Prolog
Der Mann kauerte auf dem kalten Steinboden. Er war am Ende seiner Kräfte und blickte teilnahmslos auf sein Blut hinab, das aus unzähligen kleinen Wunden auf den Boden tropfte. Sie hatten mit ihm gespielt, ihre Klauen immer wieder in sein Fleisch geschlagen. Aber das Spiel würde bald sein grausiges Ende finden. Er sehnte den Moment fast herbei.
Mehrere finstere Gestalten standen in einem Halbkreis um ihn herum und betrachteten ihn mit eisigen Blicken.
„Du bist armselig, Rupert. Hast du wirklich geglaubt, du könntest mit uns handeln?“, fragte die sonore Stimme eines zwei Meter großen Hünen vor ihm. Er trug einen langen schwarzen Ledermantel, und sein schulterlanges Haar fiel ihm ins Gesicht.
Rupert hob mühsam den Kopf. Seine Stimme zitterte leicht. „Aber das war doch der Deal.“
Sein Gegenüber lachte kalt. „Du bist anscheinend wirklich so dumm wie alle aus deiner Sippe. Es wird Zeit, dem Ganzen ein Ende zu setzen.“ Dann wandte sich der Mann einem seiner Gefährten zu. „Man gebe mir das Schwert.“
Der Angesprochene verneigte sich kurz und reichte dem Wortführer ein goldenes Schwert. Es schien von innen heraus zu leuchten und ließ den dunklen Ort für einen Moment erstrahlen.
Rupert starrte fast ehrfürchtig auf das riesige Schwert, bis es herniedersauste und alles in ewige Finsternis hüllte.
Kapitel 1
Eine Reise ist ein vortreffliches Heilmittel für verworrene Zustände.
Franz Grillparzer
Dunkle Wolken türmten sich am Horizont auf. In der schwülen Spätsommerluft hing schon den ganzen Tag über der Hauch eines nahenden Gewitters. Die Luft in dem Zugabteil war allerdings noch erdrückender. Unruhig zwirbelte Aimée eine Strähne ihres Haares um ihren Zeigefinger, während sie angstvoll den Bahnsteig beobachtete. Bei jedem Halt beschleunigte sich ihr Herzschlag. Nun bestätigte sich ihre Befürchtung. Ihre kopflose Flucht aus dem herrschaftlichen Anwesen ihrer Familie in Buckinghamshire war nicht lange verborgen geblieben.
Als sie in Dorking in den Zug gestiegen war, hatte sie noch die Hoffnung gehabt, unentdeckt bis ins Zentrum von London zu gelangen, um dort im bunten Gewirr der Menschen und Geschäfte unterzutauchen, bis sich ihre Spur verlor. Aber Nathans Bodyguards hatten sie erstaunlich schnell aufgestöbert. Viel zu schnell. Als Aimée die beiden bulligen Männer einsteigen und durch den Waggon auf sich zukommen sah, griff sie ihre Tasche, kämpfte sich hastig einen Weg durch den vollen Waggon auf den hinteren Ausgang zu und verließ fluchtartig den Zug. Die Türen schlossen sich direkt hinter ihr, und die Bodyguards versuchten vergeblich, die Zugtüren noch einmal zu öffnen.
Manche Dinge lassen sich auch mit grober Gewalt nicht lösen, dachte Aimée und verkniff sich ein Lächeln.
Eilig lief sie über den Bahnsteig von Clapham Junction. „Verdammt“, entfuhr es ihr, als sie hinter sich hörte, wie der Zug quietschend hielt. Ihre Verfolger hatten anscheinend die Notbremse gezogen. Vor dem Bahnhof stand kein einziges Taxi, und Aimée sprang in ihrer Verzweiflung einfach auf die Straße, um ein Auto zu stoppen. Sie riss die Beifahrertür auf und schrie den Fahrer panisch an: „Nehmen Sie mich bitte mit, Sir, es ist ein Notfall!“
Der Fahrer, ein älterer Herr mit rotem Gesicht, legte die Stirn in Falten. „Mädel, sag mal, bist du lebensmüde? Du kannst mir doch nicht einfach vors Auto springen!“
„Bitte, nehmen Sie mich mit. Ich gebe Ihnen zwanzig Pfund. Das ist fast alles, was ich habe, aber lassen Sie mich mitfahren.“
Sie warf einen Blick über ihre Schulter und sah, wie ihre Verfolger aus dem Schatten des Bahnhofs kamen und auf die Straße liefen. Hastig zog sie ihr Portemonnaie aus ihrer Tasche und holte einige Pfundnoten heraus. „Bitte!“
Der Mann überlegte einen Augenblick und griff dann gierig nach den Scheinen. „Also gut, steig ein. Wohin willst du überhaupt?“
„Erst mal nur hier weg. Aber soweit wie möglich ins Zentrum.“
„Ich fahre nur bis Brixton“, erwiderte der Mann mürrisch. „Bis dahin kann ich dich mitnehmen. Von der Brixton High Street solltest du gut weiterkommen. Wo immer du auch hinwillst.“
„Okay, aber bitte fahren Sie endlich los.“
„Ich hoffe, du hast nichts angestellt, Mädchen. Ich will keinen Ärger haben.“ Der Fahrer sah sie von der Seite kritisch an und gab Gas.
Aimée schüttelte den Kopf und schwieg. Das schien dem Mann nur recht, und der größte Teil der Fahrt verlief schweigend, bis der Fahrer einen Blick in den Rückspiegel warf und sagte: „Sieht so aus, als würde uns ein Wagen verfolgen. Ein blauer Bentley.“
Hastig drehte Aimée sich um und entdeckte den Bentley, der in einigem Abstand hinter ihnen herfuhr. Wie waren ihre Verfolger nur so schnell an ein Auto gekommen? Aimée murmelte unsicher: „Vielleicht ist es nur Zufall, dass der Wagen hinter uns herfährt.“
Unvermittelt bog der Fahrer in eine Seitenstraße ein, und vor einem schäbigen Häuserblock hielt er den Wagen plötzlich an. „So, Kleine, hier musst du raus.“
„Aber warum schon hier? Wo sind wir überhaupt?“ Panik ergriff Aimée. Dieser Typ wollte sie in dieser finsteren Gegend einfach aus dem Auto werfen! Mittlerweile hatte es heftig angefangen zu regnen. In der Ferne grollte Donner.
„Wir sind in Angell Town. Ich habe dir gesagt, ich bringe dich bis Brixton. Da sind wir. Bis zur Brixton High ist es nicht weit, und jetzt raus aus meinem Wagen! Ich habe gesagt, ich will keinen Ärger, und du riechst verdammt danach!“
Wenig später stand Aimée hilflos auf der Straße, und schon kurz darauf tauchte der Bentley auf. Aimée zögerte keine Sekunde und rannte los.
Das Sommergewitter entlud sich nun mit aller Kraft über der Stadt. Aimée lief eine gefühlte Ewigkeit kreuz und quer durch die dunklen Straßen, und als sie die Puste verließ, drückte sie sich völlig durchnässt in einen Türeingang. Ihre nassen Sachen klebten auf ihrer Haut und ihr war kalt. Zitternd verharrte Aimée einen Augenblick im Schatten und versuchte ihr wild klopfendes Herz zu beruhigen. Waren diese Kerle immer noch hinter ihr her? Vorsichtig spähte sie aus ihrem Versteck hervor. Für einen Moment wog sie sich in Sicherheit. Von ihren Verfolgern war nichts zu sehen. Die kleine, schmuddelige Einkaufsstraße war menschenleer, da die wenigen Geschäfte bereits geschlossen hatten.
Vielleicht sollte sie Mira anrufen und sie bitten, ihr zu helfen, überlegte Aimée. Doch schnell verwarf sie den Gedanken wieder. Sie durfte ihre Freundin nicht in Gefahr bringen. Sie wusste, zu welchen Methoden ihr Bruder Nathan zu greifen bereit war, wenn man sich seinen Plänen in den Weg stellte.
Aimée wusste nicht, wie es weitergehen sollte. An die Polizei konnte sie sich nicht wenden, das war ihr klar. Niemand würde ihr glauben, was sie im Kellergewölbe des Anwesens mit angesehen hatte. Man würde sie für verrückt erklären und zu ihrem Bruder zurückbringen. Immerhin war er ihr Vormund. Bis zu ihrem 18. Geburtstag dauerte es noch knapp vier Monate – erst dann wäre sie endlich frei. Bis dahin musste sie sich Nathans Zugriff entziehen.
Aimée seufzte. Sie zog ihr Smartphone aus der Tasche und wollte gerade mithilfe der Navi-Funktion den Weg zur Brixton High oder der nächstgelegenen Underground Station suchen, als der blaue Bentley erneut um die Ecke bog. Er fuhr im Schritttempo die Straße entlang. Aimée stockte der Atem, als der Wagen plötzlich hielt und ein Mann ausstieg. Sie erkannte eindeutig Matthew, einen von Nathans Schlägern.
„So ein scheiß Wetter“, fluchte Matthew laut. „Bist du sicher, dass wir die Göre hier finden?“
Sein Kollege im Wagen hatte das Fenster heruntergekurbelt. Er knurrte: „Die Kleine muss hier irgendwo sein, such die Hauseingänge ab. Sie kann nur diese Straße entlanggelaufen sein.“
Aimée wusste, dass man sie auf jeden Fall entdecken würde, wenn sie hier stehen blieb. Doch wenn sie jetzt ihre Deckung verließ, würde Matthew sie sofort erwischen.
In diesem Moment kamen mehrere Jugendliche die Straße entlang und blieben beim Bentley stehen.
„Na sieh mal, was wir hier haben“, rief einer der Jungen. „Ihr habt euch wohl verfahren?“
„Nee, der Opa will uns seinen Schlitten schenken“, lachte ein anderer. Er spuckte auf den Bordstein direkt vor Matthews Füße.
„Haut ab!“, schnauzte Matthew.
„Mal langsam, Alter. Das hier ist unser Revier.“ Einer der Typen zückte ein Messer.
Es entstand ein Handgemenge. Nun stieg auch der zweite Mann aus. Aimée erkannte Calvin – und ihre Chance. Sie zog die Kapuze ihrer Jacke über den Kopf und rannte los. An der nächsten Kreuzung wandte sie sich nach rechts und entdeckte in einiger Entfernung eine schmale Gasse, durch die kein Auto passte. Sie hoffte, dass der Durchgang sie zur nächstgrößeren Parallelstraße führte, was ihr einen entscheidenden Vorsprung verschaffen könnte, und rannte hinein. Doch der Weg entpuppte sich als Sackgasse.
„Oh, so ein Mist!“, entfuhr es Aimée. Verzweiflung stieg in ihr auf. Sie musste wieder zurücklaufen und konnte nur hoffen, dass Matthew und Calvin immer noch mit der Gang beschäftigt waren.
Als sich Aimée umdrehte, entdeckte sie zu ihrer Rechten das verschmutzte Schaufenster eines kleinen Geschäfts. „Seltsam“, murmelte Aimée. Sie konnte sich nicht entsinnen, den Laden auf ihrem Weg in die Gasse gesehen zu haben. Vielleicht konnte man ihr dort helfen. Immerhin brannte drinnen Licht. Über der Ladentür hing ein Schild: Artkis Ramschus – Trödel und mehr. Aimée zögerte einen Moment, dann öffnete sie die Tür und betrat den Trödelladen.