1. Kapitel
„Fertig!“
Erleichtert schlug Chrissie den Deckel des Aktenordners zu und schob ihn ins Regal, während sie zeitgleich ihren Computer herunterfuhr und mit dem rechten Arm in die Winterjacke schlüpfte, die über der Rückenlehne des Bürostuhls hing. Unglücklicherweise gab die Lehne den linken Ärmel nur zögerlich frei.
„Mist!“
Chrissie betrachtete entnervt den zehn Zentimeter langen Riss im Futter, aus dem schelmisch einige weiße Daunen herausschauten. Vor den Augen der gestressten jungen Frau quollen sie aus ihrem Gefängnis hervor und rieselten anmutig dem Büroteppich entgegen wie kleine Schneeflocken.
„So eine Sch…!“
„Alles in Ordnung bei Ihnen, Frau Bucher?“
Mit fragendem Blick steuerte Alois Huber, der Inhaber der Werbeagentur, auf Chrissie zu. Sie wirbelte herum, rutschte fahrig mit dem linken Arm in den zweiten Ärmel und schloss die Jacke. Eine freche Daune wippte dabei auf ihrer Stiefelspitze.
„Ja, ja. Alles Bestens. Ich bin bloß äußerst spät dran. Frohe Weihnachten, Herr Huber.“
„Das wünsche ich Ihnen auch. Eine gute Zeit bei Ihrer Familie und schöne Feiertage.“
„Vielen Dank. Grüßen Sie bitte Ihre Frau.“
Wenig elegant warf sich Chrissie ihre Schultertasche über, griff nach der großen, schweren Reisetasche, die den ganzen Vormittag geduldig unter dem Schreibtisch auf sie gewartet hatte und eilte aus dem Büro. Nur das Geräusch ihrer Absätze auf dem Parkett durchbrach die ungewohnte Stille der beinahe vollständig verwaisten Räume.
Draußen sog Chrissie die kalte Winterluft ein und hastete zum nächstgelegenen Buchladen, in dem ihre vorbestellten Geschenke auf die Abholung warteten.
Als sie energisch die Tür aufdrückte und ein leises Klingeln ertönte, stellte sie erleichtert fest, dass lediglich zwei Kunden und ebenso viele Verkäuferinnen im Geschäft waren, was für eine zügige Abfertigung sprach. Eine ältere Dame ließ sich an einem der Regale beraten, während der Mittdreißiger an der Kasse gerade seine Scheckkarte zückte. Na, bitte! Dann war ja alles im grünen Bereich.
Doch überraschend bat der Kunde darum, die beiden Bücher einzeln zu verpacken, was Chrissies Puls in ungesunde Gefilde katapultierte. Verstohlen blickte sie auf ihre Armbanduhr. In zehn Minuten würde der Zug im Münchner Hauptbahnhof einfahren, um ihn kurz darauf wieder zu verlassen. Zwischen ihrem jetzigen Aufenthaltsort und dem Bahnsteig lagen allerdings noch einige Minuten Fußmarsch.
„Sind die Geschenke für eine Dame oder für einen Herren?“
„Dieses für eine Dame, das andere für einen Herren.“
„Möchten Sie für das Erste eine pastellfarbene Verpackung oder ein Weihnachtsmotiv?“
Die Verkäuferin deutete auf mehrere Geschenkpapierrollen hinter dem Tresen und der Kunde begutachtete sie in aller Seelenruhe. Verzweiflung stieg in Chrissie auf. Er sollte sich gefälligst entscheiden! Ungeduldig wechselte sie im Sekundentakt das Standbein. Dabei verbreitete sie eine derartige Unruhe, dass die Buchhändlerin ihr einen unwilligen Blick zuwarf, während sich der Kunde mit hochgezogenen Augenbrauen zu ihr umdrehte und sie ansah, als sei sie eine nörgelige Dreijährige am Süßwarenregal neben der Supermarktkasse. Anschließend schwenkte er provokativ langsam zurück und nahm das erste Geschenk entgegen. Die Sekunden dehnten sich wie Kaugummi und Chrissie verfolgte angespannt jede Bewegung der geübten Hände, die das zweite Buch in tannengrünem Papier verschwinden ließen. Endlich war es fertig verpackt und wurde dem Mann übergeben, der sich höflich bedankte und zum Gehen anschickte, wobei er Chrissie erneut mit einem abschätzigen Blick bedachte. Diese schob sich eilig an ihm vorbei, ratterte einen Gruß, ihren Namen sowie ihr Anliegen herunter und hatte, ehe die Buchhändlerin mit den bestellten Büchern aus dem Lager zurückkehrte, bereits viermal auf ihre Armbanduhr gesehen. Sechs Minuten bis zur Einfahrt des Zuges. Kaum zu schaffen! Für einen kurzen Moment schloss Chrissie die Augen. Ihr Magen krampfte sich zusammen.
„Darf ich die Bücher einpacken?“
„Auf keinen Fall!“ Chrissie streckte die Hände aus und ließ gefühlte fünf Kilogramm Papier in ihrer Schultertasche verschwinden. „Äh, ich meinte: Nein, vielen Dank. Ich bin in Eile!“
„Es scheint so.“ Das Lächeln der Verkäuferin sah reichlich erzwungen aus, als sie kassierte. „Besinnliche Weihnachten, Frau Bucher.“
Um Zeit zu sparen, schob Chrissie ihre EC-Karte hastig in die Hosentasche und erwiderte den Gruß. Beim Hinauseilen überlegte sie kurz, ob sich hinter dem Wort „besinnlich“ eine versteckte Botschaft für besonders hektische Kunden verbarg.
Das sanfte Klingeln des Türglöckchens im Rücken rannte Chrissie, so gut es mit der schweren, unhandlichen Reisetasche und den in ihre Seite piekenden Büchern möglich war, zum Hauptbahnhof. Keuchend überflog sie die Anzeigetafel und fluchte leise über die Gleisnummer. Als sie endlich verschwitzt und völlig außer Atem am Bahnsteig ankam, setzte sich der Regionalexpress Richtung Kempten bereits in Bewegung und verließ ohne Chrissie die bayrische Hauptstadt. Erschöpft japste sie nach Luft. Dutzende Schimpfwörter wirbelten durch ihren Kopf und sie musste sich sehr beherrschen, sie nicht allesamt hinter dem an Tempo gewinnenden Zug her zu schreien. Verzweifelt taumelte Chrissie zu einer Bank und ließ sich darauf nieder. Die Konturen vorbeieilender Reisender verschwammen vor ihren Augen, die sie umgehend schloss, um Herr über den Schwindel zu werden, der sich in ihrem Kopf breit machte. Was nun?
Sie rief sich in Erinnerung, dass die nächste Verbindung nicht in Frage gekommen war, da der Zug eine knappe Stunde später abfuhr und ein mehrmaliges Umsteigen erforderte. Ihre Eltern würden sehr verärgert sein. Schließlich hatten sie Chrissie ausdrücklich gebeten, bereits am 23. Dezember anzureisen, um jeglichen Weihnachtsstress zu vermeiden und nun das!
Chrissie fröstelte trotz der kuscheligen Daunenjacke. Sie fror vor lauter Wut und Verzweiflung, es zum wiederholten Male vermasselt zu haben. Bildlich konnte sie sich die Reaktion ihrer Mutter vorstellen, weil die aus den USA angereiste Katja pünktlich in Oberstdorf sein würde, sie jedoch nicht.
Das Drehen in Chrissies Kopf ließ langsam nach und als sie den ersten klaren Gedanken fassen konnte, beschloss sie, etwas zu Essen zu kaufen, das ihren Kreislauf in Schwung bringen würde.
Mit einer Wasserflasche und einem Stück lauwarmer Pizza bewaffnet trat sie kurz darauf kauend auf den Bahnhofsvorplatz. Eine Großfamilie näherte sich lärmend und ein Rollstuhlfahrer wich einem Kinderfahrrad aus, woraufhin ein mit Taschen und Blumen beladener Mann zur Seite springen musste und mit Chrissie kollidierte. Das letzte Teigstück ihres Zwischensnacks landete mit der klebrigen Oberseite auf seiner Jacke, während der wunderschöne, bunte Blumenstrauß unter die Stützräder des minderjährigen Verkehrsrowdys geriet.
„Na, toll!“, fauchte die ohnehin schlecht gelaunte und nun um ihr Essen gebrachte Chrissie den Fremden an. „Können Sie nicht aufpassen?“
Er würdigte sie keines Blickes, sondern hob die armen, teils geköpften Stängel vom Boden auf. Die ehemals pompöse Folie hing traurig und in Fetzen herab, sodass der Strauß ein Bild des Jammers bot. Der kleine Übeltäter allerdings, der den Zusammenstoß zu verantworten und die Blumen auf dem Gewissen hatte, war längst über alle Berge, als der Mann mit spitzen Fingern die Pizza von seiner Lederjacke kratzte.
„Mein Weihnachtsessen hatte ich mir irgendwie anders vorgestellt.“
Erst jetzt sah er Chrissie an und beide sogen im Duett die Luft ein.
„Sie schon wieder!“, fauchte sie wenig damenhaft.
„Die Freude ist ganz meinerseits“, spottete er mit vor Ironie triefender Stimme. „Darf ich Sie zu einem Rest Pizza einladen?“
Er streckte Chrissie den Klumpen entgegen, den er soeben von seiner Lederjacke geklaubt hatte. Dabei grinste er äußerst unverschämt, wie sie fand.
„Sie laden mich zu meiner eigenen Pizza ein?“ Ihre Stimme war schneidend. „Schönen Dank für Ihre Anmaßung und dafür, dass Sie mein Weihnachtsfest ruiniert haben …“
Er runzelte fragend die Stirn.
„Dieser Fastfood-Happen war Ihr Weihnachtsfest? Dann entschuldige ich mich natürlich.“
„Nicht die Pizza!“ Chrissie war den Tränen nahe. „Ihretwegen habe ich den Zug verpasst, Sie Idiot.“
„Meinetwegen? Was soll das heißen?“
„Wenn Sie nicht so viele Geschenke gekauft und die Buchhändlerin alle hätten einpacken lassen, wäre ich nun auf dem Weg zu meiner Familie.“
Ein deutlicher Vorwurf schwang in ihrer Stimme mit, während sie ihn wütend musterte. Er sah gar nicht übel aus, trotzdem beschloss sie, ihn zu hassen.
Seine Mundwinkel zuckten verdächtig, als er sich erkundigte: „Sie halten demnach zwei Bücher für eine Unmenge an Geschenken? Und den handelsüblichen Vorgang des Einpackens für unzumutbar?“
„Ach, Sie! Was rede ich überhaupt mit Ihnen!“
Wütend wandte sich Chrissie ab. Eine Träne glitzerte in ihrem Augenwinkel. Der Fremde musterte ihr Profil. Vermittelnd sagte er: „Es wird doch sicher einen späteren Zug geben …“
„Natürlich gibt es den, aber meine Mutter ist unerbittlich, wenn ich nicht rechtzeitig zum Gottesdienst erscheine und ich kann schlecht von München nach Oberstdorf joggen!“
Unverwandt hielt er den Blick auf Chrissie gerichtet, die sich seufzend nach ihrer Reisetasche bückte. Das Gepäckstück schien Tonnen zu wiegen.
„Warten Sie!“
Der Fremde machte einige weitausholende Schritte, warf das Pizza-Püree und die sterblichen Überreste der Blumen in den nächsten Mülleimer und baute sich direkt vor Chrissie auf.
„Sagten Sie, dass Sie nach Oberstdorf wollen?“
„Was geht Sie das an?“
„Nichts. Allerdings fahre ich später nach Sonthofen und wie Sie sicher wissen, liegen beide Orte nur wenige Kilometer voneinander entfernt.“
Chrissie sah ihn abwartend an. Wollte er ihr eine Mitfahrgelegenheit anbieten? Ein Wildfremder?
Er räusperte sich.
„Na, was ist? Soll ich Sie mitnehmen?“
Chrissie nagte unsicher an ihrer Unterlippe. Einerseits bot er ihr eine Möglichkeit, die familiäre Katastrophe abzuwenden und pünktlich zum großen Fest einzutreffen. Das bedeutete, keine Fragen, keine Vorwürfe – ein wahrlich verlockender Gedanke.
Andererseits wusste sie nichts über ihn, außer dass er zwei Bücher und einen soeben vernichteten Blumenstrauß hatte verschenken wollen und keine Pizzareste auf der Lederjacke mochte. Aber wer tat das schon?
Womöglich fuhr er wie ein Wahnsinniger. Außerdem hatte sie keine Ahnung, ob er Frauen begrapschte oder Schlimmeres. Sie kannte nicht einmal seinen Namen. Alles in ihr sträubte sich gegen das Angebot. Zu ihrem eigenen Unbehagen tauchte jedoch in ihrer Vorstellung das enttäuschte Gesicht ihrer Mutter auf und entgegen jeder Überzeugung hörte sich Chrissie fragen: „Wann wollten Sie denn aufbrechen?“
„Eigentlich erst in einer Stunde, aber da ich nur fünf Minuten entfernt wohne … Wenn ich mich beim Packen beeile, können wir in zwanzig bis dreißig Minuten unterwegs sein.“
Chrissie starrte ihn weiterhin unschlüssig an. Er war groß – sie schätzte ihn auf knapp einen Meter neunzig – hatte eine sportliche Statur, braunes, leicht gewelltes Haar und vertrauenerweckende, braune Augen, die ihrem forschenden Blick mühelos standhielten.
„Vorausgesetzt Sie entscheiden sich in näherer Zukunft …“
Mit diesen Worten riss er Chrissie aus ihren Gedanken.
„Ich weiß nicht …“
„Falls Sie es vorziehen, auf dem kalten Bahnsteig auszuharren und den Kirchgang mit Ihrer Familie zu versäumen, müssen Sie es bloß sagen.“
Warnungen aus ihrer Kindheit und Jugend echoten in ihrem Kopf: Niemals und unter keinen Umständen zu einem Unbekannten ins Auto steigen!
„Sie fahren nicht bei jedem dahergelaufenen Fremden mit, oder? Sehr vernünftig.“
Konnte er Gedanken lesen?
„Wollen Sie damit sagen, dass Sie Ihr Angebot zurückziehen?“
„Keineswegs. Aber ich würde einer Frau nie empfehlen, per Anhalter zu reisen.“
„Außer in Ihrem Auto natürlich!“
„Genau.“
Da war es wieder, dieses lausbubenhafte Grinsen.
„Ich kenne nicht einmal Ihren Namen.“
„Jonas Schuster. Verraten Sie mir auch Ihren?“
Sie zögerte für den Bruchteil von Sekunden, dann hatte sie eine Idee: Wenn sie ihrer besten und sehr verschwiegenen Freundin Ina seinen Namen und die Autokennzeichen schickte, hatte sie eine Absicherung, falls er nicht so harmlos war, wie er vorgab.
„Christiane Bucher.“
„Sehr erfreut. Ich nehme das einfach mal als Zusage. Soll ich Ihre Tasche tragen? Sie scheint recht schwer zu sein.“
„Danke.“
Erleichtert überließ Chrissie ihm das sperrige Gepäckstück. Fünf Minuten Entfernung hatte er gesagt. Mal sehen, ob das stimmte.
„Planen Sie, Ihre Familie mit lebensgroßen Steinskulpturen zu beglücken?“
Er warf einen fragenden Blick auf die Tasche.
Wie indiskret!
„Es sind Schindeln darin. Ich schenke meinen Eltern ein neues Vordach.“
Jonas Schuster lachte laut auf.
„Gut gebrüllt, Löwe. Es geht mich ja wirklich nichts an.“
Chrissie fand sein Lachen sehr sympathisch. Es klang echt und unbeschwert. Vielleicht war er doch nicht ganz so grässlich, wie sie zunächst angenommen hatte. Sie folgte ihm durch die Straßen.
Urplötzlich blieb er stehen, drückte auf eine Fernbedienung und der Kofferraum eines schwarzen Sportcoupés sprang auf. Er hievte Chrissies Reisetasche und seine Papiertüte hinein und wischte sich theatralisch mit der Hand über die Stirn.
„Das Vordach ist verstaut, Mylady.“
Jonas Schuster wandte sich um und öffnete die nächstgelegene Haustür. Einladend hielt er sie auf.
„Darf ich bitten?“
Erschrocken wich Chrissie einen halben Meter zurück.
„Nein, danke. Ich warte hier.“
„Wirklich? Es wird sicher zehn bis fünfzehn Minuten dauern.“
Sie nickte und er ergänzte achselzuckend: „Wie Sie meinen. Falls es zu kalt werden sollte, klingeln Sie einfach.“
Jonas verschwand im Hausflur und die Tür fiel hinter ihm ins Schloss. Chrissie begutachtete und umrundete das Auto. Jetzt konnte sie ihre Idee in die Tat umsetzen und kramte nach ihrem Mobiltelefon. Sie knipste das Coupé von allen Seiten. Anschließend schickte sie die Fotos an ihre Freundin Ina mit dem Vermerk, dass sie aufgrund widriger Umstände erstmals in ihrem Leben per Anhalter zu fahren gedenke und Ina als ihre persönliche Lebensversicherung betrachte. Die Nachricht wurde umgehend übermittelt, aber nicht gelesen, wie Chrissie bedauernd feststellte.
Über ihr öffnete sich ein Fenster.
„Was tun Sie da? Gehören Sie einer Autoschieber-Bande an und geben gerade Informationen an Ihre Komplizen weiter?“
„Natürlich nicht!“
„Weshalb machen Sie sonst Fotos von meinem Wagen? Und sagen Sie nicht, Sie haben vor, nächste Woche dasselbe Modell zu erwerben. Das kaufe ich Ihnen nicht ab!“
„Wollten Sie nicht Ihre Sachen packen, anstatt mich zu beobachten? Ich bin in Eile, falls Sie das vergessen haben sollten!“
Was für eine peinliche Unterhaltung über zwei Stockwerke hinweg! Glücklicherweise kannte sie in diesem Stadtteil niemand.
Kopfschüttelnd zog Jonas seinen Kopf zurück und schloss das Fenster. Chrissie wartete. Nach fünf Minuten überkam sie die Erkenntnis, dass ein Gang zur Toilette vor der Fahrt eine gute Idee sein könnte. Sie horchte in sich hinein, um zu ergründen, ob sich dieses Vorhaben verschieben ließe. Ihre Blase allerdings erteilte einen negativen Bescheid und deshalb studierte Chrissie die Klingelschilder. Seufzend drückte sie auf eines, das mit „J. Schuster“ beschriftet war.
Im zweiten Stock entdeckte sie eine angelehnte Wohnungstür. Jonas tauchte in der Diele auf.
„Darf ich Ihre Toilette benutzen?“
„Die linke Tür.“
Er verschwand und als Chrissie das Bad verließ, stapelten sich eine Tasche, ein Rucksack und eine Snowboardausrüstung am Eingang.
„Da Sie nun hier sind, dürfen Sie mir tragen helfen.“
Bevor sie sich versah, hielt Chrissie den Rucksack und einen Helm in Händen.
„Nicht fallen lassen!“, mahnte Jonas und schnappte sich das übrige Gepäck.
Während er seine Utensilien teils im Kofferraum teils auf den Rücksitzen verstaute, kontrollierte Chrissie ihre Nachricht und sah erleichtert, dass Ina sie gelesen hatte.
Jonas schloss den Kofferraum.
„Dank Ihrer monströsen Tasche stößt mein Auto an seine Grenzen. Wollen Sie nicht einsteigen?“
Chrissie nahm auf dem Beifahrersitz Platz und Jonas schwang sich hinter das Steuer. Beim Anlassen des Motors fragte er: „Nun mal ehrlich, wozu diente die Foto-Session?“
„Ich habe die Kennzeichen Ihres Wagens an meine Freundin geschickt“, gab Chrissie zögernd zu.
Er sah sie überrascht von der Seite an.
„Nicht schlecht! Auf die Art muss ich erst Ihre Freundin ausfindig machen und zwei Morde begehen. Ich schätze, das ist mir zu aufwändig. Da liefere ich Sie lieber bei Ihren Eltern ab.“
Chrissie amüsierte sich über sein spitzbübisches Grinsen.
„Tja, sieht ganz so aus, als müssten Sie sich für heute eine andere Beschäftigung suchen.“
„Wie bedauerlich …“
Ein leises Lachen ertönte neben ihr und seine Augen funkelten übermütig.
Chrissie entspannte sich. Verstohlen beobachtete sie Jonas, der sich auf den Straßenverkehr konzentrierte. Er trug seine Haare zurückgekämmt, nur eine Strähne fiel ihm in die Stirn. Nase und Kinn waren unauffällig, seine Augen dafür umso besonderer, wie sie wusste, seit Jonas sie so verschmitzt angesehen hatte. Schnell wandte Chrissie sich ab. Während sie ihr Smartphone ins Visier nahm, fiel ihr auf, wie ruhig und angenehm sein Fahrstil war. Offenbar traf keine ihrer Befürchtungen zu. Er hatte ihr, wie sie aufgrund des Klingelschilds wusste, seinen korrekten Namen genannt, war kein Raser und wohl auch kein Serienmörder. Chrissie streckte die Beine aus und las Inas Antwort.
Seit wann fährst du per Anhalter? Wenn deine Mutter das mitkriegt, dreht sie durch.
Chrissie lächelte innerlich.
Was Mama nicht weiß, macht sie nicht heiß! Nein, im Ernst, es war ein Notfall, ich habe meinen Zug verpasst. Deshalb nimmt Jonas Schuster mich mit.
Sieht er wenigstens gut aus?
Sehr!
Schick mal ein Foto.
Bist du verrückt?
Ich finde den Typen aber spannender als seine Karre!
Jonas räusperte sich.
„Schreiben Sie Ihrer Freundin?“
„Warum interessiert Sie das?“
„Ich hoffe, Sie teilen ihr mit, wie harmlos ich bin.“
„Das weiß ich erst, sobald ich sicher in Oberstdorf angekommen bin. Dann schreibe ich es ihr gern.“
„Na, toll!“
Seine Miene spiegelte eine Mischung aus Belustigung und gespielter Verzweiflung wider und sie lächelte ihn an. „Erzählen Sie mir etwas von sich. Zur Vertrauensbildung.“
„Damit Sie alles brühwarm weitergeben? Na, ich danke.“
„Sehe ich aus wie eine Tratschtante?“
„Eigentlich nicht. Wenn Sie gut gelaunt sind, sehen Sie sehr nett aus.“
Chrissie schluckte. Mit einem Fremden im Auto zu fahren, war das Eine, Komplimente etwas ganz Anderes. Sofort wechselte sie das Thema.
„Also: Zehn Fakten über Jonas Schuster und ich schwöre, dass ich sie nicht weitererzähle.“
„Na gut. Sobald Sie mir erzählt haben, warum Sie so spät dran waren.“
„Ich wollte eigentlich schon gestern fahren. Leider hat mein Kollege Mist gebaut und deshalb saß ich im Büro fest.“
Überrascht sah Jonas zu ihr hinüber.
„Das klingt total unfair. Warum mussten Sie dafür den Kopf hinhalten?“
„Weil er in einen Flieger nach Mauritius gestiegen ist und wir den Schlamassel erst später entdeckt haben.“
„Ich finde, er schuldet Ihnen etwas, wenn er zurück ist.“
„Ich werde es ihm ausrichten.“
„Obwohl …“, Jonas Augen blitzten herausfordernd. „… ich ihm dankbar sein sollte für die nette Reisebegleitung.“
Verlegen sah Chrissie aus dem Seitenfenster.
„Sagen Sie immer, was Sie denken?“
„Viel zu oft. Wollen Sie wissen, was ich noch denke?“
„Lieber nicht.“
„Ich finde es albern, dich zu siezen! Ich heiße Jonas.“
Obgleich Chrissie ihm grundsätzlich zustimmte, schoss ihr das Blut ins Gesicht. Aus einem unerfindlichen Grund war ihr die Distanz, die das „Sie“ schuf, gar nicht unrecht. Widerstrebend gab sie nach.
„Chrissie“, murmelte sie.
„Chrissie? Die Abkürzung passt viel besser zu dir“, stellte er nüchtern fest.
„Danke. Und nun die Fakten!“
„Wie wäre es mit einem Deal: Für jede Information bekomme ich eine zurück. Das erscheint mir angemessen.“
„Einverstanden. Du fängst an.“
„Ich wurde am 8. Mai 1985 in München geboren.“
„Dann bist du vierunddreißig.“
„Korrekt.“
„Und ziemlich genau fünf Jahr älter als ich, denn mein Geburtstag ist der 15. Mai 1990.“
„Der beste Monat.“
Jonas zwinkerte Chrissie verschwörerisch zu.
„Wem sagst du das …“
„Fakt Nummer zwei: Nach der Scheidung meiner Eltern musste ich mit meiner Mutter nach Hessen ziehen, aber direkt nach dem Abi bin ich nach München zurückgekehrt. Ich liebe diese Stadt und die Berge.“
„Das verstehe ich gut. Ich bin übrigens in Augsburg geboren und mehrmals umgezogen. Erst nach meinem Studium bin ich nach München gegangen, also vor etwa vier Jahren.“
„Apropos Studium: Ich habe Bauingenieurwesen studiert und du?“
„Marketing.“
„Fakt Nummer vier wird dich umhauen. Lange bevor ich Ingenieur wurde, hatte ich nämlich ganz andere Ziele.“
„Ach, ja?“
„Meinen früheren Traumberuf errätst du nie.“
„Mach es nicht so spannend!“
„Als kleiner Junge wollte ich Straßenkehrer werden. Ich fand die sich drehenden Bürsten an den Fahrzeugen der Stadtreinigung so toll.“
Sie lachte.
„Wie alt warst du da?“
„Drei oder vier.“
„Und weshalb hast du die coolen Bürsten gegen langweilige Baustellen eingetauscht?“
„Nicht schummeln! Du bist dran!“
„Also gut. Als Kind wollte ich Erzieherin werden, weil ich dachte, es sei super, das ganze Leben lang zu spielen.“
„Ein guter Plan. Warum hast du dich umentschieden?“
„Du schummelst ja auch!“
„Ich ziehe die Frage zurück, hohes Gericht.“
„Stattgegeben.“
Jonas grinste spitzbübisch.
„Fakt Nummer fünf: Inzwischen arbeite ich als Projektmanager in einem mittelständischen Unternehmen.“
„So ist das mit den Kindheitsträumen. Mich hat es in die Werbebranche verschlagen.“
„Hauptsache, die Arbeit macht Spaß. Über Weihnachten besuche ich übrigens meinen besten Freund Markus und seine Frau. Sie wohnen in einem kleinen aber feinen Holzhaus in Sonthofen und laden mich jedes Jahr für die Feiertage ein. Keine Ahnung, wie sie das mit einem Weihnachtsmuffel wie mir aushalten.“
Chrissie verkniff sich die Frage nach seinem Familienstand. Offenbar war er Single, aber das sollte sie nicht interessieren. Stattdessen knüpfte sie bei den anstehenden Feiertagen an.
„Ich liebe Weihnachten und den Winter. Deshalb freue ich mich, dass meine Eltern sich für die Rente eine so schöne Gegend wie Oberstdorf ausgesucht haben. Sie sind erst vor einigen Monaten dorthin gezogen.“
„Das erklärt, weshalb wir uns noch nie über den Weg gelaufen sind. Den Winter mag ich übrigens auch sehr. Während des Studiums waren Markus und ich an jedem freien Wochenende in den Bergen. Für den Fall, dass sich eine Gelegenheit ergibt, habe ich immer mein Snowboard dabei. Auch wenn ich nur drei Tage bleiben werde.“
„Musst du wieder arbeiten?“
„Nicht direkt, aber Markus und Lilly schon.“
„Ich werde Silvester in Oberstdorf feiern. Sonst ist meine Mutter beleidigt. Außerdem habe ich meine Schwestern länger nicht gesehen.“
„Das klingt nach einer Großfamilie.“
„Wir sind zu dritt. Meike ist zweiunddreißig, Katja siebenundzwanzig und ich bin das Sandwichkind. Was ist mit deinen Eltern? Vermissen sie dich nicht an Weihnachten?“
„Nein, bei uns gibt es keine Familientraditionen. Alle vereint unter dem Weihnachtsbaum, das kenne ich gar nicht.“
Chrissie schwieg betroffen. Obwohl sie ihre Mutter und Katja als anstrengend empfand, bedauerte sie Jonas. Schnell wechselte sie das Thema.
„Willst du noch irgendwo einen neuen Blumenstrauß besorgen?“
„Das mache ich ein andermal. Schließlich möchte ich nicht riskieren, dass du Ärger bekommst, wenn ich dich zu spät abliefere …“