Augen sieht. Das muss ich auch nicht, denn ich kann ihn hören. Seine harten Schuhsohlen hämmern über das Pflaster, während er zügigen Schrittes durch die Nacht schreitet. Als er direkt unter einer Laterne hindurchgeht, erkenne ich die Umrisse seines langen Mantels und des Zylinders auf seinem Kopf.

Langsam schleiche ich um die Ecke und folge ihm. Ich habe die Sohlen meiner Schuhe getauscht, damit sie kein Geräusch machen, wenn ich ihn verfolge. Mein Gefühl sagt mir, dass heute die Nacht des nächsten Mordes ist. Und ich bin mir sicher, dass Cross der Mörder und Briefeschreiber ist. Ich bilde mir sogar ein, seine Schritte seien heute energischer, wütender als die anderen Male, die ich ihm nachging.

Ja, er ist es, er muss es sein! Zum einen hatte Cross die Möglichkeit, beide Frauen zu töten, denn der Kurierfahrer wechselt stets zwischen zwei Routen zu seiner Arbeitsstelle ab und es liegen nicht nur beide Tatorte darauf, die Tatzeiten stimmen auch mit jenen überein, zu denen er sich morgens auf den Weg macht. Zum anderen spricht sein merkwürdiges Verhalten eindeutig für seine Schuld.

Cross war der erste Mensch bei der Leiche von Polly Nichols und machte dann unkorrekte Aussagen bei der Polizei, er hat sogar einen falschen Namen angegeben. Ich bin mir sicher, dass er die Tat beging und dabei von einem zweiten Mann unterbrochen wurde. Er hatte keine andere Wahl, als sich gemeinsam mit dem Störenfried auf die Suche nach einem der Officers zu machen, die durch Whitechapel patrouillierten. Dass er nicht blutüberströmt war, hat den einfachen Grund, dass er Polly zuerst erwürgt und ihr dann erst die Kehle durchtrennt hat. Wo kein Blutdruck, da keine Blutspritzer.

Es ist mir ein Rätsel, weshalb die Polizei ihn als Verdächtigen ausgeschlossen hat. Zu den augenfälligen Umständen gesellen sich seine familiären Probleme. Wie ich herausfand, hat er Streit mit seiner alkoholkranken Mutter, bei der auch seine Tochter aufwächst, die kein gutes Haar an ihm lässt. Ein Hass auf Frauen im Allgemeinen könnte seine Mordlust an jenen erklären …

Cross nimmt heute die obere Route zu seiner Arbeitsstelle, schneidet sich beharrlich wie ein Messer durch Nebel und Dunkelheit. Doch nach und nach wird er langsamer, blickt sich um, schielt in Hauseingänge und Hinterhöfe.

Hat er mich bemerkt? Oder ist er auf der Suche nach seinem nächsten Opfer?

Er ist zu früh dran. Wenn er direkt weitergeht, wird er eine halbe Stunde vorher an seiner Arbeitsstelle sein. Alles deutet darauf hin, dass der Mann etwas vorhat. Wieso zieht es mich dann plötzlich in die andere Richtung?

Ich widerstehe dem Drang, folge meinem Verdächtigen, der zwar langsamer, doch zielgerichtet vorwärtsgeht. Weiter und immer weiter. Bis wir schließlich das große Lagerhaus, seine Arbeitsstelle, erreichen. Cross betritt das Gebäude, als hätte er nie etwas anderes beabsichtigt.

Mit gerunzelter Stirn bleibe ich stehen. Das kann nicht sein. Ich habe mich nicht geirrt, das weiß ich. Aber Cross kommt auch nach einer halben Stunde nicht wieder heraus, er wird heute keinen Mord mehr begehen.

Geschlagen drehe ich mich um und gehe zurück. Ich biege wahllos in einige Gassen ab, sehe mich um, versuche, dieses seltsam unruhige Gefühl in mir zu vertreiben. Doch es bleibt. Und als ich schließlich Hufgetrappel höre, weiß ich auch wieso.

Mit heftig klopfendem Herzen biege ich in die Hanbury Street ein. Ich sehe eine Droschke und einige Polizisten, die auf ein mehrstöckiges Haus zugehen. Obwohl ich am liebsten schreien und auf die Knie sinken will, bleibe ich stehen und beobachte die Szenerie stumm. Ich hatte recht, heute war die Nacht des nächsten Mordes. Nur war ich dem falschen Mann auf der Fährte.

Ich schüttle den Kopf, nach wie vor nicht fähig, mich zu bewegen. Cross ist der Whitechapel-Mörder, ich weiß es einfach. Also wieso geschah ein weiterer Mord, während ich ihn genau im Blick gehabt habe?

 

***

 

Keuchend schrak ich hoch. Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, wo und vor allem wann ich war. Mein rasendes Herz verlangsamte seinen Takt, als ich feststellte, dass ich auf meinem alten dunkelbraunen Sofa lag, vor mir auf dem Couchtisch der kalte Tee, alte Scones und ein makabres Paket mit einem menschlichen Herzen.

Tief durchatmend zog ich mich in eine sitzende Position, stemmte die Ellbogen auf die Knie und vergrub das Gesicht in den Händen. Ich hatte lange nicht mehr geträumt. Was ich sah, wenn ich schlief, waren allerdings keine Albträume, sondern Erinnerungen. Früher plagten sie mich Nacht für Nacht, bis ich den Gin als Heilmittel fand. Ich konnte froh sein, dass es nur diese Erinnerung gewesen war – es gab weitaus schlimmere.

Nach einem Blick zum Fenster stellte ich fest, dass ich bis zum Morgen durchgeschlafen hatte. Ich fühlte mich dennoch etwas angeschlagen und zerknautscht, außerdem zitterten meine Finger. Normale Anzeichen eines Katers, an die ich mich inzwischen gewöhnt hatte.

Ich griff nach der Teetasse und schüttete mir das Gebräu in den ausgetrockneten Rachen. Dann zündete ich mir eine Zigarette an und widmete mich den BBC News, die noch immer über den Bildschirm meines Fernsehers flimmerten. Natürlich war der brutale Mord in Whitechapel, London auch hier Thema Nummer eins. Während das Foto meiner Namensschwester Maxine Atwood am oberen rechten Bildschirmrand eingeblendet war, erzählte die Nachrichtensprecherin, dass die Polizei bisher keine Ermittlungsergebnisse bekannt gegeben hatte.

Wunderte mich nicht. Vermutlich hatte die Met einfach keine. Oder sie lief einem falschen Verdächtigen hinterher wie ich damals. Noch heute könnte ich schwören, dass Cross der Täter gewesen war. Aber er hatte den dritten Mord nicht begangen, das konnte ich mit absoluter Sicherheit sagen.

Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es bereits nach zehn war und ich fragte mich, wie ich unter diesen Umständen so lange hatte schlafen können wie seit Jahren nicht mehr. Anscheinend machte sich mein Körper schon einmal auf eine lange Jagd gefasst. Ich unterstützte ihn, indem ich mir den kalten Schweiß und die Furcht unter der Dusche abschrubbte und danach loszog, um mir Kaffee, Tee, zuckerhaltige Drinks, Sandwiches und Süßigkeiten zu besorgen. Einige Male schlich ich am Spirituosen-Regal vorbei, blieb jedoch standhaft.

Zuhause schüttete ich unter einer Litanei von Flüchen meinen gesamten Alkoholvorrat in den Ausguss, genehmigte mir daraufhin eine Tiefkühlpizza, die mehr nach Pappe als nach menschlicher Nahrung schmeckte, und schaute mir nebenbei die Nachrichten an. Zumindest half das Essen gegen mein Magengrimmen und ich fühlte mich einigermaßen bereit, um an die Arbeit zu gehen. Ich schaltete den Fernseher aus – die Nachrichten brachten ohnehin keine neuen Erkenntnisse – und setzte mich einmal mehr an den Schreibtisch zu den alten Akten.

Schweiß brach aus all meinen Poren, als ich die vergilbten Umschläge betrachtete. Etwas in mir wehrte sich nach wie vor gegen die Erinnerungen und etwas anderes bettelte um Gin. So laut, dass ich mich kaum konzentrieren konnte. Scheiße! Wann war ich nur zu einem solchen Wrack geworden?

Es wurde Abend, bis ich es endlich geschafft hatte, meine Pinnwand von irgendwelchem alten Kram zu befreien und die Namen der früheren sowie dem neuen Opfer und die wichtigsten Fakten zu den Frauen darauf anzubringen. Allein das hatte mich derart angestrengt, dass ich heftig schnaufte und das Zittern in meinen Fingern schmerzhafte Ausmaße annahm.

Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn, ließ mich auf den Bürostuhl fallen und beäugte die Pinnwand, wohl wissend, dass darauf etwas fehlte … Diese Tatsache ignorierend griff ich nach meiner Teetasse und trank einige große Schlucke. Seltsamerweise wurde ich davon immer durstiger.

Ich wollte mir eben frischen Tee aufbrühen, da klingelte mein Handy. Schon bevor ich einen Blick aufs Display warf und sah, dass der Absender der Nachricht seine Nummer unterdrückt hatte, überzog eine Gänsehaut meinen Körper. Mit einer bösen Vorahnung tippte ich die SMS an und las.

Meine liebe Spielkameradin,

ich bin so aufgeregt, ich kann es nicht mehr erwarten, dass unser Spiel weitergeht. Aber vor allem kann ich nicht länger mitansehen, wie Du Dich durch diese Welt schleppst. Ich denke, Du benötigst etwas Starthilfe, nicht wahr, liebste Maxine? Lass uns Deine Lebensgeister endlich in Wallung bringen.

Ich blickte zum Fenster und schob die Brauen zusammen. Er beobachtete mich also. Im schlimmsten Fall war ich schon an diesem Schweinehund vorbeigegangen und hatte ihn nicht bemerkt. Der Gedanke allein brachte meine Lebensgeister in Wallung, um nicht zu sagen, mein Blut zum Kochen.

Ich mache es anfangs etwas leichter für Dich, versprochen. Um der alten Zeiten willen, aber auch, weil mich noch immer ein schlechtes Gewissen wegen meines unfeinen Abgangs plagt. Nun, ich verrate Dir, dass ich mich wiederholen, jedoch rückwärts vorgehen werde. Allerdings werden die Orte nicht dieselben sein, das wäre wiederum zu einfach, findest Du nicht?

Inzwischen ist Dir wohl bewusst, dass ich kein Mensch bin, und sicherlich fragst Du Dich, weshalb ich es vor Dir verheimlicht habe. Ich will so sagen: Es war Teil des Amüsements. Deine Verwunderung, Dein Schock, als Du kürzlich von mir hörtest – haha, Du glaubst nicht, wie sehr ich darüber lachen musste.

Also – was bin ich? Weißt Du es? Wo bin ich? Und wer wird mein nächstes Opfer? Fragen über Fragen …

Komm, lass uns endlich wieder spielen, Maxine.

Hochachtungsvoll, Dein Jack (the Ripper)

Ich schnaubte. Als bräuchte ich eine Erklärung in Klammern! Wie konnte dieser Mistkerl das nur alles so lustig finden?

P.S.: Durch die neue Technologie kann ich Dir meine Nachrichten in Sekundenschnelle übermitteln. Ist das nicht schön?

»Ja, hinreißend!« Mit einem frustrierten Aufschrei warf ich das Handy aufs Sofa und pfefferte daraufhin meinen Locher gegen die Wand. Mit einem dumpfen Geräusch landete er auf dem Fußboden. Der höhnische Tonfall des Rippers und diese abartige Freundlichkeit waren für mich kaum zu ertragen.

»Rückwärts vorgehen«, murmelte ich vor mich hin und tigerte durchs Wohnzimmer. »Rückwärts. Was soll das bedeuten, zur Hölle?«

Ich versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, aber auf einmal herrschte Leere in meinem Kopf. Da war nichts, verdammt nochmal, rein gar nichts! Jack the Ripper hatte mir eben eine SMS mit einem Hinweis auf den nächsten Mord geschickt und ich hatte nicht die geringste Ahnung, was jetzt zu tun war.