Leseprobe Seeluftflüstern

Kapitel 1

Das Unglück nimmt seinen Lauf

„Ive hat sich krankgemeldet“, hörte Michelle Ingrid aus der Ferne rufen, während sie den Telefonhörer ans Ohr presste und versuchte, Annabell zu beruhigen. Die wollte wissen, wann sie die Dekoration der Terrasse aussuchen und die Sitzordnung für ihre Hochzeit im „HerzCafé“ bestimmen konnte. „Außerdem steht Richard auf dem Parkplatz und wartet darauf, dass du seine Lieferung entgegennimmst.“

„Ich habe auch nur zwei Arme“, stöhnte Michelle, die sich ganz, ganz weit wegwünschte.

„Was haben denn Arme mit der ganzen Sache zu tun?“, wollte Annabell zähneknirschend wissen.

„Das war nicht an dich gerichtet.“

„Redest du etwa mit jemand anderem?“

„Soll ich die E-Mails beantworten, die gerade hereingekommen sind, oder willst du das machen?“, fragte Ingrid weiter, die mittlerweile im Türrahmen des Büros stand und Michelle auffordernd anschaute.

Die hob den Finger und bat ihre Freundin, kurz zu warten.

„Annabell, ich verspreche es dir“, sagte Michelle beschwichtigend. „Alles wird zu deiner Zufriedenheit verlaufen. Im Moment ist es etwas schwer für mich, alles unter einen Hut zu bekommen! Es ist so viel los“

„Wir haben das Preisausschreiben gewonnen“, hielt Annabell ihr entgegen und ließ Michelle die Luft gepresst ausstoßen.

Natürlich! Das Preisausschreiben. Eine Idee, die Ive gehabt hatte, nachdem sie einen Artikel im Fehmarnsches Tagesblatt gelesen hatte, der dazu aufrief, sich als Café oder kleine Lokalität darum zu bewerben, eine maßgenschneiderte Traumhochzeit auszurichten.

„Das ist die Chance, besser auf uns aufmerksam zu machen“, hatte Ive gemeint und Jana gleich auf ihrer Seite gehabt.

„Das stimmt. So kommen wir in die Presse und können uns vermarkten. Große Bekanntheit, mehr Kundschaft“, waren Janas Worte gewesen, die mit ihren Worten den Stein in Michelle ins Rollen gebracht hatte.

Einen Stein, der unaufhaltsam Richtung Tal der Zeitung gekullert war und schließlich dazu geführt hatte, dass die zuständige Redakteurin nach ihrem Besuch, dem Interview und einem auf Michelles organisierten Schlemmen mit Eis, Torte, Kuchen und belegten Broten entschied, dass das „HerzCafé“ an dem Ausschreiben zur Ausrichtung der Hochzeit teilnehmen durfte.

„Eure Gäste werden hier mit einem Sektempfang, Torten, Kuchen, belegten Schnittchen und Eis verwöhnt. Die Hauptgänge –“, sie hielt den Hörer vom Ohr, als sie Annabell schluchzen hörte. „Musst du mit dem Küchenchef des Restaurants absprechen, das ebenfalls an dem Ausschreiben teilgenommen hat. Darauf habe ich keinen Einfluss. Ich stelle nur die Lokalität und die Süßspeisen.“ Michelle machte eine Pause, hörte das Klagen Annabells und nickte, als sie antwortet: „Das verspreche ich dir. Alles wird super laufen. Gib mir bitte noch zwei Tage, bis ich das Chaos hier beseitigt habe.“

„Die Hochzeit ist in zehn Wochen!“

„Ich weiß. Bis dahin haben wir auch alles geregelt und eine Essensabfolge sowie die zu verzehrenden Kuchen erarbeitet“, versprach Michelle. „In meinem Terminkalender steht, dass du dich am Mittwoch, den 16. mit Ive treffen und erste Geschmacksproben abgleichen wolltest.“

„Heute ist der 16.!“

Verdammter Mist, schoss es ihr durch den Kopf.

„Ich schicke sofort jemanden los“, versprach Michelle, winkte Ingrid zu sich und klemmte sich den Telefonhörer zwischen Schulter und Ohr.

„Was gibt es?“

„Jana“, formte sie lautlos und zeigte auf das Telefon, „soll den Termin wahrnehmen.“

„Sie soll was?“, fragte Ingrid, die die vor ihrer Brust hängende Brille auf die Nase setzte und ihre Chefin verständnislos anschaute.

„Zu dem Termin gehen!“

„Wie soll das gehen?“, fragte Ingrid. „Sie und ich sind allein im Café“

„Sie muss“, zischte Michelle.

„Wir haben Gäste …“

„Bitte. Schick sie!“

„Ich rufe eine der Aushilfen an, ob sie kurz einspringen können“, meinte Ingrid, zog die Tür wieder zu und rief einem, vor dem Tresen wartenden Kunden zu. „Ich bin sofort bei Ihnen, Herzchen, und nehme Ihre Bestellung auf. Wollen Sie einen Cookie essen, während Sie warten? Geht aufs Haus!“

„Ich weiß gar nicht, warum ich mich auf die Sache eingelassen habe“, jammerte Annabell auf der anderen Seite des Telefons, während Michelle tief ausatmete, froh darüber, dass Ingrid sich von nichts und niemanden aus der Ruhe bringe ließ. „Hätte ich das alles gewusst, hätte ich die Hochzeit ganz allein geplant und alles ohne euch in die Wege geleitet.“

„Ich verspreche dir“, sagte Michelle, während sie tief Luft holte, „Alles wird so, wie es im Preisausschreiben angekündigt worden ist.“

Im Stillen dachte sie: Wenn die Sache hier in die Hose geht, bin ich geliefert. An diese PR-Aktion habe ich alles gehängt. Jede gottverdammte Minute, die ich für diese Hochzeit geopfert habe, darf nicht umsonst gewesen sein. Wird das ein Reinfall, kann ich das Licht hier für immer ausmachen. Dann bleibt mir nichts mehr, außer der Angst.

„Was gibt es noch?“, wollte Michelle von Ingrid wissen, die mit Michelles Handy in der Hand wieder ins Büro kam.

„Benny ist dran. Er möchte mit dir reden.“ Sie reichte ihr das Handy und eilte zurück zu den Kunden.

„Kein Problem. Auch das mache ich gerne“, erwiderte Michelle seufzend und schloss die Augen. Alles wird gut. Alles wird prima. Alles ist genau so, wie du es immer haben wolltest …

 

***

 

„Benny“, begrüßte sie ihren Bruder lachend durchs Telefon, sichtlich darum bemüht, die innere Unruhe, die sich in ihr ausgebreitet hatte, niederzukämpfen. Sie lächelte, obwohl sie wusste, dass ihr Bruder es nicht sehen konnte. Michelle atmete geräuschvoll ein, als sie die Stimme ihres Bruders hörte und sich vorstellte, dass allein durch den Klang ihrer Stimme das auf ihren Lippen liegende Lächeln transportiert wurde.

Benny mag es, wenn ich lächele, dachte sie. Er sagt immer, ich bin die schönste Frau, die er kennt.

„Ich musste lange warten“, beschwerte Benny sich, und sie konnte ihn regelrecht am Stationstelefon stehen sehen, die linke Hand am Ohrläppchen, dieses massierend.

„Es ist leider gerade viel zu tun, Baby. Was hast du denn auf dem Herzen?“

„Ich wollte deine Stimme hören“, sagte er ihr und schien sich zu schämen. „Ich mag deine Stimme so gern.“

„Ich mag deine Stimme auch sehr gern“, gab sie zurück und kämpfte mit dem schlechten Gewissen, als ihr einfiel, dass sie die letzten vier Tage nicht bei Benny im Heim gewesen war.

„Hast du mich noch lieb?“

„Von hier bis zum Mond!“

„Ich liebe dich bis zur Sonne“, rief Benny daraufhin und fügte – wie immer – hinzu: „Wie ein Sonnenstrahl so heiß.“

„Oha“, machte sie. „Dann kann ich dich ja nie mehr lieben als du mich.“

„Nein, das kannst du nicht“, freute er sich und lachte glucksend. „Duuuuhuuu?“

„Ja, Benny?“

„Ich vermisse dich.“

„Ich dich auch“, lächelte sie. „Ganz doll sogar. Noch doller als du mich!“

„Das geht gar nicht“, freute er sich. „Ich vermisse dich wie ich Mama und Papa vermisse. Wann besuchen sie mich wieder?“

Michelle seufzte, als sie die naive Frage ihres Bruders hörte.

Sie hatte sich solange den Kopf darüber zerbrochen, dass sie sich nicht mehr anders zu helfen wusste, als den Pfleger Rafael anzusprechen, der seit gut acht Wochen für Bennys Gruppe zuständig war. Der hatte ihr einen Rat gegeben, auf seine charmante, seine ehrliche und offene Art und Weise: „Konfrontiere ihn. Anders geht es nicht. Irgendwann wird er es akzeptieren!“

So einleuchtend ihr die Worte auch vorgekommen waren, so schwer war es, sie in die Tat umzusetzen. Bisher hatte sie immer versucht, alles von Benny fernzuhalten. Egal ob es damals in der Schule gewesen war, wenn er sie abgeholt, und unweigerlich den Spott der gesunden Kinder auf sich zog, oder wie jetzt, wenn sie krampfhaft darum bemüht war, ihn nicht traurig zu machen.

Und auch jetzt, wo seine Stimme noch immer in ihrem Kopf widerhallte, fragte sie sich, wie sie am besten reagieren konnte, um Bennys dunklen Vorahnungen mit ein wenig Licht entgegenzutreten.

Dass etwas nicht stimmte, wusste er.

Was es genau war, war Benny nicht möglich, zu erkunden.

Etwas in ihr scheute sich davor, Benny zu erzählen, was vor drei Jahren wirklich geschehen war. Es tat ihr in der Seele weh, auch nur darüber nachzudenken, ihrem Bruder die grausame Wahrheit zu sagen. Eine Wahrheit, die den sowieso schon labilen Zustand Bennys nur noch mehr verschlechtern würde.

Ihn so traurig zu sehen, konnte sie nicht ertragen.

Benny musste glücklich sein.

Er hatte immer in allem etwas Gutes gesehen. Natürlich wusste sie, wie albern ihre Angst war, ihrem Bruder zu sagen, dass ihre Eltern gestorben waren. Aber etwas ganz tief in ihr drin, wollte nicht, dass er seine Fröhlichkeit verlor. Denn auch ihr war bei dieser Nachricht damals ein Stück Fröhlichkeit für immer abhandengekommen. Das wollte sie nicht auch Benny zumuten. Er sollte sich freuen, wenn er malen durfte. Er sollte glücklich sein, wenn einer der Pfleger mit ihm und seinen heiß geliebten Autos spielte und er dabei seine mit Dämonen bedruckten T-Shirts trug. Er sollte über das ganze Gesicht strahlen, wenn Michelle durch die Tür des Pflegeheims getreten kam, einen Luftballon in der Hand, in der anderen Kuchen und Gebäck, das sie zusammen essen würden.

All das, da war sie sich sicher, würde ihm abhandenkommen, wenn sie ihm sagte, dass ihre Eltern nicht mehr lebten.

Was, wenn es nicht so ist?, fragte sie sich dann, nur um sich die Frage kurz darauf selbst zu beantworten. Ich erinnere mich an Weinachten. Erinnere mich daran, wie misstrauisch er Mama und Papa gegenüber gewesen ist, als sie hereingekommen sind und ihm gesagt haben, dass der Besuch am Nordpol wunderschön gewesen war.

Wie verstohlen er versucht hat, herauszufinden, ob unsere Eltern die Geschenke gekauft oder vom Weihnachtsmann bekommen haben!

Selbst dem Weihnachtsmann am Heiligen Abend hat er nicht über den Weg getraut. Er hat das Geschenk in die Hand genommen, hat es inspiziert und gefragt, ob es teuer gewesen war.

Eine enorme Leistung für jemanden, dessen IQ nur bei 68 liegen soll.

Michelle schluckte, während ihr die Gedanken durch den Kopf hämmerten, wie Faustschläge, die sie wieder und wieder mitten ins Gesicht trafen.

„Sie kommen bald“, sagte sie schließlich. „Sie vergessen uns nicht. Das haben sie nie.“

„Ich weiß“, antwortete Benny und schwieg dann. Nur sein Atem war zu hören. Schwer und seufzend, so, als müsse er sich konzentrieren, überhaupt zu atmen.

„Hast du heute noch was Tolles vor?“

„Nein.“

„Gar nichts?“, fragte sie, während sie einen Schmollmund machte und hoffte, dass er ihre Fröhlichkeit, die sie ihm vorzuspielen versuchte, aus ihren Worten heraushören konnte. „Das kann ich mir gar nicht vorstellen. Ich meine, hey, du bist doch der größte Abenteurer auf der ganzen Welt. Der beste Pirat der sieben Weltmeere.“

Benny kicherte. „Das bin ich!“

„Und als der hast du nichts vor? Gar nichts? Gibt es denn keinen Schatz, den du heben musst? Kein Schiff, das erobert werden will? Hallo?! Ich meine, wenigstens eine kleine Jungfrau in Nöten muss doch wohl gerettet werden.“

„Du hast Jungfrau gesagt“, kicherte er und machte einen brummenden Laut.

„War das etwa unanständig von mir?“

„Das klingt fast wie … na … du weißt schon“, sagte er peinlich berührt und ließ Michelle die Sonne in ihrem Herzen aufgehen. Sie fühlte sich erleichtert und es kam ihr so vor, als fiele eine unendliche Last von ihren Schultern, die ihr bis eben noch so unendlich schwer erschienen waren.

Jetzt aber, wo sie mit ihrem Bruder telefonierte und das Gefühl hatte, als wären sie beide wieder Kinder und nichts anderes zählte, als Abenteuer zu erleben, fühlte sie sich frei.

„Das habe ich aber nicht gesagt.“

„Manchmal sagen Menschen Sachen, die sie gar nicht so meinen.“

Michelle lachte.

„Auslachen zählt nicht. Auslachen ist gemein. Mama sagt immer, man darf nicht über mich lachen. Keiner!“

„Ich würde niemals über dich lachen! Das weißt du doch.“

„Tanzen meine Schatten noch?“, Michelle lachte und war froh darüber, dass Benny sprunghaft, wie er nun einmal war, das Thema wechselte: „Natürlich.“

„Miteinander?“

„Ich würde die beiden niemals trennen“, sagte sie mit einer, ihm alles hoch und heilig versprechenden Stimme. „Die haben sich doch lieb.“

„So wie ich dich.“

„Und ich dich.“

„Dann können wir ja die Schatten sein“, kicherte Benny und Michelle konnte es sich vorstellen, wie er dastand, die Hand vor den Mund gehoben, die Schultern nach vorne gebeugt, die Augen zusammengekniffen, um die Mundwinkel herum, den Schalk eines kleinen Jungen. „Ich bin der große Schatten.“

„Und ich der kleine Dicke?“, wollte sie spaßeshalber wissen.

„Nur dein Popo!“

„Du, noch so ein Spruch und ich muss dich ganz doll durchkitzeln!“

Sie lächelte, während sie einen Blick hinaus aus dem Fenster warf, hin zur Steilküste, und sie an der einen, nur wenige Meter ins Meer ragenden Landzunge, das auf ihr in der Ferne stehende Haus erblickte. Heute, wo die Sicht klar war, die Sonne hoch am Himmel stand und sich, schillernd und glitzernd, auf den die Gischt vor sich hertragenden Wellen brach, konnte sie sogar den, das Haus umschließenden Zaun erkennen.

Es war ihr, während sie Benny kichern hörte und sie die Ferne des Meeres erahnen konnte, als würden all ihre eben noch durch den Kopf kreisenden Ängste und Befürchtungen für einen kurzen Augenblick ihre Kraft und ihren Schrecken verlieren. Als würde es eine Minute der inneren Ruhe geben, die sie sich so sehr wünschte und hoffte, sie irgendwann einmal selbst erleben zu dürfen.

Dazu kamen ihr die Erinnerungen, wie sie Benny das Café das erste Mal zeigte. Ein kleines, immer renovierungsbedürftiges Haus, das sie von dem Erbe ihrer Eltern hatte bezahlen können.

Das einzige hier, das komplett mir gehört. Die einzige Sicherheit, die ich habe.

Michelle sah, wie Benny damals dastand, wie er, mit halb offen stehendem Mund, sein Staunen nicht verbergen könnend, hineingetreten war, in den rund angelegten Servierraum. Mit zitternd erhobenem Finger hatte er die noch frisch weiß gestrichenen Wände angestarrt und gemeint: „Da musst du drauf malen.“

„Draufmalen? Was meinst du damit?“, hatte sie gefragt.

„Menschen, die sich lieb haben“, hatte er erwidert und sie gedrückt.

Und dadurch war die Idee entstanden, die Wände mit liebevoll gestalteten, schattenhaft umrissenen Menschen zu verzieren, die aussahen, als würden sie hier lesen, reden, essen, trinken und, so wie Benny es wollte, miteinander tanzen.

Was zu einer neuen Idee bei Michelle geführt hatte.

Sie erinnerte sich noch daran, wie sie mit Jana und Ingrid zusammen die Schablonen angefertigt hatte, um die Schattenmenschen an die Wand malen zu können. Wie Benny sie besucht hatte, mit den Pinseln spielte und es nicht abwarten konnte, seine Kunstwerke auf die Wand bringen zu können.

„Und das da ist dein Popo“, hatte er damals lachend gesagt, als er die Tänzer akribisch, einem wahren Künstler gleich, ausgemalt und fertigstellt hatte.

„Du bist ein Schlingel“, war ihre Erwiderung gewesen, während sie Benny mit ihrem Pinsel einen Strich durchs Gesicht zog, was er mit einem erschrockenen Quicken honorierte und dann, als er sich mit dem Handrücken über die Nase fuhr, lapidar meinte, er wollte gerne einen Schluck Cola trinken.

Die Idee, die ihr gekommen war, ließ sie nicht mehr los.

Tanzen, waberte es ihr unentwegt durch den Kopf, dicht gefolgt von, Lachen. Lauschige Musik, die bei einem lauen, vom Meer herüberkommenden Lüftchen in der Luft lag. Lampions, die sich im Wind wiegten. Menschen, die den Abend genossen.

Und so war ihr Einfall zu einem Plan geworden, den sie in die Tat umsetzen wollte.

Ihre Terrasse so umgestalten, dass man dort jederzeit kleine Festlichkeiten, Feiern und Geburtstage feiern konnte.

„Wann besuchst du mich denn?“, fragte Benny unverhofft und riss sie damit aus ihren Gedanken und ließ das eben entstandene Gefühl der Leichtigkeit wieder verschwinden.

„Bald“, erwiderte sie und bekam ein schlechtes Gewissen, woraufhin sie schnell hinzufügte: „Spätestens Übermorgen.“

„Ist das lange?“

„Noch zwei Mal schlafen.“

„Ich will nicht noch zwei Mal schlafen“, lallte Benny. „Kommst du jetzt gleich?“

„Jetzt habe ich leider keine Zeit.“

„Nur ganz kurz. Fünf Minuten? Ich will mit dir kuscheln.“

„Das will ich doch auch mit dir“, sagte sie mit einem selten schweren Herz in der Brust, das drohte, ihr in die Hose zu rutschen.

„Dann kommst du gleich?“

Sie seufzte. „Benny. Ich habe wirklich zu tun.“

„Bringst du dann auch etwas zu Naschen mit? Mir wurden meine Naschis weggenommen.“

„Hat da jemand wieder heimlich Bonbons stibitzt?“, wollte sie spielerisch zornig wissen und wusste, dass Benny auf ihre „Jetzt werde ich aber gleich böse“-Stimme immer gleich reagierte. Er kicherte. Und so wie er es tat, konnte sie ihn da wieder am Telefon stehen sehen. Die linke Hand an die Wange gelegt, den Kopf verschämt auf der Schulter liegen, während er nervös einen Fuß vor den anderen setzte.

„Ja“, gestand er ihr.

„Sollst du das?“

„Nein“, sagte er schuldbewusst und fragte dann gleich wieder. „Mama und Papa sagst du das aber nicht?“

„Niemals. Bleibt unser Geheimnis. Großes Indianerehrenwort!“

„Dann sehen wir uns gleich“, sagte Benny und machte einen glucksenden Laut, um dann das Telefon aufzulegen, ohne sich zu verabschieden.

Michelle schüttelte den Kopf.

Könnte sie Benny jemals böse sein?