Leseprobe Sehnsucht nach Charleston

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Die Gäste verließen Oakfield am nächsten Vormittag. Zusammen mit ihrem Onkel stand Vivian auf der breiten Treppe vor dem Eingang des Hauses und verabschiedete sich mit einem verwirrenden Gefühl des Bedauerns von Captain Dupont und Lord Wimsey. Nach ihrem Gespräch mit dem Captain am Vortag hatte sich keine Gelegenheit mehr ergeben, mit ihm allein zu sein. In Gegenwart ihres Onkels und Lord Wimseys war Captain Duponts Verhalten ihr gegenüber freundlich und untadelig gewesen. Doch zu weiteren persönlichen Worten war es nicht mehr gekommen.

„Was wollte Captain Dupont eigentlich auf Oakfield?“, fragte Vivian ihren Onkel, während sie dem sich entfernenden Reiter und Lord Wimseys Kutsche hinterherblickte. „Woher kennst du ihn überhaupt?“

„Kann nicht behaupten, dass ich den Burschen kenne“, schnaufte Sir William. Kopfschüttelnd schritt er die Treppe hoch. „Offenbar hatte er Wimsey gebeten, ihn nach Oakfield begleiten zu dürfen. Da Wimsey nichts dagegen hatte, konnte ich ihm ja kaum die Gastfreundschaft verweigern.“

„Er hat darum gebeten, herkommen zu dürfen? Warum? Was hat ihn denn an Oakfield interessiert?“

„Woher soll ich das wissen?“, brummte Sir William. „Wimsey meinte, Dupont hätte behauptet, noch nie einen richtigen englischen Landsitz gesehen zu haben. Offenbar war er neugierig, wie wir hier so leben.“

„Wie seltsam“, murmelte Vivian und folgte ihrem Onkel ins Haus. „An Oakfield ist doch nichts Besonderes.“

„Mein liebes Kind, Oakfield hat jede Menge zu bieten, auch wenn du dich noch so sehr bemühst, das zu übersehen! Nichts ist so schön wie die wunderbare Landschaft von Hertfordshire! Aber deine unsinnige Vorliebe für das wilde Land, aus dem du stammst, macht dich offenbar blind für weniger dramatische Landstriche!“

„So habe ich es nicht gemeint, Onkel William“, korrigierte Vivian hastig. „Ich frage mich doch nur, was ein Mann wie Captain Dupont an Oakfield reizvoll finden mag.“

„Nun, anders als du offenbar scheint der Mann einen Sinn für die wahre Schönheit unserer Gegend zu haben“, murrte Sir William und marschierte in die Bibliothek, wo er sich auf seinen Lieblingssessel sinken ließ. „Auch wenn das etwas überraschend ist, wenn man bedenkt, dass er ein Franzmann ist.“

„Er ist also wirklich Franzose?“, horchte Vivian auf, da sie ihre eigene Vermutung bestätigt sah. „Seltsam, er hatte überhaupt keinen Akzent.“

„Nein, nicht sehr ausgeprägt“, stimmte Sir William zu. „Obwohl seine Aussprache schon ein wenig anders war. Erinnerte mich irgendwie an deinen bedauernswerten amerikanischen Singsang.“

Vivian schluckte eine verärgerte Erwiderung herunter und fragte stattdessen: „Wenn Captain Dupont Franzose ist, was macht er dann in England? Ich meine, angesichts des Krieges zwischen England und Frankreich.“

„Nun, genau genommen ist Dupont wohl nur Franzose mütterlicherseits, wie Wimsey erwähnte“, räumte Sir William widerstrebend ein. „Väterlicherseits stammt Duponts Familie irgendwo aus der Nähe von Brüssel. Was aber auch nicht viel besser ist, wenn du mich fragst. Denn nur, weil sich die belgischen Niederlande noch nicht offiziell im Krieg mit uns befinden, heißt das nicht, dass sie nicht klammheimlich auf Seiten der Amerikaner und Franzosen stehen würden! Ich zumindest traue niemandem, dessen Muttersprache Französisch ist, so viel steht fest!“

Vivian schüttelte milde lächelnd den Kopf. „Wie du meinst, Onkel William. Aber egal, ob Dupont nun Belgier oder Franzose ist, wieso ist er hier?“

„Wimseys ältester Sohn hat ihn am Ende seiner Grand Tour in Antwerpen kennengelernt und schnell Freundschaft mit ihm geschlossen. Nach ein paar vergnügten Tagen in Brüssel hat er Dupont in sein Elternhaus nach London eingeladen. Und Dupont hat offenbar nicht gezögert, die Einladung anzunehmen. Hatte wohl gerade genügend Zeit zur Verfügung, da er vom Dienst beurlaubt war.“

„Dann ist Captain Dupont also Soldat?“, vergewisserte Vivian sich und setzte sich ihrem Onkel gegenüber auf einen Lehnstuhl.

„Ja, bei irgendeiner niederländischen Einheit“, bestätigte Sir William. „Vorübergehend vom Dienst befreit, um eine Verletzung auszukurieren, wie Wimsey mir anvertraute.“

„Er wirkte überhaupt nicht krank“, wunderte Vivian sich.

„Wird wohl schon eine Weile her sein, dass er verwundet wurde“, tat Sir William ihren Einwand ab. „Nichtsdestotrotz solltest du dir den Mann besser aus dem Kopf schlagen, und das nicht nur wegen seiner gallischen Herkunft. Er wird nicht mehr lange im Land sein.“

„Oh!“, entfuhr es Vivian mit einem plötzlich dumpfen Gefühl in der Magengegend. „Muss er … zurück zum Militär?“

„Nicht dass ich wüsste. Wimsey meinte, Dupont hätte Vorkehrungen getroffen, um nach Westindien zu segeln. Er soll eine Passage nach Jamaika gebucht haben.“

„Ich verstehe“, murmelte Vivian. Sie wusste selbst nicht, weshalb es sie so bedrückte, dass der Captain England verlassen würde. Im Grunde war ja nichts anderes zu erwarten gewesen.

„Mach dir nichts draus, Kind“, versuchte Sir William sie in einem Anfall von Mitleid zu trösten. „Der Bursche sieht sowieso viel zu gut aus, und noch dazu zur Hälfte Franzose! Hat bestimmt in jeder größeren Stadt auf dem Kontinent irgendeine Geliebte! So einer ist nichts für eine englische Lady.“

„Vermutlich nicht“, pflichtete Vivian ihrem Onkel widerstrebend bei, auch wenn sie nicht überzeugt war. Doch im Grunde hatte Sir William natürlich recht, es war besser, wenn sie sich Captain Dupont aus dem Kopf schlug. Halbherzig versuchte sie sich einzureden, dass sie seine Abreise nur bedauerte, weil sie die Wiederkehr des alltäglichen Einerleis bedeutete. Wahrscheinlich dauerte es nun wieder ewig, bis sie andere Menschen zu Gesicht bekam, von gelegentlichen Besuchen von Sir Williams ebenso vertrockneten wie langweiligen Freunden einmal abgesehen. Doch insgeheim wusste sie, dass ihre Niedergeschlagenheit einen anderen Grund hatte.

Zumindest was Vivians Befürchtung betraf, die nächsten Wochen würden langweilig werden, irrte sie sich. Zwei Tage nach der Abfahrt Lord Wimseys und Captain Duponts ließ Sir William Vivian in sein Arbeitszimmer kommen und teilte ihr mit, dass ein Brief seiner Schwägerin Elise Bannister eingetroffen wäre.

„Elise hat eine Einladung Lady Ashleys zum Verlobungsball ihrer Tochter erhalten“, erklärte Sir William mürrisch. „Sie möchte, dass wir nach London kommen und mit ihr und James zusammen dorthin gehen.“

Vivian hielt kurz den Atem an. „Zu einem Ball? – Oh, wirklich, Onkel William, das wäre phantastisch!“

„Ich weiß nicht“, zögerte Sir William. „Ich gebe zu, ich habe deine Tante Sophie und Elise in einem Brief um Rat gefragt, was ich mit dir machen soll, weil du hier offensichtlich so unglücklich bist. Aber muss es denn gleich ein Ball sein!“

„Oh, Onkel William, bitte, lass uns gehen!“, flehte Vivian mit einem hoffnungsvollen Blick in Sir Williams skeptische Miene. „Es wäre so schön! Endlich einmal unter Menschen sein und tanzen! Es ist so lange her, dass ich das letzte Mal getanzt habe. Das war noch auf der Mädchenschule in Charleston. Oh, bitte, Onkel William, lass uns hingehen!“

Sir William spielte nervös mit dem Schürhaken des Kamins. Die ihm abverlangte Entscheidung bereitete ihm offensichtlich Unbehagen. Unruhig schabte er mit der Spitze seines Pantoffels über den Parkettfußboden.

„Nun gut“, willigte er widerstrebend ein. „Ich weiß, dass es für dich auf unserem schönen Landsitz tatsächlich ein bisschen einsam ist. Vermutlich müssen wir dich wirklich unter Menschen bringen. Elise meint, es wäre überfällig, dass wir dich in die Gesellschaft einführen. Wahrscheinlich hat sie recht.“

„Dann nehmen wir die Einladung an?“, strahlte Vivian.

„Es wird uns wohl nichts anderes übrig bleiben. Wenn es dir wirklich so wichtig ist … Allerdings fürchte ich, du hast kein geeignetes Kleid für einen solchen Anlass.“

„Das stimmt“, musste Vivian einräumen. „Das einzige Ballkleid, das ich je besessen habe, ist in Charleston geblieben, weil wir nicht viel Gepäck mitnehmen konnten.“

„Nun, der Ball ist erst in zwei Wochen. Ich nehme doch an, dass eine gute Näherin es schaffen würde, in dieser Zeit ein vernünftiges Kleid anzufertigen. Wichtig ist, dass du anständig angezogen bist! Niemand soll sagen, der alte Bannister lasse seine Nichte in Lumpen laufen.“ Noch ehe Vivian zu einer Erwiderung ansetzen konnte, strich Sir William mit dem Zeigefinger seine Stirn entlang und setzte hinzu: „Es ist wohl das Beste, wenn du dich gleich auf den Weg nach London machst. Ich werde dir einen Brief für Sophie und Elise mitgeben. Sie sollen dich zu einer erstklassigen Modistin bringen, damit sie dir ein Kleid anfertigt. Das nötige Zubehör können sie dir auch besorgen. Wer weiß, in der richtigen Garderobe kannst du dir mit deinem Aussehen vielleicht sogar einen Viscount angeln.“

„Onkel William!“, protestierte Vivian mit einem Lachen.

„Ich werde Horace sagen, dass er die Kutsche vorfahren lassen soll“, brummte Sir William. „Er kann dich begleiten.“

„Es ist wirklich nicht nötig, dass der arme, alte Horace mich begleitet!“, widersprach Vivian mit fröhlich blitzenden Augen. „Wenn ich den Einspänner nehme, kann ich gut allein fahren!“

„So weit kommt es noch! Eine junge Lady allein in der Stadt! Mag ja sein, dass das in deinem Amerika geht, hier jedenfalls nicht! Ganz davon abgesehen, dass du dich in London überhaupt nicht auskennst. Nein, du nimmst Horace mit. Er ist ein alter, treuer Bediensteter, und er wird dich sicher hin- und zurückbringen.“

„Gerade wegen seines hohen Alters würde ich ihm die Fahrt lieber ersparen, Onkel William. Horace verlässt doch Oakfield genauso ungern wie du, was kein Wunder ist bei seinen über siebzig Jahren. Warum gibst du mir nicht einen von den jüngeren Dienern mit, der –“

„Ach was, für was ist der Bursche denn sonst gut!“, unterbrach Sir William murrend und zog an der Klingelschnur. „Du fährst mit Horace oder überhaupt nicht. Und das ist mein letztes Wort.“

Ein paar Stunden später verließ Vivian zusammen mit ihrer Tante Sophie und Elise Bannister den eleganten Modesalon, den Elise für ihre Einkaufstour ausgesucht hatte. Vivian war überwältigt gewesen von den vielen Materialien und Farben, welche die Schneiderin ihr zur Auswahl vorgelegt hatte. Letzten Endes hatte sie sich für einen Ballen zartblauer Seide entschieden. Auf Elises Anraten sollte das Kleid mit blassgoldener Spitze verziert werden. Die Schneiderin und Vivian wählten gemeinsam das entsprechende Zubehör aus. Selbst ein Paar passender Tanzschuhe und ein hübsches Reticule konnte Vivian in dem Modesalon erstehen. Ihre Tante Sophie steuerte noch ein paar Haarbänder und Schleifen bei, sodass Vivians Ausstattung für den Ball komplett war. Vivian dankte beiden Tanten mit einem strahlenden Lächeln.

„Du wirst so schön aussehen!“, seufzte Sophie, was ihr ein zustimmendes Lächeln Elises einbrachte. „Ich bin so froh, dass William sich endlich entschieden hat, dich in die Gesellschaft einzuführen. Die Gentlemen werden sich um dich scharen. Einen Viscount zu ergattern, ist das Mindeste, wonach du streben solltest!“

„Lieber Himmel, Tante Sophie!“, widersprach Vivian lachend. „Ich habe nicht die geringste Absicht, nach einem passenden Ehemann Ausschau zu halten! Du weißt doch, dass ich sowieso nach Charleston zurückmöchte. Da wäre ein Mann nur hinderlich.“

„Ach, du großer Gott! Hast du dir diese Narretei immer noch nicht aus dem Kopf geschlagen!“, stöhnte Sophie und schüttelte den Kopf.

Vivian warf ihrer Tante einen vorwurfsvollen Blick zu, sagte aber nichts. Neben der kleinen und rundlichen, geschmackvoll gekleideten Elise wirkte Sophie mit ihrer dürren, hochgewachsenen Gestalt und dem strengen Knoten im Haar genau wie die ältliche Jungfer, die sie war. Doch Vivian wusste, dass sich unter ihrem unscheinbaren Äußeren ein herzliches Wesen verbarg.

„Und jetzt kommst du mit zu uns zum Essen!“, bestimmte Elise Bannister, nachdem sie das Geschäft verlassen hatten. Elise hatte eine sehr energische und gleichzeitig mütterliche Art, die Vivian ein wenig an Ann Welsey erinnerte.

„Ich weiß nicht recht“, zögerte sie. „Onkel William erwartet mich eigentlich nachmittags zurück.“

„Ach, lass den alten Kauz doch ruhig einmal ein bisschen warten“, lachte Elise. „Er weiß doch, wo du bist. Und es wäre wirklich schön, wenn du noch ein wenig bleiben könntest. Mein Bruder ist endlich einmal wieder in London, und ich würde ihn dir gern vorstellen. James wollte ihn zum Essen mit nach Hause bringen.“

„Dein Bruder? Der Reeder?“

„Genau der“, lächelte Elise. „Ich würde mich so freuen, wenn ihr euch endlich einmal kennenlernen würdet! Bisher hat es ja leider nie geklappt, weil John so viel auf Reisen ist. Lass uns die Gelegenheit nutzen, Vivian.“

„Na ja, warum eigentlich nicht“, stimmte Vivian zu. „Letztendlich wird Onkel William ja wohl nichts dagegen haben.“

Im Wagen der Bannisters fuhren sie gleich darauf zum Russel Square, wo die Bannisters ein elegantes Stadthaus bewohnten. Das Gebäude gefiel Vivian. Ein schwerer, massiver Türklopfer aus Messing prunkte an der Eichentür, und auf den Fensterbänken standen Blumentöpfe mit Geranien.

Ein adrett gekleidetes Hausmädchen öffnete die Tür, während sie noch die Treppe emporstiegen. „Schön, dass Sie zurück sind, Madam. Mr. James und Ihr Bruder, Mr. Chapman, sind gerade vor ein paar Minuten eingetroffen.“

„Oh wunderbar!“, strahlte Elise. „Wie schön, dass James John überreden konnte zu kommen. Du musst nämlich wissen, Vivian, dass mein Bruder sich immer schrecklich rarmacht. Manchmal glaube ich, er lebt nur für seine Geschäfte und seine Schiffe. Als ob es nichts Wichtigeres im Leben gäbe! Er müsste heiraten, vielleicht würde er dann endlich sesshaft werden! Aber er behauptet von sich, keine Zeit zu haben, sich eine Frau zu suchen. Hin und wieder frage ich mich, ob er überhaupt mal eine ansieht. Ich fürchte wirklich, er macht sich nichts aus Frauen.“

Vivian lächelte verständnisvoll. Sie konnte sich gut vorstellen, dass Elise sich eine nette Schwägerin in ihrem Alter wünschte. Aber für einen Mann mittleren Alters war es bestimmt nicht mehr so leicht, die richtige Frau zu finden. Natürlich hatte sie keine Ahnung, was für ein Typ Mr. Chapman war. Aber wenn er seiner Schwester auch nur ein wenig ähnlich war, war er vermutlich klein und untersetzt, was es möglicherweise für ihn nicht leichter machte, eine Frau zu finden.

Elise war jedoch mit den Gedanken schon wieder woanders. Sie zeigte Vivian, wo sie sich vor dem Essen die Hände waschen konnte und führte sie anschließend in das Speisezimmer. „Der Rest der Familie wird gleich hier sein“, erläuterte Elise, während sie ein paar Blumen zurechtzupfte, die auf dem Tisch standen. „Wir haben nämlich die Angewohnheit, pünktlich um zwölf Uhr dreißig zu essen.“

Vivian setzte zu einer Antwort an, wurde aber durch den Eintritt zweier Herren und eines jungen Mädchens unterbrochen. Elise eilte auf die drei zu. „James, stell dir vor, dein Bruder hat doch tatsächlich Vivian nach London geschickt, um sie für den Ball bei den Ashleys einkleiden zu lassen! Ich habe sie natürlich zum Essen eingeladen!“

Vivian und ihre Cousine Margaret, die einzige Tochter der Bannisters, begrüßten sich unterdessen mit einer herzlichen Umarmung. Über die Schulter ihrer Cousine hinweg blickte Vivian neugierig zu den beiden Männern hinüber. Der ältere von beiden war James Bannister, ihr Onkel. Seine Ähnlichkeit mit Sir William war unverkennbar, auch wenn er schlanker war und eine freundlichere Miene zur Schau trug. Der hochgewachsene jüngere Mann neben ihm jedoch, das sollte Elise Bannisters Bruder sein? Vivian blinzelte verblüfft.

Sie wusste nicht viel über John Chapman, aber sie hatte sich Elises Bruder immer als gesetzten Herrn um die fünfzig vorgestellt, eben irgendwie im Alter ihrer Tanten und Onkel. Aber dieser Mann hier war bestimmt nicht einmal dreißig! Außerdem hatte Elise behauptet, ihr Bruder mache sich nichts aus Frauen. Das konnte Vivian sich nun von diesem Mann wahrhaftig nicht vorstellen. Tausende von Lachfältchen um seine grüngrauen Augen herum schienen von Tausenden von Blicken zu sprechen, die er schönen Frauen zuwarf. Dafür sprach auch die Art und Weise, wie er sie in diesem Augenblick musterte. Mit sichtbarem Interesse und Vergnügen ließ er seinen Blick sekundenlang über sie gleiten. Was er sah, schien ihm zu gefallen, worauf zumindest das bewundernde Lächeln in seinen Augen schließen ließ. Vivian spürte, wie sie gegen ihren Willen errötete.

John Chapman registrierte ihre Reaktion auf seine Musterung und lächelte. Vivian fand, dass er es auf eine sehr charmante Art tat, und ihre Verlegenheit wich einem amüsierten Kopfschütteln. Wie konnte Elise Bannister nur glauben, dass ihr Bruder als ewiger Junggeselle enden würde! John Chapman wirkte selbstbewusst und sympathisch, war wesentlich jünger, als Vivian gedacht hatte, und sah mit seinen lebhaften grüngrauen Augen und dunkelblonden Haaren auch ausgesprochen gut aus. Wenn dieser Mann noch nicht verheiratet war, lag es bestimmt nicht daran, dass ihn keine Frau wollte!

Noch während sie ihre Beobachtungen machte, kam ihr Onkel James mit ausgestreckten Armen auf sie zu, ergriff ihre Hände und schüttelte sie kräftig. „Ja, liebe Vivian, wie freue ich mich, dich zu sehen! Es wird höchste Zeit, dass mein Bruder, der alte Griesgram, dich mal aus Oakfield fortlässt!“

Vivian lachte glücklich. „Ja, ich freue mich auch. Wie schön, dich zu sehen, Onkel James.“

Ihr Onkel nickte eifrig, dann stellte er ihr John Chapman vor. Wie es von einem Geschäftsmann nicht anders zu erwarten war, verfügte dieser über vollendete Manieren, die mit einer natürlichen Herzlichkeit gepaart waren.

Augenblicke später stürmten ihre drei Cousins Anthony, Stuart und Henry ins Speisezimmer. Henry war mit neunzehn Jahren der Älteste, es folgten jeweils im Abstand von einem Jahr Anthony, Margaret und Stuart. Vivian fühlte sich im Kreise dieser Familie so wohl wie lange nicht mehr. Selbst das alberne Gekicher ihrer Tante Sophie, das ihr in Charleston immer auf die Nerven gegangen war, erschien ihr hier besser erträglich.

Die gesamte Mahlzeit über ging es lustig zu. Die Stimmung aller war ausgezeichnet, und es wurde über alles Mögliche geredet. Als sie beim Nachttisch angekommen waren, stellte Elise schließlich eine Frage, die Vivian aufhorchen ließ:

„Übrigens, John, erwartest du nicht bald wieder eines deiner Schiffe aus Westindien? Ich könnte wieder ein paar Gewürze gebrauchen.“

John Chapman schüttelte amüsiert den Kopf. „Aber da brauchst du doch nicht zu warten, bis ein Schiff kommt, Elise. Du weißt genau, dass ich immer genug Vorräte für Freunde und Verwandte im Lager habe!“

„Ja, ja, ich weiß, aber ich vergesse es immer. Aber wie dem auch sei, dann werde ich dir gleich morgen aufschreiben, was ich brauche.“

„Sehr gut.“ Er zwinkerte seiner Schwester belustigt zu. „Und falls ich das, was du brauchst, nicht im Lager habe, kannst du gern mit nach Jamaika oder Indien kommen und dir aussuchen, was dir fehlt. Ich habe vor, in ungefähr drei Wochen in See zu stechen.“

Elise wehrte die scherzhaft gemeinten Worte lachend ab. Vivian aber legte ihren Löffel beiseite und fragte: „Mr. Chapman, Sie besitzen wirklich eigene Schiffe, die nach Jamaika segeln, und fahren auf ihnen mit?“

„In der Tat“, lächelte John Chapman, offenbar erfreut über ihr Interesse. „Als mein Vater noch lebte, fuhren drei Schiffe für ihn. Ich hab’s geschafft, die Flotte auf das Doppelte auszudehnen.“

„Ja, und das, obwohl John es wirklich nicht nötig hätte!“, bemerkte Elise mit einem Stirnrunzeln. „Johns und mein Onkel, Viscount Ashburn, ist kinderlos geblieben, und John wird eines Tages seinen Besitz und den Titel erben.“

„Elise, du weißt genau, wie gleichgültig mir das ist“, tadelte John kopfschüttelnd. „Im Augenblick bin ich nichts weiter als der bürgerliche Händler John Chapman. Und es ist gut möglich, dass sich daran nie etwas ändert, falls Onkel Hugh doch noch heiratet und Vater eines kleinen Stammhalters und Erben wird.“

„Mit fast siebzig?“, lachte Elise. „John, das glaubst du doch selbst nicht! Du bist sein Erbe, daran wird sich nichts ändern. Und wenn du erst ein Viscount bist, wirst du dein Händlerdasein aufgeben müssen, ob es dir gefällt oder nicht.“

„Das wird sich zeigen“, versetzte John Chapman achselzuckend. „Denn selbst wenn ich eines Tages ein Lord sein sollte, so werde ich nicht alles aufgeben, bloß weil Londons feine Gesellschaft meint, Handel und Geschäfte wären anrüchig.“

„Anrüchig?“, fragte Vivian verblüfft. „Was ist denn anrüchig daran, wenn Sie Handel treiben? Von irgendetwas müssen Sie doch schließlich leben!“

John lachte unterdrückt. „Ganz recht, Miss Darcy. Und das ist genau der Grund, weshalb ich sehr froh bin, dass mein Vater als jüngerer Sohn nicht auf Kosten seines reichen Bruders leben wollte, sondern die Reederei aufgebaut hat!“

„Vivian, du kommst aus den Kolonien, du verstehst das vermutlich nicht“, erklärte Elise seufzend. „Aber in England ist es so, dass ein Aristokrat sich nicht als Händler betätigt. Wer in der Gesellschaft etwas auf sich hält –“

„Elise, deine Gardinenpredigten über die Pflichten eines angehenden Viscounts sparst du dir besser“, unterbrach ihr Bruder mit einem warnenden Unterton und setzte dann, an Vivian gewandt, lachend hinzu: „Sie müssen nämlich wissen, Miss Darcy, meine Schwester meint, da sie so viel älter ist als ich, müsste sie mich ständig bemuttern und mir Vorhaltungen über meinen Lebensstil machen.“

„Wenn unsere Mutter nicht bei Johns Geburt gestorben wäre, da sie schon viel zu alt zum Kinderkriegen gewesen war, wäre das nie nötig gewesen“, konterte Elise verärgert. „So aber musste ich Ersatzmutter spielen. Schließlich konnte ich John doch nicht einzig der Erziehung durch Gouvernanten überlassen!“

Vivian lächelte. „Ich bin sicher, dass du das im Großen und Ganzen sehr gut gemacht hast.“

„Hat sie auch“, grinste John. „Und wenn Elise irgendwann auch noch aufhören würde, mir vorzuhalten, dass ich mich meinem künftigen Stand angemessen verhalten und heiraten müsste, würde ich es irgendwann vielleicht auch gebührend zu würdigen wissen, was sie für mich getan hat.“

„Ungezogener Bengel!“, schimpfte Elise, aber mit einem Lachen in der Stimme.

John schüttelte grinsend den Kopf, dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder Vivian zu, die ihn gespannt ansah. „Mr. Chapman, um noch einmal auf unser vorheriges Thema zurückzukommen: Wie häufig kommt es denn eigentlich vor, dass Sie ein Schiff auf große Fahrt schicken?“

Er ließ seinen Löffel sinken und warf ihr einen amüsierten Blick zu. „Das kommt ganz darauf an, wohin es geht. Ich treibe Handel mit Westindien, aber auch mit Indien. Da sind die Fahrtzeiten unterschiedlich lang. Meistens dauert eine Tour ungefähr sechs Monate.“

„Sechs Monate bis Jamaika?“, stöhnte Vivian auf.

„Großer Gott, nein!“ Die Belustigung stand John Chapman deutlich ins Gesicht geschrieben. „Ein Schiff braucht ungefähr sechs Monate, um hin- und zurückzusegeln. Die genaue Fahrtdauer hängt von den Winden ab.“

Vivian lächelte erleichtert. „Oh, ich verstehe. Und nehmen Sie auf Ihren Schiffen auch Passagiere mit?“

Er wirkte überrascht von ihrer Frage und runzelte die Stirn. „Selten. Sehen Sie, wir haben nur wenige Kabinen an Bord, der meiste Platz ist für die Waren vorgesehen. Aber zwei, drei Leute können wir schon unterbringen, allerdings ohne großen Luxus. Es kommt trotzdem nicht oft vor, dass jemand auf unseren Schiffen reist. Eine Seereise ist kein Vergnügen, das Essen ist eintönig, Wasser oft knapp. Hin und wieder brechen Krankheiten aus, und die Gefahr durch Piraten sollte man auch nicht unterschätzen. Wer nicht unbedingt reisen muss, tut es auch nicht.“

„Von dir abgesehen!“, tadelte Elise.

Er zuckte die Achseln und grinste. „Von mir abgesehen.“

Vivian lachte, aber sie spürte, dass ihre Tante Sophie ihr unruhige Blicke zuwarf. Doch sie ließ sich davon nicht beirren. „Sagen Sie, Mr. Chapman, nehmen Sie eigentlich nur männliche Passagiere mit? Oder könnte auch eine Frau mitsegeln?“

„Nun, es gibt einen gewissen Aberglauben, was Frauen an Bord eines Schiffes betrifft“, schmunzelte er. „Aber die Schiffe der meisten Reedereien sind Handelsschiffe, und die Reeder sind auf Profit angewiesen. Sie können es sich nicht leisten, wählerisch zu sein. Vorrangig befördern die Schiffe zwar Fracht, aber manche Handelsschiffe nehmen auch regelmäßig Passagiere mit, vor allem die, die mehr und größere Kabinen haben. Und da spielt es keine Rolle, ob es sich um männliche oder weibliche Passagiere handelt.“

„Und … die amerikanischen Kolonien – werden die auch noch angelaufen?“

Noch bevor John Chapman antworten konnte, registrierte Vivian die erstaunten Blicke ihrer Familie. Ihre Tante Sophie ließ scheppernd ihren Löffel fallen und stieß ein empörtes „Aber Vivian!“ aus.

Vivian blinzelte unbehaglich. Vielleicht war sie mit ihren Fragen zu weit gegangen. Was war, wenn die Bannisters und Mr. Chapman ebenso eingefleischte Royalisten waren wie Sir William und Tante Sophie? Womöglich würden sie sie im nächsten Augenblick eine Rebellin schimpfen!

Doch Elise lachte nur: „Aber Vivian, wer will denn in diesen Zeiten freiwillig nach Amerika? Dort ist doch Krieg!“

John Chapman ignorierte den Einwurf seiner Schwester und ging mit einem geduldigen Lächeln auf Vivians Frage ein: „Es gibt Kriegsschiffe, die zu den Kolonien segeln und manchmal auch Passagiere mitnehmen. Hauptsächlich Verwandte der in den Kolonien stationierten Soldaten und Offiziere.“

Vivian seufzte. „Ja, natürlich. Eigentlich hätte ich mir das ja auch denken können.“

John Chapman nickte. „Man muss gute Gründe haben, wenn man in diesen Zeiten in die Kolonien reisen will, Miss Darcy. Wer keinen triftigen Grund vorweisen kann, kann schnell in den Verdacht geraten, Verrat an der Krone üben zu wollen. Auch für uns Reeder ist der Handel mit den amerikanischen Kolonien inzwischen verboten. Das erschwert natürlich den Handel. Vor dem Ausbruch der Rebellion, da nahmen wir oft eine Route über Afrika nach Westindien, dann an die nordamerikanische Küste und zurück nach Europa. Doch im Augenblick geht das nicht. Wir müssen warten, bis die Rebellion niedergeschlagen und ein normaler Handel wieder möglich ist.“

Vivian versuchte sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Doch sie wusste, dass ihr das nicht besonders gut gelang.

Als sie sich eine Stunde später von den Bannisters verabschieden wollte, wurde sie von Elise noch um ein kurzes privates Gespräch in ihr Boudoir gebeten.

„Sag mal, Vivian, was sollen diese Fragen über Westindien und Amerika?“, begann Elise ohne Umschweife, kaum dass sie die Zimmertür hinter sich geschlossen hatte. „Hast du etwa immer noch vor, wieder nach Charleston zurückzukehren? William schrieb zwar in seinem Brief an Sophie, dass du ihn neulich um die Rückreise gebeten hast. Aber wir hatten alle gehofft, das wäre eine vorübergehende Laune gewesen.“

„Es ist keine Laune“, erklärte Vivian bestimmt. „Es gibt nichts, was ich mir so sehr wünsche wie eine Heimkehr zu Ann und ihrer Familie nach Charleston.“

„Aber du hast doch deine Familie hier!“

„Ja, natürlich, ich weiß. Aber – lieber Himmel, ich habe euch alle doch erst kennengelernt, als ich schon achtzehn war! Und meine Heimat ist nun einmal Charleston! Und wenn der Krieg jetzt immer weiter voranschreitet, dann – wer weiß, vielleicht kann ich dann irgendwann überhaupt nicht mehr zurück!“

Elises Hände lagen ruhig in ihrem Schoß, und sie hatte die Augen niedergeschlagen. Dann folgte ein langer prüfender Blick. Schließlich beugte sie sich vor und langte nach Vivians Hand.

„Nun, auch wenn es mir schwerfällt, das zu sagen, aber ich glaube, du bist alt genug zu entscheiden, was du willst, Vivian. Zum Teil kann ich deine Beweggründe sogar verstehen, obgleich es mich traurig stimmt, dass du fortwillst.“

„Es ist ja nicht so, dass ich euch alle nicht gern hätte“, seufzte Vivian. „Aber –“

„Du brauchst nichts weiter zu sagen“, lächelte Elise und atmete tief durch. „Ich verstehe dich. Dennoch liegt es nicht an mir, zu entscheiden, was mit dir geschehen soll. Alles, was ich tun kann, ist, mit deinem Onkel William zu reden. Auch wenn du dir nicht zu viel davon versprechen solltest.“

„Oh, Elise, das würdest du tun?“

„Ja, und ich rede auch mit John. Vielleicht helfen ja seine Kontakte als Reeder, um dir eine Schiffspassage nach Jamaika zu besorgen, wenn es wirklich das ist, was du willst. Obwohl es mir Sorgen macht, wie du von dort aus weiterreisen willst. Aber auch da werde ich John fragen.“

„Elise, ich … ich weiß nicht, was ich sagen soll!“

„Sag lieber nichts, sonst fange ich noch an zu weinen!“, stöhnte Elise mit einem traurigen Lachen. „Und falls das Ganze klappt, musst du mir versprechen, sofort nach deiner Ankunft in Charleston zu dieser Ann Welsey zu gehen, damit sie sich um dich kümmert.“

„Ann hat versprochen, mir zu helfen, wenn es mir gelingt, nach Hause zu kommen“, erklärte Vivian hoffnungsvoll.

„Immerhin“, seufzte Elise und setzte dann nachdenklich hinzu: „Und noch etwas: Wir brauchen einen Begleiter für dich, wenn du auf Reisen gehen willst. Es ist ausgeschlossen, dass eine englische Lady alleine reist. Das würde dein Onkel William niemals erlauben. Und ich könnte es auch nicht gutheißen.“

„Einen Begleiter“, murmelte Vivian. Wo, um alles in der Welt, sollte sie einen Begleiter hernehmen? Doch das musste sich irgendwie finden!

Elise brachte noch eine ganze Reihe weiterer Punkte vor, die geklärt werden müssten, ehe Vivian ihre Reise antreten könnte, doch Vivian hörte kaum noch zu. Zu groß war ihre Freude, eine Verbündete für ihre Pläne gefunden zu haben. Voller Dankbarkeit verabschiedete sie sich kurz darauf von Elise Bannister und ihrer Familie. Elises Versprechen, bald nach Oakfield zu kommen und mit Sir William zu reden, erfüllte sie auf der ganzen Heimfahrt mit Freude.

Zwei Tage vor Lady Ashleys Ball kam Vivians Kleid an. Eine der Näherinnen aus dem Salon brachte es persönlich vorbei und ließ es Vivian vor dem großen Spiegel in ihrem Zimmer überziehen, um den Sitz zu überprüfen. Vivian glaubte sich in dem Traum aus zartblauer Seide und goldener Spitze kaum wiederzuerkennen. Der spitzenverzierte Ausschnitt war wesentlich tiefer, als sie es gewohnt war, und ließ sie auf ungewohnte Weise erwachsen wirken. Die Näherin hatte das Mieder ansonsten so schlicht wie möglich gehalten und gerade dadurch den edlen Charakter des Stoffes betont. Vivian war begeistert, wie eng sich das Mieder um ihre schmale Taille schmiegte und wie fließend der mit einem goldenen Spitzenüberwurf verzierte Rock um ihre Knöchel schwang. In diesem Kleid fühlte sie sich tatsächlich ein wenig wie die aristokratische, englische Lady, als die ihr Onkel sie immer sehen wollte. Sie freute sich so sehr über das Kleid, dass sie beschloss hinunterzugehen, um ihrem Onkel ihr neues Erscheinungsbild zu präsentieren.

Sir William war bei ihrem Anblick tatsächlich beinahe ebenso begeistert wie sie selbst. Endlich, so meinte er, sähe Vivian einmal nicht aus wie eine verwilderte Rebellin, sondern wie eine vollendete englische Lady. Vivian war von seinem Lob gerührter, als sie zugeben mochte. Vor sich hin lächelnd, zog sie sich auf ihr Zimmer zurück und freute sich auf Lady Ashleys Ball, den ersten Ball, den sie in England besuchen durfte.

Dann endlich war der große Tag da. Vivian fieberte dem Abend entgegen. Doch der Tag hielt noch eine Überraschung bereit, denn Vivian und Sir William hatten gerade ihr Frühstück beendet und gingen gemeinsam in die Halle, als der Butler die Haustür öffnete und Elise und Sophie Bannister hineinließ.

„Was, zum Henker, macht ihr denn hier?“, begrüßte Sir William seine weiblichen Verwandten.

„Guten Morgen, William“, strahlte Elise, ohne sich von seiner unwirschen Art beeindrucken zu lassen. „Du hast bestimmt nicht mit unserem Besuch gerechnet! Aber das macht nichts, wir werden nicht lange bleiben. Was mich betrifft, so möchte ich nur kurz mit dir reden, und Sophie hat die Gelegenheit genutzt, dich einmal wiederzusehen.“

„Ja, das stimmt“, nickte Sophie eifrig. „Und auch ich muss dringend mit dir sprechen, William. Es ist sehr wichtig. Wirklich, sehr wichtig!“

Sir William blickte ratlos von einer aufgeregten Lady zur anderen. „Ja, du meine Güte, was kann denn so wichtig sein?“

„Das, mein Lieber, werde ich dir unter vier Augen mitteilen“, versetzte Elise energisch und ergriff seinen Arm. Unter Sir Williams entrüstetem Blick und Sophies empörtem Schnauben führte sie ihn zu seinem Arbeitszimmer.

Freundlich bat Vivian ihre Tante in den Frühstücksraum und bot ihr eine Tasse Tee an. Sie freute sich, ihre Tante zu sehen, doch ihre Versuche, eine Unterhaltung in Gang zu bringen, scheiterten an Sophies Einsilbigkeit. Ungeduldig glitt Sophies Blick immer wieder zur Tür. Schließlich schüttelte sie entnervt den Kopf.

„Ich weiß, warum Elise unbedingt mit William allein reden will“, jammerte sie. „Sie will ihn überreden, dich in die Kolonien gehen zu lassen. Und sie weiß, dass ich dagegen bin.“

„Ach Tante Sophie“, seufzte Vivian und stellte ihre Teetasse zurück auf die Untertasse. „Warum nur willst du nicht verstehen, wie gern ich nach Hause zurückkehren würde?“

„Weil du hier zuhause bist, Kind! Du bist eine englische Lady, wie deine Mutter!“

„Nein, Tante Sophie, das bin ich nicht. Bitte versteh das doch.“

„Ich hatte so sehr gehofft, dass du in England glücklich werden würdest“, klagte Sophie. „Ich hatte gehofft, du würdest dein Heimweh irgendwann überwinden.“

„Es ist nicht nur Heimweh“, entgegnete Vivian leise. „Ich gehöre einfach nicht hierher.

Sophie sah sie lange und ernst an. Dann lehnte sie sich müde zurück und seufzte. „Ich glaube, ich habe alles falsch gemacht. Vielleicht hätte ich dich nicht zu William geben sollen. In London hättest du interessante Menschen kennengelernt. Vielleicht hättest du dich dann besser eingelebt. Aber du warst so böse auf mich, dass ich dich nach England gebracht hatte.“

„Und deshalb hast du mich nicht bei dir leben lassen?“, fragte Vivian erstaunt. „Weil du glaubtest, ich wäre dir böse?“

„Ich dachte, es wäre besser. Und hier auf Oakfield ist es doch so schön! Ich war als junges Mädchen immer glücklich hier.“

„Ach, Tante Sophie“, lächelte Vivian, erhob sich und schloss ihre Tante fest in die Arme. „Ich habe dich sehr lieb, Tante Sophie. Und ich bin dir auch nicht mehr böse. Aber ich möchte wirklich nach Charleston zurück. Dort ist mein Zuhause und meine Heimat, so wie es für dich Oakfield und England ist.“

Sophie blinzelte und nickte bekümmert. „Ja, ich fürchte, ich kann nicht länger die Augen davor verschließen, dass es so ist. Ich hätte dich nicht fortbringen dürfen. Aber du warst noch so jung.“

„Du bist mir nicht böse, dass ich zurückmöchte?“

„Nur traurig. Aber das lässt sich wohl nicht ändern“, seufzte Sophie.

Vivian drückte sie noch einmal an sich. „Sei nicht traurig, Tante Sophie. Ich weiß ja noch gar nicht, ob ich wirklich zurückkehren kann.“

Sophie brachte ein Lächeln zustande. „So wie ich Elise kenne, wird daran bald kein Zweifel mehr bestehen.“

Augenblicke später öffnete sich die Tür, und Sir William und Elise traten ins Frühstückszimmer. Die Stirn ihres Onkels war in griesgrämige Falten gezogen, Elises Augen jedoch strahlten.

Sir William räusperte sich. „Nun, also, Vivian … meine liebe Schwägerin hier hat gerade einige heftige Attacken gegen mich geführt“, brummte er. „Sie hat mich zwar nicht in allem überzeugen können, aber … in einigen Punkten hat sie wohl recht.“

Vivian starrte ihren Onkel wie vom Donner gerührt an. „Du meinst … willst du damit sagen, du hast zugestimmt, dass ich nach Hause darf?“

„Nur unter bestimmten Bedingungen!“, stellte Sir William umgehend klar. „Nur wenn diese erfüllt sind, kannst du meinetwegen in diese elendigen Kolonien zurückkehren.“

„Oh, Onkel William!“, jubelte Vivian. Mit weichen Knien ließ sie sich auf einen Stuhl sinken.

Elise stand lächelnd neben Sir William, der unbehaglich blinzelte. Sophie dagegen war sehr blass, als sie leise feststellte: „Dann werden wir Vivian also wirklich verlieren!“

„Aber ihr verliert mich doch nicht“, protestierte Vivian lachend. „Wirklich, Tante Sophie, ich werde euch, so oft es geht, schreiben!“

„Sophie, du weißt es ebenso gut wie ich“, bemerkte Elise tadelnd. „Wenn wir Vivian jetzt hier festhalten, wird sie uns ein Leben lang böse sein. Und sobald sie volljährig ist, geht sie sowieso. Ist es da nicht besser, wir lassen sie jetzt mit unserem Segen gehen?“

„Vermutlich“, schniefte Sophie, die ihre Tränen nicht länger zurückhalten konnte. „Trotzdem weiß ich nicht, wie das mit der Reise gehen soll. Eine junge Lady wie Vivian kann doch unmöglich allein so weit reisen! Das geht doch nicht!“

„Natürlich geht das nicht“, konterte Sir William. „Deshalb habe ich ja auch gesagt, dass Vivians Abreise an ganz bestimmte Voraussetzungen geknüpft ist.“

Vivian fuhr nervös mit den Fingern über ihre Röcke. „Was für Bedingungen sind das denn, Onkel William?“

„Nun, Elise hat mir erklärt, dass es keine Schiffsverbindungen in die Kolonien gibt, sondern nur bis Jamaika. Wenn du von dort aus zu den französischen Inseln weiterreisen willst, brauchst du vermutlich ein amtliches Schreiben, das du dem Gouverneur von Jamaika vorlegen kannst, damit er dir die Weiterreise gestattet. Ich werde Wimsey um Hilfe bitten. Er hat einen Sitz im Oberhaus und kann hoffentlich ein solches Schreiben beschaffen. Aber das kann natürlich eine Weile dauern.“

„Ja, natürlich“, nickte Vivian verständig. „Ist das alles?“

„Absolut nicht“, brummte Sir William. „Wir alle sind uns einig, dass du nicht allein reisen kannst. Du brauchst einen Begleiter. Ich selbst kenne niemanden, der so verrückt sein würde, in die Kolonien zu reisen – von dir selbst einmal abgesehen. Wir werden uns also zunächst auf die Suche nach einer geeigneten Person machen müssen. Von daher kann es durchaus noch eine Weile dauern, bis du tatsächlich fortkannst.“

Die Stimme Sir Williams klang triumphierend. Vivian ahnte, dass er fest damit rechnete, ihre Rückkehr nach Charleston noch für längere Zeit verhindern zu können. Ihr Onkel runzelte daher die Stirn, als Vivian am Ende seiner Erklärung fröhlich zu lächeln begann.

„Oh, du kennst sehr wohl jemanden“, stellte sie klar. „Er will zwar nicht bis nach Amerika, sondern nur nach Jamaika. Aber die restliche Strecke wäre nicht mehr weit und ich könnte sie bestimmt ohne Begleitung bewältigen.“

Sir Williams buschigen Brauen zogen sich bedrohlich zusammen. „Und wer, bitte schön, sollte das sein?“

„Captain Dupont“, strahlte Vivian. „Du hast mir selbst erzählt, dass er eine Schiffspassage nach Jamaika gebucht hat.“

„Captain Dupont!“, donnerte ihr Onkel. „Beim Zeus, Vivian, wir kennen den Burschen doch überhaupt nicht! Glaubst du, ich lasse meine Nichte mit irgendeinem dahergelaufenen französischen Windhund reisen?“

Vivian spürte, wie ihr vor Ärger sehr heiß wurde. „Es ist wohl kaum angemessen, Captain Dupont als dahergelaufenen Windhund zu bezeichnen, Onkel William. Mir erschien der Captain als gebildeter, wohlerzogener Gentleman. Und obendrein hat ihn Lord Wimsey bei uns eingeführt, der zu deinen engsten Freunden gehört. Das sollte doch wohl Empfehlung genug sein!“

Derart arrogant von seiner eigenen Nichte gemaßregelt, schien Sir William kurz davor, vor Wut zu explodieren. Doch schnell kam Elise einer Äußerung von ihm zuvor:

„Hast du berechtigte Gründe für deine Einschätzung, dass der Mann ein Windhund ist, William?“, fragte sie stirnrunzelnd.

Sir William schnaubte verächtlich. „Ach was! Die brauche ich nicht! Vivian hat recht, der Bursche ist gebildet und wohlerzogen und macht den Eindruck eines Gentlemans. Aber er ist Ausländer und sieht obendrein viel zu gut aus! Das ist Grund genug, ihn als Reisebegleitung für Vivian abzulehnen!“

Überraschenderweise mischte sich Sophie mit leiser Stimme in die Auseinandersetzung: „Mein lieber William, wir haben Vivian schon so viele Steine in den Weg gelegt. Vielleicht sollten wir einmal damit anfangen, in ihrem Sinne zu denken.“

„Zum Teufel, Sophie, wovon redest du?“, schnappte Sir William verärgert.

„Ich rede davon, dass du angekündigt hast, Vivian die Erlaubnis zur Heimreise zu geben. Ich war dagegen, dass sie in die Kolonien zurückkehrt, wie du sehr wohl weißt. Aber wenn es nun einmal beschlossene Sache ist, dass sie abreisen darf, sollten wir ihr die Reise auch so angenehm wie möglich machen. Und wenn dieser Captain Dupont ein Gentleman ist, dann weiß ich nicht, warum er nicht als Reisebegleiter in Frage kommen sollte!“

„Ich sagte schon, weshalb er nicht in Frage kommt!“, bellte Sir William. „Der Mann ist Franzose!“

„Du hast selbst gesagt, nur zur Hälfte!“, erinnerte Vivian ihren Onkel.

„Und wenn schon!“, brummte Sir William. „Die Belgier in Brüssel sprechen Französisch und sind mit Sicherheit ebenso leichtlebig wie richtige Franzmänner! Die haben die gleiche Mentalität, glaub’s mir! Es gibt keinen Unterschied! Und außerdem wissen wir so gut wie nichts über den Burschen!“

„Wir wissen, dass er mit Lord Wimseys Sohn befreundet ist“, erklärte Vivian energisch. „Lord Wimsey hätte ihn doch bestimmt nicht als Gast in sein Haus aufgenommen und mit nach Oakfield gebracht, wenn er nicht vertrauenswürdig wäre.“

„Wenn Lord Wimsey ihm vertraut, haben wir keinen Grund, dem Captain zu misstrauen“, stellte Sophie kategorisch fest. „Wie du weißt, bin ich mit Wimsey eng befreundet. Er hat eine gute Menschenkenntnis.“

„Verdammt, Sophie, aus dir spricht doch nur das schlechte Gewissen, weil du es warst, die Vivian hierhergebracht hat!“, murrte Sir William.

„Ganz recht, ich habe ein schlechtes Gewissen, auch wenn ich damals geglaubt habe, das Richtige zu tun. Aber das hat nichts mit der Entscheidung zu tun, ob Captain Dupont als Reisebegleitung für Vivian geeignet ist oder nicht!“

„Also, ich weiß nicht“, warf Elise mit einem Stirnrunzeln ein. „Selbst wenn Dupont mit Wimseys Sohn befreundet ist, bleibt immer noch die Tatsache, dass wir nichts über ihn wissen. Wer weiß, ob er wirklich niederländischer Abstammung ist. Sein Name klingt jedenfalls verdächtig französisch. Ich glaube wirklich nicht, dass wir Vivian diesem Mann anvertrauen sollten. Wie wäre es, wenn –“

„Oh Elise, ich hätte wirklich nicht gedacht, dass ausgerechnet du mir jetzt in den Rücken fallen würdest!“, klagte Vivian. „Ich dachte, du würdest mich verstehen!“

„Nun, das tue ich ja auch“, seufzte Elise. „Ich finde nur, dass wir einen anderen Reisebegleiter auswählen sollten.“

„Und woher sollten wir den nehmen?“, bemerkte Sophie. „Wie William vorhin ganz richtig feststellte, werden wir abgesehen von diesem Dupont kaum jemanden finden, der in diesen Zeiten freiwillig in die Kolonien reist!“

„Das sehe ich anders“, widersprach Elise. „Meiner Meinung nach wäre es das Beste, wenn wir –“

„Oh, Elise, bitte!“, jammerte Vivian. „Es wäre doch alles viel einfacher, wenn wir nicht erst lange suchen müssten! Captain Dupont ist wirklich ein anständiger Mann, davon bin ich überzeugt, ganz gleich, welcher Nationalität er angehört! Und für sein gutes Aussehen kann er doch nun wirklich nichts!“

Elise warf ihr einen langen, seltsam prüfenden Blick zu. Schließlich seufzte sie. Sie war nicht überzeugt, das sah man ihr an, dennoch nickte sie zögernd. „Nun gut. Wenn es denn unbedingt so sein soll …“

„Und wie, zum Teufel, wollt ihr es anstellen, Dupont dazu zu bringen, Vivian mitzunehmen?“, grollte daraufhin Sir William. „Wenn ihr nämlich glaubt, dass ich einen Tunichtgut von Franzmann anbettele, sich um meine starrsinnige Nichte zu kümmern, habt ihr euch gewaltig geirrt!“

„Vivian geht doch heute Abend auf den Ball der Ashleys“, überlegte Sophie zögernd. „Wimsey hat mir erzählt, dass er und sein Sohn auch eingeladen sind und beabsichtigen hinzugehen. Ich könnte mir vorstellen, dass sie Dupont mitbringen.“

„Das wäre großartig!“, strahlte Vivian. „Dann könnte ich mit ihm reden!“

„Eine Bannister bettelt fremde Männer nicht um Hilfe an!“, empörte sich Sir William.

Vivian reckte das Kinn vor. „Eine Darcy auch nicht! Aber es wird sich überhaupt keine Gelegenheit zum Betteln ergeben! Captain Dupont hatte vollstes Verständnis für meinen Wunsch, nach Amerika heimzukehren. Er wird sicher nicht ablehnen, mit mir gemein zu reisen!“

„Freu dich nicht zu früh, liebes Kind“, mahnte auch Elise. „Noch wissen wir gar nicht, wie die konkreten Pläne des Captains aussehen. Es wäre durchaus denkbar, dass er das Ansinnen, sich um dich zu kümmern, ablehnt.“

„Ich kann mir keinen Grund denken, weshalb er das tun sollte“, tat Vivian Elises Einwand mit einem Lachen ab.

„Nun, warten wir es ab“, seufzte Sophie. „Denn ich fürchte fast, wenn er ablehnt, wird nichts aus deiner Reise. Denn ohne männliche Begleitung, Vivian, wirst du in unserem guten, alten England bleiben müssen. Und genau wie du weiß ich nicht, wo wir einen anderen Begleiter hernehmen sollten.“

„Er wird nicht ablehnen“, lächelte Vivian und drückte ihrer Tante einen Kuss auf die Wange, um ihrer Vorfreude Luft zu machen. Sofern Captain Dupont tatsächlich auf Lady Ashleys Ball erschien, war es nur noch eine Frage von Stunden, bis sie anfangen konnte, erste Reisevorbereitungen zu treffen. Und sie würde den Captain wiedersehen, eine Aussicht, die ihr nicht nur wegen ihrer Reisepläne ein aufgeregtes Kribbeln in der Magengegend verursachte. Es war beinahe zu schön, um wahr zu sein, überlegte sie mit einem Anflug von Verunsicherung. Aber hatte sie nicht schon bei ihrem Abschied im Park geahnt, dass Gérard Dupont noch für manche Überraschung sorgen würde? Wie es schien, hatte sie mit ihrer Vorahnung recht behalten!

Nach einem nicht enden wollenden Tag war es dann endlich so weit. Vivian stand lächelnd ein wenig abseits der Tanzfläche im Ballsaal der Ashleys und ließ ihren Blick durch den Saal gleiten, der im festlichen Glanz Hunderter von Kerzen erstrahlte. Glitzernde Kristallleuchter und unzählige kleinere Leuchter an den Wänden warfen ihr warmes Licht auf die Tanzfläche, wo sich elegant gekleidete Paare zu den Klängen einer munteren Allemande drehten. Ihre Bewegungen wurden von mannshohen, goldumrandeten Spiegeln an den Wänden reflektiert, sodass die Anzahl der Tanzenden noch größer erschien, als sie war. Zwischen den Spiegeln waren Stühle aufgereiht, auf denen diejenigen saßen, die sich lieber unterhielten oder vom Tanzen erschöpft waren.

Erhitzt vom Tanzen nippte Vivian an einem Glas Limonade, das ihr einer ihrer neuen Bewunderer gebracht hatte. Zu ihrer Überraschung hatte sie sich nicht über einen Mangel an Verehrern beklagen müssen. In den zwei Stunden, die sie nun schon hier war, hatte sie beinahe ununterbrochen getanzt. Sie hatte die Galanterien der fröhlichen jungen Herren genossen und viel gelacht und sogar ein wenig geflirtet. Für den Augenblick jedoch galt ihre Aufmerksamkeit Lady Agnes, die im Mittelpunkt der heutigen Festlichkeit stand. In ihrem zartrosa Seidenkleid wirkte Lady Agnes beinahe zerbrechlich und war mit ihrem blassen Gesicht und den dunklen, mit Perlen geschmückten Haaren von geradezu ätherischer Schönheit.

Lady Agnes Bräutigam war ein forscher Major der britischen Armee, der in seiner roten Galauniform sehr beeindruckend aussah. Die Ballgäste tuschelten hinter vorgehaltener Hand darüber, dass er bald in die amerikanischen Kolonien in den Krieg ziehen müsste, weshalb die Verlobung und anschließende Hochzeit so schnell wie möglich hintereinander gefeiert werden sollten. Insgeheim beneidete Vivian Lady Agnes ein wenig. Lady Agnes würde nach der Hochzeit ohne Schwierigkeiten nach Amerika gelangen. Andererseits war es natürlich auch möglich, dass Lady Agnes gar keinen Wunsch verspürte, nach Amerika zu gehen. Und wenn sie es recht bedachte, würde Lady Agnes sich wahrscheinlich ständig um ihren Mann sorgen, der als Offizier im Kriegseinsatz immerhin sein Leben riskierte. Nein, bei genauer Überlegung gab es wirklich überhaupt keinen Grund, Lady Agnes zu beneiden. Zumal sie schließlich bald selbst zurück nach Amerika segeln würde. Das Einzige, was sie dazu noch tun musste, war, mit Captain Dupont zu reden.

Jedoch bekam sie inzwischen ernsthafte Zweifel, dass dieser noch auf dem Ball erscheinen würde. Mit einem Anflug von Nervosität fragte sie sich, was sie tun sollte, falls er nicht kam. Sir William würde ihr bestimmt nicht erlauben, ihn im Hause Lord Wimseys aufzusuchen. Einen fremden Gentleman zuhause zu besuchen, war etwas, was eine englische Lady nun wirklich nicht tat, das wusste sogar Vivian.

Um sich abzulenken, nahm sie die nächste Aufforderung zum Tanzen an, doch sie war nicht mehr so begeistert dabei wie zuvor. Ständig schweiften ihre Blicke zur Tür. Gerade noch rechtzeitig bemerkte sie, dass ihr Tanzpartner sie etwas gefragt hatte. Geistesabwesend gab sie eine kurze Antwort und wusste schon zwei Minuten später nicht mehr, was sie gesagt hatte.

Den nächsten Tanz, einen Roger de Coverley, ließ Vivian vorsorglich aus, nicht nur, weil ihr die Schritte unbekannt waren, sondern auch, weil ihr nicht mehr nach Tanzen zumute war. Es war inzwischen so spät, dass sie an ein Erscheinen Gérard Duponts nicht mehr glaubte. Voller Enttäuschung machte sie sich auf den Weg zu den französischen Terrassentüren, um draußen ein wenig frische Luft zu schnappen und ihr erhitztes Gemüt zu beruhigen.

Da die Terrassentüren am anderen Ende des Ballsaals lagen, musste sie sich zunächst durch die Tanzenden wühlen, was ein schwieriges Unterfangen war, weil sich unzählige Gäste auf der Tanzfläche tummelten. Nur mühsam kam sie voran. Sie war noch nicht ganz in der Mitte der Tanzfläche angekommen, als jemand plötzlich von hinten ihren Arm ergriff und eine ihr bekannte Stimme lachend schimpfte: „Na, kleine Lady, nun laufen Sie mir doch nicht ständig davon!“

Ruckartig drehte Vivian sich um und blinzelte sprachlos in die leuchtend blauen Augen Gérard Duponts.

„Eben noch sah ich Sie dort drüben stehen“, erklärte er, während er sie bewundernd von oben bis unten musterte. „Kaum machte ich mich auf den Weg zu Ihnen, da verschwanden Sie in der Menge. Und jetzt wollen Sie mir schon wieder entwischen! Wollen Sie mir denn gar nicht die Freude gönnen, mit Ihnen zu tanzen?“

„Gérard!“, strahlte Vivian. „Oh, ich meine natürlich Captain Dupont! Wie freue ich mich, Sie zu sehen!“

Mit diesem Überschwang hatte er offensichtlich nicht gerechnet, denn seine Braue zuckte hoch, und für den Bruchteil einer Sekunde blinzelte er verblüfft. Doch dann blitzte ein Lächeln in seinen Augen auf. „Das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite, Miss Darcy. Darf ich Ihre Freude, mich zu sehen, dann so verstehen, dass ich Sie um diesen Tanz bitten darf?“

„Mit dem größten Vergnügen, Captain“, lachte Vivian und legte ihre Hand auf den ihr dargebotenen Arm.

Die Musiker begannen gerade mit einem Cotillon. Gemeinsam mit ein paar anderen Paaren stellten Vivian und Captain Dupont sich zu dem Tanz auf. Lächelnd legte Dupont einen Arm um Vivians Taille, und schon erklangen die ersten Takte der Musik. Vivian war in Bezug auf die Schritte ein wenig unsicher, aber Dupont führte sie mit einer Leichtigkeit, die ihr über jede Unsicherheit hinweghalf. Gérard Dupont so nahe zu sein, war auf durchaus nicht unangenehme Weise seltsam erregend, und Vivian genoss diesen Tanz mehr als jeden der anderen Tänze zuvor. Vermutlich, sagte sie sich, lag das einfach daran, dass sie so froh war, Dupont endlich gefunden zu haben. Obwohl, kicherte eine innere Stimme, eigentlich hatte ja er sie gefunden!

„Sie sehen ja heute Abend ganz entzückend aus, kleine Lady“, stellte er nach einer Weile fest, und seine blauen Augen blitzten. „Es ist geradezu ein Genuss zu beobachten, wie Ihr Haar im Kerzenschein glänzt.“

Vivian bedankte sich lachend für das Kompliment. Es schien ihr, als wäre es nahezu Gérards Beruf zu flirten. Sein offensichtliches Gefallen an ihr schmeichelte ihr, doch bildete sie sich nicht ein, dass sein Interesse ausschließlich ihr galt. Mit seinen dunklen Haaren, entgegen der Mode ungepudert wie ihre eigenen, und den leuchtend blauen Augen sah er ohnehin umwerfend attraktiv aus. Dass sich noch dazu unter seinem weißen Rüschenhemd und dunkelblauem Samtrock, silberfarbenen Kniehosen und Strümpfen und Schnallenschuhen aus schwarzem Lack ein beeindruckend männlicher und muskulöser Körper verbarg, fiel gewiss nicht nur ihr auf. Dennoch war das Lächeln, das in seinen Augen lag und um seine Mundwinkel zuckte, von so entwaffnender Wärme, dass es ihr zumindest für den Augenblick das Gefühl gab, etwas Besonderes für ihn zu sein. Außerdem schien er ausgesprochen guter Laune zu sein, worauf auch seine nächsten Worte schließen ließen: „Wie schön, dass Sie heute Abend hier sind, Miss Darcy. Ich hatte keine Ahnung, dass Sie eingeladen sind.“

„Ich hätte auch nie gedacht, dass Onkel William mich gehen lassen würde“, gestand Vivian mit einem Lachen. „Er hält normalerweise nicht viel von Festlichkeiten wie dieser. Aber diesmal ist er sogar mitgekommen. Natürlich nicht, um zu tanzen. Er spielt irgendwo Schach mit Lord Wimsey.“

Dupont zwinkerte ihr zu. „Dann habe ich ja Glück, dass er diesmal eine Ausnahme gemacht hat. Ich freue mich nämlich ungemein, Sie zu sehen.“

Mit einem schwachen Erröten entgegnete Vivian: „Ich war Ihnen gegenüber im Vorteil, muss ich gestehen. Ich wusste nämlich, dass Sie kommen würden. Obwohl ich allmählich anfing zu glauben, dass Sie es sich anders überlegt hätten. Sie sind recht spät gekommen, finden Sie nicht?“

„Niemand in London kommt früh zu einem Ball“, entgegnete er mit einem belustigten Grinsen. „Mit Ausnahme junger amerikanischer Ladys vielleicht.“

Sie lachte verlegen. „Sie haben recht, ich konnte es kaum abwarten. Aber weder meine Tante Elise noch Onkel James oder Onkel William haben erwähnt, dass es üblich ist, später zu kommen.“

Dupont lachte leise. „Zugegeben, ich wusste anfangs auch nichts von dieser typisch englischen Sitte. Auf dem Land soll es ja auch anders sein, aber hier in London gehört es in der feinen Gesellschaft zum guten Ton, zu Veranstaltungen wie dieser sehr spät zu erscheinen. Entsprechend kommt jeder, der etwas auf sich hält, dann erst gegen Morgengrauen nach Hause.“

„Wie seltsam“, kicherte Vivian.

Er warf ihr einen prüfenden Blick zu. „Nichtsdestotrotz interessiert es mich, woher Sie wussten, dass ich kommen würde.“

„Na ja, hundertprozentig sicher war ich nicht“, gestand sie etwas kleinlauter. „Meine Tante Elise erwähnte, dass Lord Wimseys Sohn eine Einladung zu dem Ball erhalten hatte. Und sie hielt es für möglich, dass er Sie mitbringen würde.“

„Wie es scheint, bin ich dann also Gesprächsthema zwischen Ihnen und Ihrer Tante“, versetzte er mit einem belustigten Zwinkern.

„Allerdings, und zwar aus einem ganz besonderen Grund“, gab Vivian leicht gereizt zurück, denn ihr gefiel es überhaupt nicht, dass Dupont sich über sie lustig machte.

Seine Braue zuckte in die Höhe. „Tatsächlich? Und darf ich diesen Grund auch erfahren?“

Aus irgendeinem Grund hatte Vivian das Gefühl, dass sich an Duponts bis eben entspannter Haltung unmerklich etwas änderte. Leicht verunsichert lächelte sie. „Natürlich dürfen Sie den Grund erfahren. Aber könnten wir vielleicht draußen darüber reden?“

Er schien irritiert. Ohne einen weiteren Kommentar ergriff er ihren Arm und führte sie aus dem Ballsaal hinaus auf die Terrasse. Er lächelte, jedoch wirkte sein Benehmen seltsam gezwungen.

Sobald er die Tür hinter sich geschlossen und sich vergewissert hatte, dass sie allein waren, setzte er sich mit einem Bein lässig auf die Balustrade und erkundigte sich scheinbar gleichmütig: „Nun, kleine Lady, was ist denn so geheimnisvoll an Ihrem Grund, dass ich ihn erst hier draußen erfahren darf?“

Vivian holte tief Luft. Sie musste ihm sagen, worum es ging, darum war sie ja hier, doch nun, da es so weit war, fiel es ihr schwerer, als sie gedacht hatte. Sekundenlang ließ sie ihren Blick durch den von Fackeln erhellten Garten schweifen, auf der Suche nach den richtigen Worten.

„Ich weiß nicht recht, wie ich anfangen soll“, begann sie schließlich mit einem verlegenen Lächeln. „Aber um es auf den Punkt zu bringen: Sie wissen doch, dass ich zurück nach Charleston möchte?“

„Ja, aber was hat das mit mir zu tun?“

„Oh, eine ganze Menge“, konterte Vivian, insgeheim verärgert über seinen knappen Ton. „Sehen Sie, seit Ihrem Besuch auf Oakfield hat sich einiges geändert. Mein Onkel ist nicht mehr grundsätzlich dagegen, dass ich nach Amerika zurückkehre. Er würde mir die Reise erlauben, sofern ich jemanden fände, der mich begleitet.“

„Tatsächlich? Nun, das freut mich für Sie“, gab er etwas entspannter zurück. Dennoch war Vivian von seiner Reaktion enttäuscht. Ungeduldig trat sie einen Schritt näher an ihn heran.

„Gérard, verstehen Sie denn nicht, was ich meine? Ohne Begleitung würde Onkel William mich niemals fortlassen! Aber wenn Sie und ich zusammen reisen würden …“ Sie ließ den Satz unbeendet ausklingen.

„Wie kommen Sie darauf, dass ich nach Amerika reisen will?“, fragte er, mit einem Mal gefährlich ruhig.

Vivian biss sich nervös auf die Lippen. „Nun, nicht nach Amerika, da haben Sie mich falsch verstanden! Aber mein Onkel hat von Lord Wimsey erfahren, dass Sie eine Passage nach Jamaika gebucht haben. Zumindest bis dorthin könnten wir also gemeinsam reisen. Und von dort aus wäre es für mich nicht mehr weit.“

Er wirkte nahezu wie vom Donner gerührt. „Verstehe ich Sie richtig, dass Sie mich bitten, Sie nach Jamaika mitzunehmen? Sie wollen mit mir gemeinsam auf einem Schiff reisen?“

Sie schluckte bei seinem fassungslosen Ton und nickte stumm.

„Ich soll also Ihr … Beschützer sein?“

„Lieber Himmel, nein!“, versuchte sie ihn zu beruhigen. „Onkel William und Tante Sophie meinen nur, wenn Sie mich begleiten würden, wäre die Überfahrt für mich sicherer, und dann würden Sie mich fahren lassen. Aber ich würde Ihnen selbstverständlich in keiner Weise zur Last fallen.“

Er kniff die Augen zusammen. „Ich wäre aber für Ihre Sicherheit verantwortlich, nicht wahr?“

„Nun ja, in gewisser Weise vielleicht“, gab sie widerstrebend zu und begann nervös auf und ab zu marschieren. „Aber doch nur, um Onkel William zu beruhigen. Ich kann selbstverständlich auf mich selbst aufpassen. Sie brauchen keine Angst zu haben, dass ich Ihnen irgendwie zur Last falle. Ich verspreche Ihnen, Sie werden mich gar nicht bemerken!“

„Selbst wenn es mir gelänge, Sie nicht zu bemerken, was ich bezweifle, wäre ich immer noch Ihrem Onkel gegenüber für Sie verantwortlich.“

Vivian wurde blass. Sie hatte so fest damit gerechnet, dass Gérard Dupont in ihre Pläne einwilligen würde! Sein Widerstand war eine herbe Enttäuschung. In dem Bemühen, ihn zu überzeugen, trat sie neben ihn, legte ihm eine Hand auf den Arm und blinzelte in seine erschreckend abweisende Miene.

„Oh, bitte, Gérard! Es ist doch nichts dabei! Sie brauchen meiner Familie gegenüber doch nur vorzugeben, dass Sie mein Begleiter wären! Wenn wir erst einmal auf dem Schiff sind, können Sie doch machen, was Sie wollen. Sie brauchen sich wirklich nicht um mich zu kümmern.“

„Ich soll also Ihren Onkel anlügen?“, grollte er, mit so zornig blitzenden Augen, dass sie zusammenfuhr. „Ich soll ihn glauben lassen, zu Ihrem Schutz zur Verfügung zu stehen, und Sie dann einfach sich selbst überlassen? Für was für einen niederträchtigen Schurken halten Sie mich eigentlich?“

„Ich halte Sie überhaupt nicht für niederträchtig“, protestierte sie entmutigt und trat instinktiv einen Schritt zurück. „Ich verstehe nur nicht, warum Sie nicht mit mir zusammen reisen wollen.“

Die Wolken auf seiner Stirn glätteten sich, aber seine nächsten Worte enttäuschten sie maßlos: „Das können Sie auch nicht verstehen, Miss Darcy. Und unglücklicherweise kann ich es Ihnen auch nicht erklären. Nur akzeptieren Sie bitte meine Ablehnung.“

In hilfloser Verwirrung starrte sie ihn an. „Aber wieso? Bitte, Gérard, ich verspreche Ihnen hoch und heilig, dass Sie überhaupt nicht merken werden, dass wir auf ein und demselben Schiff sind!“

Er schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, kleine Lady, aber es geht nicht.“

Ungläubig blinzelte sie in seine undurchdringliche Miene. „Gérard, um Himmels willen, das … das können Sie doch nicht ernst meinen! Wir wollen beide nach Jamaika! Was also spricht dagegen, dass wir gemeinsam reisen?“

Er machte einen Satz von der Balustrade herunter und stellte sich dicht vor sie. „Vivian, glauben Sie mir, ich würde Ihnen wirklich gern helfen. Aber auch wenn ich es Ihnen nicht erklären kann – es kommt unter gar keinen Umständen in Frage, dass ich die Verantwortung für Ihre Sicherheit übernehme.“

Vivian atmete heftig ein. Fassungslos blinzelte sie und reckte das Kinn vor. Nach ein paar sprachlosen Sekunden murmelte sie tonlos: „Mein Onkel hatte also recht. Sie sind nichts weiter als ein nichtsnutziger, oberflächlicher Schürzenjäger. Was bin ich für eine Närrin!“

„Vivian –“

„Oh nein, sparen Sie sich Ihre schönen Worte!“, schnaufte sie, als er mit einem finsteren Stirnrunzeln nach ihrem Arm langte. „Sie haben Ihren Standpunkt sehr deutlich klargemacht. Ich verspüre nicht den geringsten Wunsch, mich länger mit jemandem zu unterhalten, der nichts von Verantwortung hält!“

„Sie verdrehen mir die Worte im Munde! Ich habe nicht gesagt, dass ich es prinzipiell ablehne, Verantwortung zu übernehmen! Alles, was ich versuche zu erklären, ist, dass ich nicht die Verantwortung für Ihre persönliche Sicherheit übernehmen kann.“

„Sagen Sie lieber, dass Sie nicht wollen! Oh, wie konnte ich mich nur so in Ihnen täuschen!“

„Verdammt nochmal, Vivian –“, setzte er an, doch Vivian wirbelte herum und wandte ihm den Rücken zu. Auf keinen Fall sollte er sehen, dass Tränen in ihren Augen schimmerten.

„Hören Sie auf mit Ihren lächerlichen Erklärungen“, murmelte sie tonlos.

Er atmete hörbar ein. Sie wusste nicht, warum sie überhaupt noch auf eine Antwort von ihm wartete. Eigentlich war alles gesagt. Doch als sie den ersten Schritt Richtung Terrassentür machte, hörte sie ihn ausdruckslos sagen: „Sie haben recht. Jede Erklärung, die ich Ihnen geben kann, muss Ihnen lächerlich erscheinen. Aber so sehr ich es auch bedaure, ich kann Ihnen nichts anderes sagen, als dass ich nicht Ihr Reisebegleiter sein kann.“

Sie lachte hysterisch und wandte sich noch einmal um. „So sehr Sie es bedauern? – Das glauben Sie doch selbst nicht!“

Er zuckte scheinbar gleichmütig die Achseln, doch ein Wangenmuskel in seinem schmalen Gesicht zuckte ebenfalls. „Wenn ich Ihnen versichere, dass ich ernstzunehmende Gründe für mein Verhalten habe, würden Sie mir das glauben?“

„Nur, wenn Sie mir erklären, was das für Gründe sind!“, versetzte sie mit einem winzigen Hoffnungsschimmer.

Er presste kurz die Lippen zusammen. „Das kann ich nicht.“

„Natürlich nicht“, höhnte sie. „Wie sollten Sie auch etwas erklären können, was es nicht gibt!“

Er schüttelte den Kopf und langte nach ihrem Arm. „Vivian, zum letzten Mal, ich –“

Sie riss sich los. „Ich wünschte, Sie wären nie nach Oakfield gekommen, Captain Dupont, dann hätte ich mir keine falschen Hoffnungen gemacht! Aber jetzt weiß ich wenigstens, was ich von Ihnen zu halten habe! Und ich hoffe von Herzen, dass ich Sie nie wiedersehen muss!“

Mit diesen Worten ließ sie ihn stehen und stürmte durch die Terrassentür zurück in den Ballsaal.

Er starrte ihr mit finster zusammengezogenen Brauen hinterher. Für den Bruchteil einer Sekunde war er versucht, ihr nachzugehen. Doch mit einem unterdrückten Fluch auf den Lippen verwarf er diesen Impuls. Verdammt, er hatte gewusst, dass es unklug war, Vivian Darcy zum Tanzen aufzufordern, sobald er sie erblickt hatte! Aber er war so überrumpelt gewesen, sie auf diesem Fest zu entdecken, wo er eigentlich nur hingegangen war, weil es seiner Tarnung nützte. Entgegen aller Vernunft hatte er der Versuchung nicht widerstehen können, sie wenigstens einmal in den Armen zu halten, bevor er sie verließ, auch wenn er wusste, dass er mit dem Feuer spielte! Mit jeder Minute, die er mit ihr verbrachte, wurde sein Wunsch größer, sie näher kennenzulernen, obgleich die Chancen dafür gleich null standen! Andererseits, wenn sie wirklich in die Kolonien reiste … Allerdings brauchte sie dafür einen Begleiter, wie sie selbst gesagt hatte. Zu seinem Leidwesen schied er in dieser Hinsicht definitiv aus. Aber möglicherweise fand sich ja jemand anders. Doch auch wenn er ihr das von Herzen wünschte und gönnte, gab es ihm einen Stich, dass nicht er derjenige sein konnte, der sie nach Hause brachte. Wie auch immer, Miss Darcys Enttäuschung, dass er ihre Bitte abgelehnt hatte, würde sich legen. Er selbst würde ohnehin bald aus England fort sein. Vermutlich war es am besten, wenn er bis dahin alles tat, damit Vivian keinesfalls auf die Idee kam, dass er seine Ablehnung bereute und ihn ein zweites Mal um seine Begleitung bat. So sehr es ihm auch widerstrebte, er musste dafür sorgen, dass sie sich von ihm fernhielt und seine Begleitung nicht wünschte. Er durfte ihr keine falschen Hoffnungen machen. Er hatte auch schon eine Vorstellung davon, wie sich das am einfachsten bewerkstelligen ließ. Mit eiserner Willenskraft verscheuchte er die Falten von seiner Stirn, setzte sein strahlendstes Lächeln auf und marschierte zurück in den Ballsaal.

Noch während Vivian bei ihrer Rückkehr in den Ballsaal Ausschau nach ihren Tanten hielt, wurde sie erneut von zahlreichen Verehrern umringt, die um den nächsten Tanz baten. In der Hoffnung, dass das Tanzen sie ablenken würde, nahm sie eine Aufforderung an, doch sie merkte schnell, dass das Tanzen ihren Kummer noch verstärkte. Das Gefühl von Lebendigkeit und Freude, dass sie in Duponts Armen empfunden hatte, ließ sich nicht wiederherstellen. So bedankte sie sich bei ihrem Tanzpartner, sobald die Musiker das Stück beendeten, und blickte sich erneut nach Sophie und Elise um.

Von ihrer Tante Sophie war nichts zu sehen, aber sie entdeckte Elise, die in einer Ecke des Ballsaals angeregt mit Lady Ashley und zwei weiteren Damen plauderte. Aus den Augenwinkeln heraus erblickte sie auch Dupont, der offenbar ebenfalls in den Ballsaal zurückgekehrt war und sich in entspannter Haltung und strahlend lächelnd mit einer jungen Dame unterhielt. Da er in unmittelbarer Nähe ihrer Tante stand, musste sie an ihm vorbeigehen, was sie mit dem größtmöglichen Abstand tat. Als er sie bemerkte, wandte er ihr kurz den Blick zu, doch dann setzte er sein Gespräch ungerührt fort und lachte über eine Bemerkung seiner hübschen Gesprächspartnerin. Es war nicht zu übersehen, dass er sich blendend amüsierte, stellte Vivian zähneknirschend fest! Kein Wunder, dass er nicht mit ihr reisen wollte! Er war ja schon mit seiner nächsten Eroberung beschäftigt! Obwohl sie vorgehabt hatte, ihn keines Blickes mehr zu würdigen, hob sie empört den Kopf und funkelte ihn zornig an. Doch Dupont beachtete sie nicht einmal, sondern lachte leise über etwas, was die junge Dame neben ihm sagte, und beugte sich weiter zu ihr vor. Vivians Augen weiteten sich, als er die junge Dame sanft am Arm berührte, was entgegen allen gesellschaftlichen Gepflogenheiten war! Sie schluckte und blinzelte wütend. Sie hatte es nicht ernst gemeint, als sie ihm vorgeworfen hatte, ein Schürzenjäger zu sein, sondern es aus reinem Zorn heraus getan. Doch nun war offensichtlich, dass er seinen Charme jeder Frau gegenüber ausspielte, die ihm über den Weg lief, was sie beinahe mehr verletzte als die Tatsache, dass er nicht mit ihr reisen wollte.

Elise erhob sich unterdessen und eilte ihr entgegen. „Nun, wie sieht es aus? Hast du mit Captain Dupont reden können?“

Vivian warf einen gleichermaßen wütenden wie enttäuschten Blick in Gérard Duponts Richtung, der sich gerade mit der jungen Dame am Arm unter die Tanzenden mischte. Elises Augen folgten ihrem Blick.

„Oh, ich glaube, ich verstehe“, murmelte sie leise. „Der Captain will also nicht?“

Vivian würgte einen Kloß hinunter. „Nein, er will nicht. Und er hat noch nicht einmal eine Begründung für seine Unfreundlichkeit!“

Elise blickte Vivian ruhig an. „Er wird schon seine Gründe haben, Vivian. Nimm es nicht zu tragisch.“

„Nein, natürlich nicht“, murmelte sie.

„Du weißt, dass John plant, demnächst auf einem seiner Schiffe mitzureisen, oder?“, fragte Elise unvermittelt.

„Ja, er erwähnte es, als ich neulich bei euch zum Essen war“, entgegnete Vivian verwirrt. „Aber –“

„Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich John überreden kann, dich mitzunehmen“, erklärte Elise ruhig.

Vivian starrte sie an. „Ja, aber –“

„Ich weiß, was du sagen willst“, kam Elise ihr zuvor. „Auf Johns Schiffen gibt es nur wenige Kabinen. Aber du bist ein Familienmitglied. Ich bin sicher, dass John schon einen Weg finden wird, dich mit an Bord zu nehmen.“

„Ja, aber … Elise, als wir heute Morgen darüber sprachen, dass ich einen Begleiter brauchen würde – warum hast du denn da nicht ein Wort davon gesagt, dass ich bei deinem Bruder mitfahren könnte?“

Elise lachte. „Ach Vivian, du warst so versessen darauf, Captain Dupont um Hilfe zu bitten … Ich sah keine Chance, dass du die Idee, dass John dich begleiten könnte, überhaupt in Erwägung ziehen würdest. Ich hatte eher den Eindruck, dass du – nun ja, dass du dich möglicherweise zu dem Captain hingezogen fühlen könntest.“

Zu ihrem Unwillen spürte Vivian, wie sie errötete. „Das mag vielleicht für eine ganz kurze Zeit so gewesen sein. Aber nun habe ich nur noch den Wunsch, ihn möglichst nie wiederzusehen.“

„War er – ist er dir zu nahe getreten?“, fragte Elise.

„Um Himmels willen, nein, überhaupt nicht! Ganz im Gegenteil! Er hätte mir nicht deutlicher zu verstehen geben können, dass ich ihn mit meinem Ansinnen belästigt habe! Du kannst dir sein schockiertes Gesicht nicht vorstellen, als ihm klar wurde, was ich von ihm wollte.“

„Tatsächlich? Nun, ich finde das zwar schwer vorstellbar, aber wenn du es sagst … Aber wie auch immer. Soll ich also mit John reden?“

„Aber unbedingt, Elise!“, strahlte Vivian. „Wirklich, du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich mich freuen würde, mit deinem Bruder reisen zu dürfen!“

Elise lächelte verhalten. „Nun, ich glaube, du wärst nicht die Einzige, die sich freut. – Also, dann ist es beschlossen. Gleich morgen früh werde ich mit ihm reden.“

Sir Williams Laune war nicht die beste, als er Vivian zwei Tage später mitteilte, dass Elises Bruder John Chapman eingewilligt habe, Vivian auf einem seiner Schiffe nach Jamaika mitzunehmen. „Chapmans Schiff sticht in ungefähr fünf Wochen in See. Er freut sich auf die gemeinsame Reise mit dir“, schloss Sir William mit einem finsteren Stirnrunzeln, während Vivian vor Freude strahlte.

Doch als sie sah, wie nervös ihr Onkel mit einem Blatt Papier spielte, das vor ihm auf seinem Schreibtisch lag, trat sie neben ihn und legte ihm eine Hand auf den Arm. „Onkel William … es macht dir doch nichts aus, wenn ich nicht mehr hier bin, oder? Ich meine … du wirst doch nicht traurig sein?“

„Traurig?“, donnerte Sir William und schleuderte ihre Hand weg. „So weit kommt es noch! Traurig, weil eine vorlaute, amerikanische Göre weggeht! Das wäre ja noch schöner!“

Mit einem Ruck stand er auf, sodass der Stuhl, auf dem er gesessen hatte, umkippte. Unruhig schritt er im Zimmer auf und ab. Schließlich hielt er in seinem Auf-und-ab-Gehen inne und schimpfte: „Ach verdammt, gewöhnt hab ich mich doch an dich!“

Vivian war klar, dass es ihrem Onkel nicht leichtgefallen war, diese Worte auszusprechen. Sie trat auf ihn zu und sagte leise: „Onkel William, ich weiß, du hörst so etwas nicht gern, aber ich bin dir wirklich sehr dankbar für alles, was du für mich getan hast. Und wenn ich jetzt bald gehe, dann hat das nichts mit dir zu tun. Ich habe mich hier wohler gefühlt, als ich für möglich gehalten hätte. Aber es war immer eher so, als wäre ich zu Besuch, nicht zuhause.“

Sir William blickte mit gerunzelter Stirn zu Boden, ohne etwas zu erwidern. Vivian wusste, dass er nicht gern über Gefühle sprach. Doch heute, entschied sie, musste es sein, und so fuhr sie mit einem unsicheren Lächeln fort: „Also, Onkel William, was ich die ganze Zeit zu sagen versuche, ist, dass ich dich sehr gern habe und dich vermissen werde. Und ich hoffe wirklich, dass wir uns irgendwann einmal wiedersehen.“

Sir William räusperte sich geräuschvoll, setzte zum Sprechen an und räusperte sich erneut.

Vivian nahm ihren ganzen Mut zusammen und schlug hoffnungsvoll vor: „Wenn irgendwann der Krieg vorbei ist, könntest du ja mal nach Charleston kommen, Onkel William. Und ich könnte dich in England besuchen. Dann könnte ich auch Tante Sophie wiedersehen. Oder … oder möchtest du das nicht?“

“Ach, du verdammte Nervensäge! Du weißt doch ganz genau, dass du mir fehlen wirst“, schimpfte Sir William. „Warum konnte deine dusselige Tante dich auch nicht in den Kolonien lassen, wo du hingehörst? Dann hätte ich jetzt nicht diesen verdammten Ärger mit dir und würde dich nicht irgendwann vermissen!“

Vivian lächelte zögernd. „Ich glaube, ich werde dich auch vermissen, Onkel William.“

Sir William blinzelte. Dann holte er tief Luft. „Genug jetzt mit diesem ganzen Gefasel. Ich will dich heute nicht mehr sehen! Am besten gehst du auf dein Zimmer.“

„Aber es ist heute viel zu schön, um sich im Haus zu vergraben.“

„So? Ist es das? – Na, dann gehst du eben in den Garten. Ich möchte jetzt jedenfalls allein sein.“

„Wie du meinst, Onkel William. Essen wir denn wenigstens nachher zusammen? Oder willst du dann immer noch allein sein?“

„Natürlich essen wir zusammen“, brummte Sir William. „Meinst du etwa, ich verzichte deinetwegen auf mein Mittagessen?“

Viel Zeit bis zur Abreise blieb Vivian nun nicht mehr. Die Tage waren angefüllt mit unzähligen noch zu erledigenden Dingen. Vivian kam kaum noch zur Ruhe. Beinahe täglich erschien Elise auf Oakfield, um Vivian noch dieses oder jenes für die Reise vorbeizubringen. An anderen Tagen ließ sie Vivian nach London kommen, wo sie dann gemeinsam Einkäufe erledigten. Vivian fand, dass sie gar nicht so viel brauchte, aber Elise sah das anders. Außer mit neuen Schuhen und Strümpfen, Haarkappen, Miederwaren und einem warmen Mantel versorgte sie Vivian auch noch mit kostbaren Ausgaben der Werke Shakespeares und Marvells, damit Vivian die lange Schiffsreise nicht langweilig wurde.

So viel Fürsorge rührte Vivian. Sie hatte geglaubt, als mittellose Waise nach Amerika reisen zu müssen, und nun besaß sie fast so etwas wie eine Aussteuer. Hinzu kam, dass selbst Sir William von Elises regem Treiben angesteckt wurde. Eines Tages nahm er Vivian mit in ein großes Schlafzimmer, das früher der jeweiligen Herrin auf Oakfield gehört hatte. Die letzte Lady Bannister, die hier geschlafen hatte, war Vivians Großmutter gewesen.

Sir William öffnete eine zierliche Kommode, aus der er eine kleine, rotgoldene Schatulle herausnahm. Feierlich überreichte er sie Vivian.

„Der Schmuck in dieser Schatulle war der Lieblingsschmuck meiner Mutter“, erklärte er ernst. „Eigentlich hätte ihn deine Mutter erben sollen, doch da deine Großmutter sie überlebt hat, hat sie bestimmt, dass dieser Schmuck eines Tages dir gehören soll.“

Behutsam öffnete Vivian das kleine Schmuckkästchen. In seinem Inneren glänzte eine doppelreihige Perlenkette mit einem fingernagelgroßen Saphir als Anhänger. Der funkelnde blaue Stein war von winzigen Brillanten eingefasst. Neben der Kette lagen ein ebenfalls doppelreihiges Perlenarmband und dazu passende Ohrhänger aus Perlen und Saphiren.

Vivian blinzelte in die regungslose, leicht verlegene Miene ihres Onkels. „Die Kette ist wunderschön, Onkel William! Darf ich sie kurz anlegen?“

„Natürlich“, brummte Sir William. „Diese Schmuckstücke gehören jetzt dir.“

Mit zitternden Fingern legte Vivian den Schmuck an. Sie hatte noch nie etwas so Kostbares besessen, und dass dieser Schmuck jetzt ihr gehören sollte, wollte ihr noch nicht so recht in den Kopf. Prüfend blickte sie in den Spiegel.

„Gib immer sorgsam acht auf diesen Schmuck“, mahnte Sir William schließlich. „Falls du dich entschließt, nicht nach England zurückzukehren, ist es vielleicht das Einzige, was dir von deinen Vorfahren bleibt.“

Mit einem Kloß im Hals versprach Vivian, dass sie gut auf den Schmuck aufpassen würde. Nach wie vor konnte sie kaum fassen, wie großzügig ihre Verwandten alle zu ihr waren. Beinahe war es ihr ein wenig unheimlich, wie viel Glück ihr in den letzten Wochen beschieden war. Eigentlich konnte es kaum so weitergehen. Doch sie wollte sich ihr Hochgefühl nicht verderben lassen und schob schnell jeden unangenehmen Gedanken beiseite.

Auch die letzten Tage vor der Abreise vergingen wie im Fluge. Vivian hatte inzwischen alles, was sie brauchte, ja, sogar weit mehr als das. Außerdem hatte sie an Ann geschrieben, um sie über ihre geplante Abreise aus England zu informieren. Sie wusste zwar nicht genau, wann sie in Charleston ankommen würde, aber Ann war eine patente Frau und würde sicherlich rechtzeitig alles für Vivians Ankunft vorbereiten.

Und endlich war der heißersehnte Tag da. Auf einem Dock des Londoner Hafens stand Vivian in ihrem Reisekleid aus dunkelblauer Wolle zwischen ihren Verwandten und betrachtete aufgeregt die imposanten vor Anker liegenden Schiffe. Von London bis zu ihrer Mündung im Atlantik war die Themse selbst für die größten Seeschiffe befahrbar. Briggs und Fregatten sowie einige Schoner lagen im Hafen. Vivian bewunderte die mächtigen Takelagen all dieser Schiffe und ihr elegantes Aussehen. Der Anblick der Schiffe selbst war ihr dabei nichts Neues, da auch Charleston, wo sie aufgewachsen war, eine Hafenstadt war. Vivian war als Kind oft zu den Docks gegangen. Es hatte ihr Spaß gemacht zuzusehen, wie die Schiffe beladen wurden. Wenn dann die Segel gesetzt wurden und ein Schiff den Charlestoner Hafen verließ, war das immer ein interessantes Schauspiel gewesen.

In einen schlichten, dunklen Rock gekleidet und mit einem Dreispitz auf dem Kopf, trat John Chapman an ihre Seite und zeigte ihr den Dreimaster, mit dem sie segeln würden. Das große Handelsschiff, das viel Platz für die Güter bot, die es laden würde, war mindestens doppelt so groß wie die Brigg, mit der Vivian zwei Jahre zuvor von Amerika nach England gereist war. Vivian war insgeheim sehr froh, dass das Schiff so einen vertrauenerweckenden Eindruck machte.

„Und Vivian, vergiss nicht, du musst uns unbedingt schreiben!“, erinnerte die aufgeregte Sophie Vivian mindestens zum fünften Mal, wobei sie zum Schutz vor der Sonne ihr mit Bändern verziertes Käppchen tiefer ins Gesicht zog.

Vivian nickte und umarmte lachend ihre unmerklich zitternde Tante. Anschließend kamen ihre übrigen Familienmitglieder an die Reihe. Vivian konnte es kaum fassen, dass sie tatsächlich alle gekommen waren, um sich von ihr zu verabschieden: Sir William, Sophie, Elise und James, ja selbst deren Kinder.

„Ach, Vivian, wenn ich nur wüsste, dass ich das Richtige getan habe!“, stöhnte Elise, während sie Vivian an sich drückte. „Ich fühle mich einfach schrecklich! Immerhin bin ich ja in gewisser Weise für diese entsetzliche Reise verantwortlich. Wenn ich mich doch nur nicht eingemischt hätte!“

„Aber Elise“, lachte Vivian. „Diese Reise ist doch nicht entsetzlich! Es wird bestimmt die wundervollste Seereise, die man sich vorstellen kann!“

Elise lächelte kläglich und biss sich nervös auf die Lippen. „Das hoffe ich. Du weißt nicht, wie sehr! Und vielleicht kommst du ja auch zurück! Ich meine … Nun, wie auch immer. John wird gut auf dich aufpassen, du wirst sehen. Ich hoffe sehr, du wirst ihn mögen!“

„Das werde ich bestimmt“, versicherte Vivian mit einem Seitenblick auf den grinsenden John Chapman. „Wie sollte ich ihn nicht mögen, wenn er so nett ist, mich mitzunehmen. Trotzdem will ich ihm natürlich nicht zur Last fallen. Auf mich aufpassen muss Mr. Chapman wirklich nicht.“

„Das wird sich noch zeigen“, brummte Sir William mit gerunzelter Stirn. „Ich zumindest bin froh und dankbar, dass John auf dich achtgibt! Mit der Unbekümmertheit, mit der du auf alles zugehst … Du würdest doch mitten in jede Gefahr hineinrennen!“

Vivian war zu gut gelaunt, um die Bemerkung ihres Onkels übelzunehmen. Sie widersprach lediglich sanft: „Aber Onkel William, so naiv bin ich doch nun auch wieder nicht!“

„Nein, nicht naiv, aber absolut unerfahren! Als du zu mir kamst, warst du noch ein halbes Kind – und ein Wildfang obendrein. Inzwischen siehst du vielleicht etwas erwachsener aus, aber ob du es auch wirklich bist … Letztendlich hattest du auf Oakfield nicht viele Gelegenheiten, deine Menschenkenntnis zu erweitern.“

Vivian verkniff sich nur mit Mühe ein Lachen. „Keine Angst, Onkel William, irgendwie wird schon alles gut gehen.“

„Irgendwie bestimmt“, stöhnte Sir William. „Die Frage ist, wie.“ Er beendete das Thema, indem er sich umdrehte und scheinbar aufmerksam eine einlaufende Fregatte beobachtete.

Sophie nutzte die Gelegenheit, sich noch einmal zu erkundigen: „Also, ich soll das Geld für dich an Ann Welsey schicken, nicht wahr?“

„Ja, Tante Sophie. Die Adresse kennst du doch, und ich habe sie bestimmt schon drei Mal aufgeschrieben.“

„Ja, ja, ich weiß. Aber man muss ja immer auf Nummer sicher gehen“.

„Natürlich, Tante Sophie“, entgegnete Vivian mit zuckenden Mundwinkeln.

Augenblicke später verkündete John Chapman, dass es Zeit wäre, an Bord zu gehen. Daraufhin setzte sich die kleine Gruppe in Bewegung, um Vivian in ihre Kabine zu geleiten.

Vivian war von der Größe der für sie hergerichteten Kabine überrascht. John Chapmans Beschreibung nach hatte sie mit einer deutlich beengteren Unterkunft gerechnet.

John lachte über ihr Erstaunen und meinte: „Sie haben natürlich recht, man kann sich in dieser Kabine relativ gut bewegen. Aber Luxus sucht man hier vergeblich. Wie Sie sehen, Vivian, ist das Bett recht schmal, und weiche Teppiche und seidene Vorhänge gibt es auch nicht.“

Nun war es Vivian, die lachte. „Also, deswegen brauchen Sie sich nun wirklich keine Gedanken zu machen. Ich finde die Kabine sehr schön, so wie sie ist.“

„Umso besser“, freute sich John.

Eine Weile noch plauderte Vivian mit ihren Verwandten. Dann war es so weit. Das Schiff war klar zum Auslaufen, und es hieß endgültig Abschied zu nehmen.

Der Reihe nach umarmte Vivian noch einmal ihre Angehörigen. Sophie schluchzte laut auf, während sie Vivian in die Arme schloss, und auch Elise rieb sich mit einem Taschentuch die Augen. Selbst Sir William ließ sich Vivians Umarmung widerstandslos gefallen, ja, er drückte sie sogar fest an sich.

„Und dass du ja auf dich aufpasst, du dummes Ding!“, brummte er in seinem üblichen missgelaunten Tonfall und räusperte sich kräftig.

Vivian schluckte. „Jawohl, Onkel William.“

Jetzt, da es hieß, endgültig fortzugehen, merkte sie, dass sie sich doch mehr an ihren knurrigen Onkel gewöhnt hatte, als sie geglaubt hatte. Auch sie hatte mit den Tränen zu kämpfen, als die Besucher nach ein paar letzten Umarmungen das Schiff verließen.

An der Reling stehend, warf Vivian einen langen Blick auf London und die ihr vertraut gewordenen Verwandten. Während das Schiff langsam den Hafen verließ, winkte sie ihnen zu, solange sie sie sehen konnte, und Sir William, Elise und die anderen winkten kräftig zurück. Doch schnell wurden die am Dock stehenden Gestalten kleiner. Es dauerte nicht lange, bis Vivian niemanden mehr erkennen konnte.

Von nun an war sie auf sich gestellt. Mit einem kurzen Anflug von Wehmut fragte sie sich, ob sie England je wiedersehen würde. Zwei Jahre lang war dieses Land ihre Heimat gewesen. Nun verließ sie es in eine ungewisse Zukunft, ohne zu wissen, was in Charleston auf sie zukam.

Der Wind spielte mit ihren Haaren und zerrte am Rock ihres Kleides. Sie wickelte ihr Schultertuch fester um Kopf und Hals. Ausnahmsweise war es einmal nicht neblig, so als wollte sich London zum Abschied noch einmal von seiner besten Seite zeigen. Die Sonne stand hoch am Himmel und ließ das Wasser der Themse glitzern und funkeln, sodass Vivian blinzeln musste, weil es blendete. Weiße Schaumkronen leuchteten aus dem dunklen Blau des Wassers hervor, und kleine Gischttropfen spritzten Vivian ins Gesicht. Und je länger sie den Wind und die Sonne spürte, desto mehr schüttelte sie die Wehmut des Abschieds von sich ab. Die prickelnden Wassertropfen auf ihrer Haut belebten sie und ließen sie vergnügt auflachen. Und während sie lachte, schalt sie sich eine Närrin, dass ihr überhaupt irgendwelche Zweifel an der Richtigkeit ihrer Entscheidung gekommen waren. Sie war unterwegs nach Amerika, ihrer Heimat, ihrem Zuhause, wie konnte sie da auch nur ansatzweise Trübsal blasen! Je weiter sie auf die Themse hinausfuhren, desto mehr begann sie die Fahrt zu genießen. Ein warmer Strom der Vorfreude auf das, was sie erwartete, breitete sich in ihr aus. Noch konnte sie das Ufer sehen, englisches Ufer. Solange sie die Themse entlangfuhren, wären sie immer noch in England. Doch bald würden sie den Atlantik erreichen, den großen Atlantik, der England mit Amerika verband. Und dort wäre Vivian am Ziel ihrer Wünsche angelangt. Ja, lachte Vivian, ich komme heim! Ich komme endlich heim!