Kapitel 1
Familientreffen direkt aus der Hölle
29 Tage bis Weihnachten,
Gemütszustand: unbestimmt
»Wie lange sitzt du da schon?«, fragt Jenny, nachdem sie meinen Anruf entgegengenommen hat.
Ich brumme. »Viel zu kurz. Oder ist der Abend bereits vorbei? Haben wir Weihnachten schon überstanden? Sogar Silvester?«
Meine beste Freundin lacht, während ich meinen Kopf gegen das Lenkrad lehne. Mittlerweile ist die Wärme aus dem Wagen verschwunden. Langsam kriecht die Kälte der rauen Küste Cornwalls ins Innere.
»Irgendwann musst du sowieso reingehen. Je länger du es hinauszögerst, desto länger leidest du«, meint Jenny. Im Hintergrund klappert Geschirr und ich schließe die Augen. Sie hat recht, dennoch sträubt sich mein komplettes Sein dagegen, mein Elternhaus zu betreten.
»Du kennst meine Familie nicht. Jede Minute, die ich da drin bin, leide ich.« Für Jenny mag es wie eine Übertreibung klingen, allerdings ist es die Wahrheit. Seit ich beschlossen habe, dem Familienunternehmen den Rücken zu kehren und meine eigene kleine Firma aufzuziehen, hängt der Haussegen komplett schief. Dabei hatte meine Mutter vorher schon genug an mir auszusetzen. Manchmal habe ich das Gefühl, es ist ihre Lebensaufgabe, mich auf die Palme zu bringen.
»Lily, reiß dich zusammen«, sagt Jenny mit fester Stimme und ich öffne die Lider, lehne mich zurück und drücke den Kopf gegen den Sitz. »Du bist erwachsen, deswegen wirst du deinen Eltern jetzt die Stirn bieten. Sobald du das Essen hinter dich gebracht hast, kannst du zurück nach London kommen. Glaub mir, du wirst das überleben.«
Wäre es nur so einfach. Leider kannte meine Freundin nur die halbe Wahrheit. Denn ich war heute nicht wegen des Essens hier, sondern weil ich Hilfe brauchte. Aber das möchte ich für mich behalten.
»Du kennst meine Familie nicht«, wiederhole ich daher schlicht.
»Stimmt, allerdings sagt die Tatsache, dass ihr euer Weihnachtsessen probt, ziemlich viel über euch aus.«
»Es ist keine richtige Probe«, erkläre ich, weil es mir irgendwie unangenehm ist. Aber es stimmt, es war eine Probe für das eigentliche Weihnachtsessen. Jedes Jahr luden meine Eltern vier Wochen vor Weihnachten bereits zu einer Weihnachtsfeier ein. Es diente tatsächlich lediglich als Vorbereitung für das wichtigste Fest des Jahres. Das Weihnachts-Dinner für die Geschäftspartner meines Vaters. Seit Generationen besitzt unsere Familie eine der bekanntesten Whisky-Destillerien in England. Am Abend vor Weihnachten werden wichtige Geschäfte geschlossen, neue Partnerschaften besiegelt. Das war schon immer so, seit ich denken kann. Damit nichts schief geht, dient die Weihnachtsfeier für die Angestellten und Freunde der Familie als Probelauf.
»Immerhin kannst du zwei Mal Weihnachten feiern«, sagt Jenny und holt mich aus meinen Gedanken. »Dein Herz müsste aufgehen.«
»Stimmt.« Beim Gedanken an die bunten Lichter, die Weihnachtsmusik und das ganze köstliche Essen bessert sich meine Laune. Es gibt kein anderes Fest, bei dem die Stimmung so unvergleichlich ist, wie an Weihachten. Deswegen liebe ich alles, was damit zusammenhängt. Außer das Essen mit meinen Eltern …
Ich atme tief durch, klappe die Sonnenblende herunter und werfe einen Blick in den Spiegel. Schwarzer Mascara hängt unterhalb meiner Wimpern. Schnell wische ich ihn weg, streiche mir die blonden Strähnen aus dem Gesicht. Genug Trübsal geblasen.
»Ich schaffe das«, murmle ich mir selbst Mut zu, habe Jenny ganz vergessen.
»Natürlich. Go, Girl.«
Grinsend schalte ich den Lautsprecher aus, nehme das Smartphone aus der Halterung und drücke es mir ans Ohr. »Danke.«
»Immer«, entgegnet sie und wir beenden das Gespräch.
Ein letztes Mal atme ich tief durch, straffe meine Schultern und erinnere mich daran, wer ich bin. Niemand schafft es, mich kleinzureden. Niemand hat das Recht, meine Entscheidungen in Frage zu stellen. Nicht mal meine Mutter.
Tief in mir lacht eine jüngere Version meiner selbst, die genau weiß, dass ein Blick ausreichen wird, um mein hart antrainiertes Selbstbewusstsein ins Wanken zu bringen.
»Schluss damit, Lily. Du bist 28 Jahre alt, hast deine eigene Firma gegründet und bist ganz allein nach London gezogen. Ein Essen mit deinen Eltern ist ein Kinderspiel.«
Bevor ich erneut in Selbstmitleid ertrinken kann, öffne ich die Tür und steige aus. Der frische Duft nach Meereswasser steigt mir in die Nase. Für einen Augenblick kehren Erinnerungen an meine Kindheit zurück. Tage, an denen ich unten am Strand gespielt habe. Nächte, in denen ich durchs offene Fenster dem Rauschen der Wellen gelauscht habe. Das Wasser ist wirklich das einzige, das ich in London vermisse. Ansonsten kann ich gar nicht schnell genug zurückkehren.
Aus dem Kofferraum hole ich meine Pumps, tausche sie gegen die Turnschuhe, die ich zum Autofahren angezogen habe. Schließlich lege ich mir den Kleidersack über den Arm und gehe Richtung Haus, dann zögere ich doch. Das Anwesen liegt auf einer kleinen Anhöhe unweit der Klippen. Egal, wie oft ich hier stehe, die Imposanz des Hauses verschlägt mir jedes Mal für einen Moment den Atem. Wie ein kleines Schloss baut es sich vor mir auf, ragt in den Himmel. Trotzdem will sich kein richtiges Gefühl von Heimat einstellen. Ich seufze, reiße mich zusammen und gehe weiter.
Die Party beginnt erst in einigen Stunden. Allerdings wollte ich die Zeit vorher nutzen, um mit meinen Eltern zu sprechen und sie um Hilfe zu bitten.
Unsere Auffahrt ist mit bunten Lichtern geschmückt. Auf der kurzen Treppe, die zur Eingangstür führt, wurde ein roter Teppich ausgerollt. Allerdings fehlt der Kunstschnee und generell kommt mir die Dekoration dezent vor. Normalerweise stehen überall leuchtende Figuren und Weihnachtsbäume, die für die richtige Stimmung sorgen. Dieses Jahr scheint meine Mutter zum ersten Mal darauf verzichtet zu haben.
Bevor ich die Tür erreiche, wird sie aufgerissen. Mein Bruder kommt mir entgegen. Eilig hastet er die Treppe hinunter, rennt mich dabei beinahe um.
Kaum fünf Zentimeter vor mir bremst er ab. Ich muss den Kopf ein Stück heben, um ihm in die Augen sehen zu können. Sein dunkles Haar ist kurz, bringt seine blauen Augen noch mehr hervor. »Lily, scheiße, ich hätte nicht erwartet, dass du kommst.«
Ich zucke mit den Schultern. »Niemand traut sich gern in die Höhle des Löwen.«
»Wohl wahr.« Trevor schließt mich in seine Arme. An ihm haftet der Geruch von verbrannten Keksen und ich rümpfe die Nase. »Renn so schnell du kannst«, flüstert er mir ins Ohr.
»So schlimm?«
Er löst sich von mir und tritt einen Schritt zurück. »Schlimmer! Bisher ist alles schief gegangen, was schief gehen konnte. Fehlt nur, dass der Weihnachtsbaum in Flammen aufgeht. Oder Mum.«
»Besteht die Möglichkeit? Dann helfe ich gerne nach«, witzle ich und kassiere einen Schlag gegen meine Schulter. Natürlich meine ich das nicht ernst. Egal, was zwischen meinen Eltern und mir steht, sie haben mich großgezogen und ich weiß, dass sie mich lieben … irgendwo tief in ihrem Inneren.
»Wir sehen uns beim Essen, oder?« Ich nicke und Trevor winkt mir zu, während er über die Einfahrt zu seinem Wagen geht. Er startet den Volvo und ich schinde Zeit, schaue ihm eine Weile nach, bis er schließlich außer Sichtweite ist. Ein letzter tiefer Atemzug.
Du schaffst das, Lily!
Ohne anzuklopfen, betrete ich unser Haus. Wobei diese Bezeichnung fast eine Beleidigung für das große Anwesen ist. Die Halle öffnet sich vor mir. Der Anblick des riesigen Baumes, der beinahe den Leuchter an der Decke berührt, verschlägt mir einen Moment den Atem. Ich hatte vergessen, wie wunderschön es hier ist. Bisher fehlt die komplette Deko, sogar der Baum ist nackt. Wahrscheinlich wuseln deswegen so viele Menschen um mich herum, versuchen zu retten, was zu retten ist. In weniger als drei Stunden werden die Gäste eintreffen. Reichlich wenig Zeit, um die komplette untere Ebene zu schmücken. Trevor hat keineswegs übertrieben, anscheinend geht heute so einiges schief.
»Lily?« Auf der Treppe rechts von mir, die in einem Bogen ins obere Stockwerk führt, steht mein Vater. Seine Autorität füllt den Raum, beschert mir eine Gänsehaut, obwohl er innegehalten hat und mich lediglich mustert.
»Dad«, begrüße ich ihn und nicke knapp. Unsere Beziehung war nie sehr herzlich.
Er kommt die Stufen herunter, nimmt mir den Kleidersack und meine Tasche ab. »Wir haben dich nicht erwartet. Bist du gut durchgekommen?«
»Ja, kaum Verkehr.«
Es scheppert und wir drehen uns zum Christbaum. Eine Glaskugel ist zu Boden gefallen, in tausend Teile zerbrochen. Der Angestellte, dem sie aus der Hand geglitten war, verzieht schockiert das Gesicht. Seine Bewegung ist eingefroren, der Blick auf die Scherben gerichtet. Schnell eilt ihm eine junge Frau zu Hilfe. Sie sammelt das Glas zusammen. Beide blicken sich hektisch um, wahrscheinlich in Sorge, meine Mutter könnte jeden Moment auftauchen.
»Seien Sie vorsichtig, sonst schneiden Sie sich«, meine ich.
Die Frau winkt ab. »Schon okay.«
»Komm«, sagt mein Vater und zieht mich zur Seite. Wir lassen die Halle hinter uns und schlagen den Weg zur Bibliothek ein. Als wir das Wohnzimmer und das angrenzende Esszimmer passieren, werfe ich einen Blick hinein. Personal hetzt durch die Räume, stellt Tische um, putzt Leuchter und versucht, einen weihnachtlichen Look zu kreieren. Ob das bis heute Abend wirklich klappt? Ich bezweifle es.
Sobald sich die Türen hinter uns geschlossen haben, atme ich auf. Dad legt meine Sachen auf einen Stuhl. »Diese Leute sind wirklich unfähig«, murrt er und lässt sich in seinen Lesesessel sinken. Im Hintergrund läuft leise Musik, die jedoch nicht vollkommen vermag, das Chaos draußen zu übertönen. »Erst kamen sie viel zu spät und nun machen sie ständig etwas kaputt. Dabei ist deine Mutter schon mit dem Catering vollkommen ausgelastet.«
»Wieso das?«
Dad schnaubt. »Wenn das so weitergeht, müssen wir heute Abend Pizza bestellen.«
»Als ob«, entgegne ich und lache. Doch Dad meint es ernst. Seine Augenbrauen sind zusammengezogen. »Nur über Mums Leiche.«
»Wahrscheinlich. Allerdings stehen die Chancen hoch. Der Koch ist krank, deswegen ist die Cateringfirma ohne aufgetaucht. Die Hälfte der Mitarbeiter scheint neu zu sein und hat keine Ahnung, was sie tut.«
»Klingt ungut«, meine ich und trommle mit den Fingern auf meine Oberschenkel. Wenn ich hierbleibe, kann ich mich länger vor meiner Mum und ihren spitzen Bemerkungen drücken. Gleichzeitig tut es mir leid, dass diese Feier offensichtlich unter einem schlechten Stern steht. Deswegen würde ich gerne helfen. Das Engelchen in mir gewinnt. Ich erhebe mich, lächle Dad an. »Mal sehen, ob ich was ausrichten kann.«
»Schließ bitte die Tür hinter dir. Und sollte mich jemand suchen …« Er macht eine wegwerfende Handbewegung und ich verstehe, was er von mir will.
»Klar, ich habe dich nicht gesehen«, sage ich, doch Dad hat sich längst seiner momentanen Lektüre gewidmet. Nun ist er in einer Welt versunken, zu der mir der Zutritt verwehrt bleibt. Das ist schon seit meiner Kindheit so. Niemand kann ihn aus der Ruhe bringen, hat er sich einmal in eine Sache vertieft. Ich bewundere ihn für diese Eigenschaft.
Kaum habe ich das Zimmer verlassen, rennt mich beinahe jemand um. Der junge Mann entschuldigt sich und eilt davon. Hektisch eilen Menschen durch unser Haus, vertreiben die weihnachtliche Besinnlichkeit und füllen das Anwesen mit Stress. Ich zwinge mich dazu, meine Nervosität im Zaum zu halten, denn sobald sich die allgemeine Hektik legt, muss ich meine Eltern bitten, mir und meinem Unternehmen unter die Arme zu greifen, obwohl das gegen meine Überzeugungen spricht. Als ich Lilyvents vor knapp einem Jahr gegründet habe, hatte ich mir geschworen, es allein zu schaffen. Nun bin ich an dem Punkt angekommen, an dem ich Hilfe brauche. Zumindest, wenn ich die Firma halten und meine Mitarbeiter weiter bezahlen möchte.
Vor der großen Tür, die in die Küche führt, halte ich inne, atme tief durch und sammle meinen Mut. Aus dem Inneren dringt die Stimme meiner Mum zu mir. Sie klingt alles andere als glücklich. Trotzdem öffne ich die Tür und trete ein. Der Geruch von Verbranntem schlägt mir entgegen, lässt mich beinahe rückwärts taumeln. In der Luft hängt Feuchtigkeit, vermischt mit leichtem Rauch. Mum öffnet den Ofen schwungvoll und zieht ein Blech rabenschwarzer Kekse hervor. Mit einem Knall landet es auf der Ablage.
»Gibt es irgendetwas, das in Ihren Händen nicht zu einer Katastrophe wird?«, meint sie trocken und bedenkt jeden Anwesenden mit einer Portion Verachtung in den Augen. Eine Gänsehaut breitet sich über meinen Armen aus, als ihr Blick mich streift. Sie weist zwei Frauen an, das Blech zu säubern und erneut mit Teig zu bestücken. Danach kommt sie zu mir. Wie immer steckt sie in einem Hosenanzug, der ihre Figur elegant umschmeichelt und ihre Autorität weiter unterstreicht. Das Haar hat sie hochgesteckt, sodass ihre markanten Gesichtszüge besonders hervorstechen.
»Lily, du bist gekommen«, meint sie lächelnd und drückt mich steif an sich. Kaum hat mein Kinn ihre Schulter berührt, tritt sie den Rückzug an und mustert mich von oben bis unten.
»Wieso seid ihr überrascht? Ich habe zugesagt. Erst heute Morgen habe ich angerufen und mich nach dem Zeitplan erkundigt.«
Mum nickt. »Stimmt, allerdings ist im letzten Jahr kurzfristig etwas dazwischengekommen, deswegen hast du erst wenige Stunden vor der Feier abgesagt. Wir haben heute keinen Platz für dich reserviert. Jetzt wo du dein eigenes Unternehmen führst, habe ich dich für zu beschäftigt erachtet.«
Verwirrt blinzle ich, muss erstmal verarbeiten, was ich gerade gehört habe. »Meinst du das ernst?« Rhetorische Frage. Meine Mum sagt nie etwas, das sie nicht so meint. »Es gibt keinen Platz für mich?«
»Nein, aber wir finden schon eine Lösung. Eine Begleitung hast du nicht mitgebracht, oder?«
Autsch. Ein Stich in die Magengegend. »Nein, ich bin allein gekommen.«
»Habe ich mir gedacht.« Ein weiterer Stich, der nur knapp die Lunge verfehlt. Dann zieht Mum die Augenbrauen nach oben. »Hast du dieses Jahr etwa keinen Auftrag zu Weihnachten? Gehen dir bereits die Kunden aus?« Mum holt aus, sticht mir das Messer direkt in die Brust. »Oder brauchst du Geld?« Langsam dreht sie die Waffe, zieht sie dann mit einem Ruck heraus und nimmt mein Herz mit.
Die Theatralik meiner Gedanken sucht ihresgleichen und ich schreibe sie der Weihnachtsstimmung zu, die Glück und Freude ins Unermessliche steigern kann, aber genauso die Macht besitzt, negative Gefühle zu verstärken. Einen Moment fehlt mir die Luft. Mein Hirn hat vergessen, wie es Worte bildet. Wut braut sich in mir zusammen. »Mir geht’s gut, ich bin gut angekommen, danke der Nachfrage, Mum.«
Sie verdreht die Augen. »Ich kann sehen, dass du wohlauf bist.«
Unbehagen schnürt mir die Kehle zu. Ich kann meine Eltern nicht um Geld bitten. Was für mich lediglich eine kleine Hilfestellung sein soll, wird in ihren Augen das bestätigen, was sie sowieso schon die ganze Zeit erwarten: dass ich versagen werde. Dass ich unfähig bin, mein Unternehmen zu führen. Und das will ich nicht zulassen. Lilyvents habe ich mir ganz allein aufgebaut, habe Tag und Nacht gearbeitet. Das darf mir keiner kaputt machen. Ja, momentan laufen mir die Kunden davon, weil ich bei der falschen Kundin einen Fehler gemacht habe. Deswegen wollte ich die Sicherheit meiner Eltern im Rücken. Allerdings schaffe ich es auch ohne sie. Wie ich es immer getan habe.
Ich setze ein Lächeln auf. »Keine Geldprobleme und auch sonst nichts, um das du dich sorgen müsstest.«
Hinter meiner Mum fällt etwas klappernd zu Boden und sie drückt fest die Lider aufeinander, während ich an ihr vorbei schiele. Über die hellen Holzdielen breitet sich eine weiße Creme aus, die mit Sicherheit für einen Kuchen gedacht war. Daneben liegt eine große Metallschüssel.
»Kann ich helfen?«, frage ich, um von dem Chaos abzulenken und der Küchenhilfe einige Sekunden zu verschaffen, in denen sie sich sammeln kann, bevor das Donnerwetter in Form meiner Mum über sie hereinbricht.
Mum öffnet die Augen und legt die Stirn in Falten. »Nur, wenn du Wunder vollbringen kannst.« Sie dreht sich langsam um, betrachtet die Szene wortlos. Einen Herzschlag lang steht die Zeit still, keiner bewegt sich. Dann donnert Mum los und ich ziehe mich zurück.
Das Bedürfnis, mich in ihre Angelegenheiten einzumischen, ohne von ihr darum gebeten worden zu sein, habe ich bereits in meiner Jugend abgelegt. Stattdessen gehe ich zurück in die Eingangshalle und betrachte den Baum. Seine Spitze berührt beinahe den großen Kristallleuchter, der in der Mitte des Raums von der Decke hängt. Mittlerweile schmücken das untere Drittel einige Kugeln.
»Entschuldigung«, sage ich zu dem jungen Mann, der mir am nächsten ist und deute auf den Baum. »Sie sollten zuerst den oberen Teil schmücken.«
Verständnislos mustert er mich. »Wieso?«
»Weil sonst die Kugeln zerstört werden, sobald sie auf die Leiter steigen und dauernd an die unteren Äste stoßen«, antwortet jemand an meiner statt und ich drehe mich um.
»Lisa!«, rufe ich fröhlich und laufe zu ihr. Ich schließe sie in die Arme. »Endlich jemand, der sich wirklich freut, mich zu sehen.«
Sie lacht. »Schön, dass du hier bist.«
»Entschuldige, dass ich mich die letzten Wochen derart wenig gemeldet habe«, meine ich und drücke sie fester an mich.
»Kein Problem. Vor Weihnachten herrscht doch überall Chaos. Diese Mischung aus Verzweiflung und Vorfreude macht Weihnachten erst aus.«
Ich löse mich von ihr, lege meine Hände allerdings auf ihre Schultern. »Chaos … da sagst du was. Hier geht es heute drunter und drüber.«
Lisa seufzt. Dabei streicht sie sich eine braune Locke hinters Ohr. Ihre Sommersprossen auf Nase und Wangen sind selbst im Winter deutlich sichtbar. »Damit habe ich fast gerechnet, deswegen bin ich früher gekommen.«
Seit ich denken kann, gehört Lisa zu diesem Anwesen. Ihre Mutter arbeitete als Hauswirtschafterin für meine Familie und brachte Lisa jeden Tag mit, sodass wir zusammen aufgewachsen sind. Nach dem Schulabschluss begann sie eine Ausbildung bei meinem Dad und kümmert sich nun um den Export des Whiskys. In unserer Kindheit waren wir beide unzertrennlich, doch seit ich nach London gezogen bin, haben sich unsere Wege getrennt. Zwar halten wir den Kontakt, aber unser Verhältnis hat sich dennoch verändert.
»Wieso das?«, frage ich und ziehe Lisa mit mir. Zusammen steigen wir die Stufen nach oben in eins der Gästezimmer. Hier drinnen ist es ruhig und wir können unsere Unterhaltung weiterführen.
»Die Eventfirma, die unsere Feste normalerweise organisiert, wurde letztes Jahr verkauft. Bereits bei der Planung ist nahezu alles schief gegangen. Deine Mum war einem Nervenzusammenbruch nach dem anderen nahe. Deswegen wollte ich ihr heute unter die Arme greifen. Hätte ich gewusst, dass du kommst …«
»Hat Mum nichts gesagt?«
Lisa schüttelt den Kopf und ich schnaube, mir fehlen die Worte. Allerdings ist es typisch für meine Mutter. Keine Ahnung, ob sie wirklich gedacht hat, ich würde das Essen schwänzen oder ob sie mir damit ein weiteres Mal zeigen wollte, dass ich kein richtiger Teil dieser Familie mehr bin. Und das, obwohl ich heute Morgen extra angerufen habe.
Egal, welche Intention dahinter steckt, es verletzt mich. Meine Eltern haben meine Träume nie unterstützt, weil es für sie nur einen Weg gab, den ich hätte gehen sollen.
»Ich bin froh, dass du gekommen bist«, meint Lisa und legt ihren Arm um meine Schulter. Sie drückt mich einige Sekunden an sich und ich vertreibe die Gedanken. Mein Vorhaben, um Hilfe zu bitten, ist sowieso zu Staub zerfallen. Daher muss ich lediglich diesen Abend hinter mich bringen und kann zurück nach London kehren. Anstatt mich runterziehen zu lassen, von Dingen, die ich niemals ändern können werde, sollte ich mich auf die guten Sachen fokussieren. Sollte das Essen und die Stimmung genießen. Na ja, zumindest, wenn sich Letztere bis zur Party bessert.
»Du solltest in die Küche gehen«, sage ich zu Lisa. »Die Chancen stehen gut, dass meine Mum sonst jemanden umbringt. Ich werde mich in der Zeit um die Deko kümmern.«
»Danke.« Lisa drückt mich ein letztes Mal an sich, löst sich dann von mir und geht davon. Einen Herzschlag lang sehe ich ihr hinterher. Dieser Tag hat sich bereits jetzt anders entwickelt als erwartet.