Kapitel 1
„Denk bitte daran, meinen Anzug aus der Reinigung zu holen.“ Gregs Worte klingelten in Nells Ohren wie ein lauter Tinnitus, als sie sich ihre Haare zu einem Pferdeschwanz band.
„Oh, so ein Mist!“, fluchte sie ihr eigenes Spiegelbild an, als sie sich an Gregs Bitte erinnerte, und legte sofort einen Zahn zu. Seinen Anzug hatte sie komplett verdrängt und er würde ausflippen, wenn sie dieses überteuerte Stück erneut vergessen würde. Denn das war leider bereits das dritte Mal in den vergangenen drei Monaten passiert.
„Wie sehe ich denn aus, wenn ich mit meinem alten Fetzen dem Kunden gegenübersitze, Nell? Kannst du mir das mal verraten? Gutes Aussehen ist bei einem Kundentermin fast noch wichtiger als das Gespräch an sich. Und mit einem zwei Jahre alten Anzug kann ich diesem Menschen, bei dem es um sehr viel Geld geht, nicht gegenübertreten. Das musst du doch verstehen, Schatz. Ich brauche meinen Armani-Anzug! Nur so kann ich mich voll und ganz in das Verkaufsgespräch einfühlen und du hattest bei deinem … Job“, er hatte das Gesicht verzogen, als hätte er auf eine Biene gebissen, „doch jede Menge Zeit. Oder ist es für die Zukunft deiner Kunden ausschlaggebend, welchen Strauß Rosen sie ihrer Frau mit nach Hause bringen? Dafür hast du Kollegen, die das machen können.“ Immerhin bringen diese Männer, die ich im Blumenladen bediene, ihren Frauen einen Blumenstrauß mit war alles, was Nell in diesem Moment gedacht hatte, während Greg eindringlich auf sie eingeredet hatte, als würde er sie bekehren wollen. Greg war kein Fan von ihrem – wie er es ausdrückte – gewöhnlichen Job als Floristin, bei dem man ja angeblich kein Geld verdiente. Dabei war das immer genau das, was sie hatte machen wollen. Sie liebte Blumen, alles Bunte auf dieser Welt und daher auch ihre Arbeit. Sie hatte sicherlich keine Lust, sich so wie Greg tagein tagaus in Designerklamotten vor irgendwelchen reichen Leuten zum Hampelmann zu machen und ihnen den Hintern zu küssen. Und morgen hatte Greg wieder einen wichtigen Termin – da war ihm gutes Aussehen noch wichtiger als die Luft, die er zum Atmen brauchte.
Eilig zog Nell sich ihre Jeanshose an, wobei sie mit einem Fuß im Hosenbein hängen blieb und sich nur gerade so an der weiß lackierten Schlafzimmerkommode festhalten konnte, um nicht der Länge nach hinzufallen. Anschließend griff sie auf dem Weg zur Haustür nach ihrer Handtasche und ihrem Wintermantel und stolperte aus der Wohnung. Ein Blick auf ihre Armbanduhr verriet ihr, dass sie es noch vor ihrer Arbeit pünktlich schaffen konnte, bei der Reinigung zu sein, ehe diese zur Mittagspause schloss. Es würde knapp werden, aber es war möglich. Letzten Endes fragte sich Nell, warum sie sich diesen Stress eigentlich machte, aber sie wollte zur Abwechslung mal ein bisschen mehr Harmonie in ihre und Gregs Beziehung einfließen lassen. In letzter Zeit war er immer so gestresst und genervt gewesen, da freute sie sich über jedes Fünkchen Freude, was zu Hause herrschte. Und Greg hatte mit seinen zweiunddreißig Jahren in den vergangenen Tagen immer wieder auf die ersten grauen Haare aufmerksam gemacht. So ausgebrannt war der Ärmste schon gewesen. Da konnte er sich nicht auch noch um solche Kleinigkeiten wie einen Gang zur Reinigung kümmern. Sie konnte sich bildlich vorstellen, wie er ihr diese Worte an den Latz knallen würde. Und ausgerechnet heute war auch noch ihr Jahrestag und Greg hatte ihr mit trauriger Miene erklärt, dass er am Abend zwingend Überstunden machen müsse und erst spät nach Hause käme. Sie brauchte nicht auf ihn zu warten. Was sie einmal mehr enttäuschte, denn irgendwo tief in ihrem Innersten war da die Hoffnung auf den langersehnten Ring an ihrem Finger gewesen. Aber morgen Abend, wenn sie ihr romantisches Jahrestags-Essen nachholen würden, wäre ja noch alles möglich. Vielleicht war es dann endlich so weit. Sie wünschte es sich schon so lange. Und vor allem könnte es ihrer Beziehung, die im Moment durch ein kleines Tief ging, den nötigen Schub geben, damit wieder alles so werden konnte wie früher. Daher wollte sie heute keinen Streit vom Zaun brechen. Mit rotem Kopf hetzte sie die mittlerweile überfüllte Londoner Hauptstraße entlang, mit stetigem Blick auf ihre Uhr. Massenweise Leute kamen ihr mit ihren Aktentaschen, Einkaufstüten oder Kinderwagen entgegen. Sie machten keinerlei Anstalten, einer heftig japsenden Frau, die offensichtlich kurz vor einem Kollaps stand, aus dem Weg zu gehen. Noch zehn Minuten und die Reinigung würde schließen! Am Nachmittag hätte Nell definitiv keine Zeit dafür. Morgen stand eine große Hochzeit an, mit der ihre Chefin Chloe nicht nur ein gut gehendes Projekt an Land gezogen hatte, sondern welche auch für den Ruf des Blumenladens, in dem Nell arbeitete, überaus wichtig war. Chloe und Piper würden Nell einen Kopf kürzer machen, wenn sie sich zwischendurch aufmachte, um Gregs Anzug aus der Reinigung zu holen. Zumal die beiden ohnehin nicht sehr gut auf ihren Freund zu sprechen waren. Nell schätzte, wenn sie für jemand anderen einen Botengang machen müsste, würde das sicherlich kein Problem sein ‒ selbst wenn es sich um Hamsterfutter für eine Nachbarin handelte.
Sie lief einen Schritt zügiger, sah die grüne Ampel vor sich und rannte noch schneller. An Läden vorbei, deren Aufstellern sie gekonnt auswich und weiteren Menschen, die es an diesem Morgen scheinbar weniger eilig hatten als sie. Zumal der vom Schnee bedeckte Boden und der dicke Wintermantel es ihr nicht unbedingt leichter machten, sich in der Menschenmasse zu bewegen. Im Slalom hetzte sie in Richtung Ampel, aber sie schaffte es einfach nicht mehr rechtzeitig. Orange, Rot, anhalten, warten.
„Mist!“, fluchte sie und rang nach Luft. Eigentlich hätte sie mit neunundzwanzig etwas sportlicher sein können, schalt sie sich innerlich und nahm weitere tiefe Atemzüge, um am Leben zu bleiben. Ein erneuter nervöser Blick auf ihre Uhr ließ sie unruhig werden. Sie hatte nicht mehr viel Zeit. Ungeduldig hüpfte Nell von einem Bein auf das andere, wog zwischendurch sogar kurz ab, wie hoch das Risiko war, wenn sie blindlings über die Straße laufen würde, aber das war der Anzug dann doch nicht wert. Wobei … für Greg vielleicht sogar schon.
Grün!
Sie hechtete los, rempelte unzählige Menschen an, die ihr Beleidigungen hinterherriefen, bei denen sich ihr die Nackenhaare aufstellten, und bog um die nächste Ecke. Am Ende der Straße befand sich die Reinigung. Sie hatte es fast geschafft. Das Glück zeigte Nell an diesem Tag jedoch mit erhobenem Mittelfinger, dass es wieder einmal nicht auf ihrer Seite war, denn aus einer Seitengasse, direkt vor ihr, setzte ein Laster zurück, sodass Nell gezwungen war, anzuhalten.
„Oh nein!“ Mit keuchendem Atem sah sie zur anderen Straßenseite, doch diese jetzt bei dem Verkehr zu erreichen, schien so aussichtslos wie die Überlebenschance bei einem Sprung von einem Hochhaus.
Sie wartete, den Blick immer wieder auf die Uhr gerichtet. Nur noch drei Minuten! Und der Lastwagenfahrer schien alle Zeit der Welt zu haben. Zudem war das rückwärtige Einfädeln in den Verkehr, bei dem hohen Aufkommen beinahe unmöglich. Nachdem sie kurz durchgeatmet hatte, war der Lkw schließlich so weit, dass Nell ihn vor dem Fahrerhaus umrunden konnte. Sie hatte noch eine Chance! Die letzten Meter hastete sie völlig außer Atem und erreichte schließlich ihr Ziel.
Nell entwich ein erleichtertes Glucksen, als sie gegen die Eingangstür drückte. Allerdings erstarb ihr Lachen in ebendiesem Moment, als sich diese nicht einmal ansatzweise regte. Gleichzeitig tauchte eine Frau auf der anderen Seite der Tür auf und drehte entschuldigend das Schild, welches eben noch optimistisch Offen gezeigt hatte, um. Jetzt prangte Nell das Wort Geschlossen entgegen. So ein verdammter Mist! Sie wappnete sich innerlich bereits jetzt vor dem bevorstehenden Sturm …
Mit gesenktem Kopf und den Händen in den Jackentaschen vergraben, stapfte sie in Richtung Blumenladen. Im Geiste legte sie sich bereits die Worte zurecht, mit denen sie Greg erklären würde, dass sie es nun schon zum dritten Mal nicht geschafft hatte, seinen Anzug aus der Reinigung zu holen. Natürlich könnte sie sagen, dass es die Schuld des Londoner Verkehrs war, aber das klang selbst für Nell zu halbherzig. Als sie in die Straße zum Blumenladen einbog, prallte sie jedoch gegen etwas Hartes. Erschrocken wich sie zurück und blickte einem grimmig schauenden, aber zugegebenermaßen sehr gutaussehenden Mann in die Augen.
„Können Sie nicht aufpassen?“, schimpfte Nell und besann sich, dass der Mann nichts für ihre missliche Lage konnte. Entschuldigend schüttelte sie den Kopf. „Tut mir leid, ich wollte Sie nicht so anfahren. Ich war in Gedanken und …“
„Nell? Bist du das?“
Verwirrt starrte sie ihn an. Scheinbar bemerkte er ihre Verwunderung, denn sie konnte ihn gedanklich nicht in ihrer Kontaktliste einsortieren.
„Dylan“, sagte er schließlich und legte sich, wie um den Effekt zu verstärken, eine Hand auf die Brust. „Dylan Bresslin.“
Dylan Bresslin! Schlagartig hatte sie einen kleinen Jungen vor Augen, der zwar durch sein niedliches und vor allem freundliches Aussehen den Anschein hatte erwecken können, ein wahrer Engel zu sein, hinter dessen Maske jedoch der Teufel persönlich gesteckt hatte. Dylan Bresslin, ihr ehemaliger Schulkamerad, den sie bis in die Highschool hinein wie ein klebriges Kaugummi unter der Schuhsohle nicht losgeworden war. Sticheleien und fiese Streiche hatten bei ihm und seiner ach so tollen Clique zum Tagesprogramm gehört und bedauerlicherweise war sie es gewesen, die sein Bedürfnis, andere zu drangsalieren, abbekommen hatte.
„Dylan Bresslin“, wiederholte sie ungläubig.
„Überrascht, mich zu sehen?“, fragte er neckisch und versenkte seine Hände in den Taschen seines schwarzen Wintermantels.
„Um ehrlich zu sein, ja. Ich wusste nicht, dass du hier in der Stadt bist.“
„Ach, ich bin erst kürzlich wieder hergezogen. Hab’ einen Job als IT-Spezialist in einer Medien-Agentur angenommen. Und du? Geht es dir gut? Du bist ein bisschen blass um die Nase.“
Ihr entging sein hämisches Grinsen nicht. Genauso wie früher, dachte sie. Ganz genauso wie in der Schule.
„Meine blasse Nase lass mal lieber meine Sorge sein“, entgegnete sie scharf und straffte die Schultern. „Entschuldige bitte, ich würde ja liebend gerne mit dir plaudern, aber ich muss zur Arbeit. Also dann … hab noch ein schönes Leben.“
Sie setzte erhobenen Hauptes zum Weitergehen an und erntete sofort ein heiteres Lachen von Dylan. „Oh Mensch, Nell. Bist du immer noch das schnippische Mädchen von damals? Du nimmst mir doch wohl nicht mehr übel, dass ich dich ab und zu mal ein bisschen gefoppt habe, oder?“
„Ein bisschen gefoppt?“ Nell fielen beinahe die Augen aus den Höhlen und sie blieb dicht neben ihm stehen. Sie konnte seinen Duft einatmen, der, wie sie nur ungern zugeben musste, sehr anziehend wirkte, doch sie schüttelte den Gedanken daran sofort ab.
„Ich denke nicht, dass das hier der richtige Ort und der richtige Moment sind, um über die Vergangenheit zu sprechen. Zudem wärst du so ziemlich die letzte Person, mit der ich über die Schulzeit plaudern würde. Aber einen Tipp gebe ich dir gerne an die Hand: Google doch mal den Unterschied zwischen Foppen und Mobben. Vielleicht öffnet dir das ein bisschen die Augen und du verstehst, warum ich nicht gerade Luftsprünge mache, dich hier zu sehen. Also, leb wohl, Dylan Bresslin.“ Die letzten Worte betonte sie noch einmal mit Nachdruck und hielt seinem Blick stand.
Doch er wirkte alles andere als geschockt, sondern ein schiefes Lächeln umspielte seine Lippen. Was ihn leider nicht weniger attraktiv erscheinen ließ. Sie wandte sich hastig ab und entfernte sich mit zügigen Schritten von ihrem ehemaligen Erzfeind aus Kindheitstagen. Dennoch konnte sie seinen stechenden Blick förmlich in ihrem Rücken spüren. Allerdings fühlte sie sich ein wenig besser, denn schließlich hatte sie ihm endlich einmal die Stirn geboten und ihn einfach so stehen zu lassen, gab ihr auch eine gewisse Genugtuung. Aber sei es drum. Sie musste die Erinnerungen an ihn schnell wieder abschütteln. Immerhin hatte sie ganz andere Probleme, mit denen sie sich auseinandersetzen musste. Und Dylan, das Ekelpaket-von-damals Bresslin, sollte nie wieder eines davon werden.
Kapitel 2
„Ich sagte doch, es tut mir leid“, wiederholte Nell zum x-ten Mal, doch Greg ließ sich nicht erweichen. Ihn anzurufen und ihm von ihrem Malheur zu berichten, hatte sie schon jede Menge Kraft und Nerven gekostet.
„Dann holst du ihn eben am Nachmittag ab. Wo ist das Problem, Schatz?“, fragte er und Nell spürte seinen Frust durch den Hörer hindurch. Es war beinahe so, als würde ihr Smartphone bei jedem seiner Worte vibrieren.
„Ich fürchte, dass das nicht geht. Wir haben einen Großauftrag und es gibt einiges zu tun. Chloe und Piper bringen mich um, wenn ich die beiden jetzt hängen lasse.“
„Sollen die Leute doch auf die Wiese gehen und sich ihre Blumen selbst pflücken! Herrgott, es ist nur Grünzeug! Morgen um zehn habe ich ein Gespräch mit einem großen Kunden. Du glaubst ja gar nicht, wie extrem wichtig das ist. Schatz, ich glaube, ich kann da einen ganz dicken Fisch an Land ziehen“, erklärte er eindringlich und Nell konnte sich regelrecht das Leuchten in seinen Augen vorstellen. Er hatte es immer, wenn er über die Arbeit sprach. Bei Nell hatte er das schon lange nicht mehr. In seinen Augen erkannte sie ja nicht einmal mehr ein leichtes Glimmen, wenn er sie ansah.
„Aber die Frau von der Reinigung sagte mir, dass sie morgen Ruhetag haben und der Anzug heute abgeholt werden müsse. Ansonsten habe ich nichts Ordentliches anzuziehen“, ereiferte er sich weiter.
Nell schnaubte und rollte genervt mit den Augen. Es war ihr ehrlich gesagt herzlich egal, mit welchem seiner sündhaft teuren Anzüge er umherrannte und den Kunden Honig ums Maul schmierte, aber das behielt sie besser für sich. Außerdem sahen seine Anzüge ohnehin alle gleich aus. Wenn ihr das schon auffiel, dann würden seine Kunden mit Sicherheit keinen Anstoß daran nehmen ‒ ob nun von Versace oder Armani.
„Es tut mir leid, Greg. Ich kann da wirklich nichts machen. Vielleicht musst du dich ausnahmsweise mal selbst um deine Sachen kümmern. Auch wenn du es nicht verstehst, aber ich liebe meinen Job und als Blumenpflückerin habe ich dennoch eine gewisse Verantwortung für meine Kunden“, entgegnete sie und wusste zeitgleich, dass sie damit alles nur noch schlimmer machte. Aber sich auf der Nase herumtanzen und sich beleidigen zu lassen, das musste sie nun wirklich nicht. Außerdem war da noch immer dieses gewisse Fünkchen Wut in ihr, das Dylan Bresslin geschuldet war.
„Gut, wenn du meinst, dass deine Arbeit genauso viel wert ist wie meine, dann kann ich ja kündigen und du schaust mal, wie du uns dann über die Runden bringst“, gab er in arrogantem Tonfall zurück.
In Nell stieg ein ungeheurer Groll auf und sie wollte gerade zum Gegenschlag ansetzen, als Greg einfach weitersprach. „Ich werde meine Sekretärin Liza losschicken, damit sie ihn mir holt. Auf sie kann ich mich wenigstens verlassen. Sie wird sich freuen, wenn sie deinetwegen Überstunden schieben darf. Ich richte herzliche Grüße von dir aus.“
Dann frage sie das nächste Mal doch einfach gleich.
Außerdem waren Nell Lizas Überstunden ziemlich egal. Immerhin bekam sie diese bezahlt, da sollte sie sich mal nicht so anstellen.
„Klingt nach einem guten Plan!“, schoss Nell zurück. „Dann solltest du sie das nächste Mal einfach gleich fragen. So kannst du dir wenigstens deine fiesen Kommentare sparen. Ich wünsche dir übrigens auch einen schönen Jahrestag!“
Greg seufzte am anderen Ende der Leitung und kurz wurde es still.
„Tut mir leid, Schatz.“
Nell sagte nichts, sondern blickte sich im Büro des Blumenladens um und schüttelte entmutigt den Kopf. Warum musste es in letzter Zeit immer alles so kompliziert zwischen ihnen sein?
„Schatz? Bist du noch dran?“
Nell nickte, obwohl Greg sie nicht sehen konnte, und antwortete schließlich: „Ja, ich bin noch dran.“
„Ich wollte dich nicht so anfahren. Ich bin nur so aufgeregt wegen des Gespräches morgen, verstehst du? Ich sitze schon den ganzen Tag an den Vorbereitungen und die werden bis in den späten Abend dauern …“
„Natürlich verstehe ich das. Dennoch ist das kein Grund, mich so anzuschnauzen.“
„Du hast recht. Und das Essen holen wir morgen nach, einverstanden? Diese Überstunden sind einfach …“
„… unglaublich wichtig, um in der Hierarchie nach ganz oben zu kommen“, wiederholte Nell Gregs Worte, die er beinahe täglich rauf und runter betete.
„Ganz genau. Also warte nicht auf mich. Wir sehen uns morgen dann.“
Nell schnaubte resigniert. „Ja, bis morgen.“
Nachdem sie einen kurzen Moment die Augen geschlossen und tief durchgeatmet hatte, legte sie ihr Smartphone in den Spind des Büros, band sich ihre roséfarbene Schürze um und trat wieder nach vorne in den Verkaufsraum, aus dem ihr ein herrlicher Blumenduft entgegenschlug. Der Geruch verschiedener Blumen hatte etwas Magisches und wirkte wie eine beruhigende Droge auf sie und sogleich entspannte sie sich ein wenig. Im Verkaufsraum stieß sie auf Piper, die sie mit fragenden nussbraunen Augen ansah.
„Na, hast du es wieder einmal verbockt?“ Kichernd wandte sie sich ihrem Blumengesteck zu, an welchem sie voller Leidenschaft werkelte.
Nell beobachtete sie einen Moment, wie sie mit flinken Fingern eine Ranke Efeu um das Gesteck wickelte und schüttelte seufzend den Kopf. „So sehr, wie man es nur verbocken kann. Ich bin unfähig und mein Job ist so viel wert wie eine Karre Mist. Neulich sagte er sogar zu mir, dass ich mit meinen neunundzwanzig Jahren ruhig mehr vom Leben erwarten darf. Während Greg also die dicken Fische an Land zieht, beißen an meine Angel gerade mal Saugschmerlen an.“
„Ach Süße, ich sag es dir ja schon lange: Diesen Vogel hätte ich schon längst in den Wind geschossen.“ Sie schob sich eine lange blonde Strähne hinter die Ohren, die aus ihrem Pferdeschwanz entwichen war.
„Piper, bitte …“, seufzte Nell, während sie nach dem Ordner angelte, der sich oberhalb des Regals hinterm Tresen befand, „… das Thema hatten wir oft genug. So einfach ist das alles nicht. Greg hat nur einen schlechten Tag und steht ziemlich unter Druck, wegen seines Termins morgen. Und wenn er so im Stress ist, merkt er manchmal gar nicht, was er da eigentlich sagt.“
„Ich glaube, du merkst auch nicht mehr, was er da eigentlich sagt. Dass du ihn auch immer noch in Schutz nimmst! Er ist jeden Tag genervt, gestresst, erschöpft, abgehetzt … wie viele Beispiele brauchst du noch?“ Piper ließ von ihrem Gesteck ab und legte zwei rosafarbene Rosen beiseite, bevor sie Nell von der Seite musterte, eine Hand in die Hüften gestemmt, die andere mahnend trommelnd auf dem Tresen. „Du solltest wirklich mal darüber nachdenken, ob das mit euch beiden noch eine Zukunft hat. Ich meine … ihr seid schon so lange zusammen und wie lange wartest du bitte schon auf einen Antrag? Ich sag dir, der Kerl ist mit sich selbst verheiratet, der wird dir nie deinen langersehnten Ring schenken.“
Nell zuckte seufzend mit den Schultern. „Glaube mir, ich denke vermutlich öfter darüber nach, als du dir vorstellen kannst. Ich weiß, dass es so nicht weitergehen kann. Immerhin ist es nicht mehr so schön, wie es einmal war. Aber zumindest verbindet uns auch so viel miteinander. Wir haben die letzten neun Jahre zusammen verbracht und wir hatten viele gute Zeiten. Früher war Greg wirklich toll. Einfühlsam, lustig, zuvorkommend und einfach … Greg eben. Ich kenne nur ihn. Ich kenne es nur, mit Greg zusammen zu sein und ist das nicht auch irgendwie was Besonderes?“
„Etwas Besonderes wäre es, wenn ein Prinz auf einem Pferd vor deiner Haustür steht und dich fragt, ob du die Prinzessin des Buckingham Palace werden möchtest. Aber bei Greg ist nichts besonders. Außer vielleicht sein arrogantes Auftreten und sein Job als Arschlecker, den er seit ein paar Monaten hat“, schnaubte Piper und wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab.
„Ja, du triffst den Nagel auf den Kopf.“ Nell schlug gedankenverloren die Seite des Ordners auf, der das Konzept für die morgige Hochzeit beinhaltete. Es gab noch eine ganze Menge zu tun und sie wollte und durfte sich jetzt nicht zu sehr ablenken lassen.
„Tu mir einen Gefallen und denk zur Abwechslung auch mal an dich. Greg hat sich verändert. Und du bist nicht mehr glücklich, das sehe ich doch. Mein Rat an dich: Verpass diesem Kerl einen saftigen Tritt in den Hintern!“
„Ich liebe deine zügellose Zunge“, kicherte Nell, während sie so tat, als würde sie die wichtigsten Infos für den Auftrag verinnerlichen.
„Nell, ich weiß, dass du mir insgeheim Recht gibst, es aber eigentlich nicht wahrhaben willst. Also bitte ich dich nur um eine Sache: Denk darüber nach, ob du ohne Greg nicht besser dran wärst.“
Pipers sorgenvoller Ton in der Stimme erreichte Nell mehr als sie zugeben wollte und so atmete sie schwer aus. „Okay. Weißt du was? Du hast recht. Du hast total recht.“ Resigniert klatschte sie mit der flachen Hand auf den Ordner und sah ihre Kollegin und gleichzeitig beste Freundin an. „Dass unsere Beziehung allmählich aus dem Ruder läuft, dessen bin ich mir bewusst und ich weiß auch, dass du und Chloe vollkommen recht habt. Es ist nur …“, Nell blickte sich nachdenklich um, „… wir sind schon so lange ein Paar. Es ist normal für mich, mit ihm zusammen zu sein. Es gab immer nur Greg und ich weiß eben auch, wie es mal zwischen uns gewesen ist und das war toll. Wirklich. Manchmal habe ich die Hoffnung, dass es noch einmal so werden könnte wie früher, als wir so verliebt und glücklich waren. Außerdem könnte es ja auch sein, dass er mir morgen die große Frage stellt und deshalb so nervös ist.“ Nell blickte verschwörerisch zu ihrer Freundin.
Doch Piper zog als Antwort skeptisch eine Braue in die Höhe. „Morgen? Habt ihr nicht heute euren Jahrestag? Immerhin sprichst du schon seit Tagen davon.“
„Ja, ich weiß. Aber Greg muss länger arbeiten und daher haben wir es um einen Tag verschoben.“
„Das lasse ich mal unkommentiert“, seufzte Piper, als wäre ihre Freundin ein hoffnungsloser Fall. Als Nell ihren Gesichtsausdruck bemerkte, lächelte sie versöhnlich. „Ich werde mir deine Worte zu Herzen nehmen, okay? Außerdem werde ich mit Greg reden, dass wir dringend etwas ändern müssen.“
„Das solltest du auch“, pflichtete Piper ihrer Freundin bei und deutete drohend mit einer Schere auf sie, ehe sie sich wieder ihrem Gesteck aus Rosen und Efeu zuwandte.
Am Morgen war es im Laden ruhig, sodass keine Kunden sie von diesem Gespräch abhalten konnten. Nell blickte kurz auf, um zu schauen, ob sie die Blumen für den Strauß, den sie noch anfertigen musste, vorrätig hatten. Natürlich war es so. Chloe hatte mal wieder an alles gedacht und die Blumen ordentlich auf die Apfelkisten, die gegenüber vom Tresen standen, in Vasen aufgereiht und beschriftet. Als Nell den alten, in mintgrün gestrichenen Buffetschrank begutachtete, fand sie eine Reihe aufgerollter Spitzenbänder, die sie um ihren Strauß binden konnte. Sie liebte dieses alte Möbelstück, welches Chloe eines Tages auf einem antiken Flohmarkt, gut eine Stunde von London entfernt, erstanden hatte. Allein dieses Stück in ihrem mickrigen Auto hierher zu transportieren, war eine Tortur gewesen, an die die drei Freundinnen nur zu gerne zurückdachten. In mühevoller Arbeit hatten sie das alte Ding sorgsam abgeschmirgelt und mit Farbe bestrichen. Die Glasscheiben an den oberen Türen hatten sie ersetzen lassen müssen, da diese zu viele Risse gehabt hatten, sodass man die Blumenvasen, die sie verkauften, darin kaum noch hatte erkennen können.
„Sieht übrigens toll aus, was du da machst“, wechselte Nell das Thema und deutete mit einem Kopfnicken auf Pipers Werk.
„Danke. Das ist für morgen. Das Brautpaar soll es an seinem Platz stehen haben. Das Gesteck wird vorne am Tisch leicht herunterhängen. Ich werde noch dieses süße Band aus cremefarbener Spitze und die rosa Perlen hineinarbeiten, die wir letzte Woche auf dem Großmarkt gekauft haben.“
Sie lächelte, als sie darüber sprach und wieder einmal konnte man ihr die Leidenschaft, mit der sie ihrem Job nachging, ansehen. Piper war dafür gemacht, Floristin zu sein. Sie und Nell hatten sich damals in der Ausbildung kennengelernt. Irgendwann hatte Piper dann, während Nell in einem Blumenladen gearbeitet hatte, der kurz vor dem Bankrott gestanden hatte, freudestrahlend bei ihr angerufen und erzählt, dass sie noch jemanden in Chloes Laden brauchen würden. Nell war sofort Feuer und Flamme gewesen und das hatte sich als eine der besten Entscheidungen ihres Lebens entpuppt. Sie liebte den wunderschönen kleinen Laden am Stadtrand von London, bei dessen Aufbau sie hatte mitwirken dürfen. Damals hatten ein großer Umbau und eine Neuausrichtung bevorgestanden und dafür hatten sie kompetentes Personal gebraucht. Mit ihrer Chefin Chloe, die für Nell und Piper mehr Freundin als Chefin war, war diese Art zu arbeiten traumhaft. Die drei waren ein gutes Gespann und mit Bobby, der ab und zu aushalf, wenn Not am Mann war, fühlten sie sich so manches Mal unbesiegbar.
Chloes Flower Dream hatte sich in der Stadt einen guten Namen gemacht, konnte aber noch mehr Publicity vertragen. So war der Auftrag für die riesige Hochzeit mit knapp zweihundertfünfzig Gästen morgen natürlich das gewesen, wonach sie schon lange die Finger ausgestreckt hatten. Wenn jetzt alles gut lief, dann würde es sich herumsprechen und sie konnten darauf aufbauen.
„Was steht als Nächstes an?“, fragte Nell und blätterte im Ordner.
„Chloe hat eine To-Do-Liste neben die Kasse gelegt, dort hat sie alle einzelnen Punkte, die wir heute unbedingt erledigen müssen, aufgelistet. Etwa um 17 Uhr fahren wir hier los und bringen die ganzen fertigen Sträuße und Gestecke schon einmal zum Anwesen. Die Hortensien, die wir neben den Tisch mit den Geschenken und vor die Terrassentür stellen, bringen wir morgen früh hin, damit die auch richtig frisch sind. Auch das Schleierkraut, was du schon mit dem Tüll vorbereitet hast, werden wir erst morgen anliefern, damit bis dahin bei der Kälte nichts kaputtgeht. Ansonsten sieh mal nach, wie es mit den Gestecken für den Geschenketisch aussieht.“
„Okay, mache ich“, antwortete Nell und warf einen Blick auf die Liste. So sehr sie sich auch versuchte zu konzentrieren, immer wieder drifteten ihre Gedanken zu Greg ab. Piper hatte recht mit allem, was sie über ihn gesagt hatte. Dennoch fand sie es ihm gegenüber nur fair, ihm eine letzte Chance zu gewähren. Sie verstand den Druck, der auf ihm lastete und war positiv gestimmt, dass sich bald wieder alles einrenken würde. Eine letzte Chance würde sie ihnen beiden geben! Daher würde sie diese für sich selbst auch auf jeden Fall nutzen und wusste auch schon wie.