Leseprobe Seine andere Ehefrau

1. Kapitel

Ich bin schon immer erfinderisch gewesen, auch als ich noch keine Kinder hatte. Das ist in meinem Leben unverzichtbar. „Bist du fertig?“, fragt Clementine und springt ungeduldig auf der Stelle.

„Einen Moment noch, Tiny.“ Ich drücke das letzte Stück Klebeband auf den Saum ihrer Jeans und schlage das Hosenbein um. „So, jetzt ist sie maßgeschneidert.“

Ich gebe meiner Vierjährigen die leuchtendrosa Secondhand-Jeans und sehe ihr zu, wie sie sie anzieht. Ihr Lächeln ist ansteckend. Als ich die Jeans im Secondhand-Laden am Ständer hängen sah, wusste ich sofort, meine Kleine würde sie lieben, auch wenn sie ihr zwei Nummern zu groß ist.

„Sie ist perfekt, Mama.“ Sie legt die Arme um meinen Hals, drückt sich an mich und gibt mir einen Kuss auf die Wange – und ich muss lachen.

Ich kitzele sie, bis sie sich vor Kichern auf dem Boden kugelt. „Jetzt wird deine Grandma sich nicht darüber aufregen können, dass du deine Hosenbeine hinter dir herschleifst.“ Ich nehme Klebeband und Schere und richte mich auf. „Und wo ist jetzt dein Bruder? Wir müssen los. Meine Schicht fängt in einer halben Stunde an.“

„Benny!“, ruft Tiny laut und stürmt aus ihrem rosa-lila Schlafzimmer, um ihren Zwillingsbruder zu suchen.

Ich folge ihr durch den Flur unseres Hauses in Richtung Küche. Das Haus stammt aus den Fünfzigerjahren, stabile und schlichte Bauweise. Und ich danke meinen Glückssternen immer noch dafür, dass wir im letzten Jahr hier zur Miete einziehen konnten.

„Das können wir uns nicht leisten“, sagte ich und sah Ledger an, nachdem er mich hergebracht hatte.

„Ich habe eine Gehaltserhöhung bekommen“, erwiderte er und betrachtete mich mit diesen Augen, die so grün wie Kiefern sind. Er nahm mich in die Arme und küsste mich stürmisch, woraufhin ich lachen musste. Drei vollwertige Schlafzimmer. Ein Garten hinter dem Haus. Eine Waschmaschine. Ein Trockner. Ich müsste nicht mehr mit den Taschen voller Vierteldollar-Münzen zum Waschsalon laufen.

Ich muss noch immer lächeln, als ich in der Küche das Nähzeug in die Krimskrams-Schublade lege. Ich drehe mich um und sehe, wie Benny auf einem Hocker sitzt und sich über den Tisch beugt. Seine Crunchios hat er vergessen, stattdessen ist er ganz in den Lego-Bausatz vertieft, den er sich nach einer Woche ohne nächtliche Unfälle verdient hat. Wir müssen zwar jeden Cent zweimal umdrehen, aber Belohnungen zeigen ihre Wirkung. Außerdem bin ich gut darin, meine Trinkgelder zurückzulegen, bis ich das Geld zusammen habe, das ich für meine Kinder brauche.

„Hey, Buddy, wir müssen los.“ Ich sehe auf die Uhr an der Mikrowelle. „Wir sind schon spät dran.“

Er löffelt schnell die Schüssel Crunchios aus und zeigt auf seine Lego-Kreation. „Darf ich das mitnehmen?“ Er dreht sich zu mir um, entdeckt den kleinen Plastikbeutel in meiner Hand und fängt an zu lächeln. „Danke, Mama.“

Ich stelle die Kaffeemaschine aus, werfe das Smartphone in meine Handtasche und binde meine unbändigen Locken zusammen, während ich zur Haustür gehe. Ich sehe eine rosarote Tiny an mir vorbeihuschen, dicht gefolgt von Benny. Es wird ein heißer Tag werden, aber sie hat auf diese Hose bestanden. Ich konnte ihr Bitten und Betteln nicht abschlagen. Und warum sollte ich auch? Das Leben ist schwer genug, da muss man einem kleinen Mädchen nicht ein so einfaches Vergnügen versagen.

Als ich den Wagen anlasse, muss ich stöhnen, da ich ausrechne, was mich die dringend benötigte Tankfüllung kosten wird. Ich überprüfe, ob die Kinder in ihren Sitzen angeschnallt sind, dann lenke ich den Minivan rückwärts aus der Zufahrt. Bethany ist im Garten und füllt gerade den Kinderpool auf. Im Arm hält sie ihre sechs Monate alte Tochter Neva, während ihr dreijähriger Sohn Thomas und der Familienhund Nachlaufen spielen. Sie winkt mir zu, ich kurbele das Fenster runter.

„Hey, Penny, auf dem Weg zur Arbeit?“, fragt sie.

Ich nicke. „Ja, meine Mom passt auf die Kinder auf.“

„Ich kann immer aushelfen.“ Neva beginnt zu weinen, Bethany lässt die Kleine auf ihrer Hüfte wippen.

Ich lächle, da ich weiß, dass meine Freundin mit ihren beiden auch so schon alle Hände voll zu tun hat. „Meine Mom hat die Kleinen gern um sich.“

„Kommt Ledger bald heim?“

„Heute Abend.“ Ich verziehe den Mund und füge an: „Was bedeutet, dass ich wohl noch ein bisschen aufräumen sollte.“

Bethany lacht. „Hey, wir müssen bald mal wieder einen Weinabend einlegen. Es heißt, dass Joanne und Marty sich trennen wollen. Ich habe so viel Tratsch gehört, aber es ist niemand da, dem ich davon erzählen kann.“

„Ich bin dabei“, sage ich und winke ihr zum Abschied. Das Fenster lasse ich geöffnet. Es ist erst neun Uhr am Morgen, aber wir sind hier im westlichen Washington und haben Mitte August – und das heißt, dass die Hitze uns mindestens noch einen Monat lang begleiten wird. Mit dem Zeigefinger tippe ich auf das Autoradio und suche einen Sender mit einer morgendlichen Talkshow. Benny tritt von hinten gegen meine Rückenlehne. Ich greife hinter mich und bekomme seine Füße zu fassen, während wir an einer roten Ampel warten müssen. „Hör auf damit, Benjamin“, sage ich und bereue schon, dass er mit seinen Crunchios jede Menge Zucker zu sich genommen hat.

„Genau, Benny. Nimm eine Chill-Pille“, ergänzt Tiny.

Ich schnaube. „Sag so was nicht.“

„Warum nicht?“

„Weil das so ist, als würdest du über Drogen reden“, antworte ich und biege rechts ab in Richtung des Apartments meiner Mom. „Das gehört sich nicht.“

„Thomas sagt so was.“

„Nur weil Thomas so was sagt, musst du das nicht auch machen, nicht wahr?“

Im Radio wird das Programm wegen einer Verkehrsdurchsage unterbrochen: „Ein Unfall auf dem Highway sorgt für Stau in Richtung Süden. Ein Sattelschlepper ist bei Ausfahrt 93 gleich hinter Steven's Pass in die Leitplanke gefahren. Später mehr dazu.“

Ich presse die Lippen zusammen. Ich hasse Meldungen über Autounfälle, vor allem die, bei denen Sattelschlepper eine Rolle spielen. Nachdem ich noch getankt habe, biege ich auf den Parkplatz vor dem Mietshaus ein, in dem meine Mom wohnt. Den Kindern sage ich, dass sie sich benehmen sollen.

„Das ist mein Ernst. Grandma muss heute noch arbeiten, also müsst ihr zwei euch nützlich machen, okay? Wenn ihr brav seid, geht sie mit euch schwimmen.“

„Versprochen“, antworten Tiny und Benny im Chor, gerade als ich den Van einparke. Tiny mag etwas folgsamer sein als Benny, aber ich weiß, dass ich mit den beiden das große Los gezogen habe. Nachdem ich von einem Mann schwanger geworden war, den ich zu der Zeit kaum gekannt hatte, war ich von allem ausgegangen, aber nicht davon, dass ich mich in die Mutterrolle genauso verlieben würde wie in den Vater meiner Kinder. Aber es ist so gekommen. Ich bin rundum glücklich, obwohl ich mir niemals hätte vorstellen können, mit fünfundzwanzig so verdammt sesshaft zu sein.

Aber das bin ich, und jetzt schleppe ich eine Tasche mit Kleidung zum Wechseln und zum Schwimmen, mit Büchern und Sonnencreme in das Apartment meiner Mom. Voll im Mom-Modus. Das bin ich. Penny Stone, Kellnerin, Ehefrau, zweifache Mutter. Mein Leben ist wie ein Traum … bloß ist es nicht der Traum, den ich mir immer ausgemalt hatte. Das hier ist Welten entfernt von dem Bistro in Paris, wo ich einen Roséwein trinke und mit einem Bleistift meine Gedanken in einem Notizbuch festhalte. Wo ich an einem Tisch für eine Person sitze und kein Gast von mir bedient werden will.

„Mom?“, rufe ich, als ich die unverschlossene Tür öffne. Das Apartment ist aufgeräumt, klein und mit den Möbeln ausgestattet, von denen sich andere Mieter über die Jahre hinweg getrennt haben.

Kaum bin ich in der Wohnung, gehe ich zur Balkontür und schiebe sie auf. Die Luft hier ist immer so stickig, obwohl ich weiß, dass sie darauf achtet, in Gegenwart der Kinder nicht zu rauchen.

Sie telefoniert gerade und hält einen manikürten Finger hoch, als wir ins Zimmer kommen. Ein wöchentlicher Besuch im Nagelstudio ist der einzige echte Luxus, den sie sich gönnt. Ich glaube, sie war enttäuscht darüber, dass ich mich nie für Maniküre und Pediküre begeistern konnte. Ihre einzige Tochter – noch dazu ihr einziges Kind – war nie an irgendwelchem Glitzerkram interessiert gewesen. Allerdings sorgt Clementine dafür, dass Moms Bedürfnis gestillt wird, ein Mädchen ganz in Rosa zu hüllen. Mich stört es nicht, und Clementine liebt es über alles. Ich habe ja immer noch Benny als meinen Kumpel, aber ich muss gestehen, dass er bereits zu einem Regal marschiert, aus dem er eine Kiste mit Puppen zieht.

Während sie die Zigarette im Aschenbecher ausdrückt, beendet sie das Telefonat. „Tut mir leid, aber Nummer acht braucht einen Monteur. Der Geschirrspüler ist kaputt.“

„Ist schon in Ordnung. Ich weiß, dass du heute arbeiten musst. Danke, dass du auf die Kinder aufpasst. Ich wollte auf diese Schicht nicht verzichten.“

„Kein Problem.“ Sie macht eine abwehrende Geste. „Dieses Haus zu verwalten ist keine große Kunst, wie du weißt.“

Natürlich weiß ich das. Die letzten Highschool-Jahre habe ich hier verbracht, nur Mom und ich. „Die Kinder hoffen, dass ihr später noch schwimmen geht. Sie haben auch versprochen, ganz brav zu sein. Stimmt's?“ Ich ziehe bedeutungsvoll die Augenbrauen hoch, als ich mich zu ihnen umdrehe. Aber sie sind längst damit beschäftigt, die Plastikkisten zu öffnen und die Barbie-Puppen herausholen, die noch aus meiner Kindheit stammen. Mom war klug genug gewesen, sie aufzubewahren.

Lächelnd kniet sich Mom neben Clementine und Benjamin auf den abgewetzten Teppich. „Und wie geht's heute meinen zwei liebsten Menschen?“

Tiny strahlt sie an. „Papa kommt heute Abend nach Hause.“

Mom wirft mir über die Schulter einen Blick zu, ihre Lippen leuchten in CoverGirl-Rosa. Sie lächelt mich auf die Weise an, wie ich es mein Leben lang jeden Tag bei ihr gesehen habe. Ledger ist die ganze Zeit mit seinem Sattelschlepper unterwegs. Aber Mom? Sie ist die Konstante in meinem Leben.

„Was hängst du hier noch so rum, Penny?“, fragt sie und gestikuliert in Richtung Tür. „Musst du nicht arbeiten.“

Lachend erwidere ich: „Okay, gut, ich gehe ja schon. Nochmals danke.“

„Hab dich lieb, Mama!“, sagen die Kinder, als ich mich bücke, um ihnen einen Kuss auf die Wange zu geben.

„Hab euch lieber“, sage ich, gehe zur Tür und höre, wie sie mir hinterherrufen. Geht doch gar nicht, rufen sie, weil sie glauben, dass sie mich mehr lieben würden als ich sie. Aber das ist nicht der Fall. Denn das können sie gar nicht.

Ledger, meine Zwillinge und meine Mom sind meine ganze Welt für mich, und ich bete zu Gott, dass sich daran niemals etwas ändert.

2. Kapitel

Im Over Easy herrscht Nachmittagsflaute, und ich nutze die Gelegenheit, um ein wenig die Sonne zu genießen. Ich sitze auf den Stufen des Hinterausgangs, trinke eine Diätcola und habe meinen Laptop auf dem Schoß platziert. Ich stelle eine Liste mit Ideen für Kurzgeschichten zusammen. Die letzten vier Geschichten, die ich an verschiedene Magazine geschickt hatte, wurden abgelehnt. Und das bedeutet, dass jede Geschichte, die ich jemals geschrieben habe, abgelehnt wurde.

Mir wird allmählich bewusst, dass ich nicht weiß, was ich mache. In den Absagen der Verleger steht, ich sollte nach einem stärkeren Aufhänger suchen, ich sollte meine authentische Stimme finden, tiefer in mich gehen und meine wahre Geschichte entdecken. Ich lese jede Absage und kämpfe gegen meine Tränen an, weil ich eine Bestätigung dafür haben will, dass meine Anstrengungen es auf irgendeine Weise wert sind. Ich will von jemandem hören, dass ich nicht meine Zeit vergeude, wenn ich mit einem Bier-Budget meine Champagner-Träume verwirklichen will.

Meine langjährige Managerin Cheryl gesellt sich zu mir, sie bringt einen mit Papier ausgelegten Korb mit Hähnchenteilen und Fritten mit nach draußen. Ich klappe das Notebook zu, lege den Stift hin und greife nach einer Fritte.

„Wann kommt Ledger zurück?“, fragte sie, nimmt ein Stück Fleisch und tunkt es in den Ketchup. Ihr schulterlanges Haar ist vom Bleichen gekräuselt, ein dicker Lidstrich zieht sich um ihre Augen. Aber ihr Lächeln ist absolut natürlich.

„Ich habe ihm eine SMS geschickt, ab wie viel Uhr ich mit ihm rechnen kann. Aber er hat noch nicht geantwortet.“ Ich stöhne auf und binde meine unbändigen schwarzen Haare abermals zu einem Dutt oben auf meinem Kopf zusammen. „Ich bin wirklich so was von bereit, ihn wiederzusehen. Das waren zwei lange Woche. Der Sommer will kein Ende nehmen.“ Ich sehe hoch zum blauen Himmel, die Sonne steht genau über uns. Wir haben heute fast 32 Grad, und ich wünschte, ich könnte meine Uniform ausziehen. Dieses rot-weiße Stück Polyester ist ein wahres Inferno. Vielleicht ziehe ich nach Feierabend meinen Badeanzug und springe bei Mom in den Pool. Den Zwillingen würde das gefallen.

„Ich weiß nicht, wie du das schaffst, Mädchen.“ Cheryl ist doppelt so alt wie ich. Als ich fünfzehn war, gab sie mir meinen ersten und einzigen Job als Kellnerin, und nach zehn Jahren bin ich immer noch ihre Lieblingsangestellte. Ich glaube nicht, dass die Herausgeber dieser Literaturmagazine eine solche Geschichte von mir haben wollen.

Ich halbiere die Fritte. „Es ist gar nicht so schlimm. Ich meine, es könnte schlimmer sein.“

Cheryl schnalzt mit der Zunge. „Stimmt. Du und Ledger, ihr habt beide Arbeit. Und ihr habt hinreißende Kinder. Dazu eine Ehe, auf die jedes Mädchen in der Stadt eifersüchtig ist.“

„Ach, hör auf“, sage ich lachend und ziehe eine Augenbraue hoch. „Ich bin mir nicht sicher, dass irgendwer bei mir zweimal hinguckt.“

Cheryl steht auf, ihre Miene nimmt einen sanfteren Ausdruck an. „Na, jedenfalls gucke ich hin, Penny. Und ich kenne dich ziemlich gut. Gut genug, um zu wissen, dass Ledger sich glücklich schätzen kann, dich zu haben. Schließlich hältst du die Familie zusammen, während er unterwegs ist.“

„Danke“, sage ich und reagiere mit einem verlegenen Lächeln. Nachdem sie in die Küche des Diners zurückgekehrt ist, esse ich auf und lese währenddessen noch einmal die Ideen, die ich notiert hatte. Dann ergänze ich die Liste um eine Idee: Wie es ist, mit einem Trucker verheiratet zu sein.

Könnte das jemanden ansprechen?

Zwanzig Minuten später habe ich mich bei Facebook und Instagram umgesehen und Mom angerufen, um zu hören, wie sich die Kinder benehmen. Von meinem Ehemann ist noch immer keine Antwort gekommen.

Als mein Handy schließlich klingelt, nehme ich den Anruf an, ohne auf das Display zu sehen. Ich habe nicht mehr mit Ledger gesprochen, seit er sich gestern Abend schlafengelegt hat. Allergien hatten ihm zu schaffen gemacht, während er im Osten von Washington unterwegs war. Da wimmelte es von Pollen in der Luft. An einer Tankstelle hat er sich Benadryl besorgt, ehe er an einem Truck Stop angehalten hat, um da die Nacht zu verbringen.

„Sind die Zwillinge im Bett?“, wollte er wissen, während er auf seiner Matratze lag und wir über FaceTime miteinander verbunden waren. Bilder, die Tiny und Benny für ihn mit Textmarker auf Druckerpapier gemalt hatten, hingen an der Wand hinter ihm. Den Kopf hatte er auf ein Kissen gelegt, das ich ihm zu Weihnachten gekauft hatte. Ich mag deinen Bart steht auf diesem Kissen. Ich schlafe auf einem Kissen, auf dem Ich mag deinen Hintern steht.

„Ja, seit einer Stunde.“ Ich ging in der Küche hin und her, das Smartphone mit einer Hand auf mich gerichtet, während ich mit der anderen aufräumte.

„Was wirst du jetzt machen?“, wollte er wissen.

„Ich werde versuchen, ein Buch zu lesen, das ich heute in der Bibliothek ausgeliehen habe: Kurzgeschichtenschreiben für Dummies.“

„Hör auf, Pen. Sag so was nicht.“

„Wieso?“ Frustriert atmete ich schnaubend aus. „Ich weiß nicht, was ich tue, Ledger. Ich denke mir das alles aus, während ich schreibe.“

„Wenn die Zwillinge nächstes Jahr in die Schule kommen, könntest du doch vielleicht einen Kurs an der Volkshochschule belegen.“

„Ja, vielleicht“, sagte ich. „Aber Bethany macht gerade solche Kurse, und die wachsen ihr über den Kopf. Immer nur im Stress.“

„Gut, aber sie hat ja auch ein sechs Monate altes Kind und einen Dreijährigen. Du hättest den ganzen Tag Zeit.“

Ich verdrehte die Augen, während ich zum Schlafzimmer gehe. „Du meinst am Tag, wenn ich im Diner arbeiten werde?“

„Bis dahin könnte ich noch eine Gehaltserhöhung bekommen, Babe. Dann kannst du weniger Stunden arbeiten.“

Ich lächelte etwas verkrampft und schlug die Tagesdecke auf dem Bett um. Eine Erwiderung verkniff ich mir, weil ich ihm nicht wehtun wollte. Aber mir ging in dem Moment durch den Kopf, dass wir uns bei weniger Stunden im Diner immer nur von einem Gehaltsscheck zum nächsten hangeln würden. War es denn verkehrt, etwas mehr zu wollen?

„Ich habe heute Morgen in einem Diner jemanden kennengelernt“, sagte er.

Ich musste schlucken, da ich mich an den Abend erinnerte, an dem ich ihn in einem Diner kennengelernt hatte. „Ja? Trug sie eine Uniform aus Polyester?“

Er musste leise lachen. „Nein, ein Junge vom College, der gerade erst in die Staaten zurückgekehrt ist, nachdem er ein Jahr lang durch die Welt gereist ist. Er nannte es ein Brückenjahr. Hast du den Begriff schon mal gehört?“

Ich sah zur Seite, weil er den Ausdruck in meinen Augen nicht bemerken sollte. Das Bedauern, das sich in ihnen widerspiegelte. Kein Bedauern, dass wir geheiratet und Kinder gekriegt haben. Sondern Bedauern wegen der Dinge, die nicht eingetreten waren und die auch niemals eintreten konnten. Ich hatte eine Entscheidung getroffen, durch die sich mein ganzes Leben verändert hatte. Ich hatte mich in einen Mann verliebt, noch bevor ich jemals versucht hatte, auf eigenen Beinen zu stehen.

An Abenden wie diesem kam es mir daher so vor, als wären mir die Flügel gestutzt worden. Und was daran für mich am schwierigsten zu akzeptieren ist, das ist die Tatsache, dass ich selbst mir die Flügel gestutzt habe. Ich hatte Ersparnisse, ich hatte Landkarten, ich hatte einen Plan. Aber anstatt Europa zu bereisen, kaufte ich zwei Kinderbetten, einen Kinderwagen für zwei und einen Still-BH.

Es ist eigentlich kein Bedauern, nur ein Gefühl … etwas verloren zu haben, was hätte sein können.

Wir beendeten das Gespräch. Ledger und ich sagten Ich liebe dich. Was auch stimmt. Wir sind vielleicht nicht stinkreich, aber wir haben einander. Nicht nur für ein Brückenjahr, sondern ein Leben lang.

Und jetzt sitze ich da auf den Stufen hinter dem Diner und nehme einen unbekannten Anruf an, obwohl ich mich wieder an die Arbeit begeben sollte.

„Spreche ich mit Penelope Stone?“, fragt ein Mann, dessen Stimme ich nicht kenne, die mich veranlasst, mich gerader hinzusetzen. Ich stelle die halb leere Dose Limo zur Seite.

„Ähm, ja … das ist richtig.“

„Hier spricht State Trooper Jordan Parrish. Ich rufe wegen eines Unfalls an …“

Panik erfasst mich, und ich falle ihm ins Wort: „Ein Unfall?“ Die heiße Sommerluft ist erdrückend, und ich kann nur mit Mühe durchatmen, während ich frage: „Was für ein Unfall?“

„Penny!“, ruft Cheryl aufgeregt aus dem Restaurant. „Komm rein, das musst du dir ansehen. Die Nachrichten. Oh, mein Gott!“

„Ja, Mrs Stone“, redet Parrish weiter. „Es gab einen Unfall, in den Ihr Mann verwickelt war.“

3. Kapitel

Das Handy an mein Ohr gedrückt betrete ich das inzwischen wieder gut besuchte Diner, mein Körper bewegt sich wie von selbst auf den Fernseher zu, vorbei an unseren treuen Stammgästen – Männer mit Baseballmützen, auf denen die Abzeichen aus ihrer Zeit beim Militär zu sehen sind. In einer Ecke sitzt Sheriff Lawson. Keinem von ihnen widme ich mein sonst übliches freundliches Lächeln. Cheryl hält die Fernbedienung in der Hand und dreht den Ton lauter. Alle im Over Easy sind wie gebannt von der Sondermeldung.

„Die örtliche Polizei spricht davon, dass dieser Unfall verheerender ist als alles, was sie in den letzten Jahren zu sehen bekommen haben“, berichtet der Reporter vor Ort mit finsterer Miene und in angespanntem Tonfall. Mir wird bange ums Herz. „Ein Sattelschlepper von Grand Slam Transit hat nahe dem Marshadow Pass bei Meile 141 die Leitplanke durchbrochen und ist in eine Schlucht gestürzt.“

Ich schnappe nach Luft und halte mein Handy fest umklammert, während ich die Bilder im Fernsehen betrachte. Ein Hubschrauber befindet sich über einer gewaltigen, gewundenen Schlucht mit Gesteinsschichten in verschiedenen Grau-, Braun- und Schwarzschattierungen. Im reißenden Fluss am Grund der Schlucht erkenne ich das Wrack eines Lastwagens, der halb unter Wasser liegt.

„Ist er … hat er …“ Tränen laufen mir über die Wangen, als Officer Parrish mir sagt, dass das, was ich da sehe, tatsächlich Ledgers Truck ist.

„Wir haben ihn noch nicht da rausholen können. In diesem Augenblick ist ein Team auf dem Weg in die Schlucht. Wir werden uns sofort wieder bei Ihnen melden, sobald es neue Informationen gibt.“

Ich sinke zu Boden. Im Diner ist alles totenstill, niemand berührt mit dem Besteck seinen Teller, niemand ruft eine Bestellung quer durch das Lokal. Jeder hier kennt mich seit Jahren. Jeder hat seinen Blick so auf den Fernseher gerichtet wie ich.

Auf dem Bildschirm taucht ein Foto meines Mannes auf. „Der Fahrer Ledger Stone arbeitet seit drei Jahren für Grand Slam Transit. Den Meldungen zufolge hat er sich noch nie etwas zuschulden kommen lassen. Derzeit warten wir noch auf eine Erklärung seines Arbeitgebers. Aktuell steigen Such- und Rettungsteam in die Schlucht hinab, um Stones Leichnam zu bergen.“

„Ma’am?“, dringt Parrishs Stimme laut aus dem Telefon. Ich frage mich unwillkürlich, wie oft er mich wohl schon angesprochen hat, bevor ich auf ihn aufmerksam werde. „Hören Sie mich?“

„Ja, ich bin hier“, flüstere ich. Das Diner dreht sich um mich, während ich nach einer Antwort suche.

„Sie sind allein?“

Ich schaue mich um. „Nein, ich bin auf der Arbeit.“

„Gut. Dann bleiben Sie da, wo Leute sind, auf die Sie zählen können. Das ist im Augenblick das Beste für Sie.“

„Ist er tot?“, frage ich.

„Mrs Stone, bislang haben wir Ihren Mann nicht finden können. Zu dieser Jahreszeit hat der Fluss allerdings eine sehr starke Strömung und …“

„Sie glauben, dass er tot ist?“

Einen Moment lang herrscht Stille. „Ma’am …“

Ich unterbreche die Verbindung und lasse das Handy auf den Boden fallen. Das Schluchzen, das dann über meine Lippen kommt, ist tiefer und urtümlicher als jedes Geräusch, das ich je in meinem Leben von mir gegeben habe.

Nein.

Nein. Nicht Ledger. Nicht mein Fels, mein Anker, mein wahres Ein und Alles.

Nein.

Cheryl kniet neben mir und drückt mich an sich. Ich lasse es geschehen, da ich Angst habe, einfach von allem fortgerissen zu werden, sobald sie mich wieder loslässt. Mein ganzer Körper zittert, während jemand den Ton am Fernseher ausschaltet. Eine ungewohnte Stille erfüllt das fetttriefende Diner. Es riecht nach angebranntem Kaffee. Tränen laufen über die wettergegerbten Gesichter jener Männer, die ihre mühsam verdiente Militärpension für Steaks und Spiegeleier ausgeben. Sie sind es, die mir am Monatsersten ein großzügiges Trinkgeld in meine Schürze stecken.

Ich weiß nicht, wie lange ich auf dem Linoleumboden sitze. Aber als ich endlich wieder aufstehe, greife ich nach meiner Handtasche. „Ruft meine Mom an“, sage ich in den Raum. Alle hier wissen, wen ich meine. Mom ist so sehr Stadtmensch wie ich. „Sie muss die Kinder zu mir nach Hause bringen.“

Cheryl will mich aber nicht fahren lassen. „So wie du zitterst, wirst du nur den Wagen zu Schrott fahren.“ In ihren Augen sehe ich einen entschuldigenden Ausdruck. Sie muss sich nicht entschuldigen. Nicht dafür. Nicht, wenn Ledger tot ist. Nicht, wenn mein Leben soeben mit einem Schlag in sich zusammengefallen ist.

Ich lasse mich von ihr fahren. Sie hat völlig recht. Ich könnte den Wagen zu Schrott fahren, weil ich am ganzen Leib zittere.

Aber so etwas darf ich nicht machen. Tiny und Benny brauchen mich unversehrt, um diese nächste Phase durchzustehen.

Was für eine Phase das auch sein mag.

Die erste Phase sah so aus: Vor fünf Jahren hatte ich eines Abends die Spätschicht im Over Easy. Das Diner war menschenleer, in einer halben Stunde würde es geschlossen sein. Unser Koch Johnny war in der Küche damit beschäftigt, den Grill zu reinigen, während ich die Tische abwischte. Ich, eine frischgebackene Zwanzigjährige in einem zu kurzen Rock, weil ich kein Problem damit hatte, meine Oberschenkel zu zeigen, wenn das zusätzliche Trinkgelder mit sich brachte.

Ich sparte jeden Dollar, den ich erübrigen konnte, um ihn in meine Zukunft zu investieren. Diese Zukunft funkelte noch strahlender als die Tischplatten, die ich mit Clorox sauber machte.

Er kam herein, als ich einen Tisch abwischte und ihm den Rücken zuwandte. Ich drehte mich um, und mein Herz war verloren, als ich in seine waldgrünen Augen sah. Ich schmolz dahin wie ein Marshmallow über einem Lagerfeuer, und er merkte es mir an. Er sah nicht weg. Das war das Besondere an Ledger Stone: Er hatte nie Angst davor, mir in die Augen zu sehen. Und die Dinge beim Namen zu nennen. Ein treuer, bodenständiger, grundehrlicher Mann in einem Flanellhemd. Mein Mann.

Ich glaube, ich wusste es noch vor ihm. Dass sich an diesem einen Abend alles verändern würde, ich eingeschlossen. Er setzte sich an den Tisch, ich nahm ihm gegenüber Platz. Er brauchte keine Speisekarte. Es war offensichtlich, was er bestellen wollte.

Es geschah, ohne dass auch nur ein Wort gesprochen wurde: Liebe auf den ersten Blick. Eigentlich will das keiner hören. Die Leute fragen mich, wie ich es wissen konnte. Und ob es stimmt, was ich ihnen erzähle. Und ich gebe immer die gleiche Antwort. Als ich ihn ansah, wusste ich, dass er mich niemals brechen würde. Dabei gab es bereits so vieles in mir, das gebrochen worden war. Doch das alles – der Trümmerhaufen, den mein Vater verursacht hatte, nachdem er Mom eine Rippe zu viel gebrochen hatte und gegangen war; mein erster Freund, als er mich schlug; mein zweiter Freund, als er noch härter zuschlug – begann zu verheilen.

Meine Mutter sagt, dass keine Wunde so schnell verheilen kann. Das mag für die meisten Menschen zutreffen. Aber ich war noch nie so wie die meisten Menschen gewesen. Und wie sich herausstellen sollte, galt das auch für Ledger.

„Ich bin Penny Carpenter“, sagte ich und prägte mir sein Gesicht genau ein. Seine Nase war ein wenig schief, was seinem attraktiven Gesicht etwas Gefährliches verlieh. Eine Narbe zog sich über seinen Nasenrücken und setzte sich unter seinem linken Auge fort. Er hatte sich Ärger eingehandelt. Er selbst hatte Ärger bedeutet. Sein kraftvoller Kiefer war mit Bartstoppeln überzogen, die dunklen Brauen wölbten sich über seinen Augen. Als er mich anlächelte, sah ich, dass seine Zähne nicht makellos gerade waren, und das gefiel mir. Seine Unvollkommenheit machte ihn menschlich, sie machte ihn zugänglicher.

„Ich bin Ledger Stone.“ Er hielt mir seine Hand hin, ich schüttelte sie. Unsere Blicke begegneten sich, und wir konnten es beide spüren. Später redeten wir darüber, wie sich in diesem Moment alles veränderte und sich die Erdachse für uns ein wenig verschob. Unser beider Leben bewegte sich mit einem Mal in eine neue Richtung.

Unsere Straße war allerdings die, auf der wir uns beide bereits befanden. Nach meiner Schicht im Diner stieg ich in seinen Ford Truck. Er beugte sich zu mir rüber, machte meinen Sicherheitsgurt fest, während ich den Atem anhielt. Ich wusste, das war es. Aus den Geschichten über Sehnsucht und Verlangen, die ich immer in mein Notizbuch geschrieben hatte, war mehr geworden als reine Tagträumerei.

Er machte das Radio an, und aus dem Lautsprecher erklang Can't Help Falling In Love. Die samtenen Textzeilen erfüllten das ganze Führerhaus. Der Song war so sehr wie für diesen Moment geschaffen, dass ich einfach lachen musste. Mein ganzes Leben hatte sich ein einziger Kampf angefühlt, und dann begegnete ich Ledger und hatte das Gefühl, dass es all die Mühen wert gewesen war. Es war so, als würde ich die wahre Liebe erkennen, wenn ich sie zu Gesicht bekam, weil ich mein Leben lang an den falschen Stellen danach gesucht hatte.

„Magst du Elvis nicht?“, fragte Ledger und zog eine Augenbraue hoch.

„Jeder mag Elvis.“ Ich sah ihn an, beide wurden wir von der Neonbeleuchtung des Over Easy beschienen.

„Was magst du noch, Penny Carpenter?“

Mit meinen Finger strich über den Rocksaum meiner Polyesteruniform, der sich ein Stück weit oberhalb der Knie befand. „Ich mag lange Autofahrten, langsame Tänze und Sommernächte.“

Er drehte die Musik lauter und stieg aus. Ich schloss die Augen, da ich wusste, was als Nächstes geschehen würde. Denn ich kannte Ledger. Ich wusste, er war der Teil meines Herzens, der mir immer gefehlt hatte. Er öffnete die Beifahrertür, nahm meine Hand und dann tanzten wir unter einem Himmel voller Sterne.

„Du bist verrückt“, sagte ich zu ihm mit zugeschnürter Kehle, da ich Angst hatte. Über Männer wusste ich nur schlechte Dinge. Und ein Mann bedeutete einfach nur Ärger, wenn er mit der Frau, die er eben erst kennengelernt hatte, im Mondschein Schmuseblues tanzte.

„Man kann Schlimmeres sein als verrückt“, sagte er und ließ mich auf dem Parkplatz herumwirbeln.

„Zum Beispiel allein sein“, erwiderte ich mit stockender Stimme, da ich meine Gefühle nicht vor ihm verbergen konnte. Und auch nicht verbergen wollte. Er sah mir weiter in die Augen, und er verstand mich. Er verstand, dass es für mich keine Leichtigkeit war, jemandem mein Herz zu schenken. Es bedeutete alles für mich.

„Warst du schon mal verliebt?“, fragte er, wobei seine Lippen über mein Ohr strichen.

„Nein.“

„Aber du glaubst an die Liebe?“

Ich nickte und sah ihn an. Seine Hände umfassten meine Taille fester und zogen mich zu ihm. „Ich glaube an alle möglichen Wunder.“

Er blinzelte kurz, um nicht von seinen Gefühlen überwältigt zu werden. Doch ich konnte für einen Moment die Tränen sehen, gegen die er erfolgreich ankämpfte. „Ich ebenfalls, Penny.“

Der Song war zu Ende, ich machte einen Schritt nach hinten. Da ich wusste, dass das, was als Nächstes geschehen würde, nicht vor dem Diner stattfinden musste, stieg ich wieder ein und nahm mit rasendem Herz auf dem Beifahrersitz Platz.

„Bist du immer so sprunghaft?“, fragte er, während er den Rückwärtsgang einlegte.

Ich stutzte. „Ich bin nicht sprunghaft.“

„Du bist wie ein Kaninchen in den Wagen gesprungen.“

„Das war meine pure Begeisterung.“

Er lachte. „Bist du immer so ehrlich?“

Ich nickte. „Immer.“

„Gut.“

„Und du?“

„Ich gebe mir Mühe.“ Ledger fuhr mich zu seinem Motel und parkte den Truck ein. Dann stellte er den Motor aus. „Ich mache keine halben Sachen, Penny Carpenter. Wenn ich etwas will, dann gehe ich aufs Ganze.“

„Und du willst mich?“

Er presste die Lippen zusammen, konnte das Lächeln aber nicht unterdrücken. „Mehr als du dir vorstellen kannst.“ Er nahm meine Hand, und wir gingen zu seinem Zimmer. Vor der Tür fragte er mich, ob ich mir auch wirklich sicher sei.

„Ich war mir in meinem ganzen Leben noch nie einer Sache so sicher gewesen wie jetzt.“ Es war die Wahrheit. Ich war so gut darin, an dem zu zweifeln, wer ich war, was ich war … In meinem Inneren fühlte ich mich für große, wunderschöne Dinge bestimmt. Aber nach außen hin war ich eine junge Frau, die in Sachen Herkunft nicht viel vorzuweisen hatte und die nur einen Mann wollte, der sie liebte. Der sie wirklich und wahrhaftig liebte.

„Was führt dich nach Riverport?“, fragte ich, während ich mich auf den Rand des Motelbetts setzte.

„Ich bin auf dem Weg nach Hause“, sagte er. „Ich bin auf der Durchreise.“

„Und wo ist dein Zuhause?“

Er setzte sich zu mir, sein Gewicht ließ die billige Matratze nachgeben, sodass ich gegen ihn sank. Ich war froh darüber, denn ich wollte ihm näher sein. Nahe genug, um ihn küssen zu können.

„Das Zuhause ist kein Ort, sondern ein Gemütszustand.“

Ich lächelte. „Und wo ist dein Gemütszustand, Ledger?“

Dann berührten seine Lippen meine, und in diesem Moment wussten wir es. Wir beide wussten es. Nur ein einziger Kuss war nötig, um ihn zu Hause ankommen zu lassen. Ledgers Platz war an meiner Seite.

 

„Das wird schon gut ausgehen“, sagt Cheryl, als sie mich nach Hause fährt und nach links in meine Straße einbiegt. „Er wird das schaffen.“

Sie hält das Lenkrad so fest umklammert, dass ihren Knöchel weiß hervortreten. Ihre Worte können mich nicht trösten, denn ich habe den Truck im Fernsehen gesehen. Zerstört und zerschmettert, so wie all unsere Pläne.

„Glaubst du das wirklich?“, frage ich, als mein Haus in Sichtweite kommt. Das Haus, das ich mit dem Mann teile, den ich liebe. Dem Mann, der mein Zuhause ist.

„Ich will es einfach glauben“, erwidert Cheryl. „Penny, du musst stark sein. Für die Zwillinge.“

„Ich weiß, dass ich das muss“, sage ich. Meine Schultern zittern. „Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich weiß, wie ich das anstellen soll.“

Cheryl biegt in die Zufahrt ein, und wieder kommt es mir so vor, als hätte sich die Erdachse verschoben. So wie an dem Abend, als ich Ledger begegnet war.

Nur fühlt es sich jetzt so an, als hätte sich unter mir ein großes Loch aufgetan, in das ich zu fallen drohe. Aber diesmal wird Ledger nicht da sein, um mich aufzufangen.

4. Kapitel

Bethany sieht vom Rasen vor ihrem Haus zu mir herüber, als Cheryl mich absetzt. Sie ist barfuß, Neva trägt sie in einem Laken gewickelt an sich gedrückt, das sie zur Schlinge geknotet hat. Selbst von meiner Zufahrt aus kann ich ihren fragenden, besorgten Blick erkennen. „Würdest du rübergehen und es ihr sagen?“, frage ich und öffne die Tür des Fiesta. „Ich kann im Moment mit niemandem reden, nicht mal mit meinen besten Freundinnen.“

„Ja, natürlich“, sagt Cheryl. Ihre Augen sind gerötet, während sie mich ansieht und den Motor abstellt. „Pass du gut auf dich auf, Penny. Du weißt, wir sind alle für dich da.“

Wie betäubt mache ich einen Schritt über den grünen Gartenschlauch, der sich über das halb verdorrte Gras meines Rasens schlängelt. Die abgeblätterte Farbe an der Haustür ist nicht unbedingt einladend, aber auf jeden Fall vertraut. Im Haus stöhne ich auf, als mir klar wird, dass ich am Morgen vergessen habe, die Ventilatoren einzuschalten. Die Luft ist stickig, die Hitze dieses Sommertags hält sich beharrlich im Haus.

Am Küchentresen gleich neben dem Kühlschrank angekommen, schiebe ich die Schale mit angedetschten Äpfeln aus dem Grocery Outlet zur Seite und schließe mein Handy ans Ladegerät an, wobei ich dreimal überprüfe, ob der Klingelton auf die lauteste Stufe gestellt ist. Ich kann es nicht begreifen, dass Ledger mir keine SMS schicken wird, um sich dafür zu entschuldigen, dass er nicht schon früher angerufen hat. Dass er mir nicht sagen wird, dass sich sein Handy abgeschaltet hat, weil er vergessen hat, es aufzuladen. Dass er mich liebt. Dass er Tiny und Benny liegt. Dass er schon bald wieder zu Hause sein wird.

Sehr bald.

Dass er nur noch vier Stunden Fahrt vor sich hat und dass wir heute Abend vielleicht bei Romeo's Pizza bestellen sollten. Er bestellt sie immer mit extra Käse, weil die Zwillinge es so am liebsten haben.

Es ist für mich unmöglich zu glauben, dass er nicht in zwei Minuten die nächste SMS schicken wird, vollgepackt mit Emojis und zweideutigen Anspielungen, die mich erröten lassen. Die mich dazu bringen, mit der Zunge über meine Lippen zu fahren und zu denken: Ja, Gott sei Dank, er kommt nach Hause. Denn zwei Wochen auf der Straße zu sein, das sind zwei Wochen zu viel. Er fehlt mir.

Die Haustür geht auf, und ich zucke zusammen. Mir rutscht das Telefon aus den Händen. Mein Stoßgebet, es möge doch jetzt klingeln, wird nicht erhört, also lasse ich es auf dem Tresen liegen. Stattdessen mache ich mich auf das gefasst, was als Nächstes auf mich einstürzen wird: Ich werde meinen Kindern das Herz brechen müssen, und das alles mit nur einem einzigen Satz, den ich niemals werde zurücknehmen können.

Mom kommt um die Ecke, ihr Gesicht ist kreidebleich. Sie lässt ihre Handtasche einfach auf den Boden fallen. Sie ist die stärkste Frau, die ich je kennengelernt habe, aber für einen solchen Schlag ist niemand stark genug. Sie legt die Hand vor den Mund und schnappt nach Luft, als sie mich sieht. Die Kinder tragen ihre Badesachen, Tropfen landen von ihren nassen Haaren auf dem Fußboden, so als hätte meine Mutter sie eben erst aus dem Pool gezogen. Ich wünschte, wir könnten alle zu dem Wohnkomplex zurückkehren, in den Swimmingpool springen und den ganzen Tag im Wasser planschen. Ich wünschte, ich könnte sie beide weiterhin Kinder sein lassen, aber für sie wird gleich alles ganz anders sein.

Ich kann sie nicht beschützen, obwohl ich nur das will. Sie sollen in Sicherheit sein. Und sich ihre Unschuld bewahren. Wenigstens noch für eine Minute. Aber vor allem will ich sie in meinen Armen halten, sie einatmen und mich weigern, sie wieder loszulassen.

Ich sinke auf die Knie und ziehe die beiden an mich. Meine Uniform klebt so an mir, wie ich an den beiden klebe. Meine Kinder brauchen einen Vater. Ledger muss noch leben.

„Ich hab's ihnen noch nicht gesagt“, lässt Mom mich wissen.

„Was ist passiert?“, fragt Benny im Flüsterton. Seine grünen Augen sind weit aufgerissen, Tränen schimmern in ihnen.

Tinys schmale Schultern zittern, und ich drücke sie fester an mich. Ich weiß, die zwei haben Angst. Aber ich habe auch Angst, und ich will das nicht allein durchstehen. Ich brauche Ledger.

„Papa hatte einen Unfall.“ Meine Stimme versagt, als mir diese Worte über die Lippen kommen. „Einen sehr schlimmen Unfall.“

„Wird er wieder gesund werden?“, fragt Tiny mit so zerbrechlicher Stimme, die so tragische Worte ausspricht, dass ich jede Silbe einsammeln und so tun möchte, als wären sie nie gesagt worden. Ich möchte sie zum Klebeband in die Krimskrams-Schublade packen und nie wieder ansehen müssen. Sie sind zu schrecklich, um sie nur in Erwägung zu ziehen.

„Das wissen sie noch nicht“, bringe ich heraus. „Die Polizisten und die Feuerwehrleute helfen mit. Sie suchen nach … nach ihm.“

Benny fängt an zu weinen. Mom setzt sich zu uns auf den Boden, und ich halte sie alle fest an mich gedrückt. Ich kann nicht wieder loslassen. Ich habe keine Ahnung, wie lange wir so dasitzen, verloren in einer Welle von Gefühlen, die über meinen schmutzigen Küchenboden hinweggespült werden. In meinem Haus ist es so heiß und stickig. Meine Haut ist nass von Schweiß und salzigen Tränen.

Schließlich steht Mom auf und schaltet den Fernseher ein.

„Nein“, krächze ich.

„Bitte“, sagt Benjamin, der von der Meldung wie gebannt ist, die gerade in den Nachrichten kommt.

„Wir müssen es wissen, Penny. Wir müssen wissen, was los ist“, beharrt Mom.

Benny und Tiny sind erst vier, aber sie verstehen, was die Bilder bedeuten. Und vielleicht ist es so ja besser. Damit sie es so sehen, wie es ist. Ehrlich gesagt ist es so besser, als wenn ich versuchen würde, es zu erklären. Es ist so besser, als von der eigenen Mutter erzählt zu bekommen, dass der Truck des Vaters die Leitplanke durchbrochen hat und vom Fahrer nichts zu sehen ist. Aber wie sollte irgendein Mensch einen solchen Sturz überleben?

Es ist keine Geschichte, die ich erzählen möchte. Sie ist zu ehrgeizig. Zu schrecklich. Zu real.

Die Geschichten, die ich geschrieben habe, sind albern, seicht, lustig. Geschichten, in denen Geld alle Probleme löst und die Liebe alle Trübsal wegwischt.

Anstatt zu reden, sehen wir uns die Wiederholung der Meldung an. Grand Slam Transit veröffentlicht eine Presseerklärung, doch die Worte sind politisch korrekt gewählt: eine Tragödie, eine gründliche Untersuchung, mit unseren Gebeten sind wir bei … ich kann es mir nicht anhören.

Als mein Handy klingelt, greife ich danach und nehme ohne hinzusehen den Anruf an, weil es ja Ledger sein könnte. Vielleicht war das alles ja nur ein Missverständnis. Es ist gar nicht seinem Truck widerfahren. Er selbst ist in Kürze zurück zu Hause.

„Hallo?“, frage ich keuchend.

„Verdammt, Penny, ich war mir nicht sicher, ob du überhaupt rangehen würdest.“ Es ist Jack Barrett, Ledgers bester Freund. Er hatte Ledger vor drei Jahren den Job bei Grand Slam besorgt, kurz nachdem sie sich kennengelernt hatten. Seitdem sind die beiden engste Freunde.

„Meine Mom ist hier“, bringe ich irgendwie heraus. „Wir sehen uns die Nachrichten an.“

Als ich seine Stimme höre, fühlt es sich an, als würde mir die Realität einen Felsbrocken in die Magengrube schleudern. Ich weiß, nur weil ich mir wünsche, dass das alles nicht passiert ist, wird mein Wunsch nicht Wirklichkeit. Und durch Jacks Stimme fühlt sich das alles viel zu real an. Auf diese Weise unterhalten wir uns nicht. Wir unterhalten uns, wenn Jack vorbeikommt, um Ledger in der Garage beim Zusammenbau eines Motors zu helfen. Wir unterhalten uns, wenn Jack zum Abendessen vorbeikommt und Benny so hoch in die Luft wirft, dass ich wegsehen muss, während Ledger lacht und eine Hand an meine Taille legt. So wie jetzt, so unterhalten wir uns nie.

„O Gott, du solltest den Fernseher besser ausmachen“, sagt er. „Ledger würde es hassen, wenn er wüsste, dass du dir so was ansiehst.“

Ich gehe durch den Flur, bleibe stehen und drücke meine Stirn gegen die Wand. Meine Stimme ist leise und versagt immer wieder. „Glaubst du, er hat überlebt?“

„Das will ich verdammt noch mal hoffen. Brauchst du irgendwas? Ich kann gleich rüberkommen.“

„Im Moment nicht, aber vielen Dank dafür“, sage ich und kehre in die Küche zurück, wo ich mich wieder zu Boden sinken lasse und mich gegen den Kühlschrank lehne.

„Wenn was ist“, erwidert er, „bin ich für dich da.“

„Danke“, flüstere ich mit hauchdünner Stimme. „Aber mal ehrlich. Glaubst du … glaubst du, es besteht eine Chance, dass er …“

„… noch lebt?“

„Ja.“

Dann folgt Schweigen. Jack ist niemand, der viele Worte macht. Deshalb verstehen er und Ledger sich auch so gut. Die beiden können den ganzen Tag zusammen verbringen, ein Bud Light nach dem anderen aufmachen und sich im Radio ein Baseballspiel anhören, ohne auch nur ein Wort zu sagen.

„Ich hoffe es“, antwortet Jack schließlich.

„Ich auch.“ Ich sehe zu meinen Kindern, die vor dem Fernseher auf dem Fußboden eingeschlafen sind. Meine Mutter stellt das Geschirr in die Spüle. Sie hält Bennys vergessene Cornflakes-Schüssel in der Hand. Unsere Blicke begegnen sich, als ich das Telefonat beende.

„Er kann nicht tot sein, Mom.“

Sie stellt das Geschirr weg und kniet sich neben mir hin, dann drückt sie mich an sich. „Die Bilder im Fernsehen machen einen ziemlich eindeutigen Eindruck, Penny.“

Ich weiche zurück und wische über meine Augen. Mein Haar fällt mir kreuz und quer ins Gesicht. Im Haus ist es so heiß. Der Tag zieht sich so sehr in die Länge. Es ist erst drei Uhr nachmittags. Wie soll ich das durchstehen? Ein unendlicher Tag nach dem anderen, und an keinem von ihnen wird je wieder Ledger nach Hause kommen.

„Es gibt noch Hoffnung“, sage ich mit erstickter Stimme.

Zum Teufel mit dem Realismus. Ich entscheide mich für die Hoffnung. Für die verrückte, liebeskranke Hoffnung.

Er kann einfach nicht tot sein.

Und wenn er wirklich irgendwie überlebt hat, dann braucht er uns, damit wir an ihn glauben.