Leseprobe Schattenmacher

Prolog

Eigentlich war dieses Fleckchen Erde zu schön, um Schauplatz eines Mordes zu sein. Es war eine Schändung der Natur, eine Verschmutzung und Zerstörung von etwas, das der Zufall geschaffen hatte und das so einzigartig schön war.

Es sah aus, als würde der Frühling nie kommen. Der Märzhimmel streute seine kalten Schneeflocken über die Motorhaube, die sich langsam abkühlte. Jedes einzelne Schneekristall war einzigartig, ein winziges Wunder. Nach und nach rieselten sie nieder und bildeten Muster in dem matten Licht der Straßenlaterne, bei der das Auto mit den getönten Scheiben stand. Langsam bedeckten sie das Fahrzeug, den Boden, alles, was sich nicht bewegte.

Er saß am Steuer des Wagens, der Blick konzentriert und der Atem ruhig. Dieses Mal hatte er sich viel besser vorbereitet als zuvor.

Der Zeitpunkt, die Ausrüstung, das Alibi, die Nachforschungen – alles war genauestens geplant. Man konnte sagen, dass er sich weiterentwickelt hatte. Seine Technik verfeinert. Der Gedanke gefiel ihm. Im grünen Schein seiner Nachtsichtbrille beobachtete er seine Beute. Er sah, wie sie sich im Schatten bewegte. Da war es. Das Raubtier.

Keine moralischen Bedenken, keine Gewissensbisse. Eine Laune der Natur. Er stellte den Fokus der Brille etwas schärfer ein. Vielleicht war es ein Zufall, dass er heute Abend hier saß. Vielleicht hatte er Glück gehabt, oder vielleicht hatte ihn sein Selbsterhaltungstrieb die Gefahr rechtzeitig erkennen lassen. Rachsucht hatte ihn hierhergetrieben. Es war dumm, das wusste er.

Dies war ein anderes Raubtier, nicht das, das ihn und seine Familie heimgesucht hatte. Aber als Ersatz war es gut genug. Er wollte keine Gnade walten lassen. Er setzte das Fernglas auf dem Sitz ab. Er schloss die Augen. Atmete. Dachte über die Vergangenheit nach. Was er verloren hatte. Ein paar tiefe Atemzüge. Er verdrängte die Gedanken an sein früheres Leben und konzentrierte sich auf die Gegenwart. Damals war damals und jetzt war jetzt.

Dann öffnete er die Augen wieder. So leise wie möglich öffnete er die Autotür und stieg aus. Seine Beine fühlten sich von dem vielen Sitzen schwer an und er trat ein wenig auf der Stelle, um sie wiederzubeleben. Das Blut kam kribbelnd zurück und er massierte seinen rechten Oberschenkel. Er strich über seinen ausgebeulten Wintermantel, sog die kalte Luft ein und schaute zum Himmel empor. Die Sterne waren da, auch wenn die Wolken sie gerade verhüllten.

Langsam rückte er den Kragen seines Mantels zurecht. Er war nicht nervös. Angespannt vielleicht, erwartungsvoll, aber nicht wirklich besorgt. Er spürte die Flocken auf seiner Haut. Der Wetterbericht hatte nichts von Niederschlag gesagt, also störte ihn der Schnee, so schön er auch war. Er wollte keine Spuren hinterlassen, zumindest nicht hier.

Das Raubtier, das er töten wollte, stand unter Naturschutz. Wenn man ihn erwischte, drohten ihm eine lange Gefängnisstrafe und wahrscheinlich die Ächtung der Gesellschaft. Auch die seiner Freunde, seiner Familie, seiner Arbeitskollegen. Kaum jemand würde Partei für ihn ergreifen. Doch er zögerte nicht.

Er überquerte die Straße und betrat den Hof. Der gefrorene Rasen knirschte unter seinen Sohlen. Der Boden war immer noch nicht aufgetaut und das war für ihn von Vorteil. In einer halben Stunde würde alles eingeschneit sein. Die Stiefel hatte er in einem Geschäft in Granngården gekauft. Eine gewöhnliche Marke und Barzahlung. Er hatte sogar einen Hut und eine Brille getragen, als er sie kaufte. Er würde kommen und gehen, ohne dass jemand ihn bemerken würde.

Noch zwanzig Meter. Er zog den Revolver aus der Tasche.

***

Das Raubtier hatte sich im Keller versteckt. Es kauerte über etwas auf dem Boden. Pakete aus Plastik und braunem Klebeband türmten sich und warteten darauf, ihren tödlichen Inhalt im nächtlichen Stockholm zu verteilen. Es roch modrig, nach Schimmel und Wäsche, die nicht richtig getrocknet worden war. Er räusperte sich diskret. Das Raubtier fuhr herum und fletschte die Zähne. Ohne zu zögern, hob er den Revolver und richtete ihn auf den Kopf des Raubtiers. Er legte einen Finger auf die Lippen.

„Pst.“

Die Miene des Raubtiers konnte man nur als überrascht bezeichnen. Es riss die Augen und das Maul auf. Seine Zähne glitzerten wie weiße Steine.

Er starrte dem Tier in die Augen, ins Gesicht, auf die Haltung seines Körpers. Keine Angst. Kein Entsetzen. Nichts deutete darauf hin, dass das Raubtier erkannte, in welcher Gefahr es war.

Eine der Schwächen des Tieres, das er töten wollte, war, dass es der Meinung war, keine natürlichen Feinde zu haben. Es sah sich selbst an der Spitze der Nahrungskette.

„Ich habe etwas für dich“, sagte er mit gedämpfter Stimme.

Das Raubtier sah fast neugierig aus. Es wartete ab.

Drei schnelle Schritte vorwärts, dann setzte er die Waffe an die Schläfe des Raubtiers. Er hob die andere Waffe auf. Hielt sie ihm an die Stirn, bevor etwas passieren konnte.

„Wer bist du?“, fragte das Raubtier. Es zeigte immer noch keine wirkliche Angst.

Er erwiderte den Blick ruhig und sah direkt in die Augen der abscheulichen Kreatur.

„Ich bin Forseti“, sagte er und drückte ab.

Der Knall war gedämpft.

Der Tod trat sofort ein.

Der Körper fiel mit einem dumpfen Aufprall zur Seite.

Er betrachtete sein Opfer ein paar Sekunden schweigend, ja beinahe mit einem Gefühl der Harmonie. Er verzichtete darauf, sich zu bekreuzigen, wie er es bei den vorherigen Malen getan hatte. Er wusste nicht, was ihn überhaupt dazu bewogen hatte, schließlich hatte er sich meilenweit von seinem einstigen Glauben entfernt. Schnell verstaute er beide Waffen in den Außentaschen seines Mantels und eilte zurück zur Tür, die zum Kellergang führte.

Er schloss sie. Seine Nachforschungen hatten ergeben, dass sich sonst niemand im Haus befand, aber er wollte kein Risiko eingehen.

Er kehrte in den Raum zurück. Schaute sich eingehend um. Der Keller sah aus wie eine Kombination aus Archiv, Lager und Arbeitszimmer. An einer Wand war eine Bank festgeschraubt, auf der ein alter Computer stand. Etwas Papier. Regale mit Aktenordnern. Viele Regale. Viele Aktenordner. Weiter unten Farbdosen, Werkzeuge, ein alter Staubsauger. Er wandte sich dem Kadaver zu, der halb an einem Schrank lehnte, und drehte ihn mit dem Stiefel um, sodass er auf dem Rücken zu liegen kam.

Der tote Mann war gut angezogen. Schickes Hemd, Designerjeans. Eine gut geschnittene Frisur. Sorgfältig rasiert, trotz der späten Stunde. Die Augen standen offen. Sie waren blau. Nichtssagend. Blind. Und ein vollkommen rundes Loch in der Stirn, das direkt in sein Gehirn führte.

Er ging in die Knie und tastete in seinen Taschen nach seinem dritten Hilfsmittel. Diesen Teil mochte er am wenigsten, aber er war leider der wichtigste.

Er holte das Werkzeug heraus. Aus der anderen Tasche nahm er eine Maske und zog sie über sein Gesicht, sodass nur noch seine Augen zu sehen waren. Er nahm eine dünne Plastikmütze und setzte sie auf. Dann beugte er sich vor und begann zu arbeiten. Das Blut rauschte ihm in den Ohren, als er auf den Betonboden blickte, der von nun an immer mit Blut befleckt sein würde. Dann stand er auf, schlug den Kragen seines Mantels hoch und verließ den Keller, um sich auf die Suche nach der zweiten Bestie der Nacht zu machen. Er würde die Leiche später abholen.

1

15. April

Jesse93: Ich muss einfach sagen, dass du wunderhübsch bist.

Emmy22: Wirklich?

Jesse93: Du hast die schönsten Augen, die ich je gesehen habe.

Emmy22: Danke. Das glaube ich.

Jesse93: Es stimmt ja auch. Und was machst du so?

Emmy22: Ich gucke einen Film.

Jesse93: Was Gutes?

Emmy22: Geht so. Irgendeine alte Komödie.

Jesse93: Ich liebe Komödien.

Emmy22: Männer mögen normalerweise Action, oder?

Jesse93: Ich nicht. Das ist mir zu laut.

Emmy22: Jungs in meinem Alter mögen es jedenfalls. Aber ihr Älteren seid vielleicht etwas reifer.

Jesse93: Man wächst da raus. Ist es okay, wenn ich mich morgen wieder melde?

Ich muss meinem Vater jetzt bei etwas helfen. Er sitzt im Rollstuhl.

Emmy22: Klar.

Jesse93: Ich drück dich.

Emmy22: … Ich dich auch …

2

20. April

„Das Verhör von Josef Decker wird fortgesetzt. Es ist 13 Uhr 11 und heute ist der 20. April 2017.“

Kommissar Elias Svensson musterte den Mann, der ihm gegenüber saß. Sein Haar war ein bisschen dünn und ungewaschen. Der Hals war unrasiert, aber die Wangen sahen glatt aus. Er hatte einen Kiefer, den man mit etwas gutem Willen als männlich bezeichnen könnte. Eine hohe, intellektuelle Stirn.

Intellektuell?

Elias wollte den Kopf schütteln, tat es aber nicht. Wie sah eine intellektuelle Stirn aus? Aber eines hatte der Mann auf jeden Fall: ein meist angenehmes Lächeln. Er lächelte sogar in diesem Moment. Elias wusste, wonach er suchte – nach Anzeichen dafür, dass der Mann aussah und auftrat wie der Abschaum, für den er ihn hielt, doch er fand keine. Die meisten Leute, die Decker begegneten, schienen ihn zu mögen. Deckers braune Augen trafen Elias’ Blick, zeigten jedoch keine Gefühlsregung.

Der Vernehmungsraum war klein. Vielleicht zehn Quadratmeter. Beigefarbene Wände. Ein Tisch in der Mitte. Auf jeder Seite ein Stuhl. Ein Mikrofon, das von der Decke hing und so empfindlich war, dass es jedes Flüstern, jeden Atemzug, jede Bewegung einer Hand oder eines Fußes aufnahm. Die Technik in der Polizeistation in der Bergsgatan im Zentrum von Stockholm war neu und modern. Die Räumlichkeiten sahen dagegen schlimmer aus. Sie hätten schon vor vielen Jahren mehr als nur ein Facelifting gebraucht, aber dafür war, wie üblich, kein Geld da.

Elias machte sich eine Notiz auf seinem Block. Das Desinteresse, auf das er bei seinem Gegenüber stieß, war faszinierend und unangenehm zugleich. Fast so unangenehm wie der Grund, aus dem sie jetzt hier saßen. Zwei brutale Vergewaltigungen mit sadistischen Elementen, die damit endeten, dass die Frauen getötet und liegen gelassen wurden. Beide Leichen waren gründlich gesäubert worden und die Forensiker hatten nicht einmal eine Haarsträhne gefunden.

Schon als die Leiche des ersten Mädchens, Lotta Edfors, in einem beliebten Wandergebiet in Nacka gefunden wurde, war der Name Josef Decker aufgetaucht. Wenn man nach Vergewaltigungen in Tateinheit mit schwerer Körperverletzung suchte, spuckte der Computer eine lange Liste von Namen aus, doch bei genauem Hinsehen blieben nur ungefähr zehn übrig. Deckers war einer von ihnen. Alle wurden überprüft, einige saßen im Gefängnis, einer war gestorben, alle hatten ein Alibi. Auch Decker.

Und doch war er hier, trotz fehlender technischer Beweise und eines Alibis. Der Grund hieß Maja Skog. Maja war eine der engsten Freundinnen von Lotta Edfors gewesen und vor Kurzem hatte sie Deckers Bild in einem Verbrecheralbum erkannt. Sie identifizierte ihn als den Mann, den sie am Abend vor dem Mord mit Lotta Edfors im Treppenhaus gesehen hatte.

Draußen vor dem Fenster zeigte sich der Frühling von seiner schlechtesten Seite. Eine graue Decke hatte sich über die ganze Stadt gelegt, und die Temperaturen luden die Bewohner kaum dazu ein, viel Zeit im Freien zu verbringen. Obwohl die Fenster geschlossen waren, schien die Feuchtigkeit bis ins Zimmer vorzudringen.

Hinter Elias befand sich eine Tür. Nicht wie im Film; es standen keine Kollegen hinter einer für ihn und den Verhörten undurchsichtigen Glasscheibe, die mit grimmigen Gesichtern das Geschehen beobachteten und ihm über einem versteckten „Knopf im Ohr“ geheime Botschaften schickten. Er war allein, und das begann er zu spüren.

Er biss die Zähne so fest zusammen, dass ihm der Kiefer schmerzte. Auch das Verhör von heute Morgen hatte nichts gebracht. Egal, wie er die Fragen drehte und wendete, er kam nicht weiter. Decker antwortete nicht nach Drehbuch. Es zog sich in die Länge. Dennoch schien er sich nicht unwohl zu fühlen. Er hatte es nicht eilig, zu gehen. Er spielt mit mir, dachte Elias.

Er widerstand dem Impuls, sich mit den Händen durch die Haare zu fahren, die immer grauer wurden. Das würde verzweifelt wirken, und das war der letzte Eindruck, den er erwecken wollte. Er folgte der gleichen einfachen Faustregel bei dieser Art von Verdächtigen. Keine Schwächen zeigen. Elias wollte dem Mann auf der anderen Seite des Tisches klarmachen, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis Elias ihn umzingelt hatte. Doch Decker war hartnäckig.

Es war nicht ihre erste Begegnung. Elias hatte ihn schon einmal getroffen. Er hatte ihn auf Anhieb erkannt. Decker war Hauptverdächtiger in einem besonders brutalen Fall von Vergewaltigung gewesen und anschließend verurteilt worden, obwohl er die Tat bestritten hatte.

Elias hatte die Ermittlungen nicht geleitet, sondern war eher am Rande beteiligt gewesen, aber schon damals hatte Decker etwas an sich gehabt, das Elias nicht losließ. Eine felsenfeste Überzeugung, dass die Polizei ihm nichts anhängen konnte, eine nonchalante Weigerung, die Fragen der Ermittler zu beantworten. Auch hatte er keinerlei Empathie für das Opfer gezeigt.

Als Maja Skog Decker als den Begleiter von Lotta Edfors in der Mordnacht identifizierte, hatte Elias beschlossen, den Mann gründlich zu überprüfen, bevor er ihn zum Verhör vorlud.

Jetzt saß Decker hier und starrte vor sich hin. Als ob nichts von Bedeutung wäre, als ob er einfach nur rechtzeitig nach Hause kommen wollte, um die nächste Folge von Ullared zu sehen. Oder vielleicht Lyxfällan. Tatsächlich sah Decker ein bisschen aus wie eine Figur aus einer dieser Reality-Shows. Die einfachen, normalen Menschen, die sich durch das Leben schlagen mussten.

Der wütende Schreiner vielleicht? Aber Elias wusste, dass Josef schon seit einigen Jahren in einer Mietwohnung lebte. Er war wohl kaum der Typ, der es auf sich nehmen würde, ein altes Haus zu renovieren, nur um der Sache willen. Die Leidenschaft dieses Mannes galt wahrscheinlich etwas ganz anderem, und es war an Elias, dies zu beweisen.

Er räusperte sich. „Wirst du diesmal unsere Fragen beantworten?“

Decker fixierte ihn mit seinem Blick. „Diese Fragen führen doch zu nichts. Das weiß ich. Und ich sehe dir an, dass du es auch weißt.“

„Wieso wolltest du keinen Anwalt?“, sagte Elias und tat so, als würde die nur allzu treffende Bemerkung ihn völlig kaltlassen. Er war überzeugt, dass er den Richtigen vor sich hatte, doch er wusste auch, dass das Verhör sie nicht weiterbringen würde.

„Was soll ich mit einem Anwalt?“, fragte Decker.

„Jeder will einen Anwalt, wenn er einer schweren Straftat verdächtigt wird.“

Decker lächelte wieder. „Auch die Unschuldigen?“, sagte er und fuhr sich mit der Zunge über die Vorderzähne.

Elias beugte sich vor und sah ihm ein paar Sekunden in die Augen. „Gerade die Unschuldigen.“

Decker hob die Brauen. Aber er sagte nichts. Zeigte nichts.

„Du bist schon einmal verurteilt worden. Wegen Vergewaltigung eines jungen Mädchens. Außerdem warst du wegen mehrerer Übergriffe angeklagt“, fuhr Elias langsam und deutlich fort.

Deckers Augen wurden schmal und er reckte das Kinn. „Ich wurde zu Unrecht verurteilt. Außerdem habe ich meine Strafe abgesessen“, sagte er gelassen.

Elias legte den Kopf ein wenig schief. Vor seinem geistigen Auge sah er, wie er aufstand, sein Gegenüber am Hals packte und mit dem Gesicht auf die Tischplatte schlug. Bei dem Gedanken fing sein Herz an zu rasen.

Unter seinem Jackett war ihm warm. Es dampfte buchstäblich. Sein Hemdrücken war feucht und vielleicht war es schon am Kragen zu sehen. Er wünschte, er hätte sein Jackett schon vor einer Stunde ausgezogen. Jetzt konnte er das nicht, denn damit würde er signalisieren, dass er sich unwohl fühlte.

Er war eigentlich gar nicht nervös. Er hatte schon oft solche Verhöre geführt. Aber jetzt ging es ihm einzig und allein darum, einen Durchbruch zu erzielen. Um wirklich weiter zu kommen. Elias hatte keine Lust, Decker wieder laufen zu lassen.

Vieles sprach dafür, dass Decker schuldig war, auch wenn sie keine technischen Beweise hatten. Gewisse Ähnlichkeiten mit den Vergewaltigungen vor ein paar Jahren. Jedenfalls sah Elias Gemeinsamkeiten. Dem Mädchen, wegen dessen Vergewaltigung Decker verurteilt worden war, war eine Brustwarze abgebissen worden. Lotta Edfors waren die Piercings herausgerissen worden, auch das in ihrer Brustwarze, und Monica Nilsson hatte Schnittwunden an beiden Brüsten gehabt. Unterschiedlich und doch ähnlich, und das weckte Elias’ Misstrauen. Außerdem hatte eine Zeugin, Lotta Edfors’ Freundin, die Polizei auf Decker hingewiesen und Elias’ Erfahrung und Intuition sagten ihm, dass der Täter vor ihm saß.

Decker sah kühl und gelassen aus. Er schien sich nicht im Geringsten unwohl zu fühlen. Er war eiskalt und ungerührt, saß seelenruhig da und musterte seine Fingernägel. Er verhielt sich nicht wie jemand, der zu Unrecht schwerer Verbrechen beschuldigt wurde. Alle Warnsignale, die Elias in seiner Laufbahn kennengelernt hatte, standen auf Rot.

Die Polizei hatte Decker heute Morgen in aller Frühe aus seiner Wohnung abgeholt. Er hatte eine Jacke mitgenommen, weil es nach Regen aussah, und den Fischen in seinem Aquarium noch etwas Futter gegeben. Es waren offensichtlich nicht irgendwelche Fische, sondern Kampffische. Im Auto hatte er den verblüfften Polizeibeamten erzählt, dass er schon seit geraumer Zeit auf der Suche nach einem speziellen Kampffisch gewesen war. Es war ein einzigartiges Exemplar. Er hatte ihn extra aus Thailand bestellt – woher sonst bekam man einen echten siamesischen Kampffisch, der nicht durch Zucht verdorben war, und es hatte ein Vermögen gekostet. Außerdem hatte der Fisch schon Kämpfe gegen seine anderen Fische gewonnen. Die Polizisten in Uniform hatten nichts dazu gesagt. Elias hatte ihnen eingeschärft, nicht mit dem Verdächtigen zu reden. Ihm nichts zu sagen, außer dass sie ihn in die Polhemsgatan bringen würden.

„Warum Kampffische?“, sagte Elias, um etwas Neues auszuprobieren.

„Sie sind faszinierend. Weißt du, zu welcher Klasse sie gehören?“

„Klär mich auf.“

„Actinopterygii.“

„Das heißt?“

Decker beugte sich immer noch vor. Auch das war ein merkwürdiges Verhalten. Die meisten Verdächtigen wollten einen gewissen Abstand zu dem Polizisten, der ihnen gegenüber saß.

„Strahlenflosser.“

„Warum keine normalen Schwertträger?“

„Wusstest du, dass es sofort zu einem Kampf auf Leben und Tod kommt, wenn man einen männlichen Kampffisch auf ein anderes Männchen loslässt?“

Elias wusste es wirklich, denn er hatte den ganzen Vormittag recherchiert, was die uniformierten Beamten ihm über Deckers Fische erzählt hatten. Aber in dem Bemühen, Decker zum Reden zu bringen, schüttelte er den Kopf. „Erzähl.“

„Innerhalb von Sekunden greift der eine den anderen an. Sofort bricht ein heftiger Kampf aus. Und er endet immer gleich. Jedes Mal.“

„Und jetzt willst du, dass ich frage, wie?“

Decker zeigte wieder seine Zähne. Er lächelte nicht mehr, er grinste.

„Okay“, sagte Elias, „wie endet der Kampf jedes Mal?“

„Es fließt Blut. Ein Männchen tötet das andere so schnell wie möglich.“

„Sie haben also Zähne?“

Decker schüttelte den Kopf. „Keine Zähne. Das ist ja das Faszinierende. Einer muss den anderen mit seinem eigenen Körper töten. Und derjenige, der schwerer verletzt wird, gibt auf. Aber das reicht nicht. Das siegreiche Männchen macht so lange weiter, bis das andere tot ist.“

Elias seufzte und versuchte, desinteressiert zu wirken. Unbehagen stieg in ihm auf.

„Du fragst dich, wie es weitergeht. Ich sehe es dir an. Ich sage es dir. Das siegreiche Männchen tut das Endgültigste, was ihm einfällt. Es frisst seinen toten Gegner auf.“

„Aber warum? Der Gegner ist doch tot und keine Gefahr mehr.“

„Der Sieger muss ihn völlig zerstören. Nur so kann er ganz sicher sein. Also frisst er ihn. Dann ist der Feind für immer vernichtet.“ Die Augen funkelten und die Zunge glitt wieder über die Zahnreihe. Decker schien jede Sekunde, jede Silbe der etwas makabren Erzählung zu genießen.

Elias setzte sich gerade hin. Atmete tief durch. Er schlug die Mappe auf, die die ganze Zeit vor ihm gelegen hatte, und las die erste Seite, auf der der ganze Fall zusammengefasst war.

„Wo warst du am Freitag, dem 24. März 2017, zwischen zwanzig Uhr und Mitternacht?“

„Mit einer Frau im Kino. Das habe ich dir schon gesagt. Ein Date, könnte man sagen. Danach sind wir zu ihr nach Hause gegangen.“

„Und wo warst du am fünften April 2017 ab mittags?“

Decker kratzte sich am Ohr. „Bei meiner Mutter.“

Elias sah es und wusste, dass Decker es bemerkt hatte. Die letzte Antwort klang nicht so selbstverständlich, nicht so felsenfest und überzeugend.

Deckers Alibis würden noch einmal gründlich geprüft werden, und die Ermittler, die Elias unterstellt waren, würden sich noch einmal die Leute vornehmen, die – davon war Elias überzeugt – beim ersten Mal gelogen hatten, und versuchen, sie dazu zu bewegen, die Wahrheit zu sagen.

Aber Decker hatte beim letzten Datum gezögert. Er kratzte sich am Ohr, als ob das jetzt nötig wäre. Vielleicht fiel es ihm schwerer, eine Lüge über seine Mutter zu erzählen.

Es war bekannt, dass es einen im Gesicht juckte, wenn man sich in einer schwierigen Situation befand, zum Beispiel, wenn man einen Polizeibeamten unverhohlen anlog. Polizisten lernten alles über klassisches Fluchtverhalten.

Wenn Gefahr im Verzug ist, fließt automatisch alles Blut in Arme und Beine. Und das Blut kommt vom höchsten Punkt des Körpers, dem Kopf. Wenn das Blut so schnell von dort aus abwärts strömt, verursacht es einen Juckreiz im Gesicht, den die meisten Menschen nicht kontrollieren können. Es war kein Mythos, dass sich Lügner ins Gesicht fassten. Es konnte aber auch der Nacken sein oder wie bei Decker, als er eine Lüge über seine alte Mutter erzählte, das Ohr.

Denn es war gelogen, und Elias wusste es. Er spürte es im ganzen Körper. Er konnte es nur nicht beweisen. Er beobachtete Decker und ihm kam der Gedanke, dass der Mann bei der Antwort über seine Mutter vielleicht eine Kunstpause eingelegt hatte, um ihn auf die Ideen zu bringen, die ihm jetzt durch den Kopf gingen. Die Lösung? Gar nicht zu reagieren.

Für das Protokoll stellte er seine letzten Fragen. „Wann hast du Monica Nilsson zuletzt gesehen?“

„Ich kenne keine Monica Nilsson.“

„Wann hast du Lotta Edfors zuletzt gesehen?“

Decker schüttelte den Kopf. „Ich kenne keine Lotta Edfors.“

„Wir haben eine Zeugin, eine Bekannte einer dieser Frauen. Sie hat dich mit ihrer Freundin gesehen.“ Elias zeigte auf die Bilder der bleichen Frauenkörper. Geschlagen, vergewaltigt und hingerichtet lagen sie in ihrer ganzen Nacktheit vor ihnen auf dem Tisch.

„Jeder lügt manchmal“, sagte Decker mit einem schiefen Lächeln. „Wie geht’s eigentlich der Familie?“

„Was meinst du damit?“

Es folgte Schweigen. Decker schien über eine Antwort nachzudenken. Elias entdeckte nicht das geringste Zucken in seinem Gesicht, kein Zittern, keinen Schweiß auf seiner Stirn.

„Sind wir hier fertig?“, fragte Decker und sah Elias an.