Leseprobe Schweigen der Wut

1.

Montag in der Dämmerung

Sie blieb stehen und drehte sich um. Konnte aber in der Dunkelheit nichts erkennen. Diese blöde Winterzeit. Sie ging weiter auf den laubbedeckten Wegen des über zehn Hektar großen Botanischen Gartens im Kölner Norden – bekannt als die Flora mit ihrem Festhaus. Jeder ihrer Schritte raschelte. Wieder hielt sie inne. Trotzdem raschelte es rhythmisch weiter. Erneut drehte sie sich um. Schemenhaft konnte sie ein paar Meter entfernt eine Per­son mit ausgebreiteten Armen erkennen. Ihr wurde heiß, obwohl es kalt war. Was sollte sie tun? Beeilen musste sie sich unter allen Umständen, denn der Garten schloss pünktlich. Und sie hoffte, dass die Aufsicht sie als vermutlich letzten Besucher noch wahrnehmen würde. Also, um den Seerosenteich herum, hin zum Brückchen, um darüber dann schnellstmöglich zum rückwärtigen Ausgang der Anlage zu gelangen. Sie rannte los. Stolperte über eine Wurzel. Fing sich. Rannte weiter. Stolperte wieder. Die Wege waren schlecht beleuchtet. Und dann auch noch das Laub.

Sie versteckte sich hinter einem mächtigen, dickstämmigen Baum und blickte den Weg hinunter. Die Gestalt war weg. Auch Schritte konnte sie nicht mehr vernehmen. Aber – es roch seltsam. Unangenehm penetrant. Die Blütezeit war doch schon lange vorbei. Rasierwasser? Vorsichtig prüfend sog sie kühle Luft ein. Der aufdringliche Duftschwall war wie weggeblasen. Außerdem war es still. Unnatürlich still. Sie hatte Angst, überhaupt zu atmen. Ein kurzer Windstoß, und da war er wieder. Dieser schwere Geruch. Unerträglich und benebelnd zugleich. Ihre Lungen lechzten nach Sauerstoff. Nach klarer Luft. Irgendwer hauchte lauwarm in ihren Nacken aus. Sie drehte sich nicht um. Setzte darauf, dass sie nicht das Opfer in einem schlechten Film war. Hoffentlich war ihre Zeit noch nicht abgelaufen. „Lieber Gott, bitte, lieber Gott, nicht ich. Lass es nicht wahr sein. Nicht ich. Warum ich?”, flüsterte sie flehentlich. Etwas streifte ihr Haar.

„Nein!”, schrie sie laut und schüttelte panisch den Kopf hin und her. Ein Herbstblatt fiel auf den Boden. Wieder schüttelte sie den Kopf. Die Haare verhedderten sich. Irgendetwas riss an der Kopfhaut. Sie stieß einen schrillen und verzweifelten Hilferuf aus! Jemand stand dicht hinter ihr. Ihre Haare wurden von irgendetwas festgehalten, waren eingeklemmt. Ein Arm umschlang von hinten ihren Hals, drückte brutal auf den Kehlkopf. Sie bemühte sich mit aller Kraft, dem Würgegriff zu entkommen. Sie drehte sich hin und her, um sich zu befreien. Immer wieder versuchte sie, ihren Angreifer zu treten. Aber es gelang ihr nicht. Er schien förmlich Lust daran zu haben, sie zu dominieren, während sie sich wie ein Wurm hin und her wand. Wer oder was konnte sie jetzt noch schützen? Ein Baum, als rettender Strohhalm? Als Anker, der sie am Leben hielt? Sie nahm all ihren Mut zusammen. Vielleicht musste sie aufhören, sich zu wehren, wenn sie das hier überstehen wollte? Vor Angst rührte sie sich nicht mehr. Zwei Sekunden? Drei Sekunden? Höchstens. Fast hätte sie wieder aufgegeben – da lockerte sich plötzlich der Knebel. Schnell riss sie die Arme nach vorn und schaffte es tatsächlich, wenigstens den Stamm zu umklammern. Sie begann zu beten.

„Vater unser …”

Aber erbarmungslos schlug die Person von hinten auf sie ein und zerrte an ihr herum. Ihre Arme erlahmten. Langsam setzte ein Schmerz ein, der sie immerhin wachhielt. Tränen schossen ihr in die Augen, verschleierten den Blick und kullerten über die Wangen. Der Täter packte sie und schleppte sie zur Brücke. Er keuchte. Auf der Mitte der Brücke über dem Seerosenteich hob er sie hoch und schleuderte sie über das flache Geländer. Sie klatschte ins eiskalte Wasser. Ruderte hilflos mit den Armen. Versuchte, zitternd vor Kälte und Angst, sich aufzurichten. Keine Chance. Sie fand keinen Stand auf dem schlammigen Boden. Und immer wieder verfing sie sich in den langen, unbarmherzigen Schlingen der Pflanzen. Ihr wurde flau im Magen. Die Knie gaben nach. Raum und Zeit hatten sie verlassen. Und da kam er schon. Rannte nach unten ans Ufer, hinein in den Teich. Hände griffen nach ihr und drängten sie tiefer in das Gewässer. Ihre Kleidung sog sich voll. Sie strampelte, schmeckte die gammelige Brühe in Mund und Nase, röchelte. Ihr Kopf wurde unter Wasser gepresst. Instinktiv hörte sie auf zu atmen. Sie war sich nicht sicher, wie lange sie das aushalten konnte. Ihr wurde schwarz vor Augen. Plötzlich kam sie wieder zur Besinnung. Rang nach Luft. Hustete. Der wechselnde Druck, mal auf den Schultern, mal auf dem Brustkorb, hatte nachgelassen. Stattdessen zog jemand in kurzen, regelmäßigen Intervallen an ihren Füßen. Er schleifte ihren Körper in ein Gebüsch und mit jedem Ruck floss Wasser an ihren Mundwinkeln entlang, hinunter auf den Hals.

„Bitte nicht …”, bettelte sie schwach. Sie fühlte sich wie betäubt. Aber vor allem spürte sie den nahenden Tod. Über ihr verzweigten sich kräftige Äste von Rhododendronsträuchern. Alles wirkte aussichtslos. Die Gestalt zog ein Messer, schnitt ihr die Haare ab und stopfte damit ihren weit zum Schrei geöffneten Mund aus. Sie versuchte zu sprechen. Es kam kein Ton. Dann rasierte ihr der Täter die Kopfhaut, streifte das Klingenblatt auf ihrer Stirn ab und schabte mit der Schneide über ihre Brauen. Alles war verschwommen, trüb und dunkel. Sie schloss die Augen, spürte, dass er sie quälen wollte und ihr Leiden genoss. Er zelebrierte ein nicht enden wollendes Martyrium. Jetzt stach er auf sie ein. Immer wieder drohte sie das Bewusstsein zu verlieren, konnte nicht mehr mitzählen, wie oft er mit kleinen Stichen auf ihr herumhackte. Sie wünschte sich nur noch, dass er es zu Ende brachte. Und das tat er dann auch.

2.

Montag in der Dunkelheit

Jean Baptist Frings blickte auf seine Uhr. Viertel vor sieben. Sollte er nochmals versuchen, Dr. Viola Bern anzurufen, oder es lieber bleiben lassen? Eben, von zu Hause aus, hatte er es schon mehrfach probiert, aber ohne Erfolg. Musste er ihr überhaupt Tipps für mor­gen geben? Für die Schlussverhandlung bei einem seiner laufenden Großaufträge? Dafür war sie doch extra vor Kurzem noch von ihm befördert worden. Zum Senior Economist seines renommierten Wirtschaftsconsultingunternehmens. Als sein Ziehkind, war sie mittlerweile sogar fast geschickter als er. Ihre weiblichen Vorzüge musste sie dabei gar nicht einsetzen. Ihr heller Kopf genügte, um Konzerne in Personalpolitik, Wirtschaftsethik, aber auch nachhal­tiger Ökonomie perfekt zu beraten und zu begleiten. Das musste er neidlos zugeben. Deshalb ließ er sie jetzt auch besser in Ruhe. Sie würde das Kind schon schaukeln.

„Räk-Räk-Räk!”

Ein Pulk Raben machte einen ohrenbetäubenden Lärm. Irgendwo in der Ferne bellte ein Hund. Unermüdlich. Das durch­dringende Tatütata eines Martinshorns löste die zeternden Schreie und das wilde Kläffen ab. Vermutlich wieder ein Großeinsatz am Ebertplatz.

Er hastete mit energischen Schritten über den gut befestigten Waldboden. Ihm war es für Anfang November zu kalt. Deutlich zu kalt. Die Meteorologen hatten sogar Minustemperatu­ren vorhergesagt und vor Glatteis gewarnt. Und in ein paar Tagen war die große Einweihungsfeier des umfangreich sanierten und modernisierten Festhauses in der Flora. Ein wunderschönes, alt­ehrwürdiges Gebäude im klassizistischen Stil und nicht umsonst die Residenz der Kölschen Köpp rut-wieß T.G., eine der ältesten Traditionsgesellschaften im Kölner Karneval, die ihr Palais hinge­bungsvoll Riehler Redoute nannten. Als Hommage an die Redouten – die eleganten Maskenbälle des Adels. Es hieß, wer ganz, ganz leise war, konnte die Generäle auf den goldgerahmten und überdimen­sionalen Gemälden, die den prunkvollen Sitzungssaal schmückten, sogar sprechen hören. Dann erzählten sie die vielen kleinen und großen Geschichten einer langen und spannenden Historie. Dass diese schon immer von einer gegenseitigen Sympathie zwischen den Menschen der Stadt und diesem Karnevalsverein geprägt war, spiegelte sich für Frings wie selbstverständlich in der Koseform KöKös wider, wie der Volksmund die Kölschen Köpp rut-wieß der Einfachheit halber nannte.

Jeder wusste, dass die KöKös traditionsbedingt eine Vermischung von Kölner Urbürgern und Franzosen waren. Ein Re­likt der französischen Besetzung. Ebenso wie die Hausnummer 4711, die dem berühmten Kölner Duftwasser seine Marke gegeben hatte.

Frings zog den Gürtel seines warm gefütterten Trenchcoats enger und erinnerte sich besonders gern einer KöKö-Erzählung, die besagte, dass die Riehler Redoute während der Franzosenzeit als Schatzlager für geplünderte Kunstgegenstände gedient habe und deshalb die Nummerierung fehlte. Bis heute. Dafür hatte er sich stark gemacht und durchgesetzt. Er wollte unbedingt, dass die zahlreichen Spuren der Menschen aus dem Nachbarland präsent blieben. Auch durch den Erhalt der kölschen Sprache.

Hier gab es eine Menge Begriffe, die aus dem Französischen abgeleitet wurden. Wenn ein Kölner Prummetaat mochte, liebte er Pflaumenkuchen (frz. tarte de prune). Ging er auf dem Trottoir, war der Bürgersteig gemeint. Und wenn ein Kölner seine Bajasch (Gepäck, frz. bagage) einsammelte, hatte der Franzose ebenso seine Hand im Spiel wie bei dem Malörche (Unglücksfall, frz. malheur). Der Begriff Fisimatenten für Flausen oder Unsinn, war vermutlich entstanden aus Visitez ma tente. Was so viel hieß wie: Besuchen Sie mein Zelt!, also den Ort, wo der französische Soldat von seinem Vorgesetzten einen Anschiss erhielt, wenn er nicht pariert hatte. Eine andere Erklärung besagte, dass diese Aufforderung der Ver­such französischer Soldaten gewesen sei, deutsche Mädchen ins Lager zu locken.

Frings lächelte. Wenn seine hübsche Tochter später mal auf eine der großen Studentenpartys in die Kölner Uni-Mensa gehen würde, müsste er ihr bestimmt auch als elterliche Warnung Mach aber keine Fisimatenten mit auf den Weg geben. Eigentlich versuchte er seine Kinder eher mit Anregungen als mit Anweisungen zu er­ziehen. Also laissez faire. Wirklich streng nahm er es hingegen mit den Prinzipien der KöKös. Da gab es kein Pardon. Die französi­schen Tugenden wie Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit wurden groß geschrieben. Immer und überall. Nur Franzose musste man nicht mehr sein, wenn man Mitglied werden wollte. Auch machte man keine Unterschiede, aus welcher Schicht jemand kam. Vom Handwerker bis zum Steuerberater oder Arzt war alles dabei. Ge­meinsam zelebrierten sie mit ihren Auftritten in der 5. Jahreszeit das französische Grundgefühl und hielten es lebendig: Le savoir-vivre – die Kunst, das Leben zu genießen. Und das Kommando hatte er. Jean Baptist Frings, General der KöKös.

Frings hielt inne. Guckte in das großstädtische Abenddunkel und lauschte angestrengt, um, neben den vorbeifahrenden Autos auf der Inneren Kanalstraße, jenseits der riesigen Bäume auch andere Geräusche wahrnehmen zu können. Lichtkegel flackerten durch die mannshohen Böschungen. Er sah sich um, konnte aber nichts erkennen. Auch, wenn sich seine Augen längst an die spär­liche Sicht gewöhnt hatten. War da nicht ganz in seiner Nähe ein lautes Knacken gewesen? Hatte er nicht gerade einen kleinen, rot leuchtenden Punkt gesehen? War da jemand? Auf dem Kinderspielplatz hinter dem Klettergerüst? Er schaute an sich herunter. Zielte da einer auf ihn? Mit einem Laserpointer? Klar, bestimmt Jugendliche, die sich einen Streich gönnten. Er schaute sich aber­mals um. Vor sich sah er, noch ziemlich weit entfernt, die Beleuch­tungen der ersten Wohnhäuser. „Jetzt mach dich nicht verrückt, da war nichts”, beruhigte sich Frings laut.

Er ging weiter und kratzte sich an der Nase. Ob seine Freunde wohl wussten, dass er insgeheim froh darüber war, dass sie ihm den Spitznamen Schäng aufgedrückt hatten und nicht Häns­chen? Diese Verniedlichung hätte ihm gar nicht in den Kram ge­passt. Aber Hans auf Kölsch war klasse! Ein Hans im Glück. Ein Glückspilz. Er rieb sich seine trockenen, aber kühlen Hände und summte. „ …hm, hm, hm … ging allein …”

Wie so häufig im Jahr musste er gleich in die Riehler Redoute zur Kabinettssitzung der KöKös. Vorher machte er immer noch gern dieses Gängelchen durch den Park, vorbei am Fort X. Ein Rest der ehe­maligen preußischen Festungsanlagen rund um Köln. Und jetzt im gedämpften Düstern eine unheimlich wirkende Ruine zwi­schen den Stadtteilen Riehl und Nippes. Eine perfekte Kulisse für die lokalen Sommerfilmnächte. Nahe dem Lentpark, dem Zoo, der Flora und seiner Villa. Sehr praktisch, denn so konnte er die grandiosen Vorstellungen im Juli zu Fuß besuchen. Im Winter war hier weniger los. Und um diese Uhrzeit sowieso nicht. Kein Kind, kein Rind. Er nutzte das Ründchen, um seine Gedanken zu sammeln und um sich auf die Themen des Abends vorzubereiten. Am meisten freute er sich allerdings auf den kleinen, willkomme­nen Abstecher in das angrenzende Nippeser Veedel. Da konnte er Köln einatmen und das pure Kölschsein durch eines der legen­dären Mantelbiere genießen. Mantelbier … den Begriff hatte einst der Swing-Musiker Charly Niedieck geprägt: Egal wie gemütlich die Runde war, irgendwann musste man sich verabschieden. Und genau das konnte dauern. Denn beim Rausgehen rief einer: „Komm, trink noch einen mit!“ Und der Nächste: „Ein Kölsch geht immer.“ Gefühlte Stunden später stand man immer noch da. Wenn auch bereits im Mantel.

 

„’n Abend!”, rief Frings, als er das Sion, seine Stammkneipe, betrat, und stellte sich zu einer Gruppe, die einen der hinteren Stehtische belegte.

„Du bist spät dran, Jean.”

„Ja, stimmt! Deshalb gibst du mir einen aus. Ich hab Durst!”

„Du hast immer Durst.”

„Stimmt auch wieder.” Frings lachte, zog einen Barhocker heran und seinen Burberry gar nicht erst aus. „Erzählt mal! Was geht ab in Köln?”

Frings kam von einem Thema aufs andere und ging von Gruppe zu Gruppe. Überall gab es unterschiedliche Inspirationen für ihn: neue Geschäftsideen, neue Kontakte, neue Anlageformen, neue Tennispartner, neue Golfschläger.

„So, Freunde … ich muss wieder los! Die Pflicht ruft!”, sagte Frings, klopfte dreimal bekräftigend auf die Theke, legte einen Zwanziger hin und winkte dem Kellner mit seinem Bierdeckel zu. „Sind wir quitt?”

„Ja, tschö, Schäng! Bis bald!”

Frings wickelte sich den breiten, blauen Schal um. Ein gemütliches Zurückschlendern nach Riehl zur Re­doute konnte er jetzt vergessen. Er nahm die Beine in die Hand und lief hinüber in die Weißenburgstraße zum Reichensperger­platz, dann scharf links und die Riehler Straße entlang, bei Rot über die Kreuzung zum Zoo auf den Alten Stammheimer Weg und leicht links auf das erste Stück der Stammheimer Straße, um gleich nach links Am Botanischen Garten abzubiegen. Fünfzehn Minuten hatte er für die knapp anderthalb Kilometer gebraucht. Die letzten dreihundert Meter wollte er gemächlicher gehen.

Er schnaufte durch und sah die zarten Atemwolken im orangefarbe­nen Laternenlicht. Er bemerkte die besondere Stimmung zu dieser Jahreszeit, während er entspannten Schrittes, an bereits vorweih­nachtlich dekorierten Hauseingängen vorbei, zur Riehler Redoute ging. Die Dunkelheit ließ das beleuchtete Gebäude schon von Weitem in vollem Glanz erstrahlen. Ein erhabener Anblick und eine fast märchenhafte Zauberwelt. Wie etwa in Tausend und einer Nacht. Ein Ruhepol in einer so geschäftigen Medienstadt wie Köln. Er bog auf die Zufahrt zum Vorplatz der Redoute ein. Jetzt, wo er sie so frontal vor sich sah, fühlten sich seine Füße an, als würden sie einen halben Meter über der Erde schweben, so angetan war er von ihrer Schönheit.

Er stoppte. Ging weiter. Stoppte wieder. Für einen kurzen Moment glaubte er, im Innenhof den Schatten einer Gestalt zu sehen. Frings zupfte sich am linken Ohrläppchen. Auch wenn in der Regel die Kabinettsmitglieder draußen noch das eine oder andere Glimmstängelgespräch führten, bei dieser lausi­gen Wetterlage – da kannte er seine Pappenheimer – hatten sich garantiert ausnahmslos alle schon längst im Warmen versammelt. Frings blinzelte mehrmals. Einer der KöKös war es also vermut­lich nicht gewesen. Wohl eher ein Tourist. Von denen gab es so viele, die die Redoute bestaunen wollten. Diese Vorstellung und seine gute Laune hätten seine Anspannung auflösen müssen. Aber ihm war immer noch mulmig zumute.

Angestrengt blickte er über den dunklen Redouteplatz. In einem so diffusen Licht irgendetwas deutlich zu erkennen, war schlichtweg unmöglich. Da konnte er starren, wie er wollte. Frings schüttelte sich, zog die Schultern zu­rück und bewegte sich entschlossen weiter. Nach ein paar Schritten wurde er wieder langsamer und hielt erneut inne. Die in den Jackentaschen vergrabenen Hände waren verkrampft. Könnte sein Herz nicht endlich ruhiger schlagen? Er kam einfach nicht dagegen an, wischte sich über die Stirn. Der Handrücken war nass vom Schweiß. Er verstand diese fiebrige Beklommenheit nicht, die ihn völlig lähmte – trotz der heimischen Umgebung, die ihn an­sonsten angenehm bettete und die ihn fabelhaft leben ließ. Frings holte tief Luft, um zu husten, doch ein plötzlicher Schmerz ließ ihn aufstöhnen. Er versuchte sich zu beherrschen, presste die Lippen aufeinander. Ein kaltes Gefühl am rechten Oberarm. Nicht groß­flächig. Nein, punktuell. Irgendwas hatte ihn voll gerammt, auch wenn er nicht wusste, was. Er versuchte verzweifelt, sich aufrecht zu halten. Direkt neben der Skulptur Luurende Köpp. Vermied es, sie zu berühren.

„Steh! Steh! Nicht anlehnen!”, befahl Frings sich selbst. Er wusste, es war lächerlich, aber er wollte es unbedingt vermeiden, dass selbst Neugierig schauende Menschen aus Bronze ihm dabei zu­sahen, wie er womöglich die Kontrolle verlieren würde. Sollte er schlapp machen, würden sie als Zeugen natürlich unbrauchbar sein. Er riss sich zusammen.

Erschüttert und fle­hend strebte sein Blick auf die Redoute zu. Ein Kribbeln breitete sich auf der Haut aus. Da sah er aus dem Augenwinkel den Un­bekannten noch einmal weit ausholen. Statt sich zu ducken, hob Frings den Kopf und entdeckte ein metallisches Blitzen. Ein Messer! Es raste auf ihn zu. Es war zu spät, um auszuweichen. Der zweite Stich traf seine Hand, die er schützend auf den Arm gepresst hatte. Es brannte wie Feuer. Er schluckte mühsam. Starrte in die Luft. Er hatte heftige Schmerzen. Auf und unter seinen Fingern wurde es nass.

Blut?

Warum schrie er nicht? Brüllte lauthals. Wenigstens jetzt. Denn leise und elegant war vergebens. Stattdessen brachte er nur ein luft­hungriges Gurgeln hervor. Er musste sich weiter konzentrieren. Egal wie. Es waren doch nur ein paar Meter bis zum Eingang. Und dann würden ihm seine Jungs schon helfen …!

Konnte er es schaffen?

Er atmete immer schwerer. Es war gerade mal Blue-Hour-Zeit und nicht Mitternacht. Und er war kein Politiker. Aber irgendein Verrückter hatte auf ihn eingestochen. Einfach so. Mit letzter Kraft schleppte er sich zur Pforte. Schritt für Schritt über die mehr oder minder rechtwinklig behauenen, grauen Granitpflastersteine. Es bewegte sich in Wellen. Die großflächigen, unregelmäßigen Rasen­inseln, die den gesamten Platz mal schmaler, mal breiter einsäum­ten, flossen auf ihn zu. Sie machten ihn schwindelig. Er würde sich nicht mehr lange halten können. Einen Augenblick noch. Seine Herzschläge bäumten sich zu einem Orkan auf. Fast hatte er es geschafft. Er biss die Zähne zusammen und zog die Tür auf. Die entsetzten Augen seiner Kabinettskollegen starrten ihn an. Alles drehte sich. Er sackte zusammen und sah noch ihre verschwom­menen Gesichter. Fragen über Fragen prasselten auf ihn herab. Wie pieksende Hagelkörner. Warum dieses hektische Gerufe? Blaues Licht blinkte rhythmisch. An, aus. An, aus. Schwarz. Stille.

 

Frings wachte im Krankenhaus wieder auf. Seine Frau Agi kniete an seinem Bett, und er blickte in ihre verzweifelten hellblauen Augen, die mit Tränen gefüllt waren. Die Ränder darunter hätte sie nicht wegschminkn können. Polizisten standen hinter seiner Frau.

„Hey, hallo, Schatz! Da bist du ja wieder unter den Lebenden! Ich hab die ganze Zeit auf dich aufgepasst.” Zweimal küsste Agi Frings seine verbundene Hand. Er fand, dass sie, ebenso wie der Arm, vielleicht eine Spur zu fest gewickelt war. Aber er war ja kein Arzt. Er war Ehemann, Vater, Unternehmer … und Opfer eines Anschlags.

Agi Frings lächelte zaghaft. „Der Doktor meint, die Wunden sind halb so schlimm. Sie haben dich gut versorgt. Du brauchst nur zwei Tage im Krankenhaus zu bleiben. Zur Beobachtung”, sagte sie mit gebrochener Stimme. Anscheinend wollte sie ihn mit dieser Information beruhigen. Was ihr nicht gelang. Denn so eine medizinische Zwangsmaßnahme würde alle Vorbereitungen und die geplanten Presseauftritte anlässlich der Einweihungsfeier am kommenden Samstag blockieren. Eine totale Katastrophe!

„Nur noch zehn Minuten. Dann ist Schluss! Wir haben nach Mitternacht!”, herrschte eine Schwester sie an.

Agi Frings legte den Kopf auf die Bettdecke. „Bitte, lass uns niemals allein, Jean! Du musst besser auf dich aufpassen. Ich und die Kinder brauchen dich.”

Er strich ihr über die Haare. Die starken Schmerzmittel zeigten ihre Wirkung. „Schhhh … ruhig, Süße.”

Agi Frings weinte. Sie weinte und weinte und weinte.

„Schhhh … versprochen, Agi. So lange es in meiner Macht liegt, werdet ihr mich nicht los.”

„Be… be…” Agi Frings rang nach Luft. „Bestimmt?” Sie hob den Blick und schaute ihn an. „Ich soll dir auch einen dicken Kuss von unseren Mäusen geben. Ich hätte sie gerne mitgebracht, aber morgen ist Schule.”

„Ist meine Mutter bei den Kindern?”

„Nein, Jean.”

„Dann solltest du sie nicht länger allein lassen, Agi. Ich werde hier wirklich gut betüddelt und bin total müde.” Obwohl er ihr das Unbehagen an der Nasenspitze ansah, hoffte er, dass er sie über­zeugen konnte. „Ich komm zurecht, ganz sicher, Schatz”, sagte er und versuchte seinen Blick mit ihrem zu verbinden, um ihre Sor­genfalten noch etwas mehr zu glätten.

„Jean, möchtest du jetzt, dass ich …”

Frings zwinkerte, um ihr zu signalisieren, dass sie nicht weiter­zureden brauchte.

„Alles klar, du wunderbarer Ehemann. Schlaf schön. Aber wenn was ist, meldest du dich.” Sie gab ihm einen Kuss. „Bis morgen.”

„Bis morgen, Agi.”

Die Polizisten traten einen Schritt vor und rückten an Frings’ Bett heran. Eindringlich musterten sie ihn. Überschütteten ihn mit Fragen. Konnten die keine Rücksicht auf seine Privatsphäre nehmen? Warum nervten die beiden bloß so? Was hatte er gesehen? Wen hatte er gesehen? Wer hatte ihn gesehen? Wer hatte ihn gefunden? Ihm brummte der Schädel.

„Detailliertere Informationen würden uns wirklich helfen, Herr Frings.”

„Ich weiß nicht, warum ich überfallen wurde”, antwortete er. Aber dass er sich momentan in einem für ihn ungewöhnlichen Zustand befand, das wusste er. Dass sich seine komfortable, in­nere Harmonie verabschiedet hatte. Dass er gerade allein dastand – oder besser dalag. Und dass er Sport in nächster Zeit auch knicken konnte.

„Können Sie sich vorstellen, dass es eine gezielte, geplante Tat gewesen ist? Vielleicht aus Rache? Oder … Eifersucht?”, fragte ei­ner der Polizisten.

„Worauf spielen Sie an? Ich bin spazieren gegangen und hatte halt ausnahmsweise mal Pech.”

Frings kniff die Augen zusammen. Er musste nachdenken. Wenn der Täter seine Gewohnheiten kannte, hatte er gewusst, dass er zu spät zur Kabinettssitzung kommen würde. Vor allem musste er Wind davon bekommen haben, dass diese überhaupt stattfand. Es handelte sich schließlich um einen Termin, der im­mer nur intern vereinbart wurde. Den also niemand außerhalb der Gesellschaft wissen konnte. Denn er wurde weder auf der Website der KöKös gelistet noch von irgendwem offiziell über Facebook oder Instagram gepostet oder gar über WhatsApp oder in einer for­mellen Rundmail an alle Mitglieder – das waren hunderte – ver­schickt. Es konnte demnach kein Fremder gewesen sein. Oder etwa doch? Dann musste dieser Messerstecher ja einen Kompli­zen in den Reihen der KöKös haben oder selbst zu den KöKös gehören. Nein, den Gedanken wollte er gar nicht weiterdenken. Einer seiner Vertrauten – ein Informant? Aber wer, um Himmels Willen? Wer wollte ihm ans Leder? Es konnte einfach niemand gewesen sein, der sich nur rein zufällig im Innenhof der Riehler Redoute aufgehalten hatte und dann aus einer Laune heraus mit solcher Wucht auf ihn eingestochen hatte. Nein! Jemand hatte be­wusst versucht, ihn aus dem Weg zu räumen. Es konnte auch keine Verwechslung gewesen sein – so unbekannt war er in Köln nicht. Das war ein ganz gezielter Mordanschlag gewesen. Und der hatte ihm gegolten. Er schlotterte und blickte die Polizisten wieder an. „Glauben Sie, dass normale Menschen zum Mörder werden können?”

„Das wäre nicht das erste Mal.”

„Den Artgenossen töten? Einfach so?”

„Aus biologischer Sicht ein normaler Akt, Herr Frings. Beute machen, Angst, Notwehr. Sich hinter Masken verstecken … Ein Killer muss keineswegs eine beson­dere Vorliebe für Gewalt haben. Er kann sie auch nur als reine Ab­sicherung ansehen.”

„Auch um Macht zu etablieren?”

„Denkbar. Das Problem liegt meistens im Täter. Nicht außerhalb.”

„Dann kann er in meinem Fall kein Freund sein. Ich fühle mich wie gerädert. Könnten wir die Unterhaltung vertagen?”

„Hm … tja … vertagen. Hm … auch, wenn … ach, egal … na gut, wir lassen Sie jetzt erst mal in Ruhe. In ein paar Stunden wird sich Kriminalhauptkommissar Baack sowieso bei Ihnen melden. Er hat geplant, Sie hier zu besuchen. Einverstanden?”

Nein, war er nicht. Aber überrascht, dass die Beamten auf ein­mal so bereitwillig seiner Bitte gefolgt waren. Er hatte auch die­ses Rumgedruckse nicht verstanden! Außerdem schauten sie ihn jetzt so mitleidig an, dass ihm klar wurde: Da stimmte was nicht. Er konnte das Knistern im Gebälk förmlich hören. Wie groß war die Patsche, in der er steckte, tatsächlich? Er musste dieses Ge­fühl der Ohnmacht loswerden. Abhängigkeiten waren ihm ein Gräuel. Ganz besonders von irgendwelchen Beamten und Behör­den. Wenn er das Heft fest in der Hand hielt, gelang ihm fast alles. Warum nicht auch die Ermittlung des Täters? Er kannte seine Welt viel besser. Er kannte sein Netzwerk viel besser. Er kannte sich selbst viel besser. Er war viel besser. Im Strippenziehen. Nur, wem konnte er tatsächlich noch vertrauen? Bisher hatte er immer auf seine gute Menschenkenntnis gesetzt.

Als die Polizisten die Tür hinter sich geschlossen hatten, war er wie benebelt. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Aber morgen. Morgen war ein neuer Tag. Dann würde er einen Plan aufstellen. Schnell. Denn er wollte nicht bis nach der Feier am Samstag warten, wenn er wieder Zeit hatte. Dann könnte es be­reits zu spät sein. Er würde alle Personen um sich herum testen. Auf Herz und Nieren. Eine detektivische Arbeit. Das konnte er als Wirtschaftsconsultant. Analytisches Denken war sein Ding. Er würde jedem, der für ihn als Täter infrage kam oder sich seltsam verhielt, ein Motiv zuordnen.

Am liebsten zusammen mit Ferdinand Krämer. Das war ein su­per Typ – hellwach, immer loyal, den Schalk im Nacken, ebenso erfolgreich wie er und sein allerbester Freund. Der Sandkasten am Fort X war der Anfang ihrer Verbindung gewesen. Hier hat­ten sie Toleranz gelernt und ein ausgeprägtes Gefühl für Fairness und Freundschaft entwickelt. Schon ihre Väter konnten auf eine gemeinsame Kindheit zurückblicken und stammten aus derselben Kölner Crème de la Crème. Auch sie hatten eine enge Verbindung gepflegt. Was er an Ferdinand jedoch nicht verstand: Warum prä­sentierte er seinen Ruhm nicht stärker nach außen? Immerhin war er Inhaber der Rheinischen Überlandwerke und damit ei­nes der innovativsten Energieversorger der Region. Seine RÜW im Niehler Hafen belieferte über hunderttausend Privat- und Gewerbekunden mit Strom. Aber um den ersten Platz in der ersten Reihe hatte er sich noch nie geschert. Ferdinand agierte immer vom zweiten aus. Klassenbester, ja – Schulsprecher, nein. Das wurde dann Frings. Und trotzdem hatte Ferdinand immer alles bekommen, was er gewollt hatte. Wahrscheinlich, weil er bis heute so beliebt war. Auch als Premier der KöKös. Es war aber auch großartig, wie viele Stunden, Tage und Euros er der Gesellschaft unermüdlich schenkte. Mist, dass Ferdinand sich bei ihm ausgerechnet für diese Kabinettssit­zung entschuldigt hatte, weil er einem Geschäftsfreund schon seit Langem eine Nacht auf dem Ansitz seiner Jagd im Münsterland versprochen hatte.

Bestimmt wusste Ferdinand noch gar nichts von dem Mordanschlag. Aber er brauchte unbedingt seine Hilfe. Denn Ferdi­nand wusste immer Rat – besonders wenn es drauf ankam. Und das tat es jetzt. Sein Freund hatte ein auffallend gutes und aus­geprägtes Gespür für die Einschätzung von verzwickten Situati­onen. Wie er wohl seine missliche Lage bewerten würde? Was, wenn Ferdinand genau wie er auch die eigentlich absurde Vermutung hegen würde, dass er eventuell einer Verschwörung ausgesetzt war? Dass er es vielleicht nicht nur mit einem Täter, sondern mit zweien oder gleich ei­ner ganzen Gruppe zu tun hatte? Vielleicht wegen irgendeiner läppischen Sache aus vergangenen Zeiten, die er für sich längst gelöscht hatte? An die er sich nicht mehr erinnern konnte. Der Täter dafür umso besser. Würde er versuchen, den Fehlversuch zu korrigieren?

Frings wollte sich in diese lebensbedrohliche, an sich abwegige Idee nicht hineinsteigern, kam aber auch nicht von ihr los. Sie hatte sich in ihm festgesetzt. Hartnäckig wie Klebstoff. Er hoffte, dass das wieder aufhören würde und kniff erneut die Augen zusam­men.

3.

Montag auf dem Nachtsitz

Krämer zog den Kragen höher. Die grimmige Kälte konnte ihn nicht daran hindern, auf die Kanzel zu gehen. Dafür hatte er eine Lösung – beim Ansitz im Winter half die Zwiebel­taktik. Immer. Funktionsunterwäsche, isolierende Unterwäsche, ein Fleecehemd, und als vierte Schicht die flauschige, großzügig geschnittene Jacke für optimale Bewegungsfreiheit. Gemeinsam saß er mit seinem Geschäftsfreund auf dem Hochstand. Stumm, beobachtend, aber entspannt. Der Schnee glitzerte im Vollmond. Ideal, um auch im Dunkeln ein Reh oder Schwarzwild ins Visier zu nehmen. Er genoss diese Stunden der Abgeschiedenheit. Hier konnte er in sich gehen, tüfteln und war völlig eins mit der Natur. Selbst, wenn er in Begleitung wie heute war. Das störte ihn nicht im Geringsten. Das konnte er absolut ausblenden. Was blieb ihm auch anderes übrig?

Denn auch, wenn er im Grunde überhaupt nicht in Stimmung war, Justus Jever zu sehen, hatte er es ihm doch schon lange versprochen. Justus hatte vor einem halben Jahr sei­nen Jagdschein gemacht. War also Jungjäger, der nach vielen theoretischen Belehrungen und Revierbesichtigungen heute mit ihm zusammen auf der Lauer lag. Zur bestandenen Prüfung hatte Jus­tus von ihm ein handgefertigtes Jagdmesser aus Damaszenerstahl geschenkt bekommen. Sehr exklusiv. Besonders der rotbraune Griff aus Eschenholz. Er hatte ihn extra mit den Initialen JJ laser­prägen lassen und Justus dieses Einzelstück während eines sei­ner Besuche bei der RÜW feierlich überreicht. Gewiss hatte er es dabei. Krämer unterdrückte ein Gähnen. Justus hatte in den letz­ten Tagen, trotz einiger Dissonanzen zwischen ihnen, verstärkt auf das heutige Treffen gedrängt und beharrlich daran festgehalten. So etwas konnte er eigentlich gar nicht leiden. Auf Druck reagierte er immer mit Gegendruck oder Sturheit. Aber diesmal hatte er eine Ausnahme gemacht. Ob Justus sich dessen bewusst war? Oder warum hatte er ihn so betont freundlich, fast herzlich begrüßt? Bestimmt wollte er wieder auf Schönwetter zurückschalten. Viel­leicht führte er aber auch erneut etwas im Schilde? Auf jeden Fall war es immer hilfreich, genau im Bilde zu sein. Und schaden tat das Treffen sicherlich nicht.

Krämer lehnte sich zurück. Mit der einen Hand hielt er sein Gewehr, die andere kramte unmerklich in der Hosentasche. Hatte er nicht vom letzten Ansitz noch ein paar lose Himbeerdrops ge­habt? Seine Fingerkuppen tasteten die Stoffnaht ab. Manchmal klebten die Biester daran fest. Ja, da war noch eins. Er zog die Hand langsam raus und schob sich das Fruchtbonbon klammheimlich in den Mund. Dabei hatte er sich wieder nach vorne gebeugt, soweit der Bauch dies zuließ, und sich sicherheitshalber auf seinem Ge­wehr abgestützt. Warum hatte Justus überhaupt einen Jagdschein gemacht? Wenn er ihn so hatte reden hören, ging es Justus ums Rumballern und viele Trophäen. Im Gegensatz zu ihm. Da war er völlig anders. Für ihn zählte ausschließlich der respektvolle, nach­haltige Umgang mit dem Wald und dem Wild. Nicht gegen das Ökosystem, sondern im Einklang mit ihm zu sein, war schon im­mer seine Devise gewesen. Die von Justus offenbar nicht.

Krämer schielte von der Seite zu ihm hinüber. Hatte Justus einen neuen grauen Filzhut? Männer verbargen gern ihr schütteres Haar darunter. Aber Justus trug immer noch seinen mittel­braunen Zopf und wollte sich bestimmt nur wichtigtun. Auch mit dem orangefarbenen Signalband daran. Als Großgrundbesitzer. Wo er doch jetzt auf einem prächtigen alten Gutshof vor den To­ren Münsters wohnte. Vor einem Jahr hatte er ihn im Rahmen eines Notverkaufs ersteigert. Ein echter Schnapper. Ein Träum­chen für Justus und ein Albtraum für die Vorbesitzer. Der Hof war seit fünf Generationen in Familienbesitz gewesen und jetzt hatte ausgerechnet so ein dahergelaufener Schnösel aus der Syl­ter Schicki-Micki-Szene den Zuschlag bekommen. Einer, der den historischen Wert des Hofes nicht wirklich zu würdigen wusste. Justus war halt kein feingeistiger Architekt. Er war Bauunterneh­mer. Nichts dagegen. Gemeinsam hatten sie einige Hallenprojekte der RÜW erfolgreich durchgezogen. Denn Neubauten waren seine Kragenweite. Lidl, Aldi, Rewe … alle hatten mal zu seinen Kunden gezählt. Gab es ein neues Einkaufscenter auf einer grü­nen Wiese, dann war er daran beteiligt gewesen. Viele Kölner wa­ren verblüfft, warum Justus als Nichtkölner einen derartigen Ein­fluss bei den Stadtvätern hatte. Wie das wohl zustande kommen konnte? Krämer lehnte sich wieder zurück. Ganz klar, durch ihn. Er war sein Mentor in Sachen Bauerwartungsländereien. Krämer griff zum Rucksack, holte eine flache Tupperdose mit Lakritz und Schokostücken heraus, klappte geräuschlos den Deckel hoch und stellte sie vorsichtig auf die Sitzbank. Selbstverständlich so, dass auch Justus sich bedienen konnte.

Jever neigte seinen Kopf zu ihm, ohne den Blick von der Lich­tung zu nehmen. „Ferdinand!”

„Hm?”

„Ich werde mich aus Köln zurückziehen.”

„Ach …!”

„Ja! Ich wollte, dass du es von mir erfährst.”

„Psst! Nicht so laut, Justus!”

„Ja, schon gut. Aber im Ernst: Was sagst du dazu?”

„Nix.”

„Nichts? Du fragst nicht, warum?”

„Warum?”

„Ich werde jetzt Privatier.”

„Privatier?”

„Ja.”

„Was für’n Luxus!”

„Wirklich, ich brauche eine Auszeit. Hat mir mein Hausarzt dringend ans Herz gelegt, wegen meiner emotionalen Erschöpfung. Burn-out heißt das.”

„Aha!”

„Stell dir vor, was mich für Symptome plagen: Ich will keine Nähe mehr zu Menschen, mit denen ich mich streite. Ich bin wie ein Pulverfass, das jeden Tag explodieren könnte.”

„Das ist gefährlich.”

„Aber nicht für echte Freunde.”

„Also für mich schon?”, fragte Krämer und grinste.

„Nein!”

„Dann bin ich ja beruhigt.”

„Hinzu kommt, dass mein Internist eine schwere Erkrankung bei mir festgestellt hat.”

„Nä!”

„Doch! Aber behalte es bitte für dich: Ich hab Borreliose.”

Krämer rutschte ein Stück von ihm ab.

„Mensch, Ferdinand, ich bin doch kein Monster!”

„Ist das nicht ansteckend?”

„Schon, aber nicht durch mich! Die Ansteckung erfolgt über Zecken. Trotzdem ist die Krankheit tückisch. Ich muss mich bei einer Jagd in Polen infiziert haben. Danach war ich immer müde, bekam leichtes Fieber, Kopfschmerzen, Herzklopfen – wie eine Sommergrippe. Dann kamen Rückenschmerzen wie bei einem Bandscheibenvorfall. Irgendwann bin ich beschwerdefrei gewesen. Bis jetzt. Bei meiner letzten prophylaktischen Blutunter­suchung sind leider Antikörper entdeckt worden. Eine Spontan­heilung gibt es nicht, auch eine überstandene Borreliose macht nicht immun.”

Jetzt verstand Krämer auch Justus’ dringenden Wunsch, sich heute zu treffen.

„Tja, Ferdinand … du kannst dir vorstellen, wie dankbar ich den KöKös heute bin, dass ich den Sanierungsauftrag der Riehler Redoute nicht erhalten hab”, sagte Jever. „Meine Gesundheit ist mir wichtiger.”

Krämer glaubte ihm nicht. „Und was wird aus deinen Spenden an unsere KöKös?”

„Eine Hand wäscht die andere, lieber Ferdinand.”

„Aber zu viel waschen ist auch ungesund.”

„Aber irgendwie brauche ich für meine vielen Spenden auch wieder ein Re-Invest. Das fehlt mir zurzeit.”

Krämer hob die Hand und unterbrach das Gespräch. Sein Smartphone vibrierte. Er zog es aus der Tasche. Er war eigentlich immer froh, wenn ihn das Handy wenigstens im Busch mal in Frieden ließ. Trotzdem vermittelte ihm sein Bauchgefühl, dass es sinnvoll wäre, einen Blick auf die eingehen­den Meldungen zu werfen. Denn wer wollte mitten in der Nacht etwas von ihm? Sofort schoss ihm der Gedanke an seine Familie durch den Kopf. Hoffentlich war mit ihr alles in Ordnung? Viel­leicht hatte sich ja auch sein Beagle-Rüde Lord irgendetwas einge­fangen und musste mal wieder zum tiermedizinischen Notdienst? Drei- bis viermal hatte sein Handy gezuckt. Ausgerechnet in dem Moment, als er und Justus Geräusche wahrgenommen hatten und ihnen höchste Konzentration abverlangt wurde. Bestimmt war es ein Kabinettskollege der KöKös. Nein! Es war Jean Baptist Frings! Was war denn so dringend? Er hatte ihm doch gesagt, warum er heute Abend nicht an der Sitzung teilnehmen konnte.

„Deine Frau?”, fragte Jever.

„Nee.”

„Alles gut?”

„Mal sehen.”

„Du bist total blass!” Jever beleuchtete Krämers pausbackiges Gesicht mit einer Taschenlampe.

„Lass das! Bist du bekloppt?”, fragte Krämer empört und scrollte bis zum Ende von Frings’ Nachricht. Und wieder an den Anfang. Und noch einmal ans Ende. Und wieder nach oben. Auf seinen Freund war eingestochen worden, und gerade jetzt war er nicht in Köln! Ausgerechnet heute. Er schob die Zeilen hin und her, her und hin. Immer wieder, immer schneller.

Jever äugte neugierig zum Handydisplay und lehnte sich sogar so weit hinüber, dass Krämer selbst nichts mehr lesen konnte. Er schubste Jever schroff zurück und zitterte plötzlich wie Espenlaub. Einen Moment lang spreizte er die rechten Finger, ballte dann die Hand zur Faust, schüttelte sie anschließend kräftig aus und whatsappte an Frings zurück.

Breche die Jagd ab und komme, so schnell es geht, zu dir ins Krankenhaus. Kriegste Po­lizeischutz?
Bis gleich und liebe Grüße, Ferdinand.
PS: Das hat der nicht umsonst gemacht …

Das konnte nur ein kompletter Idiot gewesen sein. Ein Freak oder ein Junkie.

Krämer nahm noch eine Handvoll Lakritz und ein Stückchen Schokolade. Beides brachte ihn in seiner Überlegung kein bisschen weiter.

 

Krämer tippte mit den Fingern am Multifunktionslenkrad seines Porsche Cayenne herum und folgte dabei dem Takt der aufmun­ternden Swing-Musik. Er nahm die Autobahnabfahrt Köln-Nord, Ausfahrt Longerich. Er wollte sich noch kurz frischmachen und aus den Jagdklamotten heraus, bevor er ins Krankenhaus zu sei­nem Freund fuhr. Es dämmerte und die aufgehende Sonne ließ einen klaren Wintertag mit gleißendem Licht erwarten. Er steu­erte den Boliden Richtung Niehler Ei, als sein Handy wieder eine Nachricht meldete.

Ein entgangener Anruf? Wieder eine WhatsApp? Vielleicht war es Jean, der nicht schlafen konnte. Oder war etwa wieder etwas passiert? Nein! Doch nicht im Krankenhaus. Er verdrängte sein dunkles Kopfkino und hielt auf der Militärringstraße in einer kleinen Bucht am rechten Fahrbahnrand an. Er wollte nur sicherge­hen, dass er sich keine Sorgen machen musste und ruhigen Gewis­sens kurz nach Hause fahren konnte.

Unbekannte Nummer. Anonym. Krämer zuckte zusammen.

Wieß un rut un do bes dud!

Weiß und rot und du bist tot? Und dahinter war nicht etwa ein Smiley, sondern ein grinsender Totenschädel eingefügt. Übelkeit dehnte sich bis zur Kehle aus. Hatte der Anschlag gar nicht Jean gegolten, sondern ihm?

„Bleib ganz ruhig!”, sagte er sich.

Krämer lenkte den Wagen auf die Fahrbahn zurück und setzte den Weg vorschriftsmäßig mit Siebzig fort. Irgendwer kam zügig näher, fuhr ganz nah auf, drängelte, betätigte die Lichthupe und setzte schließlich, ohne Rücksicht auf einen aus Richtung des Niehler Ei heranbrausenden Lkw, zum Überholen an. „Tesla”, murmelte Krämer, als das Premium-Elektroauto ganz knapp vor ihm einscherte. Sein Ad­renalinspiegel schäumte förmlich über. Krämer bremste scharf ab. „Was für ein Dreckskerl!”

Der Lkw donnerte vorbei und betätigte dabei seine Hupe. RÜW stand vorne auf der Haube und Die Zukunft ist die Zukunft, seitlich auf einem riesigen Gletschermotiv. Seine Idee. Seine Lkw-Flotte. Und, was für eine famose Zeitplanung für seinen Radiospot. Wie gebucht, so gesendet. Zu jeder halben Stunde. Drei Wochen lang. Er stellte lauter.

„… RÜW. Ihr Ökostrom am Strom.”

Das kam gut! Krämer parkte vor seinem Haus und ließ den Motor weiterlaufen.

„… im Norden viele Wolken und zeitweise Schneeregen, im Westen Sonne, im Süden und Osten aufgelockert. Die weiteren Aussichten, winterlich kalt … zurzeit keine Staumeldungen … weiterhin gute Fahrt.”

„Hatte ich, danke!”, murmelte er.

„Und hier noch eine Sondermeldung der Kriminalpolizei Köln …”

Krämer drehte lauter.

„Vergangene Nacht wurde im Botanischen Garten die Leiche einer jungen Frau gefunden. Die 32-jährige Viola B. aus Köln ist offenbar gewaltsam zu Tode gekommen. Polizisten haben sie bei der weiträumigen Absperrung und Durchsuchung des Gebietes gefunden, nachdem an der Riehler Redoute ein Anschlag auf den prominenten Kölner Unternehmer Frings verübt worden war. Wie die Frau zu Tode gekommen ist, was genau sich in der Gartenan­lage abgespielt hat, dazu machte die Staatsanwaltschaft noch keine Angaben. Im Studio jetzt zugeschaltet ist Raphael Baack, Krimi­nalhauptkommissar. Guten Morgen, Herr Baack!”

„Guten Morgen.”

Krämer lehnte den Kopf an die Stütze zurück und suchte mit einer Hand Halt an der Mittelkonsole.

„Herr Baack, sehen Sie einen möglichen Zusammenhang zwi­schen dem Anschlag auf Frings gestern Abend und dem Mord an der jungen Frau? Oder könnten beide Zufallsopfer gewesen sein?”

„Das ist bis jetzt noch alles nicht klar.”

„Gibt es schon Tatverdächtige?”

„Es hat vor Kurzem bereits einen ähnlichen Fall gegeben. Wir gehen zurzeit davon aus, dass die Ermordete möglicherweise ein weiteres Opfer eines Parkmörders ist, der in Köln sein Unwesen treibt.”

„Also ein Serienkiller? Auch bei dem Anschlag auf Frings? Und warum?”

„Warum Herr Frings und die Tote überhaupt ins Visier des oder der Täter gerieten, können wir momentan aus ermittlungstakti­schen Gründen nicht sagen. Eine Soko ist jetzt eingerichtet. Und wir bitten die Kölner Bürger um Mithilfe und sachdienliche Hin­weise. Die nimmt jede Polizeidienststelle entgegen.”

„Vielen Dank.”

Krämer wippte mit den Fersen. Er hatte kalte Füße bekommen. Er schaute nach draußen. Keine Sicht. Gebläse aus. Alle Scheiben beschlagen. Er öffnete die Tür, stieß sie ungehalten auf, griff mit einer Hand ans Lenkrad, mit der anderen an die Karosserie, drehte sich irgendwie auf dem unnachgiebig fest gepolsterten Sitz, stellte beide Füße auf den Boden und stemmte sich schwerfällig aus dem Wagen.

Eben war er nur müde gewesen. Jetzt war er todmüde. Der Ischias tat ihm weh. Man wurde halt nicht jünger. Aber man lebte noch. Auch ohne gesundes Essen. Das war ihm lästig. Immer dar­auf aufzupassen, was man durfte und was nicht. Leicht nach vorne gebeugt, nahm er vorsichtig seine Jagdklamotten aus dem Koffer­raum und schlurfte zum Hauseingang. Die zusammengerollte Ta­geszeitung und die frischen Bäckerbrötchen lagen schon neben der Fußmatte. Er bückte sich.

„O nein, mein Rücken!” Beherzt griff er nach Tüte und Zeitung und richtete sich vorsichtig wieder auf. Zu beidem würde er sich gleich einen heißen Kaffee aus der neuen Espressomaschine brühen. Danach gierte er schon die ganze Heimfahrt. Das würde den Serotoninspiegel nach oben bringen und die Stimmung we­nigstens etwas heben. Von einem Wohlgefühl war er momentan Lichtjahre entfernt.